Für Jonah,
meinen kleinen Leitflügler.
SANDFLÜGLER
Aussehen: blassgoldene oder weiße Schuppen von der Farbe des Wüstensandes, giftige Schwanzspitze, gespaltene schwarze Zunge
Fähigkeiten: können lange ohne Wasser überleben, vergiften Feinde mit ihren Schwanzspitzen wie Skorpione, graben sich zur Tarnung in den Wüstensand ein, speien Feuer
Königin: Seit dem Tod von Königin Oasis ist der Stamm gespalten. Es gibt drei konkurrierende Anwärterinnen auf den Thron: die Schwestern Burn, Blister und Blaze.
Bündnisse: Burn kämpft an der Seite der Himmelsflügler und Erdflügler, Blister hat sich mit den Meeresflüglern verbündet, Blaze wird von den meisten Sandflüglern und den Eisflüglern unterstützt.
ERDFLÜGLER
Aussehen: dicke, gepanzerte braune Schuppen, manchmal mit bernsteinfarbenen und goldenen Unterschuppen; große, flache Schädel mit Nüstern auf der Oberseite der Schnauze
Fähigkeiten: können Feuer atmen (wenn ihnen warm genug ist), bis zu einer Stunde lang den Atem anhalten, sich in großen Schlammpfützen verbergen; sind in der Regel sehr stark
Königin: Königin Moorhen
Bündnisse: zurzeit mit Burn und den Himmelsflüglern im großen Krieg verbündet
HIMMELSFLÜGLER
Aussehen: rotgoldene oder orangefarbene Schuppen, riesige Flügel
Fähigkeiten: starke Kämpfer und Flieger, können Feuer speien
Königin: Königin Scarlet
Bündnisse: zurzeit mit Burn und den Erdflüglern im großen Krieg verbündet
EISFLÜGLER
Aussehen: silberfarbene Schuppen wie der Mond oder blassblaue wie Eis; Krallen mit Furchen, um besseren Halt auf dem Eis zu haben; gespaltene blaue Zungen; schmale Schwänze, die in einer dünnen Spitze auslaufen
Fähigkeiten: können Temperaturen unter null und grellem Licht standhalten, atmen einen todbringenden Eisatem aus
Königin: Königin Glacier
Bündnisse: zurzeit mit Blaze und den meisten Sandflüglern im großen Krieg verbündet
REGENFLÜGLER
Aussehen: Schuppen wechseln ständig die Farbe, in der Regel bunt wie Paradiesvögel, in der Regel Greifschwänze
Fähigkeiten: besitzen Tarnschuppen, die mit der Umgebung verschmelzen, benutzen ihre Greifschwänze zum Klettern; keine bekannten natürlichen Waffen
Königin: Königin Dazzling
Bündnisse: nicht am großen Krieg beteiligt
MEERESFLÜGLER
Aussehen: blaue, grüne oder grünblaue Schuppen, Schwimmhäute zwischen den Krallen, Kiemen am Hals, Leuchtstreifen auf Schwanz, Schnauze und Bauch
Fähigkeiten: können unter Wasser atmen, im Dunkeln sehen, große Wellen mit einem Schwanzschlag erzeugen; hervorragende Schwimmer
Königin: Königin Coral
Bündnisse: zurzeit mit Blister im großen Krieg verbündet
NACHTFLÜGLER
Aussehen: lilaschwarze Schuppen mit vereinzelten silbernen Schuppen auf der Unterseite der Flügel – wie ein Nachthimmel voller Sterne, gespaltene schwarze Zunge
Fähigkeiten: können Feuer speien, in dunklen Schatten verschwinden, Gedanken lesen, die Zukunft voraussagen
Königin: ein streng gehütetes Geheimnis
Bündnisse: zu geheimnisvoll und mächtig, um am Krieg teilzunehmen
DIE PROPHEZEIUNG
DER DRACHEN
Wenn der Krieg getobt hat zwanzig Jahr,
werden die Drachlinge kommen.
Wenn das Land gepeinigt wird von Blut und Gefahr,
werden die Drachlinge kommen.
Die Schwingen des Meeres im Ei vom dunkelsten Blau.
Die Schwingen der Nacht gebracht aus nebligem Grau.
Das größte Ei hoch oben auf dem Berg gelegen,
wird Dir die Schwingen des Himmels geben.
Die Schwingen der Erde haben im Sumpf geruht,
in einem Ei so rot wie Drachenblut.
Und gut versteckt vor den Königinnen im Zwist,
wartet das Ei mit den Schwingen des Sandes dort, wo es ist.
Blister, Blaze und Burn, drei Königinnen gar,
zwei werden sterben und eine wird gewahr,
dass sie erlangt die Schwingen des Feuers,
wenn sie sich fügt einem Schicksal teuer.
Fünf Eier, geschlüpft in der hellsten Nacht,
fünf Drachlinge, geboren zu enden die Schlacht.
Dunkelheit steigt auf und bringt das Licht mit Macht.
Die Drachlinge kommen …
PROLOG
Ein silberner Drache versuchte, sich im Sturm zu verstecken.
Blitze zuckten über die dunklen Wolken. Hvitur zog die empfindliche Fracht in seinen Krallen an sich, während er weiterflog. Wenn er es über die Berge schaffte, würde er in Sicherheit sein. Aus dem Palast der Himmelsdrachen war er entkommen. Und die geheime Höhle war schon so nah …
Doch Augen, so schwarz wie Obsidian, verfolgten ihn, verborgen in den Schatten der Felsen unter ihm.
Der weibliche Drache auf dem Felsvorsprung hatte blassgoldene Schuppen, die vor Hitze flimmerten wie der Horizont in der Wüste. Ihre dunklen Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen, während sie die schimmernden silbernen Flügel hoch oben in den Wolken verfolgte.
Als sie mit dem Schwanz schnalzte, erhoben sich hinter ihr zwei weitere sandfarbene Drachen in die Luft und stürzten sich kopfüber in das Zentrum des Sturms. Ein gellender Schrei hallte von den Bergwänden wider, als sie ihre Krallen in den Körper des mondbleichen Drachen schlugen.
»Bindet ihm das Maul zu«, befahl die Drachendame ungeduldig, als die Soldaten Hvitur auf den nassen, glitschigen Fels vor ihr fallen ließen. Der Eisdrache war schon dabei, tief Luft zu holen, bereit zum Angriff. »Schnell!«
Einer der Soldaten zog eine schwere Eisenkette aus einem Haufen glühender Kohlen hervor. Er schlang sie um die Schnauze des Eisdrachen und drückte dessen Kiefer zusammen. Das heiße Eisen brannte sich mit einem zischenden Geräusch in seine kalten Schuppen. Hvitur stieß einen erstickten Schrei aus.
»Zu spät«, zischte der riesige sandfarbene Drache und ließ seine gespaltene Zunge hervorschnellen. »Dein todbringender Atem wird uns nichts mehr anhaben können, Eisflügler.«
»Das hier hatte er bei sich, Königin Burn«, sagte einer der Soldaten, während er ihr ein Drachenei überreichte.
Burn kniff die Augen zusammen und starrte durch den strömenden Regen hindurch auf das Ei. »Das ist kein Ei der Eisflügler«, fauchte sie. »Du hast es aus dem Palast der Himmelsflügler gestohlen.«
Der Eisdrache sah sie unverwandt an. An den Stellen, wo die glühenden Kettenglieder auf seinen Silberschuppen lagen, stieg Dampf auf.
