Die vorliegende Veröffentlichung knüpft an den von Christoph Meier, Gian Domenico Borasio und Klaus Kutzer herausgegebenen Titel „Patientenverfügung: Ausdruck der Selbstbestimmung – Auftrag zur Fürsorge“ an, der im Jahr 2005 die „Münchner Reihe Palliative Care“ als Band 1 eröffnete. Kurz vor dessen Erscheinen hatte die Diskussion um eine gesetzliche Regelung zur Patientenverfügung einen ersten Höhepunkt erreicht. Die damals amtierende Bundesjustizministerin Brigitte Zypries hatte einen „Entwurf eines 3. Gesetzes zur Änderung des Betreuungsrechts“ vorgelegt, der inhaltlich im Wesentlichen auf entsprechenden Vorschlägen der von Frau Zypries vorher eingesetzten und von Klaus Kutzer geleiteten interdisziplinären Arbeitsgruppe „Patientenautonomie am Lebensende“ fußte. Dieser Entwurf hatte eine breite und von vielen Seiten engagiert geführte Diskussion ausgelöst und unter anderem die Enquetekommission des Deutschen Bundestages „Ethik und Recht der modernen Medizin“ veranlasst, schon vor Abschluss ihrer damals bereits seit einiger Zeit laufenden Arbeit am Thema Patientenverfügung einen „Zwischenbericht“ vorzulegen, in dem zum Teil sehr deutliche Gegenpositionen zum Gesetzentwurf der Ministerin bezogen wurden.
In dieser politischen Diskussionslage fand am 10./11. Dezember 2004 in der Evangelischen Akademie Tutzing eine Tagung zum Thema „Patientenverfügung: Gültigkeit – Wirksamkeit – geeignete Formen“ statt, deren Ziel es war, zur genannten öffentlichen Diskussion einen konstruktiven Beitrag zu leisten. Um die Ergebnisse dieser Veranstaltung einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen und längerfristig wirksam werden zu lassen, wurden die Beiträge dazu – teilweise mit Erkenntnissen aus der Tagungsdiskussion angereichert – im genannten Band 1 der „Münchner Reihe Palliative Care“ veröffentlicht.
Die Gesetzesdiskussion ist damals aus vielerlei Gründen ins Stocken geraten und wurde schließlich auf die folgende Legislaturperiode vertagt, in der sie mit Beschluss des Deutschen Bundestages vom 18. Juni 2009 – für viele fast schon wider Erwarten – doch noch zu einem Ergebnis kam, das seit dem 1. September 2009 gültiges Gesetz ist.
Mit Inkrafttreten des neuen Gesetzes waren viele Inhalte der früheren Veröffentlichung „Patientenverfügung: Ausdruck der Selbstbestimmung – Auftrag zur Fürsorge“ überholt. Eine auch aus anderen Gründen fällige Neuauflage musste daher mehr sein als eine Fortschreibung mit Aktualisierungen; sie musste bei neuen Fragestellungen ansetzen. Nach gut einem Jahr Erfahrungen mit der veränderten Gesetzeslage boten sich – im Sinne einer Zwischenbilanz mit Ausblick – die folgenden Fragen an: Was hat das Gesetz bewirkt? Wurde das damit angestrebte Ziel, mehr Rechtssicherheit zu schaffen, erreicht, bzw. wie weit wurde es erreicht? Wo bestehen weiterhin Defizite? Wie bewähren sich die verschiedenen Regelungen in der Praxis und was sollte – oder muss sogar – aus Sicht der Praxis korrigiert werden? Und schließlich: Gibt es neue Probleme und Aufgaben, und wer ist gegebenenfalls gefordert, diese zu lösen oder zumindest in Angriff zu nehmen?
