Theologie und Soziale Wirklichkeit: Wahrnehmen

Renate Zitt

„Ein Indianer besuchte einen weißen Mann. In einer Stadt zu sein, mit dem Lärm, den Autos und den vielen Menschen – all dies war ganz neuartig und auch verwirrend für ihn.

Die beiden Männer gingen die Straße entlang, als plötzlich der Indianer seinem Freund auf die Schulter tippte und ruhig sagte: ‚Hörst du auch, was ich höre?‘ Der Freund horchte und sagte: ‚Alles, was ich höre, ist das Hupen der Autos und das Rattern der Omnibusse.‘ ‚Ich höre ganz in der Nähe eine Grille zirpen.‘ ‚Du mußt dich täuschen; hier gibt es keine Grillen. Und selbst, wenn es eine gäbe, würde man ihr Zirpen bei dem Lärm nicht hören.‘ Der Indianer ging ein paar Schritte und blieb vor einer Hauswand stehen. Wilder Wein rankte an der Mauer. Er schob die Blätter auseinander – und da saß tatsächlich eine Grille.

Der Weiße sagte: ‚Indianer können eben besser hören, als Weiße.‘ Der Indianer erwiderte: ‚Da täuschst du dich. Ich will es dir beweisen.‘ Er warf ein 50-Cent-Stück auf das Pflaster. Es klimperte auf dem Asphalt, und die Leute, die mehrere Meter entfernt gingen, wurden auf das Geräusch aufmerksam und sahen sich um. ‚Siehst du‘, sagte der Indianer, ‚das Geräusch, das das Geldstück gemacht hat, war nicht lauter als das der Grille. Und doch hörten es viele der weißen Männer. Der Grund liegt darin, daß wir alle stets das gut hören, worauf wir zu achten gewöhnt sind.‘“1

Wahrnehmen – was ist das? Worauf kommt es an bei der Wahrnehmung sozialer Wirklichkeit? Welche Zugänge sind produktiv für die Annäherung an die Wirklichkeit sozialer Berufe? Der Bearbeitung dieser Fragen widmen sich die Beiträge der Autorinnen und Autoren aus unterschiedlichen Perspektiven. Wahrnehmen, deuten und reflektieren, kommunizieren und handeln sind Grundvollzüge professionellen Handelns in sozialen Berufen. Sie sind engstens aufeinander bezogen und verlaufen zirkulär. Wahrnehmung und Wahrnehmungskontexte haben Folgen für die weiteren Vollzüge. Wie und was ich wahrnehme, für „wahr“ anerkenne, hat Folgen für mein professionelles Handeln in den unterschiedlichen Feldern sozialer Beruflichkeit.

Soziale Wirklichkeit ist ein vielschichtiges Phänomen, das nur multiperspektivisch wahrnehmbar ist, also erkenntnistheoretisch und methodologisch ausdifferenziert. Die Phänomene werden durch die Zugänge mitkonstruiert.

Die einzelnen Beiträge arbeiten mit folgenden Prämissen: Wirklichkeit ist vorgegeben und aufgegeben; Subjekte sind nicht nur determiniert, sondern haben Handlungsspielräume; Wirklichkeit wird durch Wahrnehmung konstruiert, dekonstruiert und rekonstruiert. Theologie versteht ihren Beitrag im Wahrnehmungskonzert unter anderem darin, Brüche auszuleuchten und auf Transzendenzen, Grunderfahrungen, Horizonte und Grenzen hinzuweisen. Dabei ist die Multiperspektivität unterschiedlicher Zugänge die wichtigste Voraussetzung für die hermeneutischen Diskurse im Versuch soziale Wirklichkeit zu verstehen und zu deuten.

Im vorliegenden Band zum Thema Wahrnehmen sind verschiedene Zugänge versammelt: philosophisch-erkenntnistheoretische, theologisch-religiöse, sozialwissenschaftlich-praktische, pädagogisch-phänomenologische, juristische, institutionenbezogene, sozialräumliche und forschungsprojektorientierte Zugriffe und Kombinationen derselben. In den Blick werden unterschiedliche Wirklichkeitsdimensionen genommen. Mit unterschiedlichen Zugängen und Instrumentarien wird wahrgenommen. Damit werden Antworten auf folgende Leitfragen gesucht: Wie erschließen und konstruieren wir Zugänge zur Wirklichkeit in sozialen Berufen? Wie geschieht reflektierte Wahrnehmung? Welche Modi der Wirklichkeitswahrnehmung werden gewählt? Welche Wahrnehmungsmuster sind leitend? Welche Instrumentarien stehen zur Verfügung? Welche Wirklichkeitsaspekte kommen mit welchen wissenschaftlichen Methoden in den Blick, welche Chancen und Grenzen sind damit jeweils verbunden?