»Hast du etwa geglaubt, du würdest unbemerkt entkommen können?«, fragte Burn. »Meine Verbündete bei den Himmelsflüglern ist nicht dumm. Königin Scarlet weiß alles, was in ihrem Königreich geschieht. Ihre Späher haben gemeldet, dass ein diebischer Eisflügler im Palast umherschleicht. Ich dachte mir, wenn ich selbst nach dir suche, könnte ich meinen langweiligen Besuch hier wenigstens ein bisschen aufpeppen. Wir beide werden uns sicher köstlich zusammen amüsieren.«
Burn hielt das große Ei gegen den Schein des Feuers und drehte es langsam hin und her. Unter der hellen, glatten Oberfläche schimmerte es rot und golden.
»Ja. Das ist ein Ei der Himmelsflügler, kurz vor dem Schlüpfen«, grübelte Burn. »Warum würde dir meine Schwester den Auftrag geben, einen Sprössling der Himmelsflügler zu stehlen? Blaze hasst alle Drachen, die jünger und hübscher sind als sie selbst.« Sie überlegte kurz, während der Regen auf die Felsen prasselte. »Es sei denn … morgen ist die hellste Nacht …«
Ihr Schwanz mit dem giftigen Stachel am Ende schnellte nach oben wie der eines Skorpions und blieb nur wenige Zentimeter vor Hviturs Augen stehen. »Du bist gar nicht in Blazes Armee, stimmt's? Du bist einer von diesen langweiligen Friedensstiftern aus dem Untergrund.«
»Die Klauen des Friedens?«, fragte einer der Soldaten. »Soll das heißen, es gibt sie wirklich?«
Burn schnaubte verächtlich. »Ein paar unbedeutende Würmer, die kein Blut sehen können. Nimm ihm die Kette ab. Er wird uns erst wieder zu Eis erstarren lassen können, wenn seine Schuppen abgekühlt sind.« Die Drachenkönigin beugte sich vor, während der Soldat die Kette losmachte. »Sag mir, Eisdrache, glaubst du wirklich an diese schwülstige, alte Prophezeiung dieser einfältigen Nachtflügler?«
»Sind denn nicht schon genug Drachen für deinen sinnlosen Krieg gestorben?«, zischte Hvitur, der angesichts der Schmerzen in seinem Kiefer zusammenzuckte. »Ganz Pyrrhia hat in den letzten zwölf Jahren gelitten. Die Prophezeiung besagt –«
»Es ist mir egal, was diese dämliche Prophezeiung besagt«, warf Burn ein. »Ich lasse doch nicht einen Haufen Wörter und ein paar Babydrachen entscheiden, wann ich sterbe oder vor wem ich mein Haupt beuge. Frieden wird es erst geben, wenn meine beiden Schwestern tot sind und ich Königin der Sandflügler bin.« Ihr giftiger Schwanz zuckte bedrohlich über Hviturs Kopf.
Regen prasselte auf die Schuppen des Silberdrachen. Er starrte entschlossen zu ihr hoch. »Die Drachlinge werden kommen, ob es dir passt oder nicht, und sie werden entscheiden, wer die nächste Königin der Sandflügler sein wird.«
»Ach ja?« Burn machte einen Schritt zurück und drehte das Ei in ihren Klauen langsam hin und her. Sie grinste boshaft und ließ wieder ihre gespaltene Zunge hervorschnellen. »Gehört dieses Ei etwa auch zu deiner lächerlichen Prophezeiung, Eisflügler?«
Hvitur verstummte.
Mit einer ihrer langen Krallen klopfte Burn auf die Schale des Eis. »Hallo?«, rief sie. »Ist da ein Drachling der Vorsehung drin, der gleich schlüpfen und diesen großen, bösen Krieg beenden wird?«
»Lass das Ei in Ruhe«, stieß Hvitur hervor.
»Was wird denn aus deiner schönen Prophezeiung … wenn einer der fünf Drachlinge nie geboren wird?«, fragte Burn.
»Das würdest du nicht tun«, erwiderte er. »Niemand würde es wagen, ein Drachenei zu zerstören.« Seine blauen Augen starrten wie hypnotisiert auf die Krallen des Sandflüglers.
»Keine ›Schwingen des Himmels‹, die helfen werden, die Welt zu retten«, meinte Burn. »Was für eine traurige, traurige Geschichte.« Sie begann, das Ei zwischen ihren Klauen hin- und herzuwerfen. »Das heißt dann wohl, dass du sehr, sehr vorsichtig sein solltest mit diesem furchtbar wichtigen, kleinen – hoppla!«
Burn warf sich mit dem Oberkörper übertrieben weit nach vorn und tat so, als würde ihr das Ei durch die Klauen rutschen. »So klein und so zerbrechlich …«, spottete sie.
Dann stieß sie ein boshaftes Lachen aus … und ließ das Ei fallen, über den Rand der Felswand in die steinige Finsternis unter ihnen.
»Nein!«, schrie Hvitur auf. Er schüttelte die beiden Soldaten ab und rannte auf den Abgrund zu. Doch bevor er dem Ei nachspringen konnte, schlug ihm Burn ihre riesigen Klauen in den Nacken.
»Das war's dann wohl mit der Vorsehung«, spottete sie mit einem breiten Grinsen. »Und mit deiner jämmerlichen, kleinen Friedensbewegung.«
»Du bist ein Monster«, keuchte der Eisflügler, der sich unter ihren Krallen wand. Vor lauter Verzweiflung versagte ihm die Stimme. »Wir werden niemals aufgeben. Die Drachlinge … die Drachlinge werden kommen und diesem Krieg ein Ende setzen.«
Burn beugte sich vor, um ihm etwas ins Ohr zu zischen. »Und selbst wenn – wird es für dich zu spät sein.« Dann durchbohrte sie Hvitur blitzschnell mit ihrem giftigen Schwanz und schleuderte seinen langen, silberglänzenden Körper in den Abgrund.
Die Schreie des Eisdrachen verstummten lange vor dem Echo, das seinen Aufprall auf den Felsen begleitete.
Burns schwarze Augen richteten sich auf die Soldaten. »Ausgezeichnet«, sagte sie vergnügt. »Das dürfte wohl das Letzte gewesen sein, was wir von dieser bescheuerten Prophezeiung hören.« Sie streckte ihre Klauen aus, damit der Regen das schimmernde Drachenblut darauf wegwaschen konnte. »Und jetzt suchen wir uns etwas anderes zum Spielen.«
Die drei Drachen breiteten ihre Flügel aus und verschwanden in die dunklen Wolken.
Einige Zeit später kroch tief unter dem Berg ein großer, weiblicher Drache mit feuerfarbenen Schuppen zwischen den Felsen hervor und näherte sich vorsichtig dem leblosen Körper des Eisdrachen. Sie schob seinen Schwanz zur Seite und zog ein Stück der zerbrochenen Eischale darunter hervor. Dann verschwand sie wieder im Labyrinth der Höhlen unter den Felswänden.
Ihre Flügel streiften die kantigen Steinmauern. Sie atmete eine Stichflamme aus, um in dem dunklen Gang, der tief in den Berg hineinführte, etwas sehen zu können.
