Buch
Für mich war Fern der Anfang der Welt. Ich war gut einen Monat alt, als sie in mein Leben trat, sie selbst knapp drei Monate. Wer ich davor war, weiß ich eigentlich gar nicht. Sie schlang immer von hinten ihre Pfeifenreiniger-Arme um mich und drückte sich fest an mich, wenn ich ging – was dann so aussah, als wären wir eine einzige Person. Und vereint konnten wir fast alles.
Willkommen bei den Cookes, einer scheinbar völlig normalen Familie: Vater, Mutter, die pausenlos plappernde kleine Rosemary, ihr großer Bruder Lowell und ihre ungestüme Schwester Fern. In Kindertagen ist Fern Rosemarys engste Gefährtin, ihr Zerrspiegel, ihre zweite Hälfte. Doch als die beiden etwa sechs Jahre alt sind, verschwindet Fern plötzlich. Ein Ereignis, das alles verändert. Heute, als junge Frau, ist Rosemary still geworden und einsam, ihre Familie ist zerbrochen. Langsam enthüllt Rosemary nun das Rätsel um Fern, entfernt alle Masken und erzählt Ferns Geschichte. Denn auch wenn Fern ihrer Schwester in fast allem überlegen war, erzählen war das Einzige, was sie nie konnte …
Autorin
Karen Joy Fowler ist in Bloomington, Indiana, geboren und aufgewachsen. Seit sie mit dreißig Jahren beschloss, Schriftstellerin zu werden, hat sie zahlreiche Kurzgeschichten und Romane verfasst, darunter den Bestseller »Der Jane Austen Club«, verfilmt mit Emily Blunt und Hugh Dancy. Ihr jüngstes Werk, »Die fabelhaften Schwestern der Familie Cooke«, wurde 2014 mit dem renommierten PEN/Faulkner Award sowie dem California Book Award ausgezeichnet und stand auf der Shortlist des Man Booker Prize. Karen Joy Fowler lebt mit ihrem Mann in Santa Cruz, Kalifornien. Das Paar hat zwei erwachsene Kinder.
Näheres zur Autorin und ihren Büchern finden Sie unter
http://karenjoyfowler.com
KAREN JOY FOWLER
Die fabelhaften
Schwestern
der Familie Cooke
Roman
Aus dem Englischen
von Marcus Ingendaay
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Die Originalausgabe erschien 2013 unter dem Titel
»We are All Completely Beside Ourselves«
bei G. P. Putnam’s Sons, a member of Penguin Group
(USA) Inc., 2013
Der Abdruck der deutschen Fassung des Gedichts
»Bee! I’m expecting you!« von Emily Dickinson
erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Übersetzers
Johannes Beilharz.
1. Auflage
Deutsche Erstveröffentlichung Mai 2015
Copyright © der Originalausgabe
2013 by Karen Joy Fowler
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2015
by Wilhelm Goldmann Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München.
Die Nutzung des Labels Manhattan erfolgt mit freundlicher
Genehmigung des Hans-im-Glück-Verlags, München
Gesamtherstellung: GGP Media GmbH, Pößneck
Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur
Umschlagbild: Trevillion Images/Lee Avison; FinePic®, München
Autorenfoto: © Brett Hall Jones
Redaktion: Regina Carstensen
ISBN 978-3-641-12381-9
V003
www.manhattan-verlag.de
Im Gedenken an die wunderbare Wendy Weil,
Streiterin für Bücher und Tiere
und – da bei mir beides zusammenfließt – mich
Ihr Affentum, meine Herren, sofern Sie etwas Derartiges hinter sich haben, kann Ihnen nicht ferner sein als mir das meine. An der Ferse aber kitzelt es jeden, der hier auf Erden geht: den kleinen Schimpansen wie den großen Achilles.
Franz Kafka, Ein Bericht für eine Akademie
Prolog
Die, die mich kennen, mag es überraschen, aber ich war einmal eine echte Quasselstrippe. Es existiert noch ein Super-8-Film ohne Ton, der mich mit zwei Jahren zeigt. Die Farben sind heute verblasst. Ich stehe unter einem reinweißen Himmel und trage Turnschuhe, deren knalliges Rot zu einem geisterhaften Pink geworden ist, aber man sieht genau, wie ich in einem fort rede.