Die vorgestellten Zugänge sind exemplarisch für Dimensionen, die die Autorinnen und Autoren für maßgeblich im Hinblick auf das Studium, die Praxis und die Erforschung von sozialer Wirklichkeit und sozialer Beruflichkeit halten. Damit wird in diesem Band ein breiter Zugang zum Thema Wahrnehmen in Studium und Wissenschaft sozialer Berufe gewählt, denn ein subjektorientierter phänomenologisch-basierter Zugang zum Thema der Wahrnehmung des Anderen im Dialog von theologischer und phänomenologischer Perspektive ist bereits intensiv bearbeitet worden.2 Auch unter ethischer Perspektive wurde mit theologischen und phänomenologischen Zugängen breit zum Thema der Wahrnehmung des Anderen geforscht.3

Soziale bzw. helfende Berufe haben sehr viel damit zu tun, andere Menschen in ihrer Lebensbewältigung zu unterstützen und Prozesse der Lebensbewältigung zu initiieren und zu begleiten. Dabei sind hilfreiche Strukturen in der Gesellschaft hierfür zu kultivieren. Die helfenden Professionen greifen – implizit oder explizit – auf Menschenbilder, Gesellschaftsbilder, konkrete soziale Gegebenheiten, Strukturen und mögliche Ziele für ein „gelingendes Leben“ zu, und zwar bezogen auf den jeweils Anderen in seinen/ihren spezifischen Kontexten sozialer Wirklichkeit. Den Anderen in seiner sozialen Wirklichkeit wahrnehmen ist damit die zentrale Grundkompetenz in sozialen/helfenden Berufen.

Wahrnehmen lernen und das eigene Wahrnehmen systematisch reflektieren lernen, ist ein komplexer Prozess. Studierende an Hochschulen für soziale Berufe lernen in ihren unterschiedlichen Studiengängen verschiedene wissenschaftliche und wissenschaftstheoretische Zugänge zum Thema Wahrnehmen (z.B. Diskurstheorie, Hermeneutik, Konstruktivismus, Phänomenologie, Systemtheorie, Kritische Theorie etc.) kennen und sie sollen diese in ihrem wissenschaftlichen Denken und beruflichen Handeln integrieren können. Dabei ist es für sie unabdingbar, unterschiedliche Wahrnehmungsperspektiven zu differenzieren und sie gleichzeitig multiperspektivisch aufeinander zu beziehen, um eine differenzierte Wahrnehmungskompetenz zu entwickeln und in Studium und Beruf nutzen zu können.

Die Autorinnen und Autoren des Buches wollen einerseits in verschiedene Wahrnehmungsblicke mit ihrer disziplinären/interdisziplinären und wissenschaftstheoretischen Logik einführen. Andererseits wird nach der jeweiligen Bedeutung der verschiedenen Perspektiven für die Wahrnehmungskompetenz in sozialen Berufen unterschiedlicher Handlungsfelder gefragt. Es begegnen sich humanwissenschaftliche, sozialwissenschaftliche und theologische Wahrnehmungsblicke als Diskussionsgrundlage für eine Verständigung zwischen den unterschiedlichen Disziplinen und Studiengängen. Eine wichtige Rolle spielen dabei religiöse Dimensionen (Umgang mit Kontingenz, Verhältnis von Transzendenz und Immanenz), diakonische und kirchliche Aspekte.

Die einzelnen Beiträge des Bandes leuchten disziplinäre, interdisziplinäre und wissenschaftstheoretische Wahrnehmungsperspektiven auf soziale Wirklichkeit aus. Dabei werden gemeinsame und kontroverse Aspekte, Kategorien und unterschiedliche theoretische Grundlagen des Wahrnehmungsbegriffs sichtbar.

Joachim Weber konturiert Wahrnehmung und Wissenschaft aus philosophisch-erkenntnistheoretischer Perspektive. Thomas Waldeck beleuchtet religiöse Wahrnehmung in theologischer Sicht. Frank Dieckbreder erarbeitet pädagogische Dimensionen der Wahrnehmung zwischen Haltung und Aushalten. Lutz Müller-Alten beschreibt juristische Aspekte der Wahrnehmung im Sozialrecht. Frank Dieckbreder und Thomas Zippert nehmen institutionengeleitete Aspekte von Wahrnehmung in sozialen Berufen in den Blick. Joachim Weber diskutiert das Verhältnis von Wahrnehmung und Praxis in der Sozialen Arbeit. Thomas Zippert erörtert sozialräumliches Wahrnehmen im mehrdimensionalen Raum von Gesellschaft und Gemeinwesen, Gemeinde und Diakonie. Und schließlich stellen Ulrike und Peter Höhmann theoretische und methodische Besonderheiten der Wahrnehmung in der empirischen Sozialforschung vor, wobei sie die Grundlagen in einem Anwendungsbeispiel abbilden.

1 Anonym, Der Indianer und der weiße Mann, in: Lore Graf u.a. (Hg.), Die Blumen des Blinden, München 1983, 19.

2 Vgl. hierzu: Hans-Günter Heimbrock, Den Anderen wahrnehmen – Herausforderungen für professionelle Praxis in Kirche und säkularem Gesundheitswesen, in: Pastoraltheologie 100. 2011, 364–380.

3 Vgl. Hans-Günter Heimbrock/Trygve Wyller, Den Anderen Wahrnehmen. Fallstudien und Theorien für respektvolles Handeln, Göttingen 2010. Zum Dialog zwischen Theologie und unterschiedlichen empirischen Forschungsmethoden zur Untersuchung gelebter Religion liegt ein Band zur Empirischen Theologie vor: Astrid Dinter, Hans-Günter Heimbrock, Kerstin Söderblom (Hg.), Einführung in die Empirische Theologie. Gelebte Religion erforschen, Göttingen 2007.