»Ich gehöre den Klauen des Friedens an«, zischte eine Stimme aus den Schatten. »Kestrel? Bist du das?«
»Wir erwarten die Schwingen des Feuers«, antwortete das rote Drachenweibchen. Aus einer Nebenhöhle kam ein blaugrüner Meeresflügler, dem sie das Stück Eischale vor die Klauen warf. »Nicht, dass es uns jetzt noch viel nützen würde«, fauchte sie. »Hvitur ist tot.«
Der Meeresflügler starrte die Eischale an. »Aber … das Ei der Himmelsflügler –«
»Zerbrochen«, antwortete sie. »Weg. Es ist vorbei, Webs.«
»Das darf nicht wahr sein«, erwiderte er. »Morgen ist die hellste Nacht. Die drei Monde werden zum ersten Mal seit einem Jahrhundert zur gleichen Zeit voll sein. Die Drachlinge aus der Prophezeiung müssen morgen schlüpfen.«
»Einer von ihnen ist jedenfalls schon tot«, meinte Kestrel. In ihren Augen flackerte Wut. »Ich hätte das Ei der Himmelsflügler selbst stehlen sollen. Im Königreich des Himmels kenne ich mich aus. Ein zweites Mal hätten sie mich nicht erwischt.«
Webs verzog das Gesicht und strich sich mit einer seiner Krallen über die Kiemen an seinem Hals. »Asha ist auch tot.«
»Asha?« Kleine Flammen zischten aus Kestrels Nüstern hervor. »Wie?«
»Sie ist auf dem Weg hierher in einen Kampf zwischen Blazes und Blisters Truppen geraten. Sie hat es noch geschafft, das rote Ei der Erdflügler herzubringen, aber kurz darauf ist sie an ihren Wunden gestorben.«
»Dann bleiben also nur noch du, ich und Dune, um die kleinen Würmer aufzuziehen«, knurrte Kestrel. »Für eine Prophezeiung, die nie erfüllt werden kann. Wir sollten diese verfluchten Eier zerstören, dann ist es wenigstens endgültig vorbei. Wenn die Klauen des Friedens zurückkehren, um die Drachlinge zu holen, werden wir schon längst weg sein.«
»Nein!«, fauchte Webs. »Die Drachlinge in den nächsten acht Jahren am Leben zu erhalten, ist wichtiger als alles andere. Wenn du nicht mitmachen willst –«
»Jetzt hör schon auf«, fuhr Kestrel ihn an. Sie schnaubte wütend und aus ihren Nüstern stieg Rauch auf. »Ich bin der stärkste Drache bei den Klauen des Friedens. Du brauchst mich. Es spielt keine Rolle, was ich über fiese, kleine Drachlinge denke.« Sie starrte die Eischale auf dem Boden an und rieb ihre vernarbten Handflächen aneinander. »Obwohl ich gehofft hatte, dass wenigstens einer von ihnen ein Himmelsflügler sein würde.«
»Ich werde uns einen fünften Drachling beschaffen.« Webs drängte sich an ihr vorbei. Seine Schuppen schabten über die Felswände.
»Es gibt keinen Weg mehr ins Königreich des Himmels, du Schwachkopf«, sagte sie. »Ab jetzt werden sie die Brutstätte rund um die Uhr bewachen.«
»Dann stehle ich das Ei eben woanders«, fuhr er mit grimmiger Miene fort. »Die Regenflügler zählen ihre Eier nicht mal. Ich könnte eines aus dem Regenwald holen, ohne dass es jemand bemerkt.«
»Das ist so ziemlich das Dümmste, was ich je gehört habe«, erwiderte Kestrel schaudernd. »Regenflügler sind fürchterliche Kreaturen. Ganz anders als Himmelsflügler.«
»Wir müssen etwas unternehmen«, sagte Webs. Er fauchte, als sein Schwanz die Eischale über den Boden fegte. »In acht Jahren werden die Klauen des Friedens kommen, um fünf Drachlinge abzuholen. In der Prophezeiung steht, dass es fünf sein werden, und wir werden dafür sorgen, dass die Prophezeiung sich erfüllt … koste es, was es wolle.«
Sechs Jahre später …
1. KAPITEL
Clay glaubte nicht, dass er der richtige Drache für ein Leben als Held war.
Oh, er wollte es sein. Er wollte der große Retter der Drachenwelt sein, er wollte glorreich und tapfer sein. Er wollte all die wunderbaren Dinge tun, die man von ihm erwartete. Er wollte einen Blick auf die Welt werfen, herausfinden, was mit ihr nicht stimmte, und alles wieder in Ordnung bringen.
Aber er war kein geborener Held. Er hatte überhaupt keine sagenhaften Eigenschaften. Er schlief lieber, als zu lernen, und bei den Jagdübungen entwischten ihm die Hühner ständig in die Höhlen, weil er lieber auf seine Freunde achtgab als auf das Federvieh.
Er konnte ganz gut kämpfen. Aber »ganz gut« reichte nicht, um den Krieg zu beenden und die zerstrittenen Drachenstämme wieder zu vereinen. Er musste etwas Besonderes sein. Er war der größte der Drachlinge, daher sollte er stark und Furcht einflößend sein. Die Erzieher wollten, dass er ganz furchtbar gefährlich war.
Clay hielt sich für so gefährlich wie Blumenkohl.
»Kämpfe!«, schallte es ihm entgegen, dann wurde er quer durch die Höhle geschleudert und prallte gegen die Felswand. Er rappelte sich wieder auf und versuchte, seine schlammfarbenen Flügel auszubreiten, um das Gleichgewicht wiederzugewinnen. Als rote Klauen ihm das Gesicht zerkratzen wollten, duckte er sich weg. »Jetzt mach schon«, schnauzte das rote Drachenweibchen ihn an. »Keine Hemmungen. Du darfst keine Skrupel haben. Finde den Killer in dir und lass ihn raus.«
»Das versuch ich doch gerade!«, keuchte Clay. »Vielleicht klappt es, wenn wir mal eine Pause machen und darüber reden –«
Der feuerrote Drache griff ihn wieder an. »Links antäuschen! Rechts abrollen! Setz dein Feuer ein!« Clay versuchte, unter ihrem Flügel durchzutauchen, um sie von unten anzugreifen, rollte sich aber natürlich auf die falsche Seite ab. Als sie ihn mit einer ihrer Klauen zu Boden schmetterte, jaulte er vor Schmerzen.
»WAS FÜR EIN LINKS WAR DAS DENN, DU BLINDGÄNGER?«, brüllte Kestrel ihm ins Ohr. »Sind alle Erdflügler so dumm? ODER BIST DU EINFACH NUR SCHWERHÖRIG?«
Wenn du mich weiter so anschreist, werde ich mit Sicherheit bald schwerhörig sein, dachte Clay. Er befreite sich aus dem Griff des Himmelsflüglers, als Kestrel erneut die Klaue hob.
»Ich habe keine Ahnung, wie andere Erdflügler sind«, protestierte Clay, während er sich seine wunden Krallen leckte. »Woher auch? Aber vielleicht könnten wir ja mal versuchen, ohne dieses ganze Geschrei zu kämpfen, damit wir …« Er brach ab, weil er das Zischen hörte, das einen von Kestrels Flammenangriffen ankündigte.
Er schlug die Flügel über dem Kopf zusammen, zog den langen Hals ein und versteckte sich zwischen den Stalagmiten, die in einer Ecke der Höhle standen. Die Flammen ließen die Felsen um ihn herum bersten und versengten seine Schwanzspitze.