Mit diesen Zielfragen wurde im Januar 2011 unter dem Titel „Patientenverfügung – Was hat das Gesetz bewirkt?“ erneut zu einer Tagung in die Evangelische Akademie Tutzing eingeladen. Die Beiträge dazu werden – wiederum teilweise mit Ergebnissen der Tagungsdiskussion und anderen Ergänzungen angereichert – mit dem vorliegenden Band einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Wir hoffen auf interessierte Leser.
Unser Dank gilt den Autorinnen und Autoren, die – aus verschiedensten Erfahrungs- und Verantwortungsbereichen kommend – vielfältige Antworten zu den oben genannten Fragen sowie Anstöße für weiteres Nachdenken geben, neue Fragen stellen und neue Aufgaben formulieren. Dankbar sind wir aber auch den zahlreichen Teilnehmerinnen und Teilnehmern der Tutzinger Tagung, deren durch ihre Diskussionsbeiträge gegebene wesentliche Denkanstöße in den hier versammelten Beiträgen ihren Niederschlag gefunden haben. Weiter danken wir dem Kohlhammer-Verlag für die bewährte gute Zusammenarbeit bei der Vorbereitung der Publikation.
Tutzing, im Oktober 2011 |
Gian Domenico Borasio, Hans-Joachim Heßler, Ralf J. Jox, Christoph Meier |
Joachim Stünker
„Was wird uns Ihr Gesetz zur Patientenverfügung in der Praxis wirklich bringen?“ Diese Frage ist mir in meinen Vortragsveranstaltungen zu diesem Thema immer wieder überwiegend kritisch und voller Zweifel gestellt worden. Voller Zweifel der vielen Menschen selbst, die bereits eine Patientenverfügung gemacht hatten oder überlegten, eine Patientenverfügung zu verfassen; aber auch von Ärzten, Theologen, Juristen und Mitarbeitern in Pflegeeinrichtungen. Ich habe darauf immer wieder geantwortet: „Rechtssicherheit“, d. h. die Sicherheit, dass die verbindlich niedergelegte Bestimmung der Einwilligung oder Nichteinwilligung des Patienten in eine bestimmte medizinische Behandlung von jedermann zu achten und zu befolgen ist, auch dann, wenn der Patient sich krankheitsbedingt aktuell nicht mehr äußern kann. Rechtssicherheit, weil nach dem Prinzip „der Einheit der Rechtsordnung“ in anderen Rechtsgebieten nicht verboten sein kann, was nach dem Bürgerlichen Gesetzbuch erlaubt ist. Ich räume ein, dies war überwiegend nur schwer überzeugend verständlich zu machen.
Seit dem 1. September 2009 ist die rechtliche Verbindlichkeit der Patientenverfügung nunmehr Gesetz (§§ 1901a, 1901b, 1904 BGB): eine sprachlich gelungene, eindeutige, kraftvolle Gesetzesformulierung, die keinen Raum mehr für Zweifel lässt. Überzeugend bestätigt worden ist dies sehr schnell durch das Urteil des 2. Strafsenats des Bundesgerichtshofs vom 25. Juni 2010 (Az.: 2 StR 454/09), mit dem das Gericht die gesetzliche Regelung der Patientenverfügung unter wiederholter Bezugnahme auf das Gesetz in das Strafrecht übertragen hat. Darüber hinaus hat das Gericht die klare Abgrenzung zur weiterhin strafbaren aktiven Sterbehilfe (§ 216 StGB) und die Rechtsprechung zur Differenzierung zur erlaubten passiven Sterbehilfe nach dem Normzweck der gesetzlichen Neuregelung weiter entwickelt: eine überzeugende Entscheidung.
Die Leitsätze:
Die Vorsitzende des Senats sagte dann in ihrer Urteilsbegründung den Satz: „Es kann im Strafrecht nicht verboten sein, was nach dem Bürgerlichen Recht erlaubt ist“. Wie wahr! Ich darf sagen, ich fühlte mich in meiner Arbeit im Deutschen Bundestag an diesem Gesetz bestätigt.
