Totgetanzt
Brigitte Lamberts/ Annette Reiter
edition oberkassel
2015
Inhalt
Das Team
Prolog – Januar 2011
1.
2.
3.
4.
5.
6.
7.
8.
9.
10.
11.
12.
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14.
15.
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19.
20.
21.
22.
23.
24.
25.
Danksagung
Dank an die LeserInnen
Die Autorinnen
Impressum
Leseprobe: Ausgeweidet
Für Elke
von Brigitte
Für meine Eltern
von Annette
Personen und Handlungen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
Ein Großteil der gastronomischen Ausflüge des Hauptkommissars spielt an realen Orten, die als Empfehlung zu verstehen sind.
Otto Kreutz – Kriminalrat, Leiter des Morddezernates
Clemens von Bühlow – Hauptkommissar, Leiter der Ermittlungen
Maria Esser – Hauptkommissarin
Hendrik Flemming – Kommissar, Aktenführer, Rechercheexperte
Christian auf der Heide – Oberkommissar
Sonja Melchior – Kommissaranwärterin
Florian Schmidt – Kommissaranwärter
Rainer Steinbeißer - Hauptkommissar
Pia Cremer – Oberstaatsanwältin
Dr. Wolfgang Hummel – Gerichtsmediziner
Dr. Lukas Schwert – Gerichtsmediziner
Armin Schoeller – Leiter der Kriminaltechnik
Jochen Mönnekes – Pressesprecher des Polizeipräsidiums
Alexander Langenberg – Psychologe, Clemensʼ bester Freund
Freitag später Abend EnVogue. Die silberne Lichtkugel an der hohen Decke dreht sich. Die Scheinwerfer tauchen den Raum in blaues, rotes oder gelbes Licht. Die verschwitzten Gesichter glänzen, versinken bei Schwarzlicht in der Dunkelheit. Der Rhythmus der Musik reißt alle mit. Die Vibration der tanzenden Körper wird vom Boden abgefedert und mit voller Wucht zurückgegeben. Die Disco ist überfüllt. Ein Mann schiebt sich zielstrebig durch die Menge. Immer wieder überquert er die Tanzfläche, geht an den runden Stehtischen vorbei, an denen die jungen Leute kurz verschnaufen, ihre Cocktails trinken und dann erneut tanzen. Die anderen Männer nimmt er kaum wahr und wenn, bedenkt er sie mit einem abfälligen Blick. Alle seine Sinne sind auf das Äußerste gespannt. Das gleißende Licht, die laute Musik sind seine Endorphine. Er spürt den Übermut und das Begehren der Tanzenden. Er ist Hod1. Er ist gekommen, um seine Braut zu holen. Schon mehrmals hat er sie beim Tanzen beobachtet. Sie ist so zart, so anmutig. Sie zieht alle Blicke auf sich. Kein Anderer wird sie bekommen, nur er.
Plötzlich hält er inne und dreht sich um. Da ist sie, seine Prinzessin. Endlich. Ein Lächeln huscht über sein Gesicht. Die junge Frau bewegt sich geschmeidig zu den schnellen Rhythmen. Langsam nähert er sich. Sie bemerkt ihn nicht. Ganz dicht geht er an ihr vorbei. Streift sie wie zufällig. Dann lehnt er sich in der Nähe an einen der Pfeiler, die das Gewölbe tragen, und genießt ihren Anblick. Diese Anmut. Hod ist zufrieden. Er löst sich von dem Pfeiler, die junge Frau fest im Blick.
1 Hod, germanischer Gott der Dunkelheit.
Sonntagabend Flughafen. Hauptkommissarin Maria Esser klappt den Laptop zu, zieht ihre schwarze Lederjacke über, greift ihre Autoschlüssel vom Küchentisch und zieht die Wohnungstür hinter sich zu. Gut gelaunt startet sie mit ihrem klapprigen Opel Astra Kombi Richtung Flughafen Düsseldorf. Sie hat versprochen, ihren Kollegen Clemens von Bühlow und dessen besten Freund Alexander Langenberg abzuholen. Die beiden kommen mit Air Berlin aus Salzburg, die Maschine soll pünktlich um halb zehn landen. Während Maria zügig die Danziger Straße entlangfährt, denkt sie darüber nach, ob es sinnvoll wäre, die Rampe zum Bereich Abflug hinaufzufahren. Dort gibt es die einzige Möglichkeit, kurz zu halten. Aber das Risiko, abgeschleppt zu werden, ist ihr zu groß. Also fährt sie in eines der Parkhäuser. Früher, vor dem verheerenden Brand, konnte man ohne Schwierigkeiten vor den Terminals, egal ob Abflug oder Ankunft, parken. Jetzt verfügt Düsseldorf zwar über einen eleganten Flughafen, aber man ist gezwungen, eines der Parkhäuser aufzusuchen.