Wahrnehmung und Wissenschaft

Joachim Weber

Zusammenfassung

Wahrnehmung ist im Kontext von Wissenschaft hochgradig umkämpft. Dies beruht auf einer verbreiteten Konzentration der wissenschaftlichen Frage nach der Wahrheit auf die logische Wahrheit und nicht auf die Wahrheit der Wahrnehmung. Das Spektrum reicht von der konstruktivistischen Bestreitung jeglichen Wahrheitsgehaltes bis zur alleinigen Etablierung der Vernunftwahrheit unter Ausschluss der Wahrnehmung bei Platon. Aber auch das empiristische Wissenschaftsverständnis bleibt einem reduktionistischen Blick auf die Wahrnehmung verhaftet. Nur solche Beobachtungen sind wissenschaftlich relevant, die methodisch gewonnen sind und die Form mathematisierbarer Daten haben.

Erst die alternativen Wissenschaftsprogramme, insbesondere der phänomenologische sowie der pragmatistische Zugang führen zu einer Rehabilitation der Wahrnehmung im wissenschaftlichen Kontext. Wahrnehmung bildet nun das entscheidende Korrektiv, das uns davor bewahrt, uns im Spiel unserer Denkkonstruktionen zu verlieren. Doch Wahrnehmung begrenzt nicht einfach negativ den Erkenntnisprozess, sondern befördert ihn konstruktiv-kritisch. Der Reichtum der Welt erschließt sich erst durch Wahrnehmung. Das unwillkürliche Beiläufige von Wahrnehmungen bringt uns auf etwas, stößt uns abduktiv auf neue Ideen. Damit verbunden ist eine Rehabilitierung der alltäglichen Wahrnehmung und somit eine Relativierung der Dominanz wissenschaftlicher Wahrnehmung.

1 Anthropologie, Religiosität und Wissenschaft im Kontext menschlicher Wahrheitssuche

Was ist das eigentlich, der Mensch? Die Anthropologie versucht hierauf eine Antwort zu geben. Doch vermutlich ist die Frage falsch gestellt, insofern durch sie bereits vorausgesetzt ist, dass der Mensch ein Was, ein Wesen hat. Natürlich lassen sich vielfältige Merkmale benennen, die als Gemeinsames der allermeisten Menschen auffallen, so beispielsweise auf der einen Seite die Körperlichkeit, seine Animalität und seine daraus sich ergebende Naturgebundenheit und Bedürftigkeit, auf der anderen Seite seine Vernunftbegabung, die ihn insbesondere dazu befähigt, zur Welt, wie sie sich zeigt, Stellung zu nehmen, sie sich zu vergegenwärtigen und daraufhin auch zu verändern. Doch ist damit das Wesen des Menschen beschrieben? Können wir so Menschsein begreifen?

Statt Menschsein von bestimmten Merkmalen her zu begreifen, liegt es näher, die spezifische Situation des Menschseins in der Welt zu analysieren. Dabei fallen insbesondere zwei Momente auf: „Der Mensch“ ist ein Abstraktum, das es so gar nicht gibt. Menschen verstehen sich und andere als Personen, d.h. in ihrer individuellen Einzigartigkeit. Der Blick für diese Einzigartigkeit geht verloren, sobald wir die Frage nach dem Menschen im Singular stellen.1

Er findet sein je individuelles Wesen insofern nur selbst und persönlich und differiert dabei von allen anderen. Doch wie findet ein Mensch sein eigenes Wesen? Die klassische Anthropologie hat die menschliche Situation als einen Mangel beschrieben.2 Menschen zeichnen sich im Vergleich zur Tierwelt durch Nichtfestlegung aus. Sowohl die Auffassung von Sinnesreizen als auch die Reaktion auf diese Reize ist nicht durch Instinkte gesichert, sondern müssen Menschen als Personen erst entwickeln, sie entwickeln ethos. Dieser griechische Begriff konnte erst nach der Entwicklung eines spezifischen Könnensbewusstseins eine zentrale Rolle im Nachdenken über das menschliche Handeln erreichen. Die Griechen sprachen auch der Sonne ein ethos zu in Form der Bahn, die sie vom Morgen bis zum Abend am Himmel zurücklegt. ethos ist das gewohnheitsmäßige Zuhause der Phänomene. Doch dieses Zuhause ist bei Menschen anders konzipiert: Menschen finden ihr Zuhause nur in sich selbst, sie sind dazu verurteilt frei zu sein, nämlich Verantwortung für ihr Leben und Handeln zu übernehmen.3

Was hat das Ganze mit Wissenschaft und der ihr eigenen Wahrheitssuche zu tun? Was mit dem Thema Wahrnehmung? Ich meine sehr viel. Die Übernahme von Verantwortung verlangt nach Orientierung und damit nach einer Form von Wahrheit. Die Menschheitsgeschichte hat eine Fülle von Antworten auf die Frage nach der je eigenen Orientierung gefunden, die sich letztlich in wenige verschiedene Richtungen zusammenfassen lassen. Zunächst lässt sich dabei die religiöse Gewissheit benennen,4 das Bewusstsein der Abhängigkeit von schicksalsbestimmenden Mächten, die in unterschiedlichen theologischen Kontexten verschieden interpretiert wurden, vom liebenden Vatergott über ein leistungsgerechtes göttliches Karma bis zur anonymen und unberechenbaren griechisch-römischen Schicksalsgöttin. Das kultische Handeln wie der Umgang mit Überlieferung bis hin zur kontemplativen Schau zeigen sich als Formen der vergewissernden Rückbindung (religio). Die religiöse Gewissheit transzendiert die alltägliche Wahrnehmung, sie kann jedoch die religiöse Überzeugung in religiösen Symbolen vergegenwärtigen, wahrnehmbar machen. Das Göttliche wird wahrnehmbar in seinen Zeichen.