Zwei Gründe sind es, die für mich zwingend zu der gesetzlichen Regelung der Patientenverfügung führen mussten.
Deshalb wurde in der Praxis die Frage immer drängender: Steht die antizipierte Willensbestimmung des Patienten der aktuell geäußerten in ihrer rechtlichen Verbindlichkeit gleich? Dies ist nicht nur eine rechtliche, sondern auch eine ethische und eine weltanschauliche Frage und nach meiner Überzeugung ein Problem, das nicht durch Standesrichtlinien oder Ethik-Kommissionen entschieden werden kann. In einer demokratischen, pluralistischen Gesellschaftsordnung ist hier zwingend der Gesetzgeber gefragt. Rechtssicherheit für alle Beteiligten bei ganz unterschiedlichen Interessenlagen gibt nur das Gesetz. Dies zeichnet den Rechtstaat aus.
Nach wenig einheitlichen obergerichtlichen Entscheidungen zu dieser Frage, ihrer teilweisen sehr interessengeleiteten Auslegung je nach ethischem und weltanschaulichem Stand und einer zunehmend konfusen Diskussion in der Politik erarbeitete im Jahr 2003 eine interdisziplinäre Expertenkommission im Auftrag des Bundesministeriums der Justiz Eckpunkte für eine gesetzliche Regelung. Diese führten im Jahr 2004 zu einem Referentenentwurf des Ministeriums, der nach seiner Veröffentlichung sofort sehr kritisch in der interessierten Öffentlichkeit diskutiert wurde. Aber auch der Bundestag beschäftigte sich mit dieser Frage. Bereits in der 14. Legislaturperiode (1998) hatte er die Enquete-Kommission „Recht und Ethik der modernen Medizin“ eingesetzt, die in der 15. Legislaturperiode weitergeführt wurde, sich jedoch in „Ethik und Recht der modernen Medizin“ neu benannte. Die Enquete-Kommission legte im September 2004 vereinbarungsgemäß hierzu einen Zwischenbericht vor, der im Plenum des Bundestages umfassend beraten wurde.
Der Referentenentwurf und der Zwischenbericht der Enquete-Kommission zeigten das gesamte gesellschaftliche Meinungsspektrum zu dieser Frage auf. So schloss die Enquete-Kommission ihren Zwischenbericht mit einer denkbar knappen Mehrheitsentscheidung und fünf Sondervoten ab. Insbesondere die medizinischen, ethischen, weltanschaulichen und praktisch-pflegerischen Fragen wurden sehr unterschiedlich bewertet. Die verfassungsrechtlichen Grundfragen wurden hingegen wenig beleuchtet. Sehr schnell machte die Diskussion aber deutlich, dass sich die Lösung über einen Gesetzentwurf der Bundesregierung ausschloss. Der „Übung des Hauses“ bei Gewissensentscheidungen folgend (siehe Stammzellendebatte u. a.) wurde daher einvernehmlich beschlossen, die Lösung über aus der Mitte des Bundestages zu entwickelnde Gesetzentwürfe zu suchen.
Damit übernahm ich Anfang 2005 als rechtspolitischer Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion die „Federführung“ in dieser Debatte für die Rechtspolitiker meiner Fraktion. Wir erarbeiteten auf der Grundlage des Referentenentwurfes aus dem Bundesministerium der Justiz einen ersten Gesetzentwurf zur Implementierung der Patientenverfügung in das Betreuungsrecht. Dieser Entwurf richtete sich an dem verfassungsrechtlich garantierten Selbstbestimmungsrecht des Menschen aus (Art. 2 Abs. 2 i. V. m. Art. 2 Abs. 1 und Art. 1 Abs. 1 des Grundgesetzes):
„Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit“ (Art. 2 Abs. 2 GG).
„Die Freiheit der Person ist unverletzlich“ (Art. 2 Abs. 2 GG).
