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Buch

Die Zeit der Fünften Welle ist gekommen, und sie könnte nicht grausamer sein. Die Anderen haben bereits vier Wellen der Zerstörung über die Erde geschickt und Milliarden von Menschen vernichtet. Nur wenige haben überlebt, unter ihnen Cassie, ihr Bruder Sam und Ben. Sie alle konnten dem Lager der Anderen entkommen. Nur ihr Retter Evan Walker hat es nicht geschafft. Eine Tatsache, die Cassie Tag und Nacht beschäftigt. Sie wünscht sich so sehr, dass er lebt und sie finden wird. Doch mit jedem Tag, der vergeht, schwindet ein kleines bisschen ihrer Hoffnung. Zudem bricht auch noch ein Streit darüber aus, wie die Gruppe im Kampf gegen die Anderen weitermachen soll. Dabei wird es von Stunde zu Stunde mehr und mehr ein Kampf ums Überleben, um Vertrauen und um den kleinen Rest von Menschlichkeit, den sie noch in sich bewahren. Cassie weiß, dass sie zusammenhalten müssen, wollen sie auch nur den Hauch einer Chance haben. Doch plötzlich droht ihr Versteck nicht mehr sicher zu sein. Die Fünfte Welle wird auch sie nicht verschonen …

Weitere Informationen zu Rick Yancey sowie zu lieferbaren Titeln des Autors finden Sie am Ende des Buches.

Für Sandy,
die Hüterin des Unendlichen.

So grenzenlos ist meine Huld, die Liebe
So tief ja wie das Meer. Je mehr ich gebe,
Je mehr auch hab ich: Beides ist unendlich.

William Shakespeare

Der Weizen

Es würde keine Ernte geben.

Der Frühjahrsregen weckte schlummernde Schösslinge, und aus der feuchten Erde sprossen hellgrüne Triebe und erhoben sich wie Schlafende, die sich nach einem langen Nickerchen strecken. Als der Frühling dem Sommer wich, wurden die hellgrünen Halme dunkler, verfärbten sich hell- und schließlich goldbraun. Die Tage wurden lang und heiß. Dicke schwarze Wolkentürme brachten Regen, und die braunen Stängel glänzten im fortwährenden Zwielicht, das unter dem Himmelszelt wohnte. Der Weizen wuchs, und seine reifenden Ähren beugten sich im Präriewind – ein wallender Vorhang, ein endloses wogendes Meer, das sich bis zum Horizont erstreckte.

Zur Erntezeit gab es keinen Farmer mehr, der eine Ähre vom Halm hätte pflücken, sie zwischen seinen schwieligen Händen hätte reiben und die Spreu vom Korn hätte blasen können. Es gab keinen Schnitter mehr, der das Korn hätte mähen oder die zarte Schale zwischen seinen Zähnen hätte brechen können. Der Farmer war an der Seuche gestorben, und seine Angehörigen waren in die nächste Stadt geflohen, wo sie ihr ebenfalls erlagen und sich damit unter die Milliarden Menschen reihten, die während der Dritten Welle den Tod fanden. Das alte Haus, das der Großvater des Farmers erbaut hatte, war jetzt eine verlassene Insel, umgeben von einem unendlichen Meer von Braun. Dann wurden die Tage kürzer und die Nächte kühl, und der Weizen knisterte im trockenen Wind.

Der Weizen hatte den Hagel und die Blitze der Sommergewitter überlebt, doch kein Glück der Welt konnte ihn vor der Kälte retten. Als Flüchtlinge in dem alten Haus Zuflucht suchten, war der Weizen bereits tot, erschlagen von der harten Faust eines strengen Frosts.

Fünf Männer und zwei Frauen, einander fremd am Vorabend jener letzten Anbausaison, jetzt durch das unausgesprochene Versprechen verbunden, dass der Geringste von ihnen mehr zähle als die Summe von ihnen allen.

Die Männer hielten abwechselnd Wache auf der Veranda. Untertags zeigte sich der wolkenlose Himmel in einem makellos strahlenden Blau, und die Sonne, die tief über dem Horizont hing, tauchte das matte Braun des Weizens in ein schimmerndes Gold. Die Nächte senkten sich nicht sanft über die Erde herab, sondern schienen wütend auf ihr aufzuschlagen, und das Sternenlicht verwandelte das Goldbraun des Weizens in ein glänzendes Silber.

Die mechanisierte Welt war gestorben. Erdbeben und Tsunamis hatten die Küstenregionen ausgelöscht. Die Seuche hatte Milliarden verzehrt.

Und die Männer auf der Veranda richteten den Blick auf den Weizen und fragten sich, was wohl als Nächstes kommen mochte.

Eines frühen Nachmittags sah der Mann, der gerade Wache hielt, wie sich das tote Getreidemeer teilte, und wusste, dass sich jemand näherte, dass sich jemand einen Weg durch den Weizen zu dem alten Farmhaus bahnte. Er rief die anderen im Haus, und eine der Frauen kam zu ihm auf die Veranda. Gemeinsam beobachteten sie, wie die hohen Halme in dem braunen Meer versanken, als würde die Erde selbst sie verschlucken. Wer auch immer – oder was auch immer – sich näherte, ragte nicht aus dem Weizen heraus. Der Mann trat von der Veranda und richtete sein Gewehr auf den Weizen. Er wartete auf dem Hof, und die Frau wartete auf der Veranda. Die Übrigen warteten im Haus und pressten ihre Gesichter an die Fensterscheiben. Niemand sagte etwas. Alle warteten darauf, dass sich der Weizenvorhang teilte.

Als es so weit war, kam ein Kind zum Vorschein, und die Stille des Wartens war gebrochen. Die Frau rannte von der Veranda und drückte den Gewehrlauf nach unten. Er ist doch noch ein kleiner Junge. Willst du etwa ein Kind erschießen? Und der Mann verzog das Gesicht vor Unschlüssigkeit und vor Wut darüber, dass er von allem, was er jemals als selbstverständlich betrachtet hatte, hintergangen worden war. Woher wissen wir das?, fragte er die Frau. Wie können wir uns überhaupt noch bei irgendetwas sicher sein? Der kleine Junge kam aus dem Weizen gestolpert und fiel zu Boden. Die Frau rannte zu ihm, hob ihn auf und drückte sein schmutziges Gesicht an ihre Brust, und der Mann mit dem Gewehr stellte sich ihr in den Weg. Er friert. Wir müssen ihn ins Haus bringen. Und der Mann spürte einen gewaltigen Druck in seiner Brust. Er war gefangen zwischen der Welt, wie sie einst gewesen war, und der Welt, wie sie geworden war, zwischen seinem einstigen Ich und seinem jetzigen Ich, und der Preis all der unausgesprochenen Versprechen lastete auf seinem Herzen. Er ist doch noch ein kleiner Junge. Willst du etwa ein Kind erschießen? Die Frau ging an ihm vorbei, die Stufen zur Veranda hinauf ins Haus, und der Mann senkte den Kopf wie im Gebet, dann hob er ihn, als würde er flehen. Er wartete ein paar Minuten, ob noch jemand aus dem Weizen auftauchte, da er nicht glauben wollte, dass ein Kleinkind so lange überlebt hatte, allein und wehrlos, ohne jemanden, der es beschützte. Wie konnte so etwas möglich sein?

Als der Mann das Wohnzimmer des alten Farmhauses betrat, sah er den kleinen Jungen auf dem Schoß der Frau sitzen. Sie hatte ihn in eine Decke gewickelt und ihm Wasser gebracht, kleine, von der Kälte gerötete Finger um die Tasse gelegt. Die anderen hatten sich im Zimmer versammelt, und niemand sagte ein Wort. Alle starrten das Kind voller sprachloser Verwunderung an. Wie konnte so etwas möglich sein? Der Junge wimmerte. Sein Blick huschte von Gesicht zu Gesicht, suchte nach etwas Vertrautem, doch alle waren Fremde für ihn, wie auch sie einander fremd gewesen waren, bevor die Welt geendet hatte. Er klagte, dass er friere und Halsschmerzen habe. Dass er ein schlimmes Aua im Rachen habe.

Die Frau, die den Jungen hielt, brachte ihn dazu, den Mund aufzumachen. Sie sah das entzündete Gewebe hinten in seinem Mund, aber nicht den hauchdünnen Draht, der in seinem Rachen eingebettet war. Sie sah weder den Draht noch die winzige Kapsel am Ende des Drahts. Als sie sich über den Jungen beugte, um ihm prüfend in den Mund zu schauen, konnte sie nicht wissen, dass die dem Kind eingepflanzte Vorrichtung darauf ausgelegt war, das Kohlendioxid in ihrem Atem zu erkennen.

Unser Atem, der Auslöser.

Unser Kind, die Waffe.

Die Explosion machte das alte Farmhaus sofort dem Erdboden gleich.

Beim Weizen dauerte es länger. Vom Farmhaus, den Nebengebäuden und dem Silo, in dem in jedem anderen Jahr die ergiebige Ernte gelagert gewesen war, blieb nichts übrig. Die trockenen, geschmeidigen Halme dagegen wurden von den Flammen verschlungen und verwandelten sich in Asche, und bei Sonnenuntergang fegte eine steife Brise aus Norden über die Prärie, hob die Asche hoch und trug sie hunderte Meilen mit sich, ehe sie wieder vom Himmel fiel wie grauer und schwarzer Schnee, um sich gleichgültig auf kargem Boden niederzulassen.

ERSTES BUCH