»Feigling!«, grölte die riesige Drachendame, während sie eine der Felssäulen zerschmetterte und ein Regen aus scharfkantigen schwarzen Steinen auf Clay niederprasselte. Er schlug die Klauen vor die Augen, und im nächsten Moment spürte er, wie sie ihm mit aller Kraft auf den Schwanz trat.
»AUTSCH!«, brüllte er. »Du hast doch gesagt, dass Schwanztreten geschummelt ist!« Er nahm den am nächsten stehenden Stalagmiten zwischen die Klauen und krabbelte daran bis zur Höhlendecke empor. Als er das obere Ende erreicht hatte, starrte er auf den roten Himmelsflügler hinunter.
»Ich bin deine Lehrerin«, fauchte Kestrel. »Wenn ich so was mache, ist das nicht geschummelt. Jetzt komm wieder runter und kämpfe wie ein Himmelsflügler.«
Aber ich bin KEIN Himmelsflügler, dachte Clay trotzig. Ich bin ein Erdflügler! Und ich mag es nicht, etwas in Brand zu setzen oder im Kreis um andere Drachen herumzuflattern und ihnen in den Hals zu beißen. Ihm taten immer noch die Zähne vom letzten Mal weh, als er sie sich beinahe an Kestrels steinharten Schuppen ausgebissen hatte.
»Wie wäre es, wenn ich mit einem der anderen kämpfe?«, fragte er. »Das kann ich viel besser.« Die anderen Drachlinge waren fast so groß wie er und schummelten nicht (na ja, jedenfalls nicht oft). Eigentlich machte es ihm sogar Spaß, mit ihnen zu kämpfen. Aber wenn Kestrel zusah, schaffte er es nie, einen Kampf zu gewinnen. Sie machte ihn viel zu nervös.
»Ach ja? Wen hättest du denn gern als Gegner? Den zu kurz geratenen Sandflügler oder den faulen Regenflügler?«, meinte Kestrel. »Auf dem Schlachtfeld wirst du dir das auch aussuchen können, da bin ich mir ganz sicher.« Ihr Schwanz glühte wie Kohlen, während er von einer Seite auf die andere peitschte.
»Glory ist nicht faul«, verteidigte Clay seine Freundin. »Sie ist nur nicht fürs Kämpfen gemacht, das ist alles. Webs sagt, dass es im Regenwald nicht viel gibt, worum man kämpfen muss, weil die Regenflügler Futter im Überfluss haben. Er sagt, dass sie sich deshalb auch aus dem Krieg herausgehalten haben, weil nämlich keine der rivalisierenden Königinnen Regenflügler in ihrer Armee haben will. Er sagt –«
»HÖR AUF ZU JAMMERN UND KOMM RUNTER!«, brüllte Kestrel. Sie stellte sich auf die Hinterklauen und breitete die Flügel aus, sodass sie plötzlich dreimal so groß aussah.
Erschrocken jaulte Clay auf und versuchte, auf den nächsten Stalagmiten zu springen, aber da sich seine Flügel zu langsam entfalteten, prallte er seitlich dagegen. Funken sprühten, während seine Klauen an dem zerklüfteten Stein entlangschrammten. Als Kestrel den Kopf zwischen die Säulen steckte, ihre Zähne in seinen Schwanz schlug und ihn zwischen den Felsen hervorzog, heulte er vor Schmerz laut auf.
Ihre Klauen legten sich um seinen Hals, als sie ihm ins Ohr zischte: »Wo ist das wilde, kleine Monster, das ich gesehen habe, als du geschlüpft bist? Das ist der Drache, den wir für die Prophezeiung brauchen.«
»Grmpf«, krächzte Clay, während er verzweifelt versuchte, sich aus ihrem Griff zu befreien. Er spürte, wie die sonderbaren Brandnarben auf ihren Handflächen an seinen Schuppen scheuerten.
So endete das Kampftraining mit Kestrel immer – er wurde ohnmächtig, und dann hinkte er noch Tage später und hatte überall tierischen Muskelkater. Wehr dich, dachte er. Werde wütend! Tu was! Aber obwohl er der größte der fünf Drachlinge war, würde es noch ein Jahr dauern, bis sie alle ausgewachsen waren, und Kestrel überragte ihn um einiges.
Er versuchte, sich in Rage zu bringen, aber alles, was ihm durch den Kopf ging, war: Es wird bald vorbei sein, und dann kann ich zum Abendessen. Was natürlich kein besonders heldenhafter Gedanke war.
Plötzlich stieß Kestrel ein lautes Brüllen aus und ließ ihn fallen. Flammen schossen über Clays Kopf, als er mit einem dumpfen Schlag auf den Boden plumpste.
Die rote Drachendame wirbelte wütend herum. Hinter ihr stand heftig keuchend Tsunami, der Meeresflügler-Drachling. Zwischen ihren scharfen weißen Zähnen steckte eine rotgoldene Schuppe. Sie spuckte sie aus und starrte ihre Lehrerin trotzig an.
»Hör auf, Clay zu schikanieren«, drohte Tsunami. »Oder ich beiß dich gleich noch mal.« Im Licht der Fackeln schimmerten ihre dunkelblauen Schuppen wie Kobalt. Die Kiemen an ihrem langen Hals pulsierten, wie immer, wenn sie wütend war.
Kestrel setzte sich hin und zog ihren Schwanz an sich, um die Bisswunde zu begutachten. Dann fletschte sie die Zähne und sah Tsunami an. »Ach, wie süß. Du beschützt einen Drachen, der versucht hat, dich umzubringen, als du noch ein Ei warst.«
»Aber zum Glück waren ja die großen Drachen da, um uns das Leben zu retten«, erwiderte Tsunami, »und dafür sind wir natürlich auch sehr dankbar, denn jetzt müssen wir uns diese Geschichte bis in alle Ewigkeit anhören.« Sie stapfte um die beiden Drachen herum und stellte sich zwischen Clay und Kestrel.
Clay verzog das Gesicht. Er hörte diese Geschichte nicht gerne. Er verstand es einfach nicht. Es würde ihm nicht einmal im Traum einfallen, den anderen Drachlingen etwas anzutun. Warum war er dann auf ihre Eier losgegangen, kurz nachdem er geschlüpft war? Steckte tatsächlich ein blutrünstiges Monster in ihm?
Die beiden anderen Erzieher, Webs und Dune, sagten, er sei beim Schlüpfen ganz wild gewesen; sie hätten ihn ins Wasser werfen müssen, um die anderen Eier vor ihm zu schützen. Kestrel wollte, dass er das Monster von damals wiederfand und im Kampf einsetzte. Aber er hatte Angst, dass ihn dann alle hassen würden – allen voran er selbst. Allein der Gedanke daran, was er seinen Freunden um ein Haar angetan hätte, gab ihm das Gefühl, kein bisschen Feuer mehr in sich zu haben.
Er wollte ja gar keine brutale Killermaschine sein, auch wenn Kestrel glaubte, das wäre eine Verbesserung. Aber vielleicht war das der einzige Weg, um die Prophezeiung wahr werden zu lassen. Vielleicht war es sein Schicksal, ein Monster zu sein.
»Na gut«, sagte Kestrel herablassend. »Wir sind sowieso fertig. Ich werde in deiner Schriftrolle vermerken, dass du mal wieder versagt hast, Erdflügler.« Sie schnaubte eine kleine Flamme in die Luft, drehte sich um und marschierte hocherhobenen Hauptes aus der Höhle.