„Die Würde des Menschen ist unantastbar“ (Art. 1 Abs. 1 GG).
Dieses verfassungsrechtlich garantierte allgemeine Persönlichkeitsrecht des Menschen schließt das Recht zur Selbstgefährdung bis hin zur Selbstaufgabe und damit auch auf Ablehnung lebensverlängernder Maßnahmen unabhängig von der ärztlichen Indikation der Behandlung ein. Die Bestimmung über seine leibliche, seelische Integrität gehört zum ureigensten Bereich der Personalität des Menschen. Dieses Selbstbestimmungsrecht wäre entscheidend entwertet, wenn es Festlegungen für zukünftige Konfliktlagen, in denen der Patient aktuell nicht mehr entscheiden kann, nicht umfassen würde.
Diese Grundsätze sind auf dem langen Weg bis zur Entscheidung am 18. Juni 2009 tragender Bestandteil der gesetzlichen Regelung geblieben. Daher waren Regelungen mit einer Reichweitenbegrenzung der Patientenverfügung oder ihre uneingeschränkte Wirksamkeit nur für den Sterbeprozess ebenso abzulehnen wie einschränkende Wirksamkeitsvoraussetzungen für das Zustandekommen der Patientenverfügung. Eine klare, übersichtliche, praktisch handhabbare Regelung für Arzt und Patient war immer unsere Zielvorgabe. Für diese Inhalte galt es zu werben, letztendlich für eine absolute Mehrheit im Deutschen Bundestag. Es wurde ein langer Weg dorthin. Am 18. Juni 2009 haben 320 Kolleginnen und Kollegen aus den Fraktionen der SPD, der FDP, Bündnis 90/Die Grünen und der Linken diesen Inhalten zugestimmt.
Ich habe auf diesem Weg vom Sommer 2005 bis zum Sommer 2009 über 100 Veranstaltungen in den verschiedensten Wahlkreisen quer durch die Republik mit den dortigen Abgeordneten durchgeführt. Von Mal zu Mal wurde ich sicherer, dass wir auf dem richtigen Weg waren. Die Säle waren voll, die Menschen kamen zur Politik, zu einer Thematik, die viele Menschen ganz persönlich, ganz individuell berührte. Und diese Menschen wollten alle eines: „Rechtssicherheit“ für ihr Selbstbestimmungsrecht.
Die Verabschiedung des Gesetzes erfolgte erst unmittelbar vor dem Ende der 16. Legislaturperiode. Bis dahin gab es immer weitere Verzögerungen und auch Verhinderungstaktiken in den parlamentarischen Abläufen. Auf viele auch ärgerliche Zwischenschritte will ich hier nicht mehr eingehen. Auch viele „Zwischenrufe“ sollen vergessen sein. Insbesondere von starken Interessengruppen von außerhalb des Parlaments wurde immer aufs Neue versucht, die Abgeordneten davon zu überzeugen, es bedürfe gar keiner gesetzlichen Regelung, „eigentlich sei doch alles wohl geordnet“. Wie wenig geordnet und wie groß die Rechtsunsicherheit in Wirklichkeit war, zeigt hingegen die eingangs zitierte Entscheidung des Bundesgerichtshofes vom 25. Juni 2010 mit aller Deutlichkeit, wurde mit ihr doch ein entgegenstehendes Urteil des Landgerichts Fulda aufgehoben und der Angeklagte freigesprochen. Die Lektüre beider Urteile empfiehlt sich all denen, die auch heute noch anderer Meinung sein sollten.
Im Parlament und auch außerhalb war daher über Jahre eine differenzierte Überzeugungsarbeit zu leisten. Die letztendlich verabschiedete Fassung des Gesetzes war im Ergebnis die Arbeit einer Gruppe von Abgeordneten aus vier Fraktionen des Bundestages (SPD, FDP, Bündnis 90/Die Grünen, Linke) unter Mitwirkung des Bundesministeriums der Justiz. Das Gesetz kann jedermann nachlesen, die tragenden Grundsätze seien jedoch noch einmal hervorgehoben:
Damit sind Grundsätze, über die mehr als zwanzig Jahre gestritten wurde, heute Gesetz.