Wie sie befürchtet hat, muss sie sich ein Stockwerk nach dem anderen hochquälen. Erst ganz oben sind zwanzig freie Plätze angezeigt. Die Technik ist faszinierend. Über jeder Parklücke hängt ein Melder, der Grün zeigt, wenn die Parklücke frei ist. Sobald ein Auto den Platz besetzt hat, schaltet die Lampe auf Rot. ›Typisch für Düsseldorf‹, geht es ihr durch den Kopf. ›Nur das Luxuriöseste ist für die Düsseldorfer gut genug.‹ Schnell notiert sie sich die Etage, die Nummer der Parkbucht und die Farbe des Abschnitts, um nicht wieder durch das Parkhaus zu irren. Eigentlich hat sie im Gegensatz zu Clemens einen guten Orientierungssinn, aber die Parkhäuser am Flughafen bringen sie zur Verzweiflung. Was sie nie zugeben würde.
Kaum ist Maria an der Ankunftsschleuse angekommen, treten die beiden Freunde mit ihren Gepäckwagen durch die sich öffnenden Glastüren. Clemens, der schon bei den winzigsten Sonnenstrahlen an Farbe zulegt, ist dunkelbraun gebrannt. Und auch Alexander, der eher hellhäutige Typ, hat Farbe bekommen.
Maria breitet die Arme aus und begrüßt erst ihren Kollegen und dann seinen Freund mit einer festen Umarmung.
»So wie ihr ausseht, war euer Urlaub ein voller Erfolg.«
»Ja, sehr erholsam und ausgesprochen sportiv«, erwidert Clemens von Bühlow augenzwinkernd. Als er bei der Polizei anfing, gab es kaum eine freie Minute, in der er nicht Sport getrieben hatte, entweder war er in der Squash-Halle oder beim Handball. Doch mittlerweile bleibt ihm als Leitender Hauptkommissar dafür wenig Zeit. Träge ist er geworden. Was er sich nie eingestehen würde.
»Alexander wird dich schon angespornt haben«, frotzelt Maria. Ihre Augen lächeln den Psychologen an.
»Und wie war es im Präsidium?«, lenkt Clemens vom Thema ab.
»Nichts Spektakuläres. Der ganz normale Wahnsinn. Vielleicht haben wir Glück und eine entspannte Woche vor uns.«
Nachdem Maria sie zielsicher zum Auto geführt hat, die Skier und das Gepäck verstaut sind und sie die Serpentinen des Parkhauses hinunterfahren, beginnen die Heimkehrer zu erzählen. Alexander lobt die Skipisten und das Hotel in Schönau in den höchsten Tönen, während Clemens die fantastische Landschaft beschreibt.
»Wo immer du auch hingesehen hast, wir waren umgeben von einer einzigartigen Bergkulisse.«
Die Begeisterung ist ansteckend, doch Maria kennt ihren Kollegen gut genug, um zu wissen, dass die nächste Frage die Schwärmerei mit Sicherheit dämpfen wird.
»Und wie war das Essen?«
»Gar nicht übel. Eigentlich ganz gut.«
Maria horcht erstaunt auf. Clemens legt sehr viel Wert auf gutes Essen, verfügt über einen ausgezeichneten Geschmack und ist selten zufrieden.
»Nur das Vorspeisenbuffet war eine Katastrophe.«
Maria schmunzelt. Also doch. War klar, dass da noch etwas kommen musste. Alexander verdreht die Augen. Denn nun legt Clemens richtig los.
»Du musst dir das so vorstellen: Alles, was es als Tellergericht gegeben hatte, fand sich auf wundersame Weise an den folgenden Tagen als Vorspeise wieder. Gegen Resteverwertung habe ich ja nichts, aber das war doch ziemlich einfallslos. Und das Salatdressing ließ auch zu wünschen übrig.«
Alexander unterbricht Clemensʼ Redeschwall. »Dafür waren die Weine ausgezeichnet.«
»Stimmt. Auch das frisch gezapfte Bier war super. Aber der Begrüßungscocktail, eine Schande. Du konntest zwischen einer giftig grünen oder einer orangen Flüssigkeit wählen, deren Geschmack undefinierbar war.«
»Und dann gab es noch zweimal in der Woche einen ›Mottoabend‹, gerade das Richtige für unseren Clemens«, wirft Alexander wieder ein.
»Genau.« Clemens lacht. »Eigentlich mag ich diese Art der Unterhaltung nicht. Aber Alexander und ich wollten uns mal ›volksnah‹ geben.«
Alexander deutet von der Rückbank eine Kopfnuss an Clemensʼ Hinterkopf an.