Sobald der rote Schwanz außer Sicht war, ließ sich Clay mit einem lauten Plumps auf den Boden fallen. Er hatte das Gefühl, als wäre jede einzelne seiner Schuppen verbrannt. »Beim Training morgen wird sie richtig gemein zu dir sein, Tsunami«, warnte er seine Freundin.
»Oh nein«, keuchte der Meeresflügler gespielt entsetzt. »Ich wusste gar nicht, dass Kestrel gemein sein kann! Das wäre eine Überraschung und so völlig untypisch für sie!«
»Autsch«, stöhnte Clay. »Bring mich bitte nicht zum Lachen. Ich glaube, ich habe mir die Rippen gebrochen.«
»Du hast keine gebrochenen Rippen.« Tsunami stupste ihn mit ihrer Nase an. »Drachenknochen sind fast so hart wie Diamanten. Du bist völlig in Ordnung. Und jetzt steh auf und spring in den Fluss.«
»Nein!« Clay steckte die Nase unter den Flügel. »Zu kalt!«
»Spring in den Fluss« war Tsunamis Lösung für alles. Langeweile? Schmerzende Knochen? Trockene Schuppen? Gehirn zu vollgestopft mit der Geschichte des Krieges? »Spring in den Fluss!«, rief sie jedes Mal, wenn sich einer der fünf Drachlinge beschwerte. Ihr war es völlig egal, dass sie die Einzige war, die unter Wasser atmen konnte, oder dass die meisten anderen Drachenstämme es hassten, nass zu werden.
Clay machte es nichts aus, nass zu sein, aber er konnte es nicht ausstehen, wenn ihm kalt war, und der unterirdische Fluss, der durch ihre Höhle strömte, war immer eiskalt.
»Jetzt mach schon«, befahl Tsunami. Sie nahm seinen Schwanz zwischen ihre Vorderklauen und fing an, ihn zum Fluss zu zerren. »Dann geht's dir gleich besser.«
»Auf keinen Fall!«, brüllte Clay, der seine Krallen in den glatten Steinboden schlug, um nicht weitergeschleppt zu werden. »Mir wird dadurch nur noch kälter! Hör auf! Geh weg! Argh!« Sein Protestgeschrei ging in einem Strudel aus Luftblasen unter, als Tsunami ihn in das eisige Wasser fallen ließ.
Als er wieder an die Oberfläche kam, schwamm sie neben ihm, tauchte den Kopf unter und spritzte Wasser auf ihre Schuppen wie ein schöner, etwas zu groß geratener Fisch. Neben ihr kam sich Clay wie ein schwerfälliger brauner Erdklumpen vor.
Er paddelte ins seichte Wasser und legte sich auf einen halb im Fluss verborgenen Felsen. Natürlich würde er es Tsunami gegenüber nicht zugeben, aber sie hatte recht: Im Wasser waren die Verbrennungen und die Schmerzen gar nicht mehr so schlimm. Die Strömung half, den qualmenden Steinstaub zwischen seinen trockenen Schuppen wegzuspülen.
Aber es war kalt. Clay kratzte an dem Felsen unter ihm. Warum konnte nicht wenigstens ein kleines bisschen Schlamm hier unten sein?
»Eines Tages, wenn ich Königin der Meeresflügler bin, wird Kestrel das bereuen«, sagte Tsunami.
»Ich dachte, nur die Töchter einer Königin könnten mit ihr um den Thron kämpfen«, wandte Clay ein, während er ihr dabei zusah, wie sie in dem schmalen Flussbett auf und ab schwamm. Tsunami konnte sich so schnell im Wasser bewegen. Am liebsten hätte er auch Schwimmhäute zwischen den Krallen gehabt, oder Kiemen, mit denen er unter Wasser atmen konnte. Außerdem war Tsunamis Schwanz kräftiger als der der anderen Drachen.
»Na ja, wer weiß, vielleicht ist die Königin der Meeresflügler ja meine Mutter, und ich bin eine verschollene Prinzessin«, erwiderte Tsunami. »So wie in der Geschichte.«
Alles, was die Drachlinge über die Außenwelt wussten, stammte aus den Schriftrollen, die von den Klauen des Friedens in die Höhle gebracht wurden. Ihre Lieblingsgeschichte war »Die verlorene Prinzessin«, eine Legende über einen verschwundenen Drachling der Meeresflügler, deren königliche Familie auf der Suche nach ihr den kompletten Ozean auseinandernahm. Als das Drachenmädchen am Ende wieder zurückkehrte, wurde sie von ihren überglücklichen Eltern mit offenen Flügeln und einem Festmahl willkommen geheißen.
Die vielen Abenteuer in der Mitte der Geschichte ließ Clay immer aus. Ihm gefiel nur der letzte Teil – die glücklichen Eltern. Und das Festmahl. Das Festmahl fand er auch ziemlich gut.
»Ich frage mich, wie meine Eltern wohl sind«, grübelte er.
»Ich frage mich, ob von unseren Eltern überhaupt noch jemand lebt«, sagte Tsunami.
Clay dachte nicht gern darüber nach. Er wusste, dass jeden Tag Drachen im Krieg starben – wenn Kestrel und Webs von ihren Streifzügen wiederkamen, erzählten sie von blutigen Schlachten, verkohlter Erde und Bergen brennender Drachenkadaver. Aber ihm blieb gar nichts anderes übrig, als zu glauben, dass seine Eltern gesund und am Leben waren. »Glaubst du, sie vermissen uns?«
»Bestimmt.« Tsunami spritzte mit ihrem Schwanz Wasser auf ihn. »Ich wette, meine waren ganz außer sich, als Webs mein Ei gestohlen hat. So wie in der Geschichte.«
»Und meine haben die Sümpfe durchstreift, um mich zu finden«, sagte Clay. Schon als ganz kleine Drachlinge hatten sie sich alle vorgestellt, wie ihre Eltern voller Verzweiflung nach ihnen gesucht hatten. Clay gefiel der Gedanke daran, dass da draußen jemand war, der nach ihm suchte … dass jemand ihn vermisste und wiederhaben wollte.
Tsunami rollte sich auf den Rücken und starrte mit ihren schimmernden grünen Augen an die Höhlendecke. »Die Klauen des Friedens wussten jedenfalls, was sie taten«, stellte sie mit Verbitterung in der Stimme fest. »Hier unten wird uns nie jemand finden.«
Einen Moment lang hörten sie dem Gurgeln des Flusses und dem Knistern der Fackeln an den Wänden zu.
»Wir werden nicht für immer hier unter der Erde sein«, sagte Clay, um seine Freundin aufzuheitern. »Ich meine, wenn die Klauen des Friedens wollen, dass wir diesen Krieg beenden, müssen sie uns irgendwann mal rauslassen.« Er kratzte sich nachdenklich hinterm Ohr. »Starflight sagt, dass es nur noch zwei Jahre dauern wird.« So lange mussten sie noch durchhalten. »Dann können wir nach Hause gehen und so viele Kühe fressen, wie wir wollen.«
»Na ja, zuerst retten wir noch schnell die Welt«, wandte Tsunami ein. »Und dann gehen wir nach Hause.«
»Richtig«, sagte Clay. Wie sie die Welt retten würden, war zwar noch unklar, aber alle schienen zu glauben, dass ihnen schon etwas einfallen würde, wenn es so weit war.