Nach meinem Ausscheiden aus dem Deutschen Bundestag bin ich seit fast einem Jahr wieder als Richter tätig. Erste Rückmeldungen aus der gerichtlichen Praxis in der Anwendung des Gesetzes sind durchgehend positiv. Dennoch bin ich überzeugt, die Auseinandersetzungen über Wirksamkeit und Reichweite von Patientenverfügungen werden weitergehen. Bestimmte Interessenvertreter werden niemals aufgeben. Ein Beispiel zeigt die Tagesordnung der Veranstaltung, aus der dieser Beitrag hervorgegangen ist. Unter „offene Fragen im Gesetz“ sollte da die Gültigkeit von Patientenverfügungen diskutiert werden, wenn es keinen Betreuer gibt.1 Das ist aber keine offene Frage. Nach dem Prinzip der Einheit der Rechtsordnung ist die Patientenverfügung auch dann uneingeschränkt wirksam und ihr ist Achtung und Geltung zu verschaffen. Das ist nach dem Willen des Gesetzgebers eindeutig.
Aber ich bin sicher, die höchstrichterliche Rechtsprechung wird die Diskussion auf der Grundlage des Patientenverfügungsgesetzes für heute und in der Zukunft in geordnete Bahnen lenken.
1 Vgl. den Beitrag von Hans-Joachim Heßler in diesem Band.
Bernhard Knittel
Bereits im ersten Jahr der Geltung der Neuregelungen in §§ 1901a, 1901b sowie 1904 n. F. BGB durch das 3. Betreuungsrechtsänderungsgesetz (BtÄndG) erging eine bedeutsame Grundsatzentscheidung des BGH. Sie brachte eine wesentliche Klarstellung zur strafrechtlichen Beurteilung von Behandlungsbegrenzungen gemäß dem Patientenwillen und gab hierbei frühere Beurteilungsmaßstäbe auf.
Entschieden wurde der Fall eines Rechtsanwalts, der einer Mandantin geraten hatte, den Schlauch der Magensonde zu durchtrennen, durch welche die in einem irreversiblen Wachkoma befindliche Mutter der Mandantin ernährt wurde. Während die Vorinstanz seine Mandantin wegen eines unvermeidbaren Verbotsirrtums freigesprochen hat, wurde der Rechtsanwalt wegen versuchten Totschlags durch aktives Tun verurteilt.
Der 2. Strafsenat des BGH hat dieses Urteil aufgehoben und den Rechtsanwalt freigesprochen. Das LG habe zwar zutreffend festgestellt, dass es sich bei dem Durchschneiden des Schlauchs um ein aktives Tun gehandelt habe. Nach früherer Rechtsprechung war eine Sterbehilfe durch aktives Tun stets strafbar. Der 2. Senat hält an dieser Rechtsprechung jedoch nicht länger fest.
Sie sei zum einen nicht länger haltbar wegen der neuen zivilrechtlichen Rechtslage aufgrund der Änderung des Betreuungsrechts zum 1. September 2009. Der Gesetzgeber habe mit den Neuregelungen unter anderem zur Patientenverfügung und in § 1904 BGB entschieden, dass der Wille des einwilligungsfähigen Patienten unabhängig von Art und Stadium seiner Krankheit verbindlich sein soll, und zwar namentlich für Betreuer/Bevollmächtigte und Ärzte. Zum anderen habe sich die bisherige Abgrenzung von zulässiger „passiver“ und unzulässiger „aktiver“ Sterbehilfe anhand der naturalistischen Unterscheidung von Tun und Unterlassen als unpraktikabel erwiesen. Stattdessen will der BGH alle Handlungen in Zusammenhang mit der Beendigung einer ärztlichen Heilbehandlung zusammenfassen unter dem normativ-wertenden Oberbegriff des „Behandlungsabbruchs“. Dieser schließt auch die subjektive Zielsetzung des Handelnden ein, eine Heilmaßnahme gemäß dem Willen des Patienten zu beenden oder zu begrenzen. Eine solche Maßnahme soll dann gerechtfertigt sein, wenn sie dem tatsächlichen oder mutmaßlichen Patientenwillen entspricht und dazu dient, einem ohne Behandlung zum Tode führenden Krankheitsprozess seinen Lauf zu lassen.