»Komm, am französischen Abend konnten wir kulinarisch nichts aussetzen und das Programm war anspruchsvoll.«
»Ja, die Käseauswahl war ausgezeichnet und die Chanson-Sängerin eine echte Wucht. Aber der skandinavische Abend war miserabel.«
»Wieso?«, fragt Maria überrascht, »die skandinavische Küche, allen voran die schwedische, ist doch eine der besten Europas.«
Clemens winkt ab. »Die schwedische Küche schon, aber nicht auf bayerische Art. Die hatten wirklich Rentierfleisch und Elchfleisch aufgefahren, sagenhaft, aber nur mit Pfeffer gewürzt, und davon echt zu viel. Auch die Beilagen passten nicht. Semmelknödel, so ein Quatsch.« Und schon geht sein Temperament mit ihm durch. »Kartoffeln oder Kartoffelklöße, das wäre in Ordnung gewesen. Was aber besonders ärgerlich war, zu Rentier- oder Elchfleisch gehören einfach Preiselbeeren dazu, aber das hat sich bis Schönau noch nicht herumgesprochen. Und keine Spur von den schwedischen Süßspeisen, die sich wirklich sehen lassen können, dafür bekamen wir wieder einmal Kaiserschmarrn.«
»Der war aber gut«, meldet sich Alexander erneut zu Wort.
»Ja, wie jeden Abend«, entgegnet Clemens säuerlich.
»Dafür war der Aquavit klasse.« Alexander versucht sein Bestes, um den skandinavischen Abend zu retten.
»Stimmt. Und wenn ich mich richtig erinnere, sind wir am nächsten Tag auch nicht auf die Piste gegangen, oder verwechsle ich da etwas?«
»Hattet ihr einen dicken Kopf?«, fragt Maria belustigt nach.
»Nein, wie kommst du darauf?«, fragt Clemens gespielt entsetzt zurück.
Alle drei amüsieren sich köstlich. Und während Maria Esser den Wagen sicher durch das Baustellenchaos in der Innenstadt manövriert, erzählt Alexander ausführlich von Clemensʼ Grätsche im Tiefschnee.
»Das war reif für einen richtig guten Stunt. Hätte in Hollywood für Begeisterung gesorgt.« Er kann sich vor Lachen kaum halten.
Clemens dreht sich nach hinten zu seinem Freund um: »Dir fahre ich immer noch davon.«
Alexander gibt klein bei, da sein Freund eindeutig der bessere Skifahrer ist: »Ich weiß, ich weiß. Aber du hast so bedeppert ausgesehen. Gönn uns den Spaß.«
Als Erster wird Clemens im Hafen vor dem modernen Wohnhaus, in dem er sein Appartement hat, abgesetzt. Nachdem er den Skisack geschultert und die Haustür mit einem kräftigen Stoß geöffnet hat, dreht er sich kurz zu den beiden um, winkt ihnen zu und verschwindet im Hausflur. Maria startet und fährt zügig in den Rheinufertunnel Richtung Pempelfort. Hier wohnt sie auf der Parkstraße in einer gemütlichen Zweizimmerwohnung unterm Dach, Alexander gleich um die Ecke auf der Prinz-Georg-Straße in einer komfortablen Maisonettewohnung, die zugleich seine Praxisräume beherbergt.
Montag früher Abend Polizeipräsidium. Hauptkommissar Clemens von Bühlow hat den ganzen Tag damit verbracht, seine E-Mails zu lesen, den Inhalt seines Postkorbs abzuarbeiten und endlich einmal sein Büro gründlich aufzuräumen. So penibel ordentlich er in seiner Wohnung ist, so chaotisch ist es in seinem Büro. Doch trotz der Papierstapel in seinen Regalen gehört er zu den Menschen, die nicht lange suchen müssen, um den benötigten Vorgang mit einem Griff aus dem jeweiligen Stapel zu ziehen. Kriminalrat Otto Kreutz, sein Chef, ist jedes Mal fassungslos bei dem Anblick. Doch auch Clemens muss sich eingestehen, dass er den Überblick trotz seines fotografischen Gedächtnisses irgendwann einmal zu verlieren droht. Nur sein Schreibtisch ist immer akkurat aufgeräumt, was bei den Kollegen selten der Fall ist.
Er will gerade seinen Mantel überziehen, als Maria im Türrahmen erscheint.