Ich betätige mich im Garten, trage Kieselsteine von unserer Einfahrt zu einer Zinkwanne, werfe sie dort hinein und laufe zurück, um die nächsten zu holen. Ich strenge mich an, aber so, dass es auch jeder sehen kann. Dabei reiße ich die Augen auf wie ein Kintopp-Star. Ich halte ein durchsichtiges Quarzsteinchen in die Höhe und stecke es mir in den Mund.
Meine Mutter kommt angelaufen und holt mir das Steinchen aus dem Mund. Dann tritt sie wieder aus dem Bild, aber ich rede so eindringlich auf sie ein (man sieht es an den Gesten), bis sie das Steinchen ebenfalls in die Wanne legt. Während der ganzen fünfminütigen Szene höre ich nicht eine Sekunde lang auf zu reden.
Ein paar Jahre später las uns Mom das alte Märchen von den beiden ungleichen Schwestern vor. Wann immer die Ältere etwas sagt, fallen ihr Kröten und Schlangen aus dem Mund, bei der Jüngeren hingegen sind es Blumen und Edelsteine. Jedes Mal, wenn ich das Märchen hörte, musste ich an die alte Filmszene denken, in der mir meine Mutter die Hand in den Mund steckte … und einen Edelstein herausholte.
Mit meinen flachsblonden Haaren und fein gemacht für die Kamera, war ich ein schönes Kind, viel schöner, als ich mich später entwickeln sollte. Mein wilder Pony war mit Wasser an die Schläfe geklatscht und auf einer Seite mit einer Strassspange fixiert. Sobald ich den Kopf bewege, blinkt die Spange im Sonnenlicht. Ich strecke meine Hand über der Wanne voller Steine aus. Gut möglich, dass ich damals sagte: »Schaut her, all das wird eines Tages einmal euch gehören.«
Oder auch nicht. In diesem Stück Heimkino ging es meinen Eltern wohl nicht darum, was ich sagte, sondern um diesen unfassbaren Redestrom, der da aus ihrer Tochter quoll.
Aber manchmal wurde es sogar ihnen zu viel. Dann meinte meine Mutter: »Wenn dir zwei Dinge einfallen, die du sagen willst, nimm die schönere, die beste Sache.« Es war ihre große Höflichkeitsregel, die später sogar auf drei Dinge erweitert wurde. Das Schönste und Beste aus drei Dingen war mehr als genug für die Welt. Mein Vater kam abends immer noch in mein Schlafzimmer, um mir »Träum was Süßes« zu wünschen, und selbst da redete ich unausgesetzt auf ihn ein. Es war mein Versuch, ihn allein mit meiner Stimme im Zimmer zu halten. Sobald er gehen wollte und schon die Hand den Türknauf berührte, rief ich: »Aber ich muss dir noch etwas sagen!« Dann verharrte die Tür mitten in der Bewegung.
»Aber nicht alles von Anfang an, fang in der Mitte an, bitte«, sagte er, ein Schatten vor dem Flurlicht und müde wie alle Erwachsenen am Abend. Das Flurlicht spiegelte sich dabei in meinem Fenster wie ein Stern, bei dem man sich etwas wünschen konnte.
Also: Überspringen wir den Anfang und fangen in der Mitte an.
Teil I
Der Sturm, der mir aus meiner Vergangenheit nachblies, sänftigte sich.
Franz Kafka, Ein Bericht für eine Akademie
Eins
In der Mitte meiner Geschichte steht der Winter 1996. Mittlerweile sind wir längst zu jener Kleinfamilie zusammengeschmolzen, die der alte Heimkinostreifen bereits andeutete, denn übrig sind nur noch ich, meine Mutter und, unsichtbar hinter der Kamera, mein Vater. 1996 sind es genau zehn Jahre her, seit ich meinen Bruder zuletzt sah, und siebzehn seit dem Verschwinden meiner Schwester. In der Mitte der Geschichte geht es nur um ihre Abwesenheit, aber wenn ich das nicht extra gesagt hätte, wärt ihr von selbst nie darauf gekommen. Denn 1996 konnten ganze Tage vergehen, ohne dass ich an einen von beiden dachte.