Nach wie vor strafbar gemäß §§ 212, 216 StGB bleiben aber alle Handlungen, die außerhalb des Zusammenhangs mit einer medizinischen Behandlung vorgenommen werden. Ein gerechtfertigter Behandlungsabbruch liegt zudem nur dann vor, wenn sich das Handeln darauf beschränkt, einen Zustand (wieder-)herzustellen, in dem ein bereits begonnener Krankheitsprozess den Tod herbeiführt. Unzulässig sind demgegenüber solche Eingriffe, die die Beendigung des Lebens unabhängig vom Krankheitsprozess herbeiführen.
Ausdrücklich weist der BGH auf die strengen beweisrechtlichen Maßstäbe hin, die für die Feststellung des mutmaßlichen Behandlungswillens zu gelten haben. Hier sei vor allem zu prüfen, ob die Verfahrensregeln der §§ 1901a und 1901b BGB beachtet wurden.
In einem weiteren Urteil hat der 2. Strafsenat des BGH seine Rechtsprechung präzisiert.
Die Entscheidung betraf einen Angeklagten, der am Klinikbett seiner Schwiegermutter erschien und – ohne Betreuer oder Bevollmächtigter zu sein und zudem ohne Kenntnis des genauen Inhalts ihrer Patientenverfügung zu haben – lautstark die Einstellung intensivmedizinischer Maßnahmen verlangte. Wesentliches Motiv war seine Befürchtung, die Patientin könnte als Pflegefall entlassen werden und dann ihm und seiner Ehefrau finanziell zur Last fallen.
Als die Ärzte kurze Zeit danach Einblick in die Patientenverfügung nehmen konnten, lehnten sie eine Behandlungseinstellung ab. Sie hielten den Zustand der Patientin für „ernst aber nicht hoffnungslos“ und sahen kein Indiz für einen von ihr gewünschten Abbruch der Maßnahmen.
Mit den Worten: „Gut, dann mach ich das jetzt selbst!“ schaltete der Angeklagte daraufhin eigenmächtig alle Perfusoren ab, was zu einem dramatischen Abfall von Blutdruck und Herzfrequenz der Patientin führte. Am Versuch, auch ein Beatmungsgerät abzuschalten, wurde er gewaltsam durch einen anwesenden Krankenpfleger gehindert. Die Perfusion wurde vom Klinikpersonal nach zehn Sekunden wieder eingeschaltet. Die Patientin starb drei Stunden später an einem septischen Schock, nicht nachweisbar an der vorübergehenden kurzen Unterbrechung der Medikamentenzufuhr.
Das LG Köln verurteilte den Angeklagten wegen versuchten Totschlags zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren, die es zur Bewährung aussetzte (obwohl es das Vorgehen des Angeklagten sehr negativ mit dem Begriff „rechtsfeindliche Züge“ bewertete). Der BGH verwarf die Revision des Angeklagten als unbegründet. Ein gerechtfertigter Behandlungsabbruch habe schon deshalb nicht vorliegen können, weil der Angeklagte den Willen der Patientin gar nicht kannte. Außerdem waren die in der Patientenverfügung festgelegten Bedingungen nicht erfüllt, da der dort sinngemäß beschriebene Fall einer hoffnungslosen Lage nicht eingetreten war. Die Urteilsgründe enthalten einen nochmaligen Appell des BGH, die Vorgaben in § 1901a, § 1901b BGB strikt zu beachten. Der Senat bewertet sie als verfahrensrechtliche Absicherungen bei der Ermittlung des Patientenwillens und der Entscheidung über einen Behandlungsabbruch. Sie gewährleisten damit Rechts- und Verhaltenssicherheit, auch für das Strafrecht.