»Na, wie war dein erster Tag?« Beeindruckt gleitet ihr Blick über die Regale. »Was ist denn hier passiert? Eine gute Fee?«
»Na ja, der Tag war ruhig. Und ich konnte endlich mal Ordnung schaffen. Dazu hatte ich ja vor dem Urlaub keine Zeit mehr. Schön, wenn es nicht gleich am ersten Tag schon wieder Mord und Totschlag gibt.«
»Wir haben per Inserat alle potenziellen Mörder und Totschläger gebeten, ihr jeweiliges Vorhaben noch etwas zu verschieben, damit deine Erholung nicht gleich wieder futsch ist.«
»Sehr zuvorkommend. Habt ihr eine längere Schonfrist ausgehandelt?«
»Das haben wir leider vergessen.« Maria versucht, einen zerknirschten Eindruck zu machen, was ihr nicht gelingen will.
»Aber ich habe eine Überraschung für dich.«
Clemens zieht eine Augenbraue hoch.
»Ich lade dich zum Essen ein.«
»Du willst doch nicht etwa selber kochen?«, rutscht es ihm spontan heraus.
Maria lacht und winkt ab, die Angst in seiner Stimme nimmt sie ihm nicht übel.
»Nein, nein. Entspann dich.«
»Und was hast du dir ausgedacht?«
»Wir machen uns jetzt erst einmal zur Herzogstraße auf. Alles Weitere wirst du vor Ort erfahren.«
Während sie zu der breit ausladenden Treppe des Polizeipräsidiums gehen, läuft Clemens in Gedanken die Herzogstraße ab. Was soll es denn kulinarisch Interessantes dort geben? Ihm fällt nichts ein. Früher gab es dort den kleinen Franzosen. La mère hat gekocht, ausgezeichnete gutbürgerliche französische Küche; der Ehemann hat mal mehr, mal weniger grantig seine zugegebenermaßen exzellenten Weine kredenzt und die etwas unscheinbare Tochter hat serviert. Aber das ist schon lange her. Die Schließung des Restaurants war ein wirklicher Verlust, den Clemens noch immer bedauert.
Maria betrachtet ihren Kollegen aus den Augenwinkeln. ›Wenn er gleich vor dem Chinesen steht, wird er ziemlich irritiert sein, denn von außen sieht das Restaurant nicht besonders einladend aus, aber das Essen ist wirklich gut. Und preiswert.‹
Sie beeilen sich, denn der Wind, der über den Fürstenwall weht, ist kalt. An der Ecke Elisabethstraße geht wieder der Spießrutenlauf los. Hier wird gebuddelt, was das Zeug hält, und ein Ende der U-Bahn-Arbeiten ist noch lange nicht in Sicht. Als die beiden endlich in die Herzogstraße einbiegen, schaut sich Clemens neugierig um. Immer noch hat er keine Idee, womit Maria ihn überraschen will. Vor dem China-Restaurant New City bleiben sie stehen. Wie sie es geahnt hat, kann sie Clemens die Skepsis vom Gesicht ablesen. Doch die Hauptkommissarin lässt sich nicht beirren und zieht die Eingangstür auf. Clemens folgt ihr zögernd.
Gleich im vorderen Teil des Restaurants nehmen sie an einem Tisch Platz. Maria bestellt zwei Pils und Clemens lässt seinen Blick über die Nachbartische gleiten. Langsam verschwindet sein Unbehagen. Hier wirkt alles bodenständig, fast spartanisch, die bei chinesischen Restaurants so häufig überladene Inneneinrichtung fehlt. Dafür dominieren zwei riesige runde Tische die Mitte des Restaurants, an denen lebhaft diskutierende Asiaten ihr Essen zu sich nehmen.
Als das frisch gezapfte Pils gebracht wird, muss er sich eingestehen, dass er Marias kulinarische Beurteilungsgabe unterschätzt hat. Pils vom Fass und das beim Chinesen, er wundert sich.
»Wenn du gestattest, wähle ich aus. Das gehört zur Überraschung dazu.«
Clemens lehnt sich entspannt zurück. Er genießt es, mal keine Empfehlungen aussprechen oder Entscheidungen treffen zu müssen. Zumal das Studium der ihm völlig unbekannten Speisekarte unnötig viel Zeit in Anspruch genommen hätte und er Hunger verspürt.
Souverän gibt Maria die Bestellung auf. »Wir nehmen einmal ›San Xian Jiao‹, ›Ji Guan Jiao‹, ›Xia Jiao‹, ›Fen Guo‹ und ›Guo Tie‹. Und als Vorspeise eine ›Suan-la-tang-Suppe‹.«
Clemens kann es kaum fassen, mit welcher Leichtigkeit Maria die chinesischen Namen über die Lippen bringt. Er schaut erstaunt die Bedienung an, die allem Anschein nach alles versteht und freundlich lächelt.
»Und was hast du nun bestellt?«
»Sei doch nicht so ungeduldig. Du wirst es gleich sehen.« Maria grinst ihren Kollegen an.