Auf die spirituelle Erfahrung muss man sich eigens einlassen und sie führt zu spirituellen Akten, zur Frömmigkeit.5 Während die uns bekannte Welt in aller Regel sowohl ihr Zusammenleben als auch die Entwicklung ihrer Fähigkeiten immer im Kontext der religiösen Gewissheit entwickelt hat, gab es bereits sehr früh insbesondere eine Kultur, in der die religiöse Gewissheit in elementarer Weise erschüttert wurde, so dass diese Kultur die religiöse Gewissheit ersetzt hat durch eine neuartige Form von Wahrheit.6 Gemeint ist die griechische Kultur und ihre Erfindung von Wissenschaft, gegründet auf die Überzeugung, dass es jenseits der religiösen Gewissheit eine unabhängige Wahrheit gibt, eine Wahrheit, über die ich verfügen kann und der ich nicht mehr schutzlos ausgeliefert bin.7 Wenn man sich die griechische Götterwelt der homerischen Epen anschaut, fällt es nicht schwer, sich vorzustellen, weshalb die antike griechische Kultur die religiöse Gewissheit ersetzen wollte. Der extreme Anthropomorphismus der griechischen Götterwelt, der wiederum zu mehr oder weniger hilflosen Mythenbildungen führte, die versuchten, die Kluft zwischen Göttern und Menschen herzustellen, hat zur Konsequenz, dass nicht nur die Grenze zwischen Göttern und Menschen verwischte, sondern auch die Götter zunehmend überflüssig wurden. Warum sollte man eine völlig unberechenbare Göttin wie Fortuna anbeten, wenn Menschen weder durch Wohlverhalten noch durch fromme Handlungen das von ihr bestimmte Schicksal beeinflussen können? Was soll man mit einer höchsten Gottheit wie Zeus anfangen, die sich aufführt wie ein cholerischer Vergewaltiger und peinlicher Weiberheld? Eine religiöse Gewissheit bezüglich Göttergestalten, die im Olymp lediglich über die Menschen lachen, wie die griechische Komödie erzählt, ist nicht nur wertlos, sie ist sogar höchst kontraproduktiv. Xenophanes ist der erste uns bekannte Götterkritiker. Die Sophisten wie Protagoras,8 Prodikos9 oder Gorgias ziehen daraus radikale Schlussfolgerungen. Die Sophistik bricht damit ein religiöses Tabu und dieses wurde offensichtlich auch als solches empfunden mit all der Gefährlichkeit, die darin begründet liegt, wenn die Übermächtigkeit des Religiösen in Frage gestellt ist.10

2 Die konstruktivistische Destruktion der Wahrheit der Wahrnehmung

Wenn wir uns in unserer Verantwortungsübernahme für das eigene Handeln und eigene Sein vom Himmel unabhängig machen wollen, liegt eine andere Gewissheit auf der Hand, um uns Orientierung in der Welt zu geben: die Wahrheit dessen, was ich mit meinen Sinnen erfasse. Wahr-nehmung scheint bereits im Deutschen dem Begriff nach eine spezifische Wahrheit zu versprechen. Etwas, das ich vor Augen sehe, auf das ich vor anderen zeigen kann, um sie darauf hinzuweisen, lässt sich nur schwer in seinem Wahrheitsgehalt bestreiten. Verantwortung wird möglich, indem ich auf sinnlich wahrnehmbare Dinge verweise, auf die sich mein Handeln bezieht. Doch die Wahrnehmung dessen, was ist, wird in der Blütezeit der attischen Kultur auf entscheidende Weise überlagert von der Erfahrung der Darstellungskunst. Das allgemein erwachende und staunenswerte Könnensbewusstsein, das so unübertrefflich in Sophokles’ Antigone eingefangen ist,11 wurde politisch wirksam insbesondere insofern, als in der Volks- wie in der Gerichtsversammlung nicht unbedingt diejenige Partei den Sieg davon trug, die wahrnehmbare Tatsachen vorzuweisen hatte, auf die sich ihr Urteil gründete, sondern diejenige, die ihre Auffassung eines Sachverhalts entsprechend darstellen konnte.

Sowohl der physis-Begriff als auch der logos-Begriff machen in der Sophistik eine zentrale Bedeutungsverschiebung durch. Physis verliert den Charakter einer durch eine Verbindung von Sinnlichkeit und Vernunft erkennbaren natürlichen Wirklichkeit.12 Der nomos muss vielmehr von Menschen geschaffen werden und tritt der unerkennbaren, regellosen und damit unverfügbaren physis entgegen.13 Schließlich verliert auch der logos seine Wahrheitsfunktion und wird zur reinen „Beeinflussungskraft“.14 Erkenntnis geht auf in Suggestion, im Erzeugen von Überzeugungen, in rhetorischem Können.15 Wenn alle Sicherheiten untergehen, bleiben nur diejenigen Überzeugungen übrig, die Menschen selbst herstellen.16 Der griechische Begriff peithein schillert. Er kennzeichnet ebenso das Überzeugen des Anderen durch stichhaltige Argumente wie auch die vordergründige, demagogische Überredungskunst. Orientierung bietet im Kontext der Sophisten also nur noch das, was von Menschen geglaubt wird ganz gleich, was die Quelle dieses Glaubens ist. Der Mensch wird, sofern er über die entsprechenden rhetorischen Fähigkeiten verfügt, zum Maß aller Dinge (Protagoras). Sein Können, nicht die genaue Erfassung und Verarbeitung des Wahrgenommenen, entscheidet den Gang der Welt, insbesondere den Gang der zwischenmenschlichen Ereignisse. Wirklichkeit ist nicht vorgegeben, sondern der menschlichen Konstruktion anheimgegeben. Explizit zieht insbesondere Gorgias die entsprechenden Schlussfolgerungen für das Wahrnehmungsvermögen aus diesem Könnensbewusstsein. Zunächst zeigt er in seiner Kritik an der Position des Parmenides auf, dass das Nachdenken über das Nichtsein dazu führt, schließlich auch die Existenz des Seienden überhaupt zu leugnen.17 Doch in unserem Zusammenhang wichtiger als diese spekulative Auseinandersetzung mit dem Seienden ist seine Zurückweisung der Wahrheit der Wahrnehmung:

„Denn auch, was gesehen und gehört wird, ist (ja nur) dadurch, daß jedes davon im Sinn gehabt wird. Wenn aber nicht dadurch (etwas schon ist), dann ist indes genauso […] auch, was wir sehen, (nicht) mehr als (das, was) wir uns ausdenken.“18

Das Wahrgenommene muss wie das Ausgedachte das Bewusstsein passieren, um wahr zu werden, und wird damit von diesem geprägt. Erst im Kontakt mit dem Bewusstsein erhält es seinen Wahrheitsgehalt. Die Gleichsetzung von Wahrgenommenem und Wirklichem ist so gar nicht möglich. Gorgias zieht daraus radikale Schlüsse. Statt die Eigenheit der auf Wahrnehmung beruhenden Bewusstseinsinhalte zu prüfen, subtrahiert er den spezifischen Wahrnehmungsinhalt.19 Wahrnehmung wird einer beliebigen Konstruktionsleistung gleichgestellt.

Doch Gorgias geht noch weiter: Das Wahrgenommene und durch Bewusstsein Veränderte lässt sich auch nicht in Rede fassen. Die Verwandlung von Inhalten des Bewusstseins in logos funktioniert nicht.20 Der logos verselbständigt sich gegenüber dem Bewusstsein. Logos repräsentiert gar nicht mehr irgendeine durch Wahrnehmung garantierte Wirklichkeit. Und schließlich: die Mitteilung der pseudorealistischen wahrgenommenen Inhalte des Einen deckt sich keinesfalls mit der Botschaft, die ein anderer empfängt:

„Wenn die Dinge aber auch erkennbar wären, wie könnte sie einer […] einem anderen verdeutlichen. Denn was man sah, wie sollte man dies durch Rede aussprechen? Bzw. wie könnte jenes dem Hörer deutlich werden, wo er’s nicht sieht? […] Denn im Prinzip redet, wer spricht, kein Geräusch und auch keine Farbe, sondern eine Rede.“21

Alles, worüber wir reden können, ist Rede. Wir sind in unseren logos eingeschlossen. Die Wahrheit der Wahrnehmung wird zum nicht ergründbaren Jenseits des logos. Jeder Hinweis auf eine Wahrnehmung, die doch unmittelbar eine bestimmte Realität bekräftigt, verbietet sich. Denn nicht nur die Interpretationen dessen, was das denn ist, das gerade wahrgenommen wird, können differieren und zeigen damit den subjektiven Faktor der Wahrnehmung auf; auch innerhalb des Einzelsubjektes lässt sich die Aufmerksamkeit beliebig verschieben.22 Übrig bleibt ein radikaler Pluralismus. Weil jeder in seinen logos eingeschlossen ist und logos somit individuell verschieden ist, differieren alle in ihrer jeweiligen Wahrnehmung. Es gibt keine gemeinsame Basis dieser verschiedenen wahrnehmungsbasierten Überzeugungen, auf die wir verweisen können, um Traum von Wirklichkeit, Wahnsinn von Realitätssinn oder Sinn von Unsinn zu unterscheiden. Lediglich die Anschlussfähigkeit entscheidet über die Relevanz der versprachlichten Wahrnehmung.

Gorgias kann insofern als früher Vertreter des radikalen Konstruktivismus gelesen werden. Was immer wir als auf Wahrheit der Wahrnehmung beruhende Fakten nennen, sind nicht sachhaltige (reale im Sinne von res) Bestandteile der Wirklichkeit, die durch ihre Wahrnehmungsqualität real werden, sondern nichts weiter als subjektive bzw. pseudosubjektive Konstruktionen ohne jeden objektiven Gehalt, es sind Fakten im Sinne von facere, sie sind selbst hergestellt.23 Von den konstruktivistischen Anteilen der Wahrnehmung wird auf die radikale Irrelevanz des Realitätsgehaltes geschlossen. Von dem Wahrnehmungsgehalt kann man insofern subtrahieren. Sobald wir Aussagen machen über Wahrnehmungen, sind wir mit diesen Aussagen konfrontiert, an die wir wiederum anschließen können, hinter die wir aber nicht treten können, weil wir dazu über einen nichtsprachlichen Weg der Auseinandersetzung mit Wahrnehmungen verfügen müssten.24

Freilich kommt der radikale Konstruktivismus mit dieser Aussetzung der Realität allerdings auch an Grenzen:

„Das Erkennen kann nicht ohne Erkennen zur Außenwelt kommen. Es ist, mit anderen Worten, Erkennen nur als selbstreferentieller Prozeß. Das Erkennen kann nur sich selber erkennen, obwohl es, gleichsam aus den Augenwinkeln, noch feststellen kann, daß eben dies nur möglich ist, wenn es mehr gibt als nur dies. Das Erkennen hat es mit einer unbekannt bleibenden Außenwelt zu tun, und es muß folglich lernen, zu sehen, daß es nicht sehen kann, was es nicht sehen kann.“25

