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Nicolas Fox und Kate O’Hare konnten es nicht riskieren, in Flugzeugen, auf Flughäfen, Bahnhöfen oder an anderen stark frequentierten Orten in der Öffentlichkeit gemeinsam gesehen zu werden. Die Gefahr, dass sie dort von Polizeibeamten erkannt oder von Überwachungskameras erfasst werden könnten, war zu groß.
Also flog Nick um neun Uhr am nächsten Morgen erster Klasse nach London – unter einem Pseudonym und mit einem seiner vielen einwandfrei gefälschten Pässe. Er ließ sich eine recht annehmbare Mahlzeit und ein Glas nicht zu verachtenden Champagner schmecken und kam um sieben Uhr morgens am folgenden Tag ausgeruht und entspannt in Heathrow an. Nach einem kurzen Weiterflug nach Inverness, Schottland, mietete er sich einen Range Rover und fuhr in strömendem Regen nach Süden. Er musste seine Fahrt nur zweimal kurz unterbrechen, als Schafe vor ihm die Straße überquerten.
Kate flog in der Zwischenzeit in der Touristenklasse nach Newark, New Jersey, und von dort aus weiter nach Glasgow. Für eine Frau, die während ihres Dienstes beim Militär jahrelang im Frachtraum von Transportflugzeugen unterwegs gewesen war, bot die zweite Klasse im kommerziellen Flugverkehr einen nicht zu unterschätzenden Komfort. Ihr schmeckte sogar das Essen, das ihr serviert wurde. Im Flughafen von Glasgow mietete Kate sich einen Opel Corsa und machte sich auf den Weg Richtung Norden in ein winziges Dorf. Eigentlich bestand es nur aus einem einzigen Gebäude – einer windschiefen, jahrhundertealten Taverne.
Kate und Nick kamen im Abstand von wenigen Minuten in der Gastwirtschaft an und suchten sich einen Tisch neben dem Kamin aus. Sie zogen ihre Jacken aus, ließen sich vor dem lodernden Feuer nieder und bestellten ein spätes, aber üppiges Mittagessen: Fleischpastete mit Hammelhackfleisch, Kartoffelbrei und Belhaven Ale.
»Ich habe dir vertraut und den weiten Weg auf mich genommen, Nick. Jetzt will ich endlich wissen, wohin genau es geht und wen wir dort treffen werden. Solange du mich im Dunkeln lässt, fahre ich keinen Meter mehr weiter.«
»Zuerst müssen wir eine Abmachung treffen. Nichts von dem, was du heute über die Person erfährst, die du gleich kennenlernen wirst, darf gegen sie verwendet werden. Du musst ihr absolute Immunität zusichern.«
»Das kann ich nicht, aber ich verspreche dir, dass alles vertraulich bleibt und ich es niemandem weitererzählen werde. Darauf hast du mein Wort. Solltest du allerdings jemals unsere Vereinbarung brechen und versuchen abzuhauen, werde ich mein Wissen dazu verwenden, um dich zu jagen und sowohl dich wie auch all deine Kumpel hinter Gitter zu bringen.«
»Du bist so sexy, wenn du so streng mit mir sprichst.« Nick grinste. »Du ziehst dann deine kleine Nase kraus, und deine Augen verschleiern sich.«
Kate war froh, dass sie ihre Glock nicht bei sich hatte – sie könnte sich sonst versucht fühlen, auf ihn zu schießen. Keine schlimme Verletzung, vielleicht nur ein Streifschuss am kleinen Zeh. Natürlich konnte sie immer noch mit ihrer Gabel auf ihn einstechen.
»Wen treffen wir?«, fragte sie.
»Duff MacTaggert.«
»Noch nie von ihm gehört.«
»Natürlich nicht, dazu ist er viel zu gut. Duff ist der Obi-Wan Kenobi der Diebe und war einer meiner Lehrmeister. Er hat sich mittlerweile zur Ruhe gesetzt und betreibt ein Pub in Kilmarny, einem winzigen abgelegenen Dorf ungefähr drei Stunden von hier. Aber lass dich nicht von seinem Charme oder seinem Alter täuschen. Wenn Duff Verdacht schöpft und dich für eine Polizistin hält, wird er uns umbringen.«
»Das kann er gern versuchen.«
»Duff wird dein Selbstvertrauen förmlich riechen. Und falls etwas schiefläuft und du in Kampfstellung gehst, wird er sofort wissen, dass du ein Profi bist. Also dachte ich mir, bevor wir versuchen, das zu verheimlichen, sollten wir es in deine Rolle einbauen.«
»Und die wäre?«
»Du bist meine Leibwächterin und meine Geliebte.«
Sie schüttelte den Kopf. »Nur deine Leibwächterin.«
»Er wird niemals glauben, dass ich nicht mit dir schlafe.«
»Das tust du auch nicht.«
»Selbst ich kann das kaum fassen«, meinte Nick.