1996. Ein Schaltjahr. Jahr der Feuer-Ratte. Präsident Clinton wurde soeben wiedergewählt, aber am Ende standen nur Tränen. Die Taliban hatten Kabul eingenommen. Die Belagerung von Sarajevo endete offiziell am letzten Februartag, einem Neunundzwanzigsten. Im August ließ sich Charles von Diana scheiden.
Hale-Bopp tauchte am Nachthimmel auf. Erste Meldungen über ein saturnähnliches Objekt im Schweif des Kometen gab es im November. Klonschaf Dolly und der Schachcomputer Deep Blue waren Superstars. Es mehrten sich die Anzeichen für Leben auf dem Mars. Das saturnähnliche Objekt im Schweif von Hale-Bopp war womöglich ein Alien-Raumschiff. Im Mai 1997 begingen neununddreißig Mitglieder einer Sekte Selbstmord, um so ihren Erdkörper zu verlassen und auf das Raumschiff überzusiedeln.
Vor diesem Hintergrund sehe ich natürlich unbedeutend aus. Im Jahr 1996 war ich sechsundzwanzig und bummelte gerade durch mein fünftes Studienjahr an der University of California in Davis. Ich wusste nicht einmal, ob ich schon im Hauptstudium war oder noch im Grundstudium festhing, Studieneinheiten und Leistungsnachweise interessierten mich schlicht nicht, und es war auch eher unwahrscheinlich, dass ich in naher Zukunft meinen Abschluss machte. Mein Studium, so drückte es mein Vater aus, sei eher breit als tief angelegt. Er sagte das oft.
Aber ich sah überhaupt keinen Grund für übertriebene Eile. Mein Ehrgeiz war, entweder allgemein Bewunderung zu erregen oder im Hintergrund die Strippen zu ziehen. Was genau mir lieber war, wusste ich nicht. Es kam auch nicht darauf an, denn die von mir gewählten Hauptfächer qualifizierten zwingend weder für das eine noch das andere.
Nur meinen Eltern, die das alles bezahlten sollten, wurde es langsam zu viel. Vor allem meiner Mutter war in jener Zeit vieles zu viel. Dieses Zuviel war neu für sie und daher erregend, geradezu verjüngend in seiner Selbstgerechtigkeit. Erst kurz zuvor hatte sie angekündigt, dass sie es leid sei, den Vermittler zwischen mir und meinem Vater zu spielen, mit dem ich schon ewig nicht mehr redete. Aber soweit ich weiß, war mir das völlig egal. Mein Vater war College-Professor und pedantisch bis auf die Knochen. Jeder noch so kleine Wortwechsel enthielt – gleich dem Kern in der Kirsche – irgendeine Belehrung. Bis heute ist die sokratische Methode bei mir ein Grund, die Krallen auszufahren.
In diesem Jahr kam der Herbst so früh, als hätte jemand plötzlich eine windige Tür aufgerissen. Ich radelte eines Morgens zur Uni, als ein riesiger Schwarm Kanadagänse über mich hinwegzog. Ich konnte die Vögel eigentlich nicht sehen, aber ich hörte ihre wilden Schreie. Aus den Wiesen stieg der Thule-Nebel auf, und ich radelte wie durch Wolken. Thule-Nebel ist kein gewöhnlicher Nebel, es bilden sich keine Schleier. Thule-Nebel kennt auch keine Luftbewegung, sondern steht plötzlich vor einem wie etwas Kompaktes, das man meint anfassen zu können. Selbst mit dem Fahrrad ist man hier leicht zu schnell. Kein vernünftiger Mensch gondelt blind ins Unbekannte, ich damals schon, denn ich hatte ein entspanntes Verhältnis zu Slapstick und den kleinen Katastrophen des Alltags, also trat ich noch stärker in die Pedale und fand es herrlich.
Die taufeuchte Luft machte mich wie neu und ganz wild, und ich hatte große Lust zu Aufbruch und neuen Ufern. Was im Klartext bedeutete, dass ich mich in der Bibliothek so setzte, dass ich mit Jungs flirten konnte – sofern geeignete Kandidaten vorhanden waren. Oder ich träumte im Seminar vor mich hin. Damals fühlte ich mich oft ganz wild. Ich genoss das Gefühl, aber es wurde nie etwas daraus.
In der Mittagspause ging ich in die Cafeteria und holte mir etwas zu essen, sagen wir irgendwas mit Käse überbacken. Normalerweise legte ich meine Bücher auf den Stuhl direkt neben mir, das schreckte uninteressante Leute ab. Doch ebenso schnell ließen sich die Bücher wegräumen, wenn etwas Interessantes vorbeikam. Mit zweiundzwanzig hatte ich einen ziemlich mitleidslosen Begriff von interessant und war, nach meinen eigenen Maßstäben, selbst nicht interessant.
Am Nebentisch saß ein Pärchen. Das Mädchen wurde nach und nach so laut, dass man hinhören musste. »Du brauchst deinen beschissenen Freiraum?«, sagte sie. Sie trug ein bauchfreies blaues T-Shirt und eine Kette mit einem gläsernen Kaiserfisch. Lange dunkle Haare fielen ihr in einem angezausten Zopf weit den Rücken hinab. Sie stand auf und räumte mit einer einzigen Armbewegung den ganzen Tisch ab. Sie hatte wunderbare Bizepse. Bizepse, wie ich sie selbst gern gehabt hätte.
Teller flogen auf den Boden und gingen zu Bruch, Ketchup und Cola spritzten in alle Richtungen und vermischten sich zwischen Scherben. Vermutlich lief im Hintergrund Musik, unser Leben spielt sich ja nicht mehr unbeschallt ab, und sehr wahrscheinlich wäre der Titel ein boshafter Kommentar zum Geschehen am Nebentisch gewesen. Aber leider erinnere ich mich daran nicht mehr. Vielleicht herrschte einen Moment lang auch nur Totenstille und nur noch das Zischen von der Grillstation war zu hören.
»Na, wie gefällt dir das?«, fragte das Mädchen. »Und sag jetzt nicht, ich soll ruhig sein. Ich verschaffe dir nur ein bisschen Freiraum.« Dann stieß sie auch noch den Tisch um. »Besser?« Sie wurde richtig laut. »Alle mal herhören«, rief sie. »Könntet ihr bitte den Speisesaal verlassen, damit mein Freund hier seinen Freiraum hat? Er braucht nämlich jede Menge Freiraum.« Als Nächstes war ihr Stuhl dran, krachend donnerte sie ihn in den verketchupten Scherbenhaufen, aber sie war noch längst nicht fertig. Von irgendwoher roch es plötzlich nach Kaffee.
In der Cafeteria war es wirklich totenstill geworden. Die Leute hielten ihre Gabeln vor dem Mund, ohne zu essen, Löffel waren in Suppenteller getaucht und kamen nicht wieder hervor. Beim Ausbruch des Vesuvs muss es so ähnlich gewesen sein.
»Bitte, Baby, lass doch den Unsinn«, meldete sich ihr Freund in die Lautlosigkeit hinein, aber dabei blieb es, denn sie dachte nicht daran, mit dem Unsinn aufzuhören, wenn es am schönsten war. Sie ging zum Nachbartisch, wo noch ein abgegessenes Tablett stand. Methodisch zertrümmerte sie einen dreckigen Teller nach dem anderen, die Kleinteile feuerte sie quer durch den Saal. Ein Salzstreuer schlitterte mir an den Fuß.
Ein junger Mann erhob sich und stammelte etwas von: »Ey, bleib ma flauschig.« Die Antwort flog ihm in Form eines Löffels an den Kopf, wo er hörbar abprallte. »Das fehlte noch, dass du zu diesem Arschloch hältst!«, schrie sie, und ihre Stimme war definitiv nicht flauschig.
Mit weit aufgerissenen Augen sank er auf seinen Stuhl zurück. »Ich bin okay«, versicherte er dem stillen Saal, nicht sehr überzeugt. Irgendwann kam er von selbst darauf. »Heilige Scheiße, sie hat mich getroffen. Das ist Körperverletzung.«
»Seht ihr, das ist genau der Mist, den ich nicht mehr abkann«, sagte der Freund, ein großer Kerl mit schmalem Gesicht, weiten Jeans und langer Jacke. Eine Nase so scharf wie ein Messer. »Von mir aus kannst du den ganzen Laden auseinandernehmen, aber zuerst will ich meinen Wohnungsschlüssel zurück.«
Aber sie schmiss bereits mit dem nächsten Stuhl und verfehlte mich, wohlwollend gerechnet, nur um einen guten Meter. Tatsächlich war es weniger, denn der Stuhl traf meinen Tisch so heftig, dass er umkippte. Ich konnte gerade noch mein Tablett und das Glas Milch festhalten, aber meine Bücher landeten auf dem Boden. »Und tüchtig zugreifen, ich wünsche guten Appetit!«, schrie sie ihm zu.