Clay hievte sich aus dem Wasser, die schweren, mit Wasser vollgesogenen Flügel schlaff herabhängend. Dann schleppte er sich mühsam zur Wand, wo er sie zum Trocknen vor einer der Fackeln ausbreitete. Er reckte den Hals und versuchte, sich aufzuwärmen. Die schwache Hitze der Flamme tat gut auf seinen schmerzenden Schuppen.
»Es sei denn …«, meinte Tsunami.
Clay senkte den Kopf und sah seine Freundin an. »Es sei denn, was?«
»Es sei denn, wir verschwinden vorher von hier«, erwiderte sie. Sie rollte sich herum und zog sich mit einer graziösen, fließenden Bewegung aus dem Wasser.
»Verschwinden?«, wiederholte Clay verdutzt. »Wie? Ganz allein?«
»Warum nicht?«, meinte sie. »Wenn es uns gelingt, einen Weg nach draußen zu finden – warum sollten wir dann noch zwei Jahre warten? Ich bin jetzt schon bereit dafür, die Welt zu retten. Du nicht?«
Clay war sich nicht sicher, ob er jemals bereit dafür sein würde, die Welt zu retten. Er hatte gedacht, dass die Klauen des Friedens ihnen sagen würden, was sie tun mussten. Nur die drei Erzieher – Kestrel, Webs und Dune – wussten, wo die Drachlinge versteckt waren, aber da draußen gab es ein ganzes Netzwerk von Anhängern der Friedensbewegung, die sich für das Eintreten der Prophezeiung bereit machten.
»Wir können den Krieg doch nicht allein beenden«, meinte er. »Wir wüssten doch gar nicht, wo wir anfangen sollen.«
Tsunami schlug genervt mit den Flügeln und überzog ihn mit einem Schauer kalter Tropfen. »Natürlich können wir den Krieg ganz allein beenden«, sagte sie. »Genau darum geht es doch in der Prophezeiung.«
»Vielleicht in zwei Jahren«, sagte Clay. Vielleicht habe ich bis dahin ja meine gefährliche Seite gefunden. Vielleicht bin ich dann der Kämpfer, den Kestrel aus mir machen will.
»Vielleicht schon früher«, widersprach sie trotzig. »Denk mal darüber nach, okay?«
Er verlagerte sein Gewicht. »Also gut. Ich werde darüber nachdenken.« Jetzt konnte er wenigstens aufhören, mit ihr zu diskutieren.
Tsunami legte den Kopf schief. »Ich höre das Abendessen!« Aus dem Gang drang das leise Echo von ängstlichem Muhen zu ihnen. Vergnügt stupste sie Clay an. »Wir laufen um die Wette!« Dann drehte sie sich um und stürmte davon, ohne auf eine Antwort zu warten.
Die Fackeln in der Kampfhöhle warfen ein schwaches, fahles Licht, und unter Clays Schuppen sickerte kaltes Wasser hervor. Er faltete seine Flügel zusammen und fegte mit dem Schwanz durch das Geröll der zerschmetterten Felssäule.
Tsunami war verrückt. Die fünf Drachlinge waren noch lange nicht dafür bereit, den Krieg zu beenden. Sie würden nicht einmal wissen, wie sie da draußen allein überleben sollten. Konnte ja sein, dass Tsunami so tapfer und zäh war, wie man das von Helden erwartete, aber Sunny und Glory und Starflight … Als Clay daran dachte, was ihnen alles zustoßen konnte, ergriff ihn ein eiskalter Schauder. Er würde alles dafür geben, um seine Freunde zu beschützen.
Aber es war sowieso unmöglich, aus den Höhlen zu entkommen. Dafür hatten die Klauen des Friedens gesorgt.
Trotzdem fragte er sich insgeheim, wie es wohl sein würde, nach Hause zu gehen, anstatt noch zwei Jahre zu warten. Clay kannte nichts anderes als diese Höhlen, wo er geschlüpft war, aber er hatte sich die Außenwelt oft genug vorgestellt. Zurück ins Moor, in die Sümpfe, zu einem ganzen Stamm von Erdflüglern, die so aussahen und dachten wie er … zurück zu seinen Eltern, wer auch immer sie waren …
Was, wenn es ihnen gelingen würde?
Was, wenn die Drachlinge entkommen, überleben und die Welt retten konnten … auf ihre Art?
2. KAPITEL
Clay benutzte seinen Schwanz, um die Reste des Abendessens in den Fluss zu fegen. Die abgenagten weißen Knochen hüpften im Wasser auf und ab und wurden dann von der Strömung weggerissen.
Am Rand der großen Haupthöhle flackerten Feuer. Über Clays Kopf erstreckte sich eine gewaltige Leere, in die unzählige, wie Zähne aussehende Stalaktiten ragten. Die gewölbte Decke war so groß, dass sechs ausgewachsene Drachen mit ausgebreiteten Flügeln darunter Platz gehabt hätten. An einer Wand floss der unterirdische Fluss entlang, murmelnd und gurgelnd, als würde auch er gerade seine Flucht planen.
Clay warf einen Blick in Richtung der beiden kleinen Schlafhöhlen, die an die Haupthöhle angrenzten – sie waren zurzeit leer –, und fragte sich, wo die anderen Drachlinge hingegangen waren, während er aufgeräumt hatte.
»AHA!«, brüllte jemand hinter ihm. Clay zuckte zusammen und schlug die Flügel schützend über seinen Kopf.
»Was hab ich denn jetzt wieder angestellt?«, kreischte er. »Es tut mir leid! Es war keine Absicht! Und wenn es um die zusätzliche Kuh geht – Dune hat gesagt, die könnte ich haben, weil Webs erst ganz spät wiederkommt, aber es tut mir leid und ich kann ja morgen das Abendessen ausfallen lassen!«
Eine kleine Schnauze stupste ihn in den Rücken zwischen die Flügel. »Jetzt komm mal wieder runter, du Dummerchen«, sagte Sunny. »Das ›Aha‹ galt doch gar nicht dir.«
»Oh.« Clay faltete die Flügel zusammen und drehte sich um. Sunny war der kleinste der Drachlinge und ganz zuletzt geschlüpft. In ihrem Maul verschwand gerade der helle Schwanz einer Eidechse. Sie grinste ihn an.
»Das war mein wilder Jagdschrei«, erklärte sie. »Gefällt er dir? Hast du Angst bekommen?«
»Na ja, überrascht hat er mich jedenfalls«, meinte Clay. »Schon wieder Eidechsen? Was spricht denn gegen Kühe?«
»Igitt! Die liegen mir immer so schwer im Magen«, erwiderte sie. »Du siehst irgendwie ernst aus.«
»Ich habe nur nachgedacht.« Er war froh, dass Kestrel und Dune nicht wie Nachtflügler Gedanken lesen konnten. Beim Abendessen hatte er die ganze Zeit darüber nachdenken müssen, was Tsunami zu ihm gesagt hatte.
Clay hob einen seiner Flügel und Sunny kuschelte sich an ihn. Er spürte, wie die Wärme ihrer goldenen Schuppen seinen Körper durchdrang. Sunny war für einen Sandflügler viel zu klein und hatte die falsche Farbe – gelbbraunes Gold anstatt eines hellen Beigetons –, aber wenigstens strahlte sie Hitze ab, wie alle Drachen ihres Stammes.