Abgesehen von den typischen Tautologien, in die sich der radikale Konstruktivismus so gerne verstrickt, interessiert dieses Zitat besonders insofern, als der Selbsteinschluss in die Kommunikation zwar die Wahrnehmung zur uneinholbaren Umwelt der Kommunikation erklärt, aber dennoch nicht umhin kann, aus den „Augenwinkeln“ ein Jenseits dieser Kommunikation vorauszusetzen, obwohl dies den kommunikativen Selbsteinschluss transzendiert. Noch weiter geht Glasersfeld. Wir müssen nicht nur eine objektive, das Erkennbare transzendierende Außenwelt voraussetzen, diese wirkt sogar auf uns:

„Unsere Sinnesorgane ‚melden‘ uns stets nur mehr oder weniger hartes Anstoßen an ein Hindernis, vermitteln uns aber niemals Merkmale oder Eigenschaften dessen, woran sie stoßen. Diese Eigenschaften stammen ganz und gar aus der Art und Weise, wie wir die Sinnessignale interpretieren. Anders ausgedrückt, unsere Sinnesorgane nehmen Unterschiede wahr, nicht aber ‚Dinge‘, die sich als solche von anderen unterscheiden ließen. ‚Dinglichkeit‘, ganz abgesehen von der qualitativen Eigenart der Gegenstände, ist ja, wie Kant klargemacht hat, von unserer räumlichen Anschauung abhängig und darum ein Produkt unserer intrinsischen Art und Weise, wahrzunehmen.“26

Auch hier begegnet das gleiche Argumentationsmuster wie bei Gorgias: Weil Wahrnehmung Konstruktionsanteile hat, enthält sie keinerlei Realitätsbezug. Jede Wahrnehmung wird im Rückgriff auf Kant apriori in den Anschauungsformen Raum und Zeit vom Bewusstsein präsentiert, doch diese Anschauungsformen sind Konstruktionen des Bewusstseins.27 Der Inhalt der Wahrnehmung bildet zudem nichts als Signale der Intensität der Perturbation eines Organs ohne Hinweis auf eine Ursache dieser Perturbation.28 Doch abgesehen von diesem konstruktivistischen Allgemeinplatz ist in diesem Zitat der eingeräumte objektive Wirklichkeitsbezug von besonderer Bedeutung. Auch der radikale Konstruktivismus räumt eine konstruktionsunabhängige objektive Wirklichkeit ein. Sie hat hier die Form des Unterschieds sowie der Verhinderung bzw. des Scheiterns. Es fragt sich unwillkürlich, wie diese Wahrnehmung von Hindernis und Unterschied in unser operational geschlossenes Bewusstsein wandern soll. Und wenn tatsächlich die objektive Wahrnehmung des Gehindertseins möglich ist, warum kann ich dann nicht an diese Realitätswahrnehmung weitere Fragen anschließen? Schließlich sind die Sinnesreize, nehme ich sie einmal als Hinweissignale für Objektives ernst, wesentlich komplexer als Signale eines undifferenzierten Gehindertseins oder Unterschiedenseins. Das Erkennen eines Unterschieds geht schließlich nicht auf in dem Signal: irgendwo gibt es Unterschiede! Vielmehr erfolgt der Hinweis wesentlich genauer mit Angabe von Ort, Zeit, Qualität, etc. also empirischen Daten, die es wert sind, weiter empirisch befragt zu werden. Der radikale Konstruktivismus nimmt diese inhaltlichen Momente von Wahrnehmung nicht ernst, weil sie von Konstruktionsleistungen berührt sind.

Das ist einerseits ein höchst reduktiver Weg, der sich auf die Selbstreferentialität des logos beschränkt, zum anderen ein höchst bequemer Weg, der Tatsachen behaupten kann, die nur noch kommunikativ stimmig, anschlussfähig sein müssen, aber jede Sachhaltigkeit erübrigen können. Luhmann spricht nicht mehr von Wahrnehmung, sondern nur noch von Beobachtung. Doch Beobachtung geht auf in der kommunikativen Anwendung einer zweipoligen Differenz – im Falle von Wissenschaft die Polarität von wahr und nicht wahr –, die wiederum beobachtet werden kann, die jedoch an keiner Stelle noch aus dem reinen Kommunikationsprozess hinausführt.29

Wie auch immer wir die Sache wenden wollen, offensichtlich gelingt es uns letztlich gar nicht, uns selbst in den logos einzuschließen. Der logos selbst, die Welt der Kommunikation, setzt vielmehr ein Außerhalb der Kommunikation voraus, auch wenn wir dazu wie Luhmann die Augenwinkel bemühen müssen. Wir könnten gar nicht an die kommunikativen Operationen anderer oder von uns selbst anschließen, wenn wir nicht voraussetzen würden, dass bestimmte Dinge gesagt wurden und wir uns auf das Gesagte beziehen könnten. Diese Einsicht ist schmerzhaft insbesondere für einen spezifischen sophistischen Drang nach Willkürlichkeit und Beliebigkeit. Denn es gibt offensichtlich keine wissenschaftliche Alternative zum aufwändigen, mühsamen Abgleich unserer Gedankenkonstruktionen mit der sinnlich wahrnehmbaren Realität. Wahrnehmung gibt unseren Gedankenkonstruktionen Grenzen und prüft sie auf ihren Realitätsgehalt. Durch ihren Einbezug wird Denken realistisch, allerdings nicht so, dass die Wahrnehmung uns sagt, wie es wirklich ist, sondern die Wahrnehmung ist selbst unauflöslich verwoben mit konstruktivistischen Anteilen. Wahrnehmung hat objektiven Gehalt in konstruktivistischem Gewand, und dieses Gewand lässt sich nie ganz abstreifen. Die Wahrheit der Wahrnehmung bleibt insofern notwendigerweise strittig.