Ich fand das lustig, denn überall lag Essen und zerscheppertes Geschirr herum. Ich lachte sogar, aber nur kurz, und es klang überdies wie ein Entenquaken. Trotzdem drehte sich alles nach mir um. Vom Hof aus, hinter der Glaswand, verfolgten die ersten Gaffer das Geschehen in der Cafeteria. Eine Dreiergruppe, die soeben hereinkam, blieb vorsichtshalber an der Tür stehen.
»Glaub ja nicht, ich tue es nicht.« Der Freund war mehrere Schritte auf sie zugegangen. Sie hob eine Handvoll Ketchup-getränkte Zuckerwürfel vom Boden auf und warf damit nach ihm.
»Das war’s zwischen uns«, sagte er. »Ich habe die Schnauze voll von dir, du Psycho-Bitch. Deine Sachen kannst du dir im Flur abholen, ich lasse das Schloss austauschen.« Er drehte sich um, und sie warf ein Glas, das ihn am Ohr traf. Er taumelte und tastete an der Stelle nach Blut. »Deinen Anteil an der Gasrechnung kannst du mir mit der Post schicken«, sagte er, ohne sich umzudrehen. Danach war er weg.
Einen Moment lang stand sie nur so da, dann wandte sie sich an uns. »Was guckt ihr Loser denn so?« Sie hob einen Stuhl auf, und ich wusste nicht, ob sie ihn nur hinstellen oder damit werfen wollte. Aber das wusste sie sehr wahrscheinlich selbst nicht.
Ein Campus-Polizist erschien auf der Bildfläche. Mit der Hand am Pistolenhalfter kam er vorsichtig auf mich zu. Ausgerechnet auf mich, die ich nur vor dem umgestoßenen Tisch verharrte und ihr harmloses Glas Milch und das Tablett mit dem harmlosen, halb gegessenen überbackenen Sandwich hielt. »Bitte, stell das wieder hin«, sagte er. »Und setz dich erst mal.« Aber wohin sollte ich das Tablett stellen, wohin sollte ich mich setzen? Ich meiner näheren Umgebung war ja nichts, das nicht am Boden lag. »Wir können über alles reden. Du sagst mir, was los ist, und dann sehen wir, was wir tun können. Noch ist nichts passiert.«
»Aber die doch nicht«, sagte die Frau an der Essensausgabe. Eine große Person, alt, vierzig mindestens, mit einem Schönheitsfleck an der Oberlippe und zu viel Eyeliner. Ihr benehmt euch immer so, als gehörte euch die Cafeteria, hatte sie einmal zu mir gesagt, als ich meinen Burger zurückgehen ließ, weil er nicht durchgebraten war. Aber ihr kommt und geht. Ihr denkt gar nicht daran, dass wir diejenigen sind, die bleiben.
»Es ist die Große«, sagte sie zu dem Cop, deutete sogar in ihre Richtung, aber er ignorierte sie, denn er hatte mich im Visier, und ich war bekanntermaßen unberechenbar.
»Ganz ruhig«, begann er erneut und nicht einmal unfreundlich. »Noch ist nichts passiert.« Er kam auf mich zu und übersah das Mädchen mit dem Zopf und dem Stuhl in der Hand. Unsere Blicke begegneten sich, als er so an ihr vorbeiging.
»Wenn man sie braucht, sind sie nie da«, sagte sie zu mir. Sie lächelte, und es war ein sympathisches Lächeln. Große weiße Zähne. »Den Bösen geht die Arbeit nicht aus«, sagte sie und wuchtete den Stuhl hoch. »Und ihr alle geht ohne Abendessen ins Bett.« Doch dann warf sie den Stuhl nicht auf uns, sondern gegen die Tür. Er fiel auf die Lehne.
Der Cop fuhr herum, und ich ließ vor Schreck mein Tablett fallen. Wie gesagt, es war keine Absicht, sondern nur ein Reflex der linken Hand, aber sofort richtete der Cop wieder seine Aufmerksamkeit auf mich.
Ich hatte aber noch mein halbes Glas Milch in der Hand, das ich in einer Geste der Hilflosigkeit nur ein klein wenig hob, geradeso, als wollte ich ihm zuprosten. »Wehe«, sagte er, diesmal weit weniger freundlich. »Ich bin nicht zum Spaß hier. Eine falsche Bewegung und du lernst mich kennen.«
Aber dann war ich es, die mit Sachen um sich schmiss. Ich schmetterte das Glas Milch auf den Boden, Milch detonierte vor meinem Schuh und durchtränkte meine Socke. Und diesmal war es kein Missgeschick, sondern blanke Absicht.
Zwei
Eine knappe Dreiviertelstunde später saß ich mit der Psycho-Bitch eingequetscht wie Sardinen in der Dose im Fond eines Streifenwagens der Yolo County Police, denn für die biederen Campus-Cops war der Fall eine Nummer zu groß. Sogar Handschellen hatten sie uns angelegt, und die Dinger schmerzten an den Handgelenken, wie ich es nicht für möglich gehalten hätte.
»Ich habe ihm nur gesagt, dass ich mich nicht von jedem ficken lasse«, sagte sie. Komisch, so etwas Ähnliches hatte der Campus-Cop auch zu mir gesagt, als die Situation eskalierte. »Aber nett, dass du mich begleitest. Ich bin Harlow Fielding, Studentin der Theaterwissenschaft und zuständig für Dramen aller Art.«
Ohne Scherz.
»Ich habe noch nie jemanden getroffen, der Harlow hieß«, sagte ich. Ich meine mit Vornamen Harlow. Mit Nachnamen schon.«
»Das ist wegen meiner Mutter. Sie war nach Jean Harlow benannt. Aber nicht, weil Opa ein geiler, alter Sack war, sondern weil Harlow schön und intelligent war. Und was nutzten ihr Schönheit und Grips? Das wüsste ich gerne mal. Super Vorbild.«
Ich wusste nichts über Jean Harlow, außer dass sie vielleicht in Vom Winde verweht mitgespielt hatte, den ich aber weder gesehen hatte noch je sehen wollte. Der Krieg ist vorbei, finde dich damit ab. »Ich bin Rosemary Cooke.«
»Ah, da ist Rosemary, das ist für die Treue! Angenehm, sehr erfreut, geradezu überwältigt, echt, sozusagen total gefesselt.« Sie schob sich die Unterarme von hinten durch die Beine, bis es nicht mehr so aussah, als seien sie noch auf dem Rücken gefesselt. Wäre ich dazu ebenfalls in der Lage gewesen, hätten wir uns die Hand reichen können, aber so ging es nicht.
Man brachte uns in den County-Knast, wo Harlows Schlangenmensch-Nummer einiges Aufsehen erregte. Harlow war sogar erbötig, die yogische Vorstellung vor einigen Polizisten zu wiederholen, und beantwortete den Applaus mit gewinnender Bescheidenheit, indem sie sagte: »Ich habe eben lange Arme. Deshalb finde ich auch nie ein Shirt, bei dem die Ärmel passen.«
Der festnehmende Polizist hieß in unserem Fall Arnie Haddick. Als Officer Haddick seine Dienstmütze abnahm, offenbarte er eine runde Halbglatze von solcher Symmetrie, dass man diesem Mondgesicht unmöglich böse sein konnte.
Er nahm uns die Handschellen ab und übergab uns der erkennungsdienstlichen »Behandlung«. »Das ist wie bei Käse, der wird auch am Schluss wärmebehandelt«, bemerkte Harlow. Offenbar kannte sie sich aus.
Nur für mich war das alles neu. Das wilde Gefühl vom Morgen allerdings war verflogen und hatte einer großen Traurigkeit Platz gemacht, fast einer Art Heimweh. Was hatte ich getan? Und vor allem warum? Die Neonröhren an der Decke summten wie Fliegen und betonten die Schatten unser aller Augen, machten uns alt, verzweifelt und ein bisschen grün.
»Entschuldigung?«, sagte ich so höflich wie möglich. »Wie lange dauert das hier noch?« Mir war eingefallen, dass ich das Geschichtsseminar am Nachmittag verpasste. Europäisches Mittelalter. Eiserne Jungfrauen, Kerker und Hexenverbrennungen.
»Es dauert so lange, wie es dauert«, sagte die Knast-Lady und warf mir einen grünlich-niederträchtigen Blick zu. »Aber es geht in jedem Fall schneller, wenn Sie mir nicht dauernd mit irgendwelchen Fragen kommen.«
Zu spät. Kurz darauf steckte sie mich in eine Zelle, damit sie ungestört Harlows Papierkram erledigen konnte. »Keine Sorge, Boss«, sagte Harlow. »Ich bin gleich bei dir.«
»Boss?«, fragte die Knast-Lady.
Schulterzucken bei Harlow. »Richtig. Boss. So wie Rädelsführer, Mastermind.« Sie grinste mich so stolz an wie der Kerl auf dem Eistraktor im Stadion. »El Capitán.«
Vielleicht kommt mal der Tag, an dem College-Studenten und Polizei Frieden schließen, nur werde ich ihn nicht mehr erleben. Ich musste alles ablegen, Uhr, Schuhe und Gürtel, und landete in einer Zelle mit klebrigem Boden und echten Gitterstäben. Die Frau, die meine Sachen einkassierte, war auch nicht freundlicher als die erste. Auffällig war auch der Geruch in diesem Gebäude, eine Mischung aus Bier, Tiefkühllasagne, Insektenspray und Pisse.
Die Gitterstäbe reichten bis an die Decke. Ich probierte es aus. Ich kann mich zwar nicht verbiegen, aber für ein Mädchen ziemlich gut klettern. Auch hier nichts als Neonlicht. Es summte noch lauter und flackerte außerdem. Dauernd änderte sich in der Zelle das Licht, es wurde dunkel und hell, dunkel und hell, wie Wochen im Zeitraffer. Guten Morgen, gute Nacht, guten Morgen, gute Nacht. Wenn ich wenigstens noch meine Schuhe gehabt hätte.
Ich war nicht allein, sondern hatte zwei Mitbewohnerinnen. Die eine saß auf der einzigen nackten Matratze, war jung und zierlich, schwarz und betrunken. »Ich brauche einen Arzt«, sagte sie zu mir und zeigte mir ihren Ellbogen. Aus einer kleinen Schnittwunde sickerte Blut, das sich im Flackerlicht violett färbte. Ich zuckte zusammen, als sie plötzlich schrie: »Ich brauche Hilfe! Warum hilft mir denn keiner?« Aber da sie darauf nicht einmal von mir eine Antwort bekam, gab sie wieder Ruhe und sagte nichts mehr.
Die andere Frau war mittelalt, weiß, nervös und spindeldürr. Sie hatte sprödes, totgefärbtes Haar und trug einen lachsfarbenen Hosenanzug, der in dieser Umgebung übertrieben wirkte. Sie sei soeben einem Cop draufgefahren, sagte sie, außerdem hätten sie sie nur eine Woche zuvor im Supermarkt beim Klauen erwischt. Tortillas und ein paar Gläser Salsa für die sonntägliche Football-Party bei ihr im Garten. »Das sieht nicht gut aus«, sagte sie. »Ich habe aber auch so ein Pech.«
Irgendwann war ich dran. Ich weiß nicht mehr genau, wie viel Zeit vergangen war, denn ich hatte ja keine Uhr, aber auf jeden Fall lange nach dem Erlöschen jeglicher Hoffnung. Harlow saß noch in dem Büro, rutschte auf ihrem Stuhl hin und her, wackelte mit den Beinen und korrigierte immer wieder ihre Aussage. Ihr wurden Sachbeschädigung und ungebührliches Verhalten zur Last gelegt. Außerdem kämen Reinigungs- und Müllentsorgungskosten auf sie zu, erklärte sie mir. Aber das sollte nicht ihr Problem sein, sagte sie, und meines ebenso nicht. Sie hatte ihren Freund angerufen, den Typ aus der Cafeteria. Er tauchte sofort auf, um sie abzuholen, und sie war weg, ehe sie meinen Fall aufgenommen hatten.
Einmal mehr merkte ich, wie nützlich so ein Freund sein konnte. Wenn man einen hatte.
Ich wurde derselben Vergehen beschuldigt wie Harlow, mit einem Unterschied: Ich sollte auch noch einen Officer angegriffen haben, und keiner war da, der widersprochen hätte.
Ich wusste nur, dass mein ganzes Verbrechen darin bestand, zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen zu sein. Weil es niemanden gab, rief ich notgedrungen meine Eltern an. Ich hoffte, meine Mutter würde drangehen, denn das tat sie für gewöhnlich, nur diesmal war sie bei ihrem Bridge. Sie ist zwar ein elender Zinker, und mich wundert, dass überhaupt noch jemand mit ihr spielen will. Aber es zeigt nur, wie verzweifelt Bridgesüchtige werden können. Bridge ist wie eine Droge. Sie würde erst in zwei Stunden zurück sein, das kleine silberne Täschchen prall gefüllt mit ergaunerten Münzen und daher besser gelaunt als sonst. Bis mein Vater ihr von dem Vorfall erzählte.
Er reagierte ziemlich gereizt, als hätte ich ihn gerade aus einem eminent wichtigen Vorhaben gerissen. Aber was hatte ich erwartet? »Was zum Teufel hast du getan?«
»Nichts. Aber aus irgendeinem Grund riefen sie plötzlich die Campus-Polizei«, sagte ich. Wie eine Schlangenhaut fielen diese Worte von mir ab, und das lag einzig an meinem Vater. Je zorniger er wurde, desto gelassener und ironischer wurde ich – was ihn wiederum noch mehr erzürnte. Doch das ist nur normal, schätze ich.
»Je weniger du tust, desto mehr Ärger machst du«, sagte mein Vater. So schnell wurde aus meiner Verhaftung ein Lehrsatz. »Bei deinem Bruder hätte es mich nicht gewundert, aber bei dir?«, fügte er hinzu. Das verblüffte mich, denn sonst spricht er überhaupt nicht über meinen Bruder. Außerdem achtet er auf seine Worte, besonders bei uns zu Hause am Telefon. Er meint nämlich, wir würden abgehört.
Darauf gab es eine naheliegende Antwort, doch die sparte ich mir. Dass nämlich mein Bruder durchaus irgendwann im Knast landen könnte, aber niemals, wirklich niemals anrufen würde.
Über das Telefon an der Wand hatte jemand mit Kuli den Satz gekritzelt: Besser vor her nach denken. Ein guter Rat, aber für diejenigen, die diesen Apparat benutzten, kam er mit Sicherheit zu spät.
»Und was soll ich deiner Meinung nach jetzt tun?«, fragte mein Vater. »Du meinst, du bräuchtest nur anzurufen und ich käme gesprungen?«
»Es ist doch das erste Mal, Dad.«
»Und du meinst, das ändert irgendwas?«
Urplötzlich musste ich so heftig weinen, dass ich nicht weitersprechen konnte. Ich holte mehrfach Luft, brachte jedoch außer rasselndem Rotz nichts hervor.
Daraufhin änderte sich sein Ton. »Ich gehe davon aus, dass dich jemand angestiftet hat«, sagte er. »Du rennst doch immer anderen hinterher. Na gut, dann bleib, wo du bist.« Als hätte ich eine Wahl. »Ich werde sehen, was ich für dich tun kann.«
Als Nächste durfte die totgefärbte Blondine telefonieren. »Du ahnst ja nicht, wo ich bin«, sagte sie unbeschwert, aber sie hatte sich verwählt.
Mit seiner Autorität als Professor bekam er den festnehmenden Polizisten an den Apparat. Es stellte sich heraus, das Officer Haddick selbst Kinder und daher Verständnis für meinen Vater hatte. Schon nach wenigen Minuten sprachen sie sich mit Vince und Arnie an, und aus der Körperverletzung wurde zuerst Behinderung von Einsatzkräften, dann wurde die Sache ganz fallen gelassen. Übrig blieben Sachbeschädigung und ungebührliches Verhalten. Doch auch das hatte keinen Bestand, da die Eyliner-Frau aus der Cafeteria vorbeikam und für mich aussagte. Ich sei nur unbeteiligter Zuschauer gewesen, sagte sie, und das zerbrochene Glas keine Absicht. »Wir waren ja alle erschrocken über die Szene«, sagte sie. Trotzdem musste ich meinem Vater versprechen, dass wir die Sache über Thanksgiving, also vier Tage lang, ausdiskutieren würden. Ich fand das ein bisschen viel für ein Glas vergossene Milch, zumal nach der ganzen Zeit im Polizeigewahrsam.