Die junge Bedienung serviert zuerst die Suppe in kleinen weiß-blauen Schalen mit den dazugehörigen klobigen Löffeln aus Keramik, die bei fehlender Konzentration zum Kleckern animieren. Clemens greift sich einen Löffel, probiert und ist sofort begeistert. »Die schmeckt ja toll, ein wenig süß-sauer.«
»Das ist eine Hühnersuppe mit ganz feinen Fleischstreifen und, richtig erkannt, mit süß-saurer Geschmacksnote. Wegen der roten Färbung wird sie auch als ›chinesische Gulaschsuppe‹ bezeichnet. Und scharf ist sie.«
Er winkt lässig ab. Doch nach wenigen Sekunden verspürt er eine plötzliche Schärfe, die ihm kurz den Atem nimmt, schnell wieder abebbt und ein wohliges Brennen hinterlässt. Maria freut sich. Sie hat die richtige Wahl getroffen, und so genüsslich, wie Clemens die Suppe isst, scheint es ihm wirklich gut zu schmecken. Kurz darauf werden fünf Bambuskörbchen auf ihrem Tisch abgestellt. Er betrachtet die noch dampfenden Leckereien.
»Ich habe mich für ›Dim Sum‹ entschieden. Die kleinen Gerichte sind gedämpft oder frittiert und bieten viel mehr geschmackliche Abwechslung als ein Hauptgericht. Und keine Sorge, das sieht zwar nicht nach viel aus, aber ich garantiere dir, dich können wir später nach Hause rollen.«
»Und was erwartet mich?«
»Probier mal. Auf Hühnerfüße habe ich übrigens verzichtet. Das war mir dann doch etwas zu gewagt.«
Schon greift Maria zu ihren Stäbchen und angelt schwungvoll die erste Reisteigtasche aus dem Korb, gefüllt mit Garnelen und mit Koriander gewürzt. Auch Clemens balanciert gekonnt das erste gedämpfte Rippchen mit schwarzen Bohnen auf seinen Teller.
Nachdem sie alles durchprobiert, hier und da etwas ›Sambal Oelek‹ oder ›Sambal Manis‹ dazugegeben haben, kann sich ihr Kollege ein Kompliment nicht verkneifen. »Tolle Idee! Ich glaube, so gut chinesisch habe ich schon lange nicht mehr gegessen.«
Er nimmt noch einen kräftigen Schluck Bier. »Sind die Menüs hier auch so gut?«
»Ja. Die Pekingente habe ich allerdings noch nicht ausprobiert.«
»Allem Anschein nach bist du hier öfter?«
»Die letzten zwei Wochen schon. Ich musste doch erst einmal alles testen, um dich überraschen zu können. Ist ja nicht so einfach bei einem Gourmet wie dir.«
»Das ist dir wirklich gelungen. Ich muss dir gestehen, der Begriff ›Dim Sum‹ war mir bis heute nicht geläufig.«
Maria lächelt verschmitzt. Es macht ihr sichtlich Freude, Clemens über die kleinen Köstlichkeiten aufzuklären.
»›Dim Sum‹ heißt übersetzt ›die, die das Herz berühren‹. Diese feinen Teigtaschen haben eine lange Tradition. Die Teigbällchen aus Hefe, Reis oder Weizen, gefüllt mit allem, was die Speisekammer hergibt, waren immer schon das klassische ›Arme-Leute-Essen‹. Der Legende nach hat vor einem Jahrtausend ein unersättlicher chinesischer Kaiser täglich nach neuen Gerichten verlangt. Die Köche des Hofes hatten bereits ihr gesamtes Können ausgeschöpft und aus Angst, hingerichtet zu werden, wenn ihnen nicht ständig etwas Neues einfiel, wagten sie es, Ihrer Majestät das Essen des Volkes zu kredenzen. Mit durchschlagendem Erfolg, wie du siehst, denn heute ist ›Dim Sum‹ weltweit, na ja, zumindest in den USA, Großbritannien, Deutschland und sogar in Frankreich der Hit.«
Während dieses kleinen Exkurses hat Clemens nicht nur aufmerksam zugehört, sondern sich auch noch mal kräftig bedient. Maria will ihn noch zu einer Nachspeise überreden, gebackene Banane oder Ananas, doch er winkt ab.
»Nichts geht mehr. Auch wenn der Nachtisch bestimmt köstlich ist, ich will mir das kleine Feuer am Gaumen noch etwas erhalten.«
Montag später Abend Rheinufer in Benrath. Die Sonne ist vor Stunden untergegangen. Eigentlich müsste das Benrather Rheinufer in der Dunkelheit verschwinden, zumal die spärliche Beleuchtung der Uferstraße nur punktuell kleine Lichtkegel auf den Asphalt wirft. Doch der Vollmond spendet genügend Licht, um die Konturen der Bäume erkennen zu können, der Verlauf des Flusses ist deutlich sichtbar. Sogar das andere Ufer lässt sich ausmachen, da der Rhein an dieser Stelle nicht besonders breit ist. Die Bäume dort sehen wie schwarze Gerippe aus, die sich leicht im Wind bewegen. Kleine Schneeflocken tanzen in der Luft. Es ist still, nur ab und an hört man das Bellen eines Hundes.
Hod steht am Wasser und blickt über den Fluss. Der schneidende Wind macht ihm nichts aus, obwohl er nur mit Blouson und Jeans bekleidet ist. Hod mag schöne, junge Frauen. Blond und zart wie Feen müssen sie sein, anmutig und graziös in ihren Bewegungen, mit heller, fast durchsichtiger Haut. Während er andächtig auf das dunkle Wasser schaut, überkommt ihn ein tiefer Frieden. Seit einigen Stunden hat er Gewissheit. Er ist auf dem richtigen Weg, auch wenn er sein Ziel noch nicht erreicht hat. Aber dass er es erreichen wird, daran hat er nicht den geringsten Zweifel.
Hod wendet sich vom Wasser ab und geht ruhig über das feuchte Gras die kleine Anhöhe hinauf zu seinem Wagen, den er halb auf dem Gehweg geparkt hat. Er öffnet die Beifahrertür, löst den Sicherheitsgurt, umschlingt die junge Frau mit beiden Armen und hebt sie aus dem Auto. Behutsam trägt er sie die Rheinwiese hinunter zum Ufer. Nur das gefrorene Gras gibt unter der Last ein feines Knistern von sich.
Auf der Hälfte des Weges bemerkt er einen Spaziergänger mit Hund auf dem weiter oben gelegenen Fußweg. Hod dreht sich leicht mit dem Rücken zu ihm, lässt die Beine der jungen Frau sachte nach unten gleiten und nimmt den leblosen Körper in die Arme. Von Weitem könnte man den Eindruck gewinnen, hier sei ein Pärchen in inniger Umarmung versunken. Nichts spielt mehr eine Rolle, nur der leidenschaftliche Kuss und die Intensität des Moments.
Kaum ist der Spaziergänger in die Pigageallee eingebogen, nimmt Hod die junge Frau wieder auf den Arm. Ihr Kopf liegt an seiner Schulter. Er trägt sie bis an die äußerste Spitze der Buhne. Von hier aus blickt er nochmals auf das Wasser, bevor er langsam in die Knie geht. Mit einem Arm hält er die Frau eng umschlungen, mit der freien Hand entfernt er die größeren Steine und ebnet die Fläche. Behutsam setzt er sie ab, winkelt ihre Beine an, spreizt diese leicht und legt ihre Arme um die Beine. So hat sie festen Halt. Dann nimmt er die rote Rose, die er mitgebracht hat, und schiebt sie zwischen ihre gefalteten Hände. Die Frau scheint über die Rose hinweg auf den Rhein zu blicken. Nur ihr Oberkörper ist leicht in sich zusammengesunken.
Vorsichtig küsst er sie ein letztes Mal auf die Lippen und streicht ihr eine blonde Haarsträhne aus dem Gesicht. Er betrachtet sie mit einem Lächeln. Wunderschön ist sie, aber seine Braut ist sie nicht.
Montag später Abend Herzogstraße. Es hat angefangen, leicht zu schneien. Als Clemens und Maria das Restaurant verlassen, weht ihnen eine kräftige Windböe die Flocken ins Gesicht. Clemens schaut erstaunt und Maria prustet los.
»Davon hatten wir die letzten zwei Wochen eine ganze Menge. Und die Meteorologen behaupten, dies sei erst der Anfang.«
»Also endlich mal ein richtiger Winter bei uns in Düsseldorf.«
Kaum hat der Hauptkommissar seinen Mantelkragen hochgeschlagen, vibriert sein Handy. Irritiert schaut er auf das Display, stößt einen tiefen Seufzer aus und nimmt das Gespräch an. Geduldig hört er zu und blickt dabei Maria an.
»Wir kommen gleich. Hast du schon im Rechtsmedizinischen Institut und bei der Staatsanwaltschaft angerufen?«
Clemens lauscht kurz, dann beendet er das Telefonat. »Das war auf der Heide. Sie haben eine Tote am Rheinufer in Benrath. Wohl eine ziemlich skurrile Geschichte. Er meint, das Ganze sähe nach einem Ritualmord aus, und will uns dabeihaben.«
»Kann die Bereitschaft das nicht mal alleine abwickeln?« Maria ist sichtlich ungehalten.
»Morgen landet der Fall ja doch auf unserem Schreibtisch. Dann können wir uns auch jetzt einen Eindruck verschaffen.«
Maria schüttelt verärgert den Kopf. Sie hätte den schönen Abend gerne noch mit einem Absacker in einer – zumindest für Clemensʼ Geschmack – bieder anmutenden ›Ein-Zimmer-Kneipe‹ in der Altstadt ausklingen lassen. Ein ›Becherovka‹, ein köstlicher Kräuterbitterschnaps, serviert in einem alten Zinnlöffel, wäre der krönende Abschluss gewesen.
Clemens schaut sich um und winkt das erste freie Taxi heran. »Wir wollen nach Benrath und bitte so schnell es geht.«
»Zwanzig Minuten brauche ich schon«, erwidert der Taxifahrer. Clemens gibt mit einer Handbewegung zu verstehen, dass sich daran nichts ändern lässt. Es geht immerhin fast durch die ganze Stadt bis in den Süden von Düsseldorf. Um diese Uhrzeit ist kaum noch Verkehr auf den Straßen, sie kommen zügig voran. Trotzdem dauert es eine gefühlte Ewigkeit.
»Hat auf der Heide schon gewusst, wer die Staatsanwaltschaft vertritt und wer als Rechtsmediziner Bereitschaft hat?«, fragt Maria.
»Nein. Darüber hat er nichts gesagt.« Er schaut Maria an. »Du würdest Pia Cremer und Dr. Hummel den Vorzug geben, nehme ich an.«
»Ja, eindeutig. Ich finde es immer wieder faszinierend, wie Hummel ohne sein Rechtsmediziner-Deutsch auskommt. Bei den Obduktionsprotokollen geht es nicht anders, aber seine mündlichen Ausführungen sind für Nichtmediziner gut verständlich.«
»Erstaunlich, wo er doch zu den älteren Kollegen gehört. Aber vielleicht liegt es daran, dass er schon das eine oder andere Buch über seine spektakulärsten Fälle geschrieben hat.«
»Hast du schon etwas von ihm gelesen?«
»Ja, er schreibt ziemlich flüssig und richtig spannend, aber nichts für schwache Nerven.«
»Ich amüsiere mich immer noch, wenn andere Rechtsmediziner von Totauffindung, Blutantragung oder Blutspurenverteilungsmuster-Analyse sprechen.«
»Wir sind auch nicht besser mit unserem Vokabular. Denk nur an die schönen Worte Leichensache oder Auffindesituation«, gibt Clemens zu bedenken. Im Rückspiegel sieht er den verwunderten Blick des Fahrers.
Mittlerweile befinden sie sich auf der Bonner Straße, kurz vor Benrath. Der Hauptkommissar gibt dem Fahrer genaue Anweisungen, wo er vor dem Schloss abfahren soll, um an die genannte Stelle am Rheinufer zu gelangen.
Der Taxifahrer biegt von der Benrather Schloßalle in die Pigageallee ein, die nur wenig beleuchtet ist. Am Ende der Straße wird es heller. Große Scheinwerfer sind aufgestellt, die das Ufer ausleuchten. Das Taxi hält an und Clemens bezahlt.
»Was ist denn hier los?«, fragt der Fahrer neugierig.
»Werden Sie morgen bestimmt in den Lokalnachrichten hören, aber jetzt bitte schnell wenden und das Rheinufer verlassen.«
Hinter den Flatterbändern, die den Fundort großräumig absperren, sehen die beiden eine Menge Kollegen von der Spurensicherung, die das Terrain abgehen und jeden noch so kleinen möglichen Hinweis in Papiertüten asservieren. Clemens geht zum Kleintransporter der Kriminaltechnik und lässt sich zwei weiße Overalls geben, die Maria und er schnell überziehen. Kaum sind sie unter dem Absperrband hindurchgeschlüpft, kommt ihnen Oberkommissar Christian auf der Heide entgegen. Er macht einen durchgefrorenen Eindruck, kein Wunder bei der Kälte.
»Wir sind hier fast fertig. Nur Dr. Hummel und die Spurensicherung brauchen noch etwas Zeit.«
»Was kannst du uns sagen?«, will Maria wissen.
»Ein junges Pärchen, das im Restaurant Pigage gegessen hat«, der Oberkommissar zeigt stromabwärts, »wollte noch einen Spaziergang auf der Uferpromenade machen. Ihnen ist die Tote aufgefallen und sie haben uns alarmiert. Sie saß am äußeren Ende der Buhne, wohl mit angewinkelten Beinen, die Arme darum geschlungen, der Kopf Richtung Wasser. Als der junge Mann ihren Puls fühlen wollte, ist sie zur Seite gekippt, sodass wir von der Haltung der Toten keine Tatortfotos haben.«
Clemens und Maria hören konzentriert zu, ohne den jungen Kollegen zu unterbrechen.
»Die Tote trägt ein sogenanntes Tellertutu, ein eng anliegendes Top mit waagerecht abstehendem Spitzenrock, dazu feine Strumpfhosen und Ballettschuhe. Das war auch der Grund, warum sich das Pärchen der Toten genähert hat.«
»Wann haben sie die Frau gefunden?«, fragt Clemens nach.
»Gegen halb elf.«
»Würdest du die beiden für morgen ins Präsidium bestellen, möglichst früh?«
»Schon erledigt. Sie kommen um acht Uhr.«
»Hat sie Papiere bei sich?«
»Nein, wer die Tote ist, wissen wir noch nicht.«
»Wie alt schätzt du sie?«, fragt Maria.
»Anfang zwanzig, höchstens Mitte zwanzig.«
»Und sie soll eine rote Rose in den Händen gehalten haben. Die haben wir neben ihr gefunden.«
»Hat Schoeller sich schon geäußert? Haben wir es hier mit dem Fundort zu tun oder mit dem Tatort?«
»Alles spricht dafür, dass die Tote hier lediglich abgesetzt wurde.«
»Äußere Verletzungen?«
»Ja, mir sind Abriebspuren an den Handgelenken aufgefallen. Das teilweise Entkleiden habe ich Dr. Hummel überlassen. Da kommt er ja schon.«
Der breitschultrige Gerichtsmediziner mit dem mittlerweile lichten Haar begrüßt die Hauptkommissare freundlich und kommt ohne Umschweife zur Sache.
»Sie ist um die zwanzig Jahre. Dem ersten Anschein nach ist der Tod durch Ersticken eingetreten, dafür sprechen die roten, punktförmigen Einblutungen auf den Wangen, in Augenoberlid und -unterlid sowie in den Bindehäuten und hinter beiden Ohren. Ob sie tatsächlich erstickt wurde, wird die Obduktion zeigen.« Dr. Hummel setzt seinen schweren Tatortkoffer ab und berichtet weiter. »Der Körper zeigt Bisswunden an den Innenseiten der Oberschenkel und im Vaginalbereich. Sie scheint jedoch weder vergewaltigt noch penetriert worden zu sein. Abwehrverletzungen wie Prellungen oder Hämatome konnte ich nicht feststellen. Die erwähnten Bissverletzungen sind noch relativ frisch. Sie müssen ihr in den letzten zwei Tagen zugefügt worden sein. Zudem habe ich zirkuläre Hautrötungen und Abschürfungen an den Hand- und Fußgelenken erkennen können, die aller Wahrscheinlichkeit nach von einer Fesselung zu Lebzeiten herrühren.«
»Wann ist sie gestorben?«, fragt Maria.
»Das ist noch nicht so lange her. Die Totenflecken lassen sich wegdrücken, die Leichenstarre ist bisher nicht komplett eingetreten, die Gesichtsmuskulatur reagiert noch auf elektrische Reize und die Rektaltemperatur beträgt 30 Grad Celsius. Also ist der Tod vor sechs bis acht Stunden eingetreten.«
»Also heute zwischen vierzehn und sechzehn Uhr«, rechnet Clemens schnell nach.
»Ja. Alles Weitere wie immer nach der Obduktion.«
»Wann setzen Sie die an?«
»Sobald die Tote bei mir im Rechtsmedizinischen Institut angekommen ist. So in zwei Stunden, schätze ich.«
»Ich werde da sein«, versichert Clemens.
Dr. Hummel verabschiedet sich, greift nach seinem Koffer und ist schon im Begriff zu gehen, da wendet er sich den Kommissaren nochmals zu.
»Noch etwas ist mir aufgefallen. Die Tote hat ein Tattoo im Nacken, sieht von der Form aus wie eine Eisblume. Das scheint ihr post mortem gestochen worden zu sein.«
Clemens bedankt sich und wendet sich dann an Maria. »Wir schauen sie uns an, bevor sie in die Rechtsmedizin gebracht wird.«
Die Hauptkommissare überqueren die Wiese und betreten vorsichtig den kleinen Wall aus schweren Steinen, der wie ein langgestreckter Finger quer zum Ufer ins Wasser ragt. Dort liegt die Tote auf einer Folie.
›Mein Gott, so jung, so schön und so zerbrechlich‹, schießt es Clemens von Bühlow durch den Kopf. Er bückt sich und betrachtet ausgiebig das Tattoo, das gut sichtbar ist, da die Tote auf der Seite liegt und die Haare zu einem Dutt hochgesteckt sind.
»Das scheint mir professionell gemacht worden zu sein. Es sieht wirklich wie eine Eisblume aus, ganz filigran und verästelt, so wie man es sich in einem Winter in Sibirien vorstellt.«