Ein empirisches Urteil beansprucht Realität. Diese Behauptung mag manches Mal zu Unrecht erfolgen, weil beispielsweise die konstruktivistischen Anteile übersehen werden, doch solche Täuschungen führen uns in der Regel nicht dazu, die Realität aufzugeben, sondern genauer oder neu hinzuschauen. Der radikale Konstruktivismus jedoch erklärt die Realitätsbehauptung des Wahrnehmungsurteils für irrelevant. Doch damit verlässt er den Weg der Wissenschaft. Denn Wissenschaft zeichnet sich dadurch aus, dass sie die Realitätsbehauptung von Wahrnehmungsurteilen ernst nimmt und in ein spezifisches Prüfverfahren integriert.

3 Wahrnehmung und Wahrheit: Platons Mathematisierung des Wissens

Die Wahrheit der Wahrnehmung ist jedenfalls damit bereits in der Antike ein umkämpftes Terrain. Es taugte damit wenig als Alternative zur Orientierung an religiöser Wahrheit. Im Kontext der Etablierung von Wissenschaft wurde wesentlich folgenreicher der Weg der Begründung der Wahrheit im Denken beschritten. Vom mythos führt der Weg zum logos30 statt zur Ästhetik im Sinne der aisthesis (Wahrnehmung).31 Gedanken sind in diesem Kontext nicht nur subjektiv beliebige Ideen, sondern es gibt einen Gedankenbereich, der mit reiner Objektivität operiert und dessen Ergebnisse deshalb Unumstößlichkeit, Wahrheit, alternativlose Notwendigkeit zukommt. Sollte diese wahrheitsfähige Vernunft einen entsprechenden Umfang haben, könnte sie fähig werden, unser Leben und Handeln eindeutig und alternativlos zu orientieren und zu bestimmen. Die klassische Mathematik, insbesondere Arithmetik und Geometrie, zeigen diese Wahrheitsfähigkeit für jeden unmittelbar einsehbar auf. Die Arithmetik wie auch die Geometrie reduzieren die subjektive Konstruktionsfähigkeit auf null. Sie sind objektiv und apriori, also vor aller auf Wahrnehmung beruhenden Erfahrung. Je mehr wir die subjektive Wahrnehmung aus ihr entfernen, desto deutlicher zeigt sich ihre spezifische objektive Wahrheitsqualität.

Platon teilt die Kritik der Wahrnehmung von Gorgias, aber nur, um aufgrund dieser Kritik die konstruktivistisch relativistische Position von Gorgias umso schärfer zu bekämpfen. Wahrnehmung ist grundlegend relativ, sie entsteht zwischen Wahrnehmung und Wahrgenommenem und hat insofern unleugbar subjektive Anteile.32 Gleichzeitig richtet sich die Wahrnehmung nicht wie das Denken auf das Eine, Unumstößliche und jeglicher Veränderung Entzogene, sondern auf die Mannigfaltigkeit im unendlichen Werden von Wirken und Leiden, d.h. sie steht im Kontext des Kausalitätsgesetzes. Alles, was wahrgenommen wird, steht unter wirkenden Ursachen, die es erleidet, um selbst wieder auf andere wahrnehmbare Zustände zu wirken. Doch dieses Werden ist ontologisch vom Sein getrennt, das Sein mischt sich im Bereich des empirischen Werdens unauflöslich mit dem Nicht-Sein. So hat Wahrnehmung zwar irgendwie Anteil an der epistemologischen Erkenntnis des Seins (methexis),33 aber erscheint nur in der defizitären Form des Scheins bzw. der Meinung (doxa):

„Wenn [die Seele] festgerichtet ist auf das, worauf das Licht der Wahrheit und des Seienden fällt, dann erfasst und erkennt sie es und scheint im Besitz der Vernunft zu sein. Wenn sie aber auf das mit Finsternis Gemischte, das Entstehende und Vergehende schaut, dann fällt sie dem bloßen Meinen anheim, wird stumpfsinnig, wirft die Meinung herüber und hinüber und macht nunmehr den Eindruck, als sei sie aller Vernunft bar.“34

Schließlich ist Wahrnehmung insofern Vermischtes, als das Sichtbare immer auch sein Gegenteil mit präsentiert. Wahrheit jedoch ist absolut, und erst die Entmischung des Vermischten durch den Verstand führt zur Wahrheit. Was ist das Bleibende im sich Verändernden, was die Wahrheit in dem in der Wahrnehmung Scheinenden? Das ist die zentrale Frage der Vernunft an die Wahrnehmung. Wahrnehmung zeigt somit zwar das vernünftige Sein an, doch dieses Sein selbst wird nur durch reine, wahrnehmungsfreie Vernunft erkannt. Letztlich impliziert dies eine radikale Abwertung der Wahrnehmung: „Die durch den Gesichtssinn uns erscheinende Welt setze der Wohnung im Gefängnis gleich […] Den Aufstieg nach oben aber und die Betrachtung der oberen Welt mußt du der Erhebung der Seele in das Reich des nur geistig Erkennbaren vergleichen.“35

Wahrnehmung verhindert Wahrheit. Erst die Abwendung von der Wahrnehmung führt auf den Weg zur Wahrheit. Diese Position kennzeichnet auch die konkrete wissenschaftliche Tätigkeit. Das wird insbesondere anschaulich in der Rolle, die Platon in seinem Wissenschaftssystem der Astronomie im Hinblick auf das Sehen analog der Harmonielehre im Hinblick auf das Hören36 zuweist:

„So wird man zwar die Gestirne, diese Zierden des Himmels, für das schönste und Regelrechteste halten unter allem Sichtbaren, aber da sie nun einmal im Sichtbaren gebildet sind, so wird man zugeben, daß sie weit hinter dem Wahrhaften zurückbleiben […] Dieses himmlische Sternengemälde also darf man nur als Fundstätte für Beispiele benutzen, um dadurch Einsicht zu gewinnen in jenen höheren Bereich […] Unsere Beschäftigung mit der Astronomie hat also, wie es auch bei der Geometrie der Fall war, den Nutzen, daß sie uns Übungsaufgaben liefert; mit dem Sternenhimmel aber wollen wir uns nicht weiter abgeben.“37

Das Verhältnis von Denken und Wahrnehmung, von logos und empeiria ist damit geklärt. Das Denken wirkt in der Wahrnehmung und gibt damit der Wahrnehmung Anteil an der Wahrheit.38 Das Denken löst jedoch die von der Wahrnehmung aufgestellten Probleme selbständig und von der auf Wahrnehmung beruhenden Erfahrung unabhängig – apriori, ein Gedanke, der dem neuzeitlichen Verständnis von Naturwissenschaft äußerst fremd ist. Empirische Wissenschaften haben danach lediglich die Aufgabe, zum einen die Probleme, die durch Denken zu lösen sind, überhaupt erst aufzuzeigen, zum anderen die Tauglichkeit des Gedachten in der Lebenspraxis39 aufzuzeigen, obwohl letzteres bereits eine neuzeitliche Interpretation der platonischen Lehre darstellt. Wissenschaft erkennt damit ohne Wahrnehmung, doch Wahrnehmung führt nur über die Vernunft zum Wissen.

Um dieses epistemologische Modell zu verdeutlichen, greift Platon auf das Sehen zurück. Doch das Sehen wird nur noch zur Metapher des wissenschaftlichen Sehens, um insbesondere die Dreipoligkeit des epistemologischen Modells zu erläutern. Wissenschaftliches Wissen entsteht nicht einfach als dialektisches Geschehen zwischen Erkennendem und Gegenstand des Erkennens, vielmehr bilden beide nur ein Durchgangsstadium zum eigentlichen Ursprung beider Pole.40 Wie die Sonne dazu kommen muss, damit das Auge einen Gegenstand sieht und gleichzeitig das Werden bzw. Wachstum des Erkennenden und des Erkannten erst ermöglicht, so ist auch das Denken radikal auf eine letzte einheitliche Idee hin orientiert, die Ursprung sowohl des Erkennenden als auch des Erkannten darstellt, die Idee des Guten:

„Was dem Erkannten Wahrheit verleiht und dem Erkennenden die Kraft zum Erkennen gibt, ist […] die Idee des Guten. Betrachte sie als die Ursache der Erkenntnis und Wahrheit, soweit die letztere erkannt wird. Aber so schön auch beide sein mögen, Erkenntnis und Wahrheit, so wirst du doch das Richtige treffen mit der Annahme, daß sie selbst etwas noch Schöneres ist als diese. Wie es aber im Vorigen im Bezug auf Licht und Gesichtssinn richtig war, sie wohl für sonnenhaft zu erklären, falsch dagegen, sie für die Sonne selbst zu halten, so steht es auch hier mit Erkenntnis und Wahrheit: sie beide für guthaft zu halt ist recht, sie aber […] für das Gute selbst zu halten, ist nicht recht, vielmehr steht das Gute selbst seiner ganzen Beschaffenheit nach auf einer noch höheren Stufe. […] Du wirst […] sagen, die Sonne verleihe dem Sichtbaren nicht nur das Vermögen, gesehen zu werden, sondern auch Werden, Wachstum und Nahrung, ohne selbst ein Werden zu sein. […] Also mußt du auch sagen, daß dem geistig erkennbaren nicht nur das Erkanntwerden von dem Guten zuteil werde, sondern daß es sein Sein und sein Werden von ihm habe. Doch ist das Gute nicht das Sein, sondern ragt an (Würde und Kraft) noch über das Sein hinaus.“41

Was Platon in seinem Denken präsentiert, ist ein transwissenschaftlicher Mystizismus, wenn auch ein solcher, der nicht theologisch funktioniert, sondern den Weg über die an der Mathematik orientierten Vernunfttätigkeit nimmt.42 Die Transzendenzerfahrung des Umgreifenden übersteigt jede Wissenschaft. Die höchste Idee kann nicht wirklich gewusst werden, erst recht nicht ausgesagt, sie wird einzig und allein geschaut (idein). Aber sie prägt als höchste Idee auch jede Wissenschaft. Die höchste Idee verwandelt die Wissenschaft schließlich in ein kontemplatives Ereignis. Sie lässt sich andeuten, aber nicht mehr wissenschaftlich ausführen, denn jede Aussage über die höchste Idee begibt sich wieder in die