»Wie kommst du darauf, dass Duff uns den bronzenen Hahnenkopf geben wird?«
»Das wird er nicht, aber ich hoffe, dass er uns den Namen der Person verraten wird, bei der der Hahn letztendlich gelandet ist.«
»Und von dieser Person stehlen wir ihn dann?«
»So lautet mein Plan«, bestätigte Nick.
Kate ließ ihren Wagen am Straßenrand stehen und warf ihre Tasche in Nicks Range Rover. Sie glitt auf den Beifahrersitz, und Nick fuhr los nach Kilmarney.
Die nebelumhangenen Gipfel und die sanften üppig grünen Hügel strahlten eine düstere Schönheit aus. Sie fuhren vorbei an baufälligen Steinwällen, alten Farmhäusern, Schafherden und dunklen, eisigen Seen.
»Unser Ziel liegt direkt zwischen Himmel und Hölle«, erklärte Nick.
»Ist das nicht ein wenig zu dramatisch ausgedrückt?«
»Ich meine das wörtlich. Kilmarny liegt an einem Kap zwischen den Seen Loch Nevis und Loch Hourn. Die gälischen Namen der Seen bedeuten Himmel und Hölle. Kilmarney kann man nur mit einer Fähre über den Loch Nevis erreichen, wenn man keinen etwa fünfundzwanzig Kilometer langen Fußmarsch durch eine raue Berglandschaft machen möchte.«
»Klingt nach einem miserablen Ort für den Ruhestand.«
»Nicht wenn man ein Weltklassedieb ist, der immer noch in etlichen Ländern gesucht wird.«
»Und wenn man einen Hang zum Dramatischen hat.«
»Das auch.«
»Hat dir Duff MacTaggert das auch beigebracht?«
»Im Gegenteil. Drama macht keinen Spaß. Mir liegt eher das Schauspiel und die Selbstinszenierung.«
»Ich nehme an, wir setzen mit dem Boot nach Kilmarny über; ich kann mir kaum vorstellen, dass du durch die Wildnis marschieren willst.«
»Wir nehmen in Mallaig eine Fähre, die uns in etwa fünfundvierzig Minuten Fahrt über den Loch Nevis dorthin bringt. Ich habe bereits angerufen und uns einen Platz reserviert.«
Es regnete in Strömen, als sie Mallaig, einen geschäftigen kleinen Fischereihafen am Loch Nevis, erreichten. Das Wasser war aufgewühlt, und die Fähre nach Kilmarny, ein umgebautes Fischerboot, schaukelte auf den schaumgekrönten, gegen den Pier schlagenden Wellen. Nick und Kate waren die einzigen Passagiere.
Bei ihrer Ankunft in Kilmarny hatte sich der starke Regen in ein kaltes Nieseln verwandelt, und Kate betrachtete mit zusammengekniffenen Augen die weiß getünchten kleinen Häuser zwischen den steilen grünen Hügeln und dem hellen Sandstrand. Am Fähranleger waren einige verwitterte Fischerboote vertäut. Eine einzige Straße führte durch das kleine Dorf hinauf in die Hügel. Kate entdeckte ein Farmhaus und dahinter im Nebel die Ruinen eines Schlosses.
Nick folgte ihrem Blick. »Das ist Kilmarney Castle. Dieses Dorf wurde für die Arbeiter gebaut, die sich einstmals um das Land und das Vieh kümmerten.«
»Einstmals? Unterhalten wir uns, oder zitierst du aus Der Hobbit?«
»Wir sind in Schottland – ich passe mich eben an.«
»Ich bin mir ziemlich sicher, dass kein Schotte ›einstmals‹ sagt«, wandte Kate ein, obwohl alles, was sie über Schotten wusste, aus Dokumentationen im Travel Channel stammte.
»Kilmarny hat nur etwa vierzig Einwohner. Der Rest setzt sich aus Wanderern und naturliebenden Touristen zusammen«, sagte Nick. »Es gibt nur einen Laden, ein Hotel, ein Restaurant und das Hideaway, das abgelegenste Pub in ganz Großbritannien. Duff ist der Besitzer, und er wohnt auch direkt darüber. Und er ist der inoffizielle Bürgermeister des Dorfs.«
Kate machte nur ein Gebäude aus, in dem sich ein Pub befinden konnte. Ein windschiefes zweigeschossiges Häuschen mit flachem Dach, versteckt am Rand des Dorfs auf einem kargen Stück Land. Davor standen einige rustikale Picknicktische und Bänke, und aus dem Kamin quoll Rauch.
»Nicht gerade Beverly Hills«, bemerkte Kate.
»Und Duff ist auch nicht Cary Grant.«
Der steile Pfad zu dem Pub war rutschig vom Regen, aber es war nicht sehr weit. Nick schob die schwere Holztür auf, und sie traten ein. Eine Wand wurde fast ganz von einem riesigen Kamin eingenommen, in dem ein Feuer prasselte. Die Mauer rundherum war rußgeschwärzt. Offensichtlich funktionierte der Abzug nicht richtig. Die niedrige Decke mit den Holzbalken wurde von vierkant behauenen Baumstämmen gestützt. Die Tische und Stühle waren aus dicken Holzblöcken und durch den jahrzehntelangen Gebrauch glatt poliert. Die Theke schien aus Fundstücken zusammengebaut worden zu sein: Ein Holzbrett lag auf einem Unterbau bestehend aus Steinen, Ziegeln, Flaschenglas und Mörtel. In dem Raum herrschte eine tropische Temperatur, und der Geruch nach verkohltem Apfelholz hing schwer in der Luft.
Zwei Männer saßen an der Bar und einer stand dahinter. Sie sahen ebenfalls aus wie Fundstücke – rau wie die Landschaft, die Haut wettergegerbt vom Wind und der See. Den Mann hinter dem Tresen schätzte Kate auf Ende sechzig. Er sah aus wie das Resultat eines wahnwitzigen Experiments, einen Schottischen Terrier mit einem Menschen zu kreuzen. Seine braunen Augen verschwanden beinahe unter seinen buschigen Augenbrauen, und seine Knollennase war durch den grauen wuchernden Schnauzer und den Bart, der praktisch sein ganzes Gesicht bedeckte, kaum zu erkennen. Kate vermutete, dass das Duff MacTaggert war.
»Nicolas Fox. Du bist der Letzte, den ich je hier in meiner Hütte erwartet hätte!«, rief Duff mit starkem schottischem Akzent. »Ich kann immer noch dein Messer in meinem Rücken spüren.«
»Meine Güte, du bist ein fetter, haariger, alter Kerl geworden.« Nick ließ seine Tasche neben der Tür auf den Boden fallen und ging zur Theke hinüber.
Die beiden Männer an der Bar wurden wachsam. Sie waren groß und kräftig, und ihre Hände erinnerten an Baseballhandschuhe. Kate entdeckte bei beiden Ausbuchtungen in der Hose – sie verbargen Waffen unter ihren dicken Pullovern mit Zopfmustern. Anscheinend glaubten sie, sie hätten in einer Gefahrensituation genug Zeit, unter ihre Pullis zu greifen. Sie stellte ihre Tasche neben Nicks Gepäck auf den Boden und blieb abwartend an der Tür stehen.
Duff kam hinter der Bar hervor und baute sich vor Nick auf. »Und du bist ein weicher Schönling mit hübschen Zähnen.«
Nick grinste. »Wir hatten wohl beide Glück im Leben.«
Duff warf einen Blick zu Kate hinüber. »Wer ist das?«
»Meine Leibwächterin.«
»Dieses kleine Mädchen?« Duff hob eine seiner buschigen Augenbrauen. »Das soll wohl ein Witz sein. Seit wann brauchst du jemanden, der dich beschützt?«
»Seit ich die Nummer zehn auf der FBI-Liste der meistgesuchten Verbrecher bin.«
»Ich habe von deiner Flucht gehört.«
»Hier in dieser Wildnis?«
»Wir leben zwar an einem abgelegenen Ort, aber vor Google kann sich niemand verstecken. Sag mir gefälligst, was du von mir willst. Die Fähre legt in fünf Minuten ab.«
»Das klingt nicht sehr gastfreundlich.«
»Es ist auch nicht nett, die Polizisten, die dich verfolgen, bis zu meiner Haustür zu führen.«
»Sie befinden sich nicht einmal in der Nähe.«
»Das sagt einer, den man erwischt hat, zu einem Mann, dem das nie passiert ist. Nenn mir einen guten Grund, warum ich dich nicht sofort töten und irgendwo in den Hügeln verbuddeln sollte.«
»Der Grund bin ich«, meldete sich Kate zu Wort.
Duff lachte und sah Nick an. »Ich hätte Spaß daran, die Jungs mal die Qualitäten der Kleinen ausprobieren zu lassen.«
Einer der Männer trug einen Rollkragenpullover, der andere einen Sweater mit Rundhalsausschnitt. Beide starrten Kate kampflustig an wie zwei Hunde, die sich um einen Knochen stritten.
Nick zuckte mit den Schultern. »Nur zu. Ich möchte dir einen Vorschlag machen und hätte nichts gegen ein wenig Privatsphäre einzuwenden.«
Duff scheuchte seine Männer mit einer Handbewegung nach draußen. »Zerzaust ihr die Frisur nicht, Jungs.«
Rollkragen und Rundhals glitten von den Barhockern, gingen an Kate vorbei und verließen das Haus. Nick wandte sich an Kate und deutete mit einer Kopfbewegung auf den Ausgang. Kate seufzte, folgte den Männern und schloss die Tür hinter sich.
»Dann lass dein Angebot mal hören, Kumpel.« Duff führte Nick an einen Tisch. »Ich hoffe für dich, es ist ein gutes.«
Nick setzte sich mit dem Rücken zur Tür auf einen Stuhl. »Ein Freund von mir hätte gern den bronzenen Hahnenkopf in seiner Kunstsammlung.«
»Was hat das mit mir zu tun?«, fragte Duff.
»Du weißt, wer ihn hat«, erwiderte Nick.
»Ich kann dir versichern, dass er nicht zum Verkauf steht.«
»Ich habe nicht gesagt, dass mein Freund ihn kaufen will.«
Plötzlich krachte Rollkragen durch das Fenster hinter Nick und landete benommen neben dem Tisch auf dem Boden. Kurz darauf flog Rundhals durch das andere Fenster und legte neben Rollkragen eine Bauchlandung hin.
Kate spazierte durch die Tür, klopfte sich den Schmutz von ihrer Kleidung und ging zur Theke. Duff betrachtete die beiden am Boden liegenden Männer und schüttelte angewidert den Kopf.
»Hast du eine Ahnung, wie schwer es ist, in dieser Gegend neue Fenster zu bekommen?«, fragte Duff Kate.
Kate grinste und zapfte sich ein Glas Ale. Allmählich begann sie ihren Aufenthalt in Schottland zu genießen.
Duff wandte sich wieder an Nick. »Warum hat sie die beiden nicht durch die Tür geworfen?«
»Fenster sind ihr lieber. Das macht mehr her.«
»Das ist dein schlechter Einfluss auf sie. Du hast schon immer gern eine große Show abgezogen.«
»Genau das macht doch Spaß.«
»Und deshalb bist du auch im Knast gelandet.«
»Was ist an deinem Leben hier anders?«, entgegnete Nick.
Duff zuckte mit den Schultern. »Ich habe hier alle Annehmlichkeiten, die ich brauche. Gutes Ale. Guten Single Malt. Einen Vierundachtzig-Zoll-Flachbildfernseher und Satellitenempfang.«
Rollkragen und Rundhals humpelten zu den Barhockern hinüber. Kate schenkte jedem ein Ale ein und schob ihnen die Krüge als Friedensangebot hin. Die beiden nickten zum Dank und schlürften das Bier. Rollkragen tupfte sich seine blutende Nase mit einer Serviette ab.
»Du kennst also jemanden, der den Hahn haben will«, stellte Duff fest. »Was springt dabei für mich raus?«
»Eine Million Dollar.«
Kate verschluckte sich beinahe. Eine Million Dollar?
Duff schüttelte den Kopf. »Ich würde einen Eid brechen.«
»Habe ich eine Million gesagt? Ich meine natürlich zwei Millionen. Und ich lege sogar noch zwei Buntglasfenster drauf.«
»Wir sind hier nicht in der Kirche, Kumpel.«
»Du hast von einem heiligen Eid gesprochen.«
»Damit habe ich meinen Ehrenkodex gemeint.«
»Du hast doch gar keinen.«
»Ich habe noch nie zuvor die Identität eines Kunden verraten.«
»Weil dich noch nie jemand danach gefragt hat. Außerdem bist du im Ruhestand. Also was kümmert’s dich?«
Duff strich sich über seinen Bart. »Ich will mich schließlich noch im Spiegel anschauen können.«
»Schwer zu glauben. Hättest du in den letzten Jahren irgendwann einmal einen Blick in den Spiegel geworfen, dann hättest du dir schon längst diesen räudigen Bart abrasiert.«
Duff schob seinen Stuhl zurück und stand auf. »Ich werde eine Nacht darüber schlafen.«
Nick beugte sich zu ihm vor. »Komm schon, Duff, sei nicht so störrisch. Es ist noch früh, und wir haben uns seit Jahren nicht mehr gesehen. Lass uns ein paar Bierchen trinken und über alte Zeiten reden.«
»Dabei könnte ich mich allerdings daran erinnern, dass ich dich eigentlich umbringen will.«
»Da ist was dran.« Nick erhob sich, ging zur Tür und bedeutete Kate, die Taschen mitzunehmen. »Dann sehen wir uns morgen früh.«