»Dune sagt, dass wir noch eine Stunde lernen sollen, bevor wir ins Bett gehen«, informierte sie ihn. »Die anderen sind schon in der Studierhöhle.«
Dune, der verkrüppelte Drache, der das Überlebenstraining leitete, war ein Sandflügler, genau wie Sunny … jedenfalls mehr oder weniger. Mit dem kleinsten der Drachlinge stimmte etwas nicht. Sunny hatte nicht nur zu goldene Schuppen, sondern auch Augen, die graugrün anstatt schimmernd schwarz waren. Und das Schlimmste war, dass ihr Schwanz in einer ganz normalen Spitze auslief, wie die Schwänze der meisten Drachenstämme, anstatt mit dem giftigen Stachel zu enden, der die gefährlichste Waffe eines Sandflüglers war.
Wie Kestrel oft sagte, war Sunny völlig harmlos … und was taugte ein harmloser Drache im Kampf? Aber ihr Ei hatte auf die Beschreibung in der Prophezeiung gepasst, daher war sie nun einer der auserwählten Drachlinge – ihre »Schwingen des Sandes« –, ob es den Klauen des Friedens nun gefiel oder nicht.
Und natürlich gab es auch keine »Schwingen des Regens« in der Prophezeiung. Die Drachlinge hatten mehr als einmal gehört, dass Glory, ein Regenflügler, im letzten Moment als Ersatz für das zerbrochene Ei der Himmelsflügler beschafft worden war. Kestrel und Dune nannten sie »einen Fehler« und hatten immer etwas an ihr auszusetzen.
Niemand wusste, ob sich die Prophezeiung mit einem Regenflügler anstelle eines Himmelsflüglers noch erfüllen würde. Aber nach allem, was Clay über Himmelsflügler wusste, war er heilfroh, dass sie Glory bei sich hatten und nicht noch einen schlecht gelaunten, Feuer speienden Drachen wie Kestrel.
Und falls jemand die Prophezeiung über den Haufen warf, würde das mit Sicherheit nicht Glory sein, sondern er, Clay.
»Komm mit«, sagte Sunny, während sie ihm mit ihrem Schwanz einen Klaps gab. Er folgte ihr quer durch die Haupthöhle.
Von hier aus führten vier gewundene Tunnel in verschiedene Richtungen durch den Fels: einer in den Kampfraum, einer in die Höhle der Erzieher, einer ins Studierzimmer und einer zur Außenwelt. Letzterer war durch einen Steinbrocken blockiert, der so groß war, dass keiner der Drachlinge ihn bewegen konnte.
Als sie daran vorbeigingen, blieb Clay stehen und drückte mit der Schulter gegen den Steinbrocken. Immer wenn die großen Drachen nicht da waren, versuchte er, den Tunnel zu öffnen. Und irgendwann würde der Stein sich bewegen. Vielleicht nicht viel, aber selbst ein paar Zentimeter würden ihm die Gewissheit geben, dass er bald ausgewachsen war. Er fühlte sich zumindest groß. Ständig prallte er mit dem Schwanz oder den Flügeln gegen Sachen oder stieß aus Versehen etwas um.
Heute nicht, dachte er bedauernd, als der Felsbrocken sich kein bisschen von der Stelle rührte. Vielleicht morgen.
Er folgte Sunny den Tunnel entlang ins Studierzimmer. Seine riesigen Hinterklauen mit den dicken Krallen scharrten geräuschvoll über den Steinboden. Obwohl er sein ganzes Leben unter dem Berg verbracht hatte, tat es immer noch weh, auf nacktem Fels zu laufen.
Tsunami stolzierte in der Studierhöhle auf und ab und erteilte Befehle. Sunny und Clay setzten sich in die Nähe des Eingangs und falteten ihre Flügel zusammen. Aus einem Loch in der Decke, hoch über ihren Köpfen, drang frische Luft zu ihnen – in dieser Höhle gab es die einzige Verbindung zur Außenwelt. Nachts, ohne jeden Sonnenstrahl, fühlte sich der Raum kälter und irgendwie leerer an. Clay reckte den Hals und schnupperte an der Dunkelheit, die auf der anderen Seite des Lochs hereingebrochen war. Für ihn roch sie wie Sterne.
Zwischen zwei Fackeln an der Wand hing eine Landkarte von Pyrrhia. Tsunami und Starflight starrten gern auf die Karte und versuchten herauszufinden, wo sich ihre geheime Höhle befand, da keiner der großen Drachen es ihnen sagen wollte. Starflight war ziemlich sicher, dass sie irgendwo unter dem Wolkengebirge waren. Himmelsflügler zogen es vor, hoch oben auf den Gipfeln zu leben, weshalb alles, was in den riesigen Höhlen darunter geschah, unbemerkt blieb.
»Ich finde Geschichtsunterricht immer so verwirrend«, beschwerte sich Sunny leise bei Clay, während ihr Schwanz hin- und herzuckte. »Warum setzen sich die drei Seiten nicht einfach zusammen und reden so lange miteinander, bis der Krieg beendet ist?«
»Das wäre großartig«, meinte Clay. »Dann könnten wir endlich aufhören, uns mit diesem Thema zu beschäftigen.«
Sunny kicherte.
»Aufhören«, befahl Tsunami herrisch, während sie mit den Klauen aufstampfte. »Es wird nicht geflüstert! Passt lieber auf. Ich verteile jetzt die Rollen.«
»Das ist doch kein richtiger Unterricht«, gab Starflight zu bedenken. Wegen seiner schwarzen Schuppen war er in den dunklen Schatten zwischen den Fackeln fast unsichtbar. Er klaubte einige Schriftrollen in seinen Krallen zusammen und fing an, sie in ordentlich aufeinandergestapelte Dreiecke zu sortieren. »Vielleicht sollte ich euch stattdessen lieber etwas vorlesen.«
»Ach du dickes Drachenei, alles, nur das nicht«, rief Glory von einem Felsvorsprung über ihnen. »Vielleicht später, wenn wir einschlafen wollen.« Ihre lange, schmale Schnauze, die vor Unmut smaragdgrün schimmerte, ruhte auf ihren Vorderklauen. Die Schuppen auf ihrem Körper wechselten ständig die Farbe. Heute Abend glänzte ihr Schwanz in schimmernden Violetttönen.
Wenn Glory nicht gewesen wäre, dachte Clay, würde keiner von ihnen wissen, dass es so viele Farben auf der Welt gab. Er fragte sich, wie der Regenwald aussah, in dem es einen ganzen Stamm dieser wunderschönen Drachen gab.
»Ruhe jetzt«, schimpfte Tsunami. »Natürlich wäre ich die beste Königin, aber wir sollten Sunny die Königin spielen lassen, weil sie ein echter Sandflügler ist.« Sie stapfte zu ihnen und stieß Sunny in die Mitte der Höhle.
»Na ja, so was Ähnliches jedenfalls«, murmelte Glory leise.
»Pst!« Starflight stupste sie mit seinem Schwanz an. Keiner der Drachlinge sprach je darüber, warum Sunny nicht wie ein normaler Sandflügler aussah. Clay vermutete, dass man ihr Ei zu früh aus dem Sand genommen hatte. Wahrscheinlich brauchten die Eier der Sandflügler die Sonne und den Wüstensand, damit sich die Drachlinge im Inneren vollständig entwickeln konnten – obwohl er ja der Meinung war, dass Sunny völlig in Ordnung aussah.
Tsunami trommelte mit den Klauen auf den Höhlenboden und musterte ihre Freunde. »Clay, willst du den Zweibeiner spielen?«
»Das ist nicht fair«, protestierte Starflight. »Er ist doppelt so groß wie Sunny. Ein richtiger Zweibeiner wäre kleiner als sie, so steht es in der Schriftrolle hier geschrieben. Außerdem haben Zweibeiner keine Schuppen, keine Flügel und keinen Schwanz. Und sie gehen, wie der Name schon sagt, nur auf zwei Beinen, was ich für sehr unsicher halte. Ich wette, sie fallen die ganze Zeit hin. Habt ihr gewusst, dass sie fast genauso wild auf Gold sind wie Drachen? Der Schriftrolle zufolge sind Zweibeiner dafür bekannt, dass sie einzelne Drachen überfallen und bestehlen –«
»DU MEINE GÜTE. DAS WISSEN WIR!«, fuhr Glory ihn an. »Wir waren alle bei den spannenden Vorträgen über Zweibeiner dabei. Bring mich bloß nicht dazu, runterzukommen und dich zu beißen, Starflight.«
»Ich würde gern mal einem richtigen Zweibeiner begegnen«, meinte Clay. »Dann würde ich ihm den Kopf abreißen! Und ihn fressen!« Er trommelte mit den Vorderklauen auf den Steinboden vor sich. »Ich wette, er würde besser schmecken als das Federvieh, das Kestrel immer für uns mitbringt.«
»Armer, hungriger Clay«, neckte ihn Sunny.
»Wenn wir frei sind, suchen wir uns ein Nest der Zweibeiner und verschlingen sie alle«, versprach Tsunami, während sie Clay einen Stups mit dem Flügel gab.
Sunny blinzelte verwirrt. »Wenn wir frei sind?«
Ups. Tsunami und Clay tauschten Blicke. Sunny war lieb und nett, viel zu vertrauensselig und konnte einfach kein Geheimnis für sich behalten.
»Ich meine natürlich, nachdem wir die Prophezeiung erfüllt haben«, sagte Tsunami schnell. »Clay, du bist der Zweibeiner. Hier, das kann deine Zweibeinerklaue sein.« Sie holte mit ihrem langen Schwanz aus und brach damit einen Stalagmiten ab. Als Felsbrocken durch die Höhle flogen, duckten sich die anderen Drachlinge.
Clay nahm die scharfe Felsspitze wie einen Speer zwischen die Klauen und grinste Sunny boshaft an.
»Tu mir bloß nicht weh«, bat sie nervös.
»Aber natürlich nicht«, versicherte Tsunami. »Wir spielen das doch nur. Und der Rest von uns übernimmt die Rollen der Prinzessinnen. Ich bin Burn. Glory kann Blister sein und Starflight ist Blaze.«
»Letztes Mal musste ich auch schon eine Prinzessin spielen«, beschwerte sich Starflight. »Ich weiß nicht, ob mir dieses Spiel gefällt.« Als er seine Flügel dehnte, glitzerten die vereinzelten Silberschuppen auf der Unterseite wie Sterne am Nachthimmel.
»Das ist kein Spiel, das ist Geschichte«, sagte Tsunami. »Und wenn wir noch andere Freunde hätten, könnten wir uns auch abwechseln. Aber da es nun mal drei Sanddrachen-Prinzessinnen gibt, musst du eine davon sein. Und jetzt hör auf zu jammern.«
Starflight zuckte mit den Schultern und wich in die Schatten zurück, wie immer, wenn er einen Kampf nicht gewinnen konnte.
»Achtung, es geht los«, sagte Tsunami, während sie mit einem großen Satz auf den Felsvorsprung neben Glory sprang.
»Ähm«, begann Sunny. Sie sah Clay argwöhnisch an. »Ach ja. Hier bin ich, la la la, Königin Oasis der Sandflügler. Ich bin ja so dermaßen wichtig und … ähm … königlich … und so.«
Tsunami seufzte. Glory und Starflight grinsten verstohlen.
»Ich bin schon ewig Königin«, fuhr Sunny fort, während sie hocherhobenen Hauptes über den Höhlenboden stolzierte. »Niemand wagt es, mich zum Kampf um meinen Thron herauszufordern. Ich bin die stärkste Sandflügler-Königin, die je gelebt hat!«
»Vergiss den Schatz nicht«, zischte Tsunami, die auf einen Stapel Felsbrocken deutete.
»Ach ja, richtig«, sagte Sunny. »Vermutlich liegt es an meinem Schatz! Ich habe so viel Gold, weil ich so eine wichtige Königin bin!« Sie schob die Felsbrocken zusammen und nahm sie zwischen ihre Klauen.
»Hat da jemand Gold gesagt?«, grölte Clay, der hinter einem großen Felsen hervorsprang. Vor Schreck jaulte Sunny laut auf.
»Nein!«, brüllte Tsunami. »Du hast keine Angst! Du bist Königin Oasis, die große, böse Königin der Sanddrachen.«
»Sti…stimmt«, stotterte Sunny. »Rrrrr! Was hat dieser winzige Zweibeiner im Königreich des Sandes zu suchen? Ich habe keine Angst vor winzigen Zweibeinern! Ich werde jetzt dort rausgehen und ihn mit einem einzigen Bissen verschlingen!«
Glory begann so heftig zu kichern, dass sie sich hinlegen und das Gesicht in den Flügeln vergraben musste. Sogar Tsunami gab Laute von sich, die wie unterdrücktes Lachen klangen.
Clay schwang seinen Stalagmiten im Kreis herum. »Quiek … quiek … quiek!«, brüllte er. »Und was Zweibeiner sonst noch für komische Geräusche machen! Ich bin hier, um einen prächtigen Drachen seines Goldes zu berauben!«
»Da hast du dir den falschen Drachen ausgesucht«, erwiderte Sunny mit gespielter Empörung. Sie stürmte vor, breitete die Flügel aus und reckte drohend den Schwanz in die Höhe. Ohne den giftigen Stachel, den andere Sandflügler hatten, sah Sunnys Schwanz allerdings nicht sehr gefährlich aus, was aber niemand erwähnte.
»Waaaaaaah!«, schrie Clay, während er einen Satz nach vorn machte und sie mit seinem Felsspeer angriff. Sunny wich aus, dann umkreisten sich die beiden und griffen sich immer wieder abwechselnd an. Das war der Teil, der Clay am besten gefiel. Wenn Sunny nicht mehr versuchte, eine Königin zu spielen, und sich auf den Kampf konzentrierte, machte das Ganze Spaß. Da sie so klein war, konnte sie seinen Manövern meistens mühelos ausweichen.
Doch am Ende musste Königin Oasis verlieren, denn so stand es schließlich geschrieben. Clay drängte Sunny an die Höhlenwand und stieß die Speerattrappe zwischen ihren Hals und ihren Flügel, wobei er so tat, als hätte er ihr Herz durchbohrt.
»Aaaaaargh!«, heulte Sunny auf. »Unmöglich! Eine Königin wird von einem unbedeutenden Zweibeiner besiegt! Das Königreich wird auseinanderfallen! Oh, mein Schatz … mein schöner Schatz …« Sie sank zu Boden und schlug ein paarmal matt mit den Flügeln.
»Hahaha!«, rief Clay. »Und quiek, quiek! Der Schatz gehört mir!« Er sammelte die Felsbrocken auf und stolzierte davon, wobei sein Schwanz voller Stolz hin- und herpeitschte.
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