In diesem Zusammenhang betont der BGH: Nur Betreuer/Bevollmächtigte sind befugt, die Übereinstimmung einer Patientenverfügung mit der aktuellen Lebens- und Behandlungssituation des Patienten zu prüfen und dem Willen des Patienten gegebenenfalls Geltung zu verschaffen. Dies geschieht zwingend im Zusammenwirken mit dem behandelnden Arzt. Dieser prüft in eigener Verantwortung, welche ärztliche Behandlung im Hinblick auf den Gesamtzustand und die Prognose des Patienten indiziert ist, und erörtert dies mit dem Vertreter unter Berücksichtigung des Patientenwillens als Grundlage für die zu treffende Entscheidung.
Die neue Rechtsprechung des 2. Strafsenats wird in der Literatur überwiegend begrüßt.3 Ihr wird bescheinigt, die Rechtssicherheit für Ärzte und Betreuer/Bevollmächtigte zu erhöhen und rechtsdogmatisch im Wesentlichen überzeugende Abgrenzungen einzuführen. Anerkennend hervorgehoben wird auch, dass ausdrücklich einheitliche Maßstäbe für Strafrecht und Betreuungsrecht gelten sollen. Gaede4 spricht von „Durchbruch ohne Dammbruch“.
Seit Inkrafttreten des 3. BtÄndG zum 1. September 2010 sind nur zwei betreuungsrechtliche Entscheidungen veröffentlicht worden, die sich mit der neuen Rechtslage befassen: LG Kleve (FamRZ 2010, 1841)7 und LG Oldenburg (Fam-RZ 2010, 1470).
Um nähere Erkenntnis über die Auswirkungen der Neuregelung in der zivilgerichtlichen Praxis zu gewinnen, habe ich eine auf wenige Punkte beschränkte bundesweite Umfrage bei ca. 30 Amtsgerichten unternommen. Die Rücklaufquote betrug rund zwei Drittel. Antworten gingen ein aus den Amtsgerichten (von Nord nach Süd und wieder Nord entgegen dem Uhrzeigersinn): Schleswig, Kiel (zwei Mal), Hamburg-Blankenese, Hannover, Münster, Essen, Koblenz, Mainz, Frankfurt/Main, Darmstadt, Ulm, Augsburg, Nürnberg, Würzburg, Leipzig, Berlin-Lichtenberg, Frankfurt/Oder und Rostock. Die Ergebnisse erlauben angesichts der schmalen Erhebungsbasis sowie der zum Teil nicht ganz einfach abzugleichenden Angaben keine statistisch signifikanten Aussagen. Sie ermöglichen aber, Tendenzen und Einschätzungen festzuhalten.
Als wichtigste generelle Erkenntnis ergab sich: Ganz überwiegend konnten bisher in der betreuungsgerichtlichen Praxis nur geringe Erfahrungen mit der neuen Rechtslage gesammelt werden. Im Einzelnen lieferten die Antworten auf die gestellten Fragen folgende Informationen:
Zu Frage 1: „Sind seit Inkrafttreten des 3. BtÄndG (,Patientenverfügungsgesetz’) zum 1.9.2009 Anträge auf Genehmigung einer vom Betreuer/Bevollmächtigten gegen die ärztliche Meinung verlangten Behandlungsbegrenzung gem. § 1904 Abs. 2 BGB bei Ihrem Gericht eingegangen?“
Rund die Hälfte der Gerichte hatten keine entsprechenden Verfahren, die übrigen zwischen ein und fünf Verfahren. Sofern Anträge eingegangen waren, wurden diese sowohl von Betreuern als auch von Bevollmächtigten gestellt; offenbar aber leicht überwiegend von Betreuern. Nur in einigen Fällen lagen wirksame Patientenverfügungen zugrunde, so dass nicht andere Äußerungen bzw. der mutmaßliche Wille zu ermitteln waren, aber die Patientenverfügungen waren in der Regel auslegungsbedürftig (bezüglich der konkreten medizinischen Situation). Die Zusatzfrage, ob Dritte (z. B. Angehörige/Pflegepersonal) mit der Anregung zur Überprüfung eines Konfliktfalles von Amts wegen an das AG herangetreten waren8, wurde durchweg mit Nein beantwortet?
Entscheidungen nach § 1904 Abs. 2 BGB sind nur insgesamt zwei ergangen. (Eine davon, die die Ablehnung der Genehmigung wegen einer „nicht passenden“ Patientenverfügung betraf, wurde vom AG anonymisiert übermittelt.) Beschwerde gegen diese Entscheidungen wurde nicht eingelegt.
Die überwiegende Mehrzahl der Verfahren endete ohne Urteil – in einigen Fällen durch Tod der Betroffenen, vor allem aber durch Antragsrücknahme, „nachdem zwischen dem behandelnden Arzt und dem Betreuer bzw. Bevollmächtigten Einvernehmen hergestellt werden konnte.“ Hieraus ist auf eine wichtige Vermittlungsfunktion des Gerichts im Rahmen von Anhörungen zu schließen.
Bemerkenswert war, dass bei einem Großstadtgericht drei Verfahren ohne Entscheidung endeten, „da von Seiten der Ärzte kein echtes Behandlungsangebot unterbreitet werden konnte und deshalb keine Heilbehandlungs-Maßnahmen mehr durchzuführen waren.“ In einem solchen Fall hätte es nach der gesetzlichen Systematik gar nicht erst zu einem Verfahren kommen dürfen.9
Zu Frage 2: Wie lange ungefähr dauerte ein erstinstanzliches Verfahren (anhand von erinnerten Erfahrungsbeispielen)?
Zwischen einem Tag und zwei Wochen. Lediglich bei einem Gericht wird sich wegen noch ausstehender Gutachten in zwei Fällen eine Verfahrensdauer von bis zu acht Wochen ergeben.
Zu Frage 3: „Hatte die ‚gleichgepolte‘ Neuregelung der Genehmigungsbedürftigkeit riskanter Operationen usw. in § 1904 Abs. 1 BGB feststellbare Auswirkungen (z. B. weiterer Rückgang einschlägiger Verfahren)?“
Bereits in der Vergangenheit wurden offenbar verhältnismäßig wenige solche Anträge gestellt. Da die Eingriffe zumeist eilbedürftig waren, entfiel auch das Genehmigungsverfahren gemäß § 1904 Abs. 1 Satz 2 n. F. BGB (wegen Gefahr durch Aufschub). Zur neuen Rechtslage wurden kaum ausdrücklich Auswirkungen mitgeteilt und wenn, dann die Einschätzung eines weiteren Rückgangs an Verfahren.
Zu Frage 4: „Gibt die Neuregelung im Übrigen Anlass zu Anmerkungen/Beobachtungen aus richterlicher Sicht (vor allem unter dem Blickwinkel: Was hat sich seit Inkrafttreten des Gesetzes in der Rechtsprechung verändert?)“
Soweit dazu Äußerungen kamen, ergaben sich folgende Schwerpunkte (Auszüge aus den Äußerungen sind im Folgenden wörtlich wiedergegeben):
In der wissenschaftlichen Diskussion erscheinen derzeit folgende Fragenkomplexe noch nicht abschließend geklärt: