Über dieses Buch
Die Lange Erde: eine unendliche Abfolge von parallelen Welten, der unseren mehr oder weniger ähnlich und einst von Menschen unbewohnt. Bis eine nur äußerlich unscheinbare Erfindung – der »Wechsler« – es der Menschheit ermöglichte, in diese Vielzahl von Welten hinauszutreten, sie zu erforschen, zu erobern, sich untertan zu machen. Die Verbindung zwischen den einzelnen Siedlungen wird aufrechterhalten durch eine gewaltige Flotte an Luftschiffen. Sie ermöglichen weitere Entdeckungen, regen Handel und den Anschein eines politischen Systems.
Doch der Beginn einer Krise zeichnet sich ab. Zum einen hat sich über eine Million von Wechlser-Schritten von der ursprünglichen, der Datumerde, entfernt ein neues Amerika gebildet – eine junge Nation, der es zutiefst widerstrebt, der alten Regierung Rede und Antwort stehen zu müssen. Zum anderen beginnen die Trolle – Ureinwohner der Langen Erde, gleichermaßen graziöse wie geheimnisvolle Lebewesen und als Arbeitskräfte unersetzlich – angesichts des unaufhaltsamen Vordringens der Menschen zu verschwinden.
Zum eher widerwilligen Retter in der Not soll Joshua Valienté werden, der vor vielen Jahren als Erster die vielfältigen Welten der Langen Erde erforschte. Kann er den drohenden Krieg verhindern? Einen Krieg, wie es noch keinen gegeben hat?
Weitere Informationen zu Terry Pratchett und Stephen Baxter finden Sie am Ende des Buches.
Terry Pratchett und
Stephen Baxter
Der Lange Krieg
Roman
Ins Deutsche übertragen von
Gerald Jung
MANHATTAN
Die Originalausgabe erschien 2013 unter dem Titel »The Long War«
bei Doubleday, an imprint of Transworld Publishers, London.
Die Entwurfszeichnung stammt von Rich Shailer.
Manhattan Bücher erscheinen im Wilhelm Goldmann Verlag, München,
einem Unternehmen der Verlagsgruppe Random House GmbH.
1. Auflage
Copyright © der Originalausgabe 2013
by Terry and Lyn Pratchett and Stephen Baxter
This edition is published by arrangement with Transworld Publishers,
a division of Random House Group Ltd.
All rights reserved.
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2015
by Wilhelm Goldmann Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Die Nutzung des Labels Manhattan erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Hans-im-Glück-Verlags, München
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
Umschlaggestaltung: buxdesign, München,
unter Verwendung eines Entwurfs von R. Shailer/TW
Umschlagmotiv: © R. Shailer/TW
Redaktion: Uta Rupprecht
ISBN: 978-3-641-10229-6
www.manhattan-verlag.de
Für Lyn und Rhianna, wie immer
T. P.
Für Sandra
S. B.
1
Auf einer Alternativwelt, zwei Millionen Schritte von der Erde entfernt:
Das Trollweibchen wurde von seinen Betreuern Mary genannt, wie Monica Jansson in der durchlaufenden Bildunterschrift des Videoclips las. Wie es selbst sich nannte, wusste niemand. Jetzt war zu sehen, wie zwei dieser Betreuer, beides Männer, einer davon in einer Art Raumanzug, sich vor Mary aufbauten. Sie kauerte in der Ecke des nach einem Hightech-Labor aussehenden Raumes – sofern ein Geschöpf, das wie eine mit Fell überzogene Backsteinwand gebaut war, überhaupt kauern konnte – und drückte ihr Junges an ihren gewaltigen Brustkasten. Das Junge, das ebenfalls aus einer Ansammlung von Muskeln zu bestehen schien, trug einen ähnlichen silbrigen Raumanzug. Von den an seinem flachen Schädel angebrachten Sensoren baumelten mehrere Kabel herab.
»Gib ihn her, Mary«, hörte man einen der Männer sagen. »Komm schon. Wir haben diesen Test schon so lange geplant. George bringt ihn in seinem Raumanzug rüber in die Lücke, dort schwebt er eine Stunde oder so im Vakuum herum, und dann kommt er wieder zu uns zurück, gesund und munter. Das macht ihm bestimmt einen Riesenspaß.«
Der andere Mann blieb verdächtig schweigsam.
Der erste ging auf Mary zu, ganz vorsichtig, einen Schritt nach dem anderen. »Wenn du so weitermachst, gibt’s heute kein Eis.«
Mit ihren großen, sehr menschenähnlichen Händen machte Mary undeutliche Gesten und Zeichen. Sie folgten sehr schnell aufeinander und waren kaum zu verfolgen, wirkten aber sehr entschlossen.
Nachdem die Aufnahme des Zwischenfalls immer wieder gezeigt worden war, hatte man online ausführlich darüber spekuliert, warum Mary zu diesem Zeitpunkt nicht einfach gewechselt war. Vielleicht lag es daran, dass man sie an einem unterirdischen Ort festhielt; es war unmöglich, aus einem Kellerraum in das massive Felsgestein zu wechseln, auf das man wechselwärts unweigerlich treffen würde. Außerdem wusste Jansson, ehemals Lieutenant der Polizeibehörde von Madison, dass es viele Möglichkeiten gab, einen Troll am Wechseln zu hindern. Zumindest dann, wenn man ihn zu fassen bekam.
Ohnehin wurden die Theorien, auf denen diese Versuche basierten, heftig kritisiert. Die Männer befanden sich in einer Welt direkt neben der Lücke, einem Loch, an dem sich eigentlich eine Erde befinden sollte, waren also nur einen Schritt vom Vakuum, dem leeren All, entfernt. Dort draußen entwickelten sie ein Raumprogramm, und dafür wollten sie herausfinden, ob die Arbeitskraft der Trolle, die überall in der Langen Erde so extrem nützlich war, auch in der Lücke eingesetzt werden konnte. Es war nicht weiter verwunderlich, dass sich ausgewachsene Trolle dagegen sträubten, in diese lebensfeindliche Leere zu springen, weshalb die Lückenraumforscher versuchten, den Nachwuchs daran zu gewöhnen. So wie dieses Junge.
»Wir haben keine Zeit für Spielchen«, sagte der zweite Mann und zog einen Metallstab heraus, einen Schocker. Er richtete ihn auf Marys Brust und ging auf den Troll zu. »Höchste Zeit, dass Mami mal eine Weile Gute Nacht sagt …«
Das Trollweibchen packte den Stab, brach ihn in der Mitte durch und rammte dem Mann das abgebrochene spitze Ende ins rechte Auge.
Es war immer wieder schockierend, sooft man es sich auch ansah.
Der Mann kippte schreiend nach hinten um und vergoss dabei sehr hellrotes Blut. Der erste Kerl zog ihn rasch aus der Gefahrenzone. »Herrgott noch mal! Um Gottes willen!«
Mary, die ihr Junges immer noch an sich drückte, wiederholte ihre Gesten, jetzt mit blutbespritztem Fell. Ein ums andere Mal.
Danach passierte alles sehr schnell. Die anwesenden Raumkadetten versuchten sofort, das Trollweibchen auszuschalten, sie richteten sogar eine Pistole auf sie. Dann wurden sie jedoch davon abgehalten von einem älteren Mann, der etwas umsichtiger und auf Jansson wie ein ehemaliger Astronaut wirkte.
Und jetzt, nachdem der Fall so viel Aufmerksamkeit erregt hatte, war von Vergeltung ohnehin keine Rede mehr.
Seitdem diese Aufnahme aus dem Labor an die Öffentlichkeit geraten war, hatte sie sich zu einem regelrechten Outernet-Skandal entwickelt und eine Fülle ähnlicher Berichte nach sich gezogen. Allem Anschein nach wurden überall in der Langen Erde Tiere misshandelt, insbesondere die Trolle. Sowohl im Internet als auch im Outernet hagelte es Hasstiraden von jenen, die fanden, die Menschheit habe das selbstverständliche Recht, mit den Bewohnern der Langen Erde nach Belieben zu verfahren und sie bei Bedarf auch auszurotten. Einige beriefen sich sogar auf die Bibel, die den Menschen die Herrschaft über Fische, Vögel, das Vieh und alle Kriechtiere zuschrieb. Andere, die sich wünschten, die Menschheit würde nicht alle Fehler, die sie bereits auf der Datum begangen hatte, in die neuen Welten exportieren, widersprachen ihnen nicht weniger heftig. Dieser Zwischenfall an der Lücke war zu einem Präzedenzfall geworden, schon deshalb, weil er sich im Anfangsstadium eines neuen Raumprogramms – dem Ausdruck des nobelsten Strebens der Menschheit – ereignet hatte, und obwohl er, wie Jansson fand, eher eine gewisse Verunsicherung als rigorose Grausamkeit verriet. Eine lautstarke Minderheit verlangte mit Nachdruck, dass die Regierung auf der Datum-Erde etwas dagegen unternahm.
Andere fragten sich, was wohl die Trolle von alledem hielten. Denn die Trolle verfügten ebenfalls über Möglichkeiten zur Kommunikation.
Monica Jansson, die sich den Clip in ihrer Wohnung in Madison West 5 ansah, versuchte Marys Gesten zu interpretieren. Sie wusste, dass man Trollen in solchen Forschungseinrichtungen etwas Ähnliches wie die auf der menschlichen Sprache basierende Gehörlosensprache beibrachte. Durch ihre Arbeit bei der Polizei war Jansson diese Zeichensprache nicht unbekannt; sie war keine Expertin, aber sie konnte durchaus verstehen, was das Trollweibchen sagte. Und sie war sich ganz sicher, dass auch Millionen anderer Menschen überall in der Langen Erde sie verstanden, überall dort, wo man Zugang zu diesem Clip hatte:
Ich will nicht.
Ich will nicht.
Ich will nicht.
Es handelte sich keineswegs um ein dummes Tier. Sondern um eine Mutter, die versuchte, ihr Kind zu beschützen.
Misch dich nicht ein, ermahnte sich Jansson. Du bist in Rente, und du bist krank. Du hast deine Kämpfe bereits ausgefochten.
Aber sie hatte natürlich keine Wahl. Sie stellte den Bildschirm aus, nahm noch eine Tablette und griff zum Telefon.
Und auf einer Welt, fast ebenso weit entfernt wie die Lücke:
Ein Wesen, das nicht ganz Mensch, und ein Wesen, das nur beinahe ein Hund war, saßen einander gegenüber. Die menschenähnliche Spezies wurde von den Menschen mehr oder weniger unzutreffend Kobold genannt. Kobolde waren Gestalten aus der deutschen Märchenwelt, die in Bergwerken spukten. Der Kobold, um den es hier geht, war allerdings besonders versessen auf die Musik der Menschen – insbesondere die Rockmusik der sechziger Jahre – und noch nie auch nur in der Nähe eines Bergwerks gewesen.
Die hundeartigen Wesen nannten die Menschen Beagles, was genauso falsch war. Es waren keine Beagles, und sie glichen auch keiner Art, der Darwin jemals auf seiner Reise mit der wohl allerberühmtesten Beagle begegnet war.
Weder der Kobold noch der Beagle scherten sich darum, welche Namen ihnen die Menschen gaben. Trotzdem waren ihnen die Menschen nicht egal. Genauer gesagt, sie verabscheuten sie. Obwohl zumindest der Kobold geradezu rettungslos von den Menschen und ihrer Kultur fasziniert war.
»Trollen unglück-cklich, überall«, zischte der Kobold.
»Gut«, knurrte der Beagle. Es war eine Hündin. Sie trug einen goldenen Saphirring an einem Lederriemen um den Hals. »Gut. Gestank von Ver-rrhbrechen von den Stinken-im-Schritt-rrh ver-rrhpestet ganze Welt.«
Der Kobold redete fast wie ein Mensch, die Sprache des Beagles war eine Mischung aus Knurren, Gesten, Körperhaltungen und Pfotenscharren. Trotzdem verstanden sie einander, da sie sich einer Quasi-Menschensprache als Lingua franca bedienten.
Außerdem verfolgten sie gemeinsame Interessen.
»Stinken-im-Schritt-rrh wieder-rrh in ihr-rrhen Bau zur-rrhücktreiben.« Der Beagle erhob sich, stellte sich auf die Hinterbeine, reckte den wolfsähnlichen Kopf und heulte. Kurz darauf ertönten Antworten aus der tropenschwülen Landschaft ringsumher.
Der Kobold frohlockte bei der Aussicht auf den Handel, der sich als Lohn für seine Mühen anbahnte, ein Handel mit Gütern, auf die er selbst es abgesehen hatte, und anderen Gütern, die er dagegen eintauschen konnte. Dabei gab er sich große Mühe, sich seine Angst vor der Beagle-Prinzessin, seiner ungewöhnlichen Kundin und Verbündeten, nicht anmerken zu lassen.
Und auf einem Militärstützpunkt auf Datum-Hawaii blickte die US-Marine-Kommandantin Maggie Kauffman staunend zur USS Benjamin Franklin hinauf, einem Luftschiff von der Größe der Hindenburg, dem brandneuen Schiff, das ab sofort unter ihrem Kommando stand …
Und in einem verschlafenen Dorf in England grübelte Reverend Nelson Azikiwe darüber nach, welche Rolle seine kleine Pfarrkirche, dieses sorgsam gehütete Überbleibsel aus alten Zeiten, im größeren Rahmen der Langen Erde und inmitten der unerforschten Unendlichkeit spielte – und er dachte an seine eigene Zukunft …
Und in einer geschäftigen Stadt, über eine Million Schritte von der Datum entfernt, formulierte ein ehemaliger Pionier der Langen Erde namens Jack Green sorgsam einen Aufruf, der um Freiheit und Würde in der Langen Erde warb …
Und im Yellowstone Park auf der Datum-Erde wusste Ranger Herb Lewis, der gerade erst seinen zweiten Arbeitstag hatte, absolut nicht, wie er mit den wütenden Beschwerden von Mr und Mrs Virgil Davies aus Los Angeles umgehen sollte. Die beiden schimpften ungehalten auf ihn ein, weil ihre neunjährige Tochter Virgilia ganz außer sich sei, und Papa stehe jetzt wie ein Lügner da, und das an ihrem Geburtstag. Dabei war es nicht Herbs Schuld, dass der Old Faithful seine Fontäne heute nicht in die Luft geschleudert hatte. Es war auch überhaupt kein Trost, dass sich die Familie ein paar Stunden später, als das ungebührliche Verhalten des Geysirs in die Schlagzeilen geraten war, in sämtlichen Nachrichtensendungen und Websites wiederfand …
Und in einer medizinischen Einrichtung der Black Corporation auf einer Nahen Erde sagte jemand:
»Schwester Agnes? Ich muss Sie wieder mal kurz wecken, nur um was nachzuregulieren …«
Agnes glaubte, Musik zu hören. »Ich bin wach. Glaube ich.«
»Herzlich willkommen.«
»Wo bin ich denn gewesen? Wer sind Sie? Und was ist das für ein Singsang?«
»Das sind Aberhundert tibetanische Mönche. Sie sind jetzt seit neunundvierzig Tagen …«
»Und diese eintönige Musik?«
»Ach, da müssen Sie sich bei John Lennon beschweren. Der Text besteht aus Zitaten aus dem Buch der Toten.«
»Was für ein Gedudel.«
»Agnes, es wird wohl noch eine Weile dauern, bis Sie sich körperlich wieder zurechtfinden. Aber meiner Meinung nach ist es durchaus möglich, dass Sie sich schon einmal im Spiegel ansehen. Es dauert auch nicht lange …«
Sie konnte nicht sagen, wie lange es dauerte, aber irgendwo ging ein schwaches Licht an, das sehr langsam, aber stetig heller wurde.
»Wenn Sie in die Senkrechte gebracht werden, spüren Sie wahrscheinlich einen gewissen Druck, der dürfte aber nicht unangenehm sein. Ihrer Mobilität widmen wir uns, wenn Sie wieder bei Kräften sind, aber wahrscheinlich gewöhnen Sie sich mit nur sehr geringfügigen Schmerzen in Ihren neuen Körper ein. Vertrauen Sie mir, ich habe das selbst schon oft durchgemacht. Sie können sich gleich sehen … jetzt!«
Schwester Agnes blickte an sich herab, sah ihren Körper: rosig, nackt, im Evaskostüm und sehr weiblich. Ohne zu spüren, wie sich ihre Lippen bewegten – eigentlich spürte sie ihre Lippen überhaupt nicht –, erkundigte sich Agnes: »Wer hat die denn bestellt?«
2
Unvermutet und ziemlich aufgebracht tauchte Sally Linsay in Weiß-der-Kuckuck-wo auf. Aber das war bei ihr völlig normal.
Als Joshua Valienté am Nachmittag von der Arbeit in seiner Schmiede zurückkam, hörte er ihre Stimme schon, ehe er das Haus betrat. Auf dieser Welt war es, wie auf allen anderen Welten der Langen Erde, Ende März, und es dämmerte bereits. Seit sie am Tag seiner Hochzeit vor neun Jahren hier erschienen war, hatte sich seine alte Freundin rargemacht, und wenn sie auftauchte, bedeutete das meistens, dass etwas schieflief – und zwar im ganz großen Stil. Auch Helen, Joshuas Frau, wusste das nur allzu gut. Mit einem mulmigen Gefühl im Magen beschleunigte Joshua seinen Schritt.
Sally saß am Küchentisch, vor sich dampfenden Kaffee in einer Tasse, die aus der Töpferei des Dorfes stammte. Sie blickte in eine andere Richtung und hatte Joshua noch nicht bemerkt, daher blieb er kurz in der Tür stehen, um sich an ihren Anblick zu gewöhnen und sich innerlich auf sie einzustellen.
Helen war im Vorratsraum, wo sie, wie Joshua sah, Salz, Pfeffer und Streichhölzer zusammensuchte. Sally hatte so viel Fleisch auf den Tisch gepackt, dass es mindestens für ein paar Wochen reichen würde. So waren die Regeln der Pioniere. Natürlich hatten die Valientés genug Fleisch, aber darum ging es nicht. Als Besucher auf der Durchreise brachte man eben Fleisch mit, ein Geschenk, das der Gastgeber nicht nur mit einer Mahlzeit vergalt, bei der die Beute ordentlich zubereitet und aufgetischt wurde, sondern auch mit einigen der kleinen Annehmlichkeiten, die es in der Wildnis nicht gab, wie eben Salz, Pfeffer und eine Übernachtung in einem richtigen Bett. Joshua lächelte. Sally bildete sich einiges darauf ein, noch unabhängiger zu sein als Daniel Boone und Kapitän Nemo zusammen – aber bestimmt hatte auch Daniel Boone nach Pfeffer gelechzt, genau wie Sally.
Sie war jetzt dreiundvierzig Jahre alt, ein paar Jahre älter als Joshua. Und sechzehn Jahre älter als Helen, was den wechselseitigen Beziehungen nicht unbedingt zuträglich war. Das schon grau werdende Haar hatte Sally streng nach hinten gebunden, und sie trug die üblichen strapazierfähigen Jeans und eine ärmellose Jacke mit vielen Taschen. Wie eh und je war sie schmal, drahtig, fast gespenstisch still – und wachsam.
Soeben musterte sie einen Gegenstand an der Wand, einen goldenen, mit Saphiren besetzten Ring, der mit einer Drahtschlaufe an einem knubbeligen, selbst geschmiedeten Eisennagel hing. Der Ring war eine der wenigen Trophäen, die Joshua von der Reise, die er gemeinsam mit Sally und Lobsang quer durch die Lange Erde unternommen hatte, aufbewahrte. Heute, zehn Jahre später, sprach die Welt davon nur noch als Die Reise. Der Ring war ziemlich protzig und viel zu groß für Menschenfinger. Aber er war auch nicht von Menschen gemacht worden, wie sich Sally sicherlich erinnerte. Gleich unter dem Ring hing ein zweites Schmuckstück, ein Affenarmband aus Plastik und Strass: Kinderschmuck, kitschig und lächerlich. Joshua zweifelte nicht daran, dass Sally sich auch an die Bedeutung des Armbands erinnerte.
Er setzte sich wieder in Bewegung und stieß die Tür absichtlich etwas weiter auf, damit sie knarrte. Sally drehte sich um und musterte ihn kritisch und ohne zu lächeln von oben bis unten.
»Hab dich kommen hören«, sagte er.
»Du hast zugenommen.«
»Freut mich auch, dich zu sehen, Sally. Könnte mir denken, dass du nicht ohne Grund gekommen bist. Bis jetzt hast du immer einen Grund gehabt.«
»Allerdings.«
Ob Calamity Jane auch so war?, überlegte Joshua, als er sich widerwillig setzte. Wie ein Pulverfass, das ab und zu mitten in deinem Leben in die Luft fliegt. Gut möglich – obwohl Sally geringfügig mehr Zugang zu Kosmetik hatte.
Helen war jetzt in der Küche, Joshua roch gebratenes Fleisch. Als er ihren Blick auffing, wehrte sie mit einer Geste sein stummes Hilfsangebot ab. Sie wollte Sally und ihm ein bisschen Raum lassen. Helen besaß Taktgefühl, das schon, aber er befürchtete, sie könnte wieder in eisiges Schweigen verfallen. Schließlich war Sally die Frau, die eine lange, komplizierte und weltberühmte Beziehung zu ihrem Mann unterhalten hatte, lange bevor er Helen überhaupt kannte. Bei ihrer ersten Begegnung war Sally sogar dabei gewesen. Damals war Helen siebzehn gewesen, Tochter von Auswanderern in einem frisch aus dem Boden gestampften Koloniestädtchen irgendwo in der Langen Erde. Inzwischen war seine Frau niemals sonderlich begeistert, wenn Sally wieder einmal auftauchte.
Ungerührt wartete Sally auf seine Erwiderung. Entweder bekam sie solche feinen Schwingungen nicht mit, oder sie waren ihr egal.
Er seufzte. »Dann mal raus mit der Sprache. Was führt dich diesmal her?«
»Schon wieder hat so ein Drecksack einen Troll umgebracht.«
Er schnaubte verächtlich. Die Nachrichten aus dem Outernet hatten eine ganze Lawine solcher Vorfälle gemeldet, die sich überall in der Langen Erde, von der Datum bis nach Walhalla und noch weiter ereigneten. Allem Anschein nach sogar direkt an der Lücke, wenn man den jüngsten Sensationsberichten glauben wollte, bei denen es um einen schrecklichen Fall mit einem Trolljungen in einem an die fünfziger Jahre erinnernden Raumanzug ging.
»In diesem Fall eher abgeschlachtet«, sagte Sally. »Und das meine ich so, wie ich es sage. Die Meldung stammt aus einer Verwaltungsniederlassung der Ägide in einer Siedlung namens Senkblei, das ist ziemlich am Anfang der Megas …«
»Ich weiß.«
»Diesmal war es noch ein ganz junger Troll. Seine Organe wurden für irgendeine Art Volksheilkunde benutzt. Ausnahmsweise wurde der Schuldige wenigstens wegen Tierquälerei festgenommen. Aber seine Familie schlägt Krawall – es geht doch bloß um ein Tier, also was soll die ganze Aufregung?«
Joshua schüttelte den Kopf. »Wir stehen alle unter der Ägide der Vereinigten Staaten. Was gibt es da zu argumentieren? Gelten denn die Datum-Gesetze gegen Tierquälerei nicht mehr?«
»Das ist ein einziger Sauhaufen, Joshua. Es gibt völlig unterschiedliche Regularien auf Bundesebene und für die Einzelstaaten, und alle streiten sich, welche dieser Richtlinien in der Langen Erde angewandt werden sollen. Ganz zu schweigen davon, dass es an Personal fehlt, um sie auch durchzusetzen.«
»Ich bin nicht ganz auf dem Laufenden, was die Datum-Politik angeht. Hier bei uns fällt der Schutz der Trolle unter die erweiterten Bürgerrechte.«
»Tatsächlich?«
Er lächelte. »Überrascht dich das? Du bist nicht die Einzige mit einem Gewissen. Außerdem sind die Trolle viel zu nützlich, darum werden sie nicht drangsaliert und schon gar nicht vertrieben.«
»Offensichtlich geht es nicht überall so zivilisiert zu. Vergiss nicht, Joshua, dass der Ägide Datum-Politiker vorsitzen, mit anderen Worten: Armleuchter. Die haben es immer noch nicht kapiert! Weil sie sich ihre blankpolierten Schuhe einfach nicht gern jenseits eines gepflegten Parks auf Erde West 3 schmutzig machen. Sie haben keinen Schimmer davon, wie wichtig es ist, dass die Menschheit auf freundschaftlicher Basis mit den Trollen verkehrt. Der Trollruf ist voll davon.«
Was wiederum bedeutete, dass jeder Troll, egal wo er sich aufhielt, schon bald alles darüber erfahren würde.
»Weißt du, was das eigentliche Problem ist?«, sagte Sally jetzt. »Vor dem Wechseltag stammte fast alles, was die Trolle über die Menschheit wussten, aus Orten wie Happy Landings, wo sie eng mit Menschen zusammenlebten. Friedlich und schöpferisch …«
»Und auch ein bisschen unheimlich.«
»Das auch, ja. Aber jetzt treffen die Trolle auf ganz gewöhnliche Leute. Mit anderen Worten: auf Idioten.«
Mit banger Ahnung fragte er: »Warum bist du hergekommen, Sally? Was willst du von mir? Was soll ich dagegen tun?«
»Du sollst deine Pflicht tun, Joshua.«
Joshua wusste, dass sie ihn mitnehmen wollte, hinaus in die Lange Erde. Um wieder einmal die Welten zu retten.
Zur Hölle damit, dachte er, die Zeiten hatten sich geändert. Auch er hatte sich verändert. Er hatte hier Verpflichtungen: gegenüber seiner Familie, seinem Zuhause und seiner Gemeinde, die ihn törichterweise auch noch zum Bürgermeister gewählt hatte.
Joshua hatte sich in diesen Ort verliebt, noch ehe er ihn gesehen hatte. Er hatte sich gleich gedacht, dass Neuankömmlinge, die ihrer Heimat einen Namen wie Weiß-der-Kuckuck-wo gaben, höchstwahrscheinlich rechtschaffene Leute mit einem gesunden Sinn für Humor waren, und genauso war es auch. Was Helen anging, die mit ihrer Familie ins Ungewisse aufgebrochen war, um eine völlig neue Gemeinde zu gründen, so war sie genau unter solchen Lebensumständen aufgewachsen. Und dieser Ort hier, der in einer Kopie des Mississippi-Tals eine Million Schritte von der Datum entfernt lag, hatte saubere Luft, einen Fluss voller Fische, ringsumher Wälder voll mit Wild und war obendrein großzügig mit Rohstoffen anderer Art wie zum Beispiel Eisenerzflözen ausgestattet. Dank der von einem Twain aus durchgeführten massenspektrografischen Analyse der nahegelegenen Landschaftsformationen, die Joshua als kleine Gefälligkeit angefordert hatte, wussten sie, dass sie sogar sämtliche Voraussetzungen für eine Kupfermine besaßen. Obendrein war das Klima hier eine Spur kühler als auf der Datum, sodass die hiesige Kopie des Mississippi im Winter regelmäßig zufror – ein aufregendes Spektakel, obwohl jedes Jahr Unvorsichtige in Lebensgefahr gerieten.
Trotz aller Erfahrungen, die er bei seinen Wanderungen durch die Lange Erde gesammelt hatte, war Joshua anfangs ein Novize unter den Siedlern gewesen, sogar im Vergleich zu seiner jungen Braut. Inzwischen galt er als geschickter Jäger, Schlachter und Handwerker – in letzter Zeit schätzte man ihn sogar als Schmied und Eisenschmelzer. Nicht zu vergessen als Bürgermeister, jedenfalls bis zur nächsten Wahl. Helen hatte sich als erfahrene Hebamme und Kräuterheilkundlerin einen Namen gemacht.
Selbstverständlich mussten sie schwer arbeiten. Da man als Pionierfamilie außerhalb des Einzugsgebiets von Einkaufszentren lebte, mussten das Brot selbst gebacken, die Schinken gepökelt, der Talg hergestellt und auch das Bier eigenhändig gebraut werden. Hier draußen arbeitete man eigentlich rund um die Uhr. Aber es war eine befriedigende Arbeit. Und sie war jetzt Joshuas Leben …
Manchmal fehlte ihm die Einsamkeit. Seine Auszeiten, wie er sie nannte. Das Gefühl der Leere, wenn er sich ganz allein auf einer Welt aufhielt. Die Abwesenheit des Drucks, den ein anderes Bewusstsein ausübte, etwas, was er sogar hier wahrnahm, obwohl der Druck verglichen mit dem, was er auf der Datum gespürt hatte, nicht mehr als eine Ahnung war. Und das unheimliche Gefühl des Anderen, wie er die Stille insgeheim nannte, ein vager Hinweis auf ein einzelnes gewaltiges Bewusstsein oder eine Ansammlung vieler, irgendwo in weiter Ferne. Einmal war er einem dieser mächtigen Wesen begegnet, in Gestalt der außergewöhnlichen Ersten Person Singular. Aber es gab noch mehr von ihnen dort draußen, er wusste es. Er konnte sie hören wie Gongs, die zwischen fernen Bergen hallten … Aber das alles hatte er hinter sich. Was er hier besaß, war, wie er erst recht spät entdeckt hatte, um vieles kostbarer: seine Frau, sein Sohn, eines Tages vielleicht ein zweites Kind.
Mittlerweile versuchte er das, was sich jenseits der Gemeindegrenzen ereignete, schlicht und einfach zu ignorieren. Es war ja nicht so, als wäre er der Langen Erde etwas schuldig geblieben. Schon am Wechseltag hatte er auf den Welten direkt neben der Datum viele Leben gerettet, später hatte er gemeinsam mit Lobsang eine Unmenge weiterer Welten erschlossen. Damit hatte er seine Pflicht gegenüber diesem neuen Zeitalter wohl erfüllt, oder nicht?
Jetzt saß Sally, der Inbegriff seiner Vergangenheit, an seinem Küchentisch und wartete auf eine Antwort. Er würde sich Zeit lassen damit. Joshua war auch sonst kein Schnellredner. Er suchte Zuflucht in dem Konzept, dass man sich immer dann viel Zeit nehmen sollte, wenn etwas besonders schnell gehen sollte.
Sie sahen einander an und warteten.
Schließlich kam zu seiner Erleichterung Helen herein und stellte Bier und Burger auf den Tisch: selbst gebrautes Bier, Fleisch von selbst gezüchteten Rindern, selbst gebackenes Brot. Sie setzte sich zu ihnen und fing ein unverfängliches Gespräch an, erkundigte sich bei Sally, wen sie in letzter Zeit besucht habe. Nachdem sie gegessen hatten, machte sich Helen wieder zu schaffen, räumte die Teller weg und lehnte Joshuas Hilfe abermals ab.
Dabei war die ganze Zeit über zwischen den Eheleuten ein zweiter Dialog im Gange. Jedes Ehepaar hatte seine eigene Privatsprache. Helen wusste sehr gut, weshalb Sally hier war, und nach neun gemeinsamen Ehejahren vernahm Joshua ihre Furcht vor dem drohenden Verlust, als würde sie lautstark über Funk verkündet.
Falls Sally es auch hörte, so scherte sie sich nicht darum. Sobald Helen die beiden erneut am Küchentisch allein gelassen hatte, fing sie wieder an: »Wie du sagst, es ist nicht der einzige Fall.«
»Was denn?«
»Der Mord in Senkblei.«
»Jetzt rück schon raus mit der Sprache, Sally!«
»Es ist inzwischen nicht einmal mehr der schlimmste Fall. Möchtest du eine detaillierte Liste?«
»Nein.«
»Du siehst doch, was hier passiert, Joshua. Die Menschheit hat mit der Langen Erde eine einzigartige Chance erhalten. Einen neuen Anfang, eine Möglichkeit, der Datum zu entkommen, dieser Welt, die wir bereits komplett verhunzt haben …«
»Ich weiß, was du jetzt gleich sagst.« Er wusste es, weil sie es allein in seinem Beisein schon eine Million Mal gesagt hatte. »Wir werden unsere zweite Chance auf einen Garten Eden versauen, noch ehe die Farbe getrocknet ist.«
Helen brachte zum Nachtisch selbst gemachtes Speiseeis, wobei sie die Schüssel mit Entschiedenheit auf den Tisch knallte.
Sally starrte so ungläubig darauf wie ein Hund, dem man einen Brontosaurusknochen vorsetzt. »Ihr macht Eis? Hier?«
Helen setzte sich. »Letztes Jahr hat Joshua viele Stunden mit dem Bau eines Eishauses verbracht. Wenn man den Bogen erst mal raushat, ist es gar nicht so schwer. Die Trolle mögen Eis. Und im Sommer wird es hier richtig heiß. Da kommt es gut, wenn man den Nachbarn so etwas zum Tauschen anbieten kann.«
Joshua hörte den Subtext genau, auch wenn Sally ihn vielleicht nicht mitbekam. Es geht nicht um Eiscreme. Es geht um unser Leben. Um das, was wir uns hier aufbauen. Etwas, in dem du, Sally, keinen Platz hast.
»Bedien dich doch, wir haben noch mehr davon. Es wird allmählich spät … Wenn du willst, kannst du natürlich bei uns übernachten. Wir sehen uns erst noch Dans Theateraufführung in der Schule an. Kommst du mit?«
Joshua bemerkte den Ausdruck blanken Entsetzens in Sallys Gesicht. Aus reiner Barmherzigkeit sagte er: »Keine Bange, es ist nicht so schlimm, wie du dir vorstellst. Wir haben kluge Kinder, anständige und hilfsbereite Eltern, gute Lehrer – ich muss es wissen, denn ich bin einer davon. Auch Helen unterrichtet.«
»Ihr unterrichtet die Kinder selbst?«
»Ja. Wir konzentrieren uns auf alles, was man zum Überleben braucht: Metallurgie, medizinische Botanik, Tierkunde der Langen Erde, das ganze Spektrum praktischer Fertigkeiten vom Bearbeiten von Feuersteinen bis hin zur Glasherstellung …«
»Aber es ist nicht nur Pionierkram«, warf Helen ein. »Unser schulischer Standard ist ziemlich hoch. Die Kinder lernen sogar Griechisch.«
»Mr Johansen«, sagte Joshua. »Als Springer. Er kommt zweimal im Monat von Walhalla herüber.« Lächelnd zeigte er auf das Eis vor ihnen. »Nimm dir was, solange es kalt ist.«
Sally nahm sich einen großen Klecks und vertilgte ihn sofort. »Menschenskind! Pioniere mit Speiseeis!«
Joshua hatte das Bedürfnis, seine Heimat zu verteidigen. »Es muss ja nicht unbedingt so zugehen wie beim Donner-Treck, Sally …«
»Ihr seid auch Pioniere mit Handys, stimmt’s?«
Es entsprach der Wahrheit, dass das Leben hier eine Spur bequemer war als für Pioniere sonst wo in der Langen Erde. Auf dieser Erde, West 1.397.426, verfügte man sogar über Navis, und nur Joshua, Helen und eine Handvoll anderer wussten, warum die Black Corporation beschlossen hatte, ausgerechnet diese Welt mit den Prototypen ihrer neuen Technologie auszustatten, bei der vierundzwanzig Nanosats von einer kleinen tragbaren Rampe in die Umlaufbahn geschossen wurden. Man könnte es als Gefälligkeit eines alten Freundes bezeichnen …
Zu der Handvoll derer, die Bescheid wussten, gehörte natürlich auch Sally.
Joshua sah sie an. »Lass gut sein, Sally. Das Navi-System und alles andere gibt es wegen mir. Ich weiß es, und meine Freunde wissen es auch.«
Helen grinste. »Einer der Techniker, die vorbeikamen, um alles zu installieren, hat Joshua erzählt, die Black Corporation betrachte ihn als ›wertvolle Langzeitinvestition‹. Also wohl etwas, was man hegen und pflegen muss. Jemand, den man mit kleinen Geschenken bei Laune hält.«
Sally schnaubte verächtlich. »So sieht dich Lobsang also. Wie entwürdigend.«
Joshua ging nicht darauf ein, im Allgemeinen reagierte er nie auf die Erwähnung dieses Namens. »Abgesehen davon, weiß ich, dass es manche Leute nur wegen mir hierherzieht.«
»Der berühmte Joshua Valienté.«
»Warum auch nicht? Es ist angenehm, wenn man gute Leute nicht umständlich anwerben muss. Und wenn sie nicht zu uns passen, verschwinden sie bald von alleine wieder.«
Sally hatte noch mehr Sticheleien auf Lager, aber Helen war offensichtlich bereits bedient. Sie stand auf und sagte: »Sally, wenn du willst, kannst du dich frisch machen, am Ende des Korridors haben wir ein Gästezimmer. Die Theatervorstellung fängt in einer Stunde an. Dan – das ist unser Sohn, vielleicht erinnerst du dich an ihn – ist bereits im Rathaus, um zu helfen, das heißt, er scheucht die anderen Kinder herum. Wenn du willst, kannst du dir sogar etwas von dem Eis mitnehmen, es ist nicht weit.«
Joshua zwang sich zu einem Lächeln. »Hier ist alles nicht besonders weit.«
Helen schaute durch das primitive Fensterglas nach draußen. »Sieht wieder nach einem herrlichen Abend aus …«
3
Es war wirklich ein nahezu vollkommener Frühlingsabend.
Selbstverständlich ist diese Welt nicht mehr unberührt, dachte Joshua, als sie zu dritt zur Schulaufführung ins Rathaus spazierten. Man konnte sehen, wo sich die Lichtungen am Flussufer in den Waldsaum fraßen, man sah den Rauch der Schmieden und Werkstätten und auch die Pfade, die sich schnurgerade durch den Wald zogen. Trotzdem fiel auf, wie ursprünglich diese Landschaft noch immer war: die Biegung dieser wechselwärtigen Kopie des Mississippi, die Hügel und die endlosen Wälder jenseits des Flusses. Weiß-der-Kuckuck-wo sah so aus, wie sein Vorbild auf der Datum, Hannibal in Missouri, im 19. Jahrhundert, zu Mark Twains Zeiten ausgesehen haben mochte. Also genau richtig, wie Joshua fand.
Dummerweise wurde dieser vollkommene Himmel gerade jetzt von einem herabschwebenden Twain getrübt.
Das Luftschiff wurde mithilfe von Seilketten entladen: Behälter für Behälter, Ballen für Ballen. In der hereinbrechenden Dämmerung schimmerte seine Hülle wie Bronze, das ganze Gefährt sah aus wie aus einer anderen Welt, was in gewissem Sinne ja zutraf. Obwohl die Theatervorstellung im Rathaus gleich anfangen sollte, standen immer noch etliche Schüler draußen und schauten unverwandt nach oben. Besonders die Jungen richteten sehnsüchtige Blicke gen Himmel – Jungen, die alles dafür geben würden, eines Tages Twain-Piloten zu sein.
So ein Twain war ein Symbol für viele Dinge, dachte Joshua, zuallererst für die Realität der Langen Erde selbst.
Die Lange Erde. Vor fünfundzwanzig Jahren, am sogenannten Wechseltag, sah sich die Menschheit ohne jede Vorwarnung mit der Möglichkeit konfrontiert, buchstäblich einen Schritt zur Seite zu machen und damit einen Korridor zu betreten, der aus unendlich vielen Planeten Erde bestand. Sie reihten sich eine nach der anderen hintereinander auf, und man benötigte dazu kein Raumschiff, denn jede Erde war stets nur einen Schritt entfernt. Und jede Erde war mehr oder weniger so beschaffen wie das Original, allerdings gab es nirgendwo Menschen und auch keinerlei Spuren ihrer Anwesenheit. Eine Welt für jeden, der eine haben wollte, Milliarden von Welten, falls die vorherrschenden Theorien zutrafen.
Angesichts dieser unendlichen Weite verriegelten manche Menschen die Türen und versteckten sich. Andere taten das Gleiche, nur im Kopf. Wieder andere lebten auf, und für diese Leute in ihren weit über die neuen Welten verstreuten Siedlungen wurden ein Vierteljahrhundert später die Twains zu einer außerordentlich wichtigen Einrichtung.
Nach der bahnbrechenden Forschungsreise von Joshua und Lobsang in der Mark Twain zehn Jahre zuvor – in einem Prototyp, der als erstes Last- und Passagierschiff fähig war, von einer Welt in die andere zu wechseln – hatte Douglas Black von der Black Corporation verkündet, er werde der Allgemeinheit diese neue Technologie als Geschenk zur Verfügung stellen. Die Black Corporation hatte die Twain gebaut, Black selbst war Haupteigentümer der Tochtergesellschaft, die Lobsang und seine vielfältigen Aktivitäten finanzierte. Die Schenkung war eine typische Black-Geste gewesen, auf die zwar mit lautstarkem Zynismus und Spekulationen über seine eigentlichen Motive reagiert wurde, die aber alle mit offenen Armen willkommen hießen. Inzwischen, ein Jahrzehnt später, waren die Twains bei der Kolonisierung der Langen Erde das, was die Planwagen und der Pony Express einst bei der Eroberung des Wilden Westens gewesen waren. Die Twains flogen unentwegt und verbanden die aufstrebenden neuen Wechselwelten immer enger miteinander … Sie regten sogar selbst das Wachstum neuer Industrien an, denn das Helium für ihre Ballonhüllen, auf der Datum-Erde sehr rar geworden, stammte nun aus wechselwärtigen Kopien von Texas, Kansas und Oklahoma.
Heutzutage verteilten die Luftschiffflotten sogar die neuesten Nachrichten quer über die Lange Erde. Nach und nach bildete sich eine Art Multiwelt-Internet, das als »Outernet« bekannt war. Auf jeder Welt, die sie anliefen, spielten die Luftschiffe Update-Pakete auf die Schnellspeicher der örtlichen Netzknoten, die von dort lateral über die entsprechende Welt verteilt wurden. Im Gegenzug luden sie von dort die jeweils aktuellen Nachrichten und E-Mails hoch. Und überall, wo sich Luftschiffe abseits der Hauptroute nach Datum-Walhalla begegneten, hielten sie ein »Gam« ab. Das wiederbelebte Wort aus den Tagen der früheren Walfangflotten bezeichnete den Vorgang, wenn aufeinandertreffende Schiffe unterwegs Nachrichten und Korrespondenz austauschten. Alles lief ziemlich unorganisiert und zwanglos ab, aber so war es damals beim Internet vor dem Wechseltag auf der Datum auch gewesen. Da das Outernet keinen starren Regeln folgte, war es sehr robust: Solange deine Nachricht mit der richtigen Adresse versehen war, wurde sie auch an der richtigen Stelle abgeliefert.
Natürlich gab es auch an Orten wie Weiß-der-Kuckuck-wo den einen oder anderen, dem diese Eindringlinge zuwider waren, denn die Twains waren natürlich auf die eine oder andere Weise auch ein Ausdruck für den langen Arm der Datum-Regierung – dessen Reichweite nicht von allen befürwortet wurde. Die Regierungspolitik war hinsichtlich der Kolonien in der Langen Erde viele Jahre lang alles andere als eindeutig gewesen, sie hatte zwischen Feindseligkeit und sogar Ausschluss einerseits und Kooperation und freier Gesetzgebung andererseits gependelt. Derzeit galt die Regel, dass jede Kolonie sich, sobald sie über einhundert Menschen zählte, bei der Bundesregierung auf der Datum-Erde als »offizielle« Siedlung anmelden musste. Bald darauf war man auf den Karten verzeichnet, und die Twains tauchten am Himmel auf und brachten Menschen und Vieh, Rohmaterial und medizinische Versorgungsgüter; umgekehrt nahmen sie alles mit, was man über die benachbarten Erden hinweg zu den großen wechselwärtigen Umschlagplätzen wie Walhalla exportieren wollte.
Indem die Twains ständig zwischen den alten Vereinigten Staaten und den Welten unter deren Schirmherrschaft verkehrten – bis hinaus nach Walhalla waren es gut anderthalb Millionen Schritte –, verbanden sie die vielen Amerikas untereinander und vermittelten ihnen das beruhigende Gefühl, gemeinsam nach derselben Melodie zu tanzen. Viele Menschen in den Wechselwelten wussten allerdings nicht, von welchem Tanz da eigentlich die Rede war und welche Melodie man spielte, weil sie sich vornehmlich um sich selbst und um ihre nächsten Nachbarn kümmerten. Für sie waren die Datum und ihre Vorschriften, ihre Politik und ihre Steuern – Twains hin oder her – ein weit entferntes Gespinst, das immer mehr an Bedeutung verlor.
Auch jetzt schauten zwei Leute mit eher misstrauischen Blicken zu dem soeben eingetroffenen Twain empor.
»Was meinst du – ob er da oben ist?«, fragte Sally.
»Zumindest eine seiner Kopien«, antwortete Joshua. »Ohne irgendeine künstliche Intelligenz an Bord können die Twains nicht wechseln. Du kennst diesen Hansdampf in allen Gassen doch. Er ist gern dort, wo was los ist, und momentan ist buchstäblich überall was los.«
Sie sprachen natürlich von Lobsang. Selbst jetzt wäre es Joshua nicht leichtgefallen, genauer zu erklären, wer Lobsang eigentlich war. Oder was. Stell dir Gott in deinem Computer, deinem Telefon und in allen anderen Computern vor. Stell dir jemanden vor, der fast die Black Corporation ist, mit ihrer geballten Macht, ihrem Reichtum und ihrer Reichweite. Der aber trotzdem ziemlich vernünftig und gütig zu sein scheint, jedenfalls im Vergleich zu den meisten anderen Göttern. Ach ja, und der auch noch ab und zu auf Tibetisch flucht …
»Übrigens ist mir neulich ein Gerücht zu Ohren gekommen, eine seiner Kopien befinde sich auf einer Reise über unser Sonnensystem hinaus, auf einer Art Erkundungsflug ins Weltall. Du kennst ihn ja, er ist immer sehr vorausschauend. Und die Vorstellung von zu viel Backup existiert für ihn überhaupt nicht.«
»Dann könnte er jetzt sogar dann überleben, wenn die Sonne explodiert«, erwiderte Sally trocken. »Gut zu wissen. Hast du noch Kontakt zu ihm?«
»Nein, nicht mehr. Schon seit zehn Jahren nicht mehr. Nicht mehr seit damals, als er oder die Version von ihm, die sich auf der Datum aufhält, zugelassen hat, dass Madison von einer Rucksackatombombe plattgemacht wurde. Es war meine Heimatstadt, Sally. Wozu ist jemand wie Lobsang gut, wenn er so etwas nicht verhindern kann? Und wenn er es hätte verhindern können, warum hat er es nicht getan?«
Sally zuckte die Achseln. Damals war sie gemeinsam mit ihm in die Ruinen von Madison gewechselt. Offensichtlich hatte auch sie keine Antwort darauf.
Joshua bemerkte, dass Helen schon ein Stück vorausgegangen war. Sie plauderte mit einigen Nachbarn und hatte ihren, wie es Joshua nach neun Ehejahren zu nennen pflegte, »höflichen« Gesichtsausdruck aufgesetzt. Alarmiert folgte er ihr mit großen Schritten.
Sie waren wohl alle erleichtert, als sie das Rathaus erreicht hatten. Sally las den Titel des Stücks von einem handgemalten Plakat ab, das an die Wand geheftet war. »›Moby Dicks Rache‹. Ihr wollt mich wohl auf den Arm nehmen?«
Joshua konnte ein Grinsen nicht unterdrücken. »Es ist wirklich ein tolles Stück. Warte nur, bis die illegale Walfangflotte ihre wohlverdiente Strafe bekommt! Für diese Szene haben die Kinder extra ein paar Brocken Japanisch gelernt. Komm schon, wir haben Plätze ganz vorne …«
Es war wirklich eine bemerkenswerte Aufführung, gleich von der ersten Szene an, als ein Erzähler in einer salzverkrusteten Öltuchjacke an den Bühnenrand trat und rief: »Nennt mich Ismael!«
»Hallo, Ismael!«
»Hallo, Jungs und Mädels!«
Als der singende Tintenfisch nach der großen Schlussnummer mit einem »Harpune der Liebe« betitelten Lied drei Zugaben geben musste, musste sogar Sally laut lachen.
Bei der Feier nach der Aufführung kamen Kinder und Eltern im Saal zusammen. Auch Sally blieb noch und hielt sich an einem Getränk fest. Joshua fiel jedoch auf, dass ihr Gesichtsausdruck, während sie sich unter den plaudernden Erwachsenen und den strahlenden Kindergesichtern umsah, immer finsterer wurde.
»Was bedrückt dich denn?«, wagte sich Joshua schließlich vor.
»Es ist alles so verdammt nett.«
Helen erwiderte: »Und Nettigkeit hast du noch nie über den Weg getraut, stimmt’s, Sally?«
»Ich muss ständig daran denken, wie völlig ungeschützt ihr seid.«
»Vor was denn ungeschützt?«
»Wäre ich zynisch, würde ich mich fragen, ob nicht früher oder später irgendein charismatischer Vollidiot euren Traum von ›Unsere kleine Farm‹ einfach zertrampelt.« Mit einem Blick zu Helen sagte sie: »Tut mir leid, dass ich vor euren Kindern den Ausdruck ›Vollidiot‹ benutzt habe.«
Zu Joshuas Verwunderung – und offensichtlich auch zu Sallys – brach Helen in lautes Lachen aus. »Du änderst dich wohl nie, oder? Aber keine Sorge, das passiert schon nicht. Das Zertrampeln, meine ich. Ich glaube, wir sind hier ziemlich widerstandsfähig. In körperlicher wie auch in geistiger Hinsicht, meine ich. Zum einen haben wir hier nichts mit Gott am Hut. Die meisten Eltern in Weiß-der-Kuckuck-wo sind Atheisten, bestenfalls Agnostiker – eben Leute, die ihr Leben führen, ohne Hilfe von oben zu erwarten. Unsere Kinder erziehen wir nach der Goldenen Regel …«
»Behandle andere so, wie du von ihnen behandelt werden willst.«
»Das ist eine Version davon. Dazu kommen ähnlich grundlegende Lebensregeln. Und damit kommen wir hervorragend klar. Wir arbeiten zusammen. Und ich glaube, dass wir uns ziemlich gut um die Kinder kümmern. Sie lernen, weil wir dafür sorgen, dass es ihnen Freude macht. Siehst du Michael, den Jungen im Rollstuhl da drüben? Er hat das Drehbuch zu diesem Stück geschrieben, und auch Ahabs Lied stammt ganz allein von ihm.«
»Welches war das? ›Für dein Herz würd’ ich mein anderes Bein hergeben‹?«
»Genau das. Er ist erst siebzehn, und wenn dieser Junge nicht die Chance bekommt, seine Musik weiterzuentwickeln, dann gibt es keine Gerechtigkeit.«
Sally machte ein ungewöhnlich nachdenkliches Gesicht. »Na ja, da es hier an Leuten wie euch nicht mangelt, bekommt er bestimmt seine Chance.«
Helens Züge spannten sich leicht an. »Machst du dich über uns lustig?«
Joshua spürte, dass es gleich knallen würde.
Aber Sally erwiderte nur: »Verrate niemandem, dass ich das gesagt habe, aber ich beneide dich, Helen Valienté, geborene Green. Zumindest ein kleines bisschen. Aber nicht um Joshua. Das Zeug hier schmeckt übrigens genial. Was ist das?«
»In der Gegend wächst ein Baum, so ähnlich wie Ahorn … Wenn du willst, zeige ich ihn dir.« Sie hob ihr Glas und prostete Sally zu. »Auf dich, Sally.«
»Wieso das denn?«
»Dafür, dass du Joshua so lange durchgebracht hast, bis er mir schließlich begegnen konnte.«
»Das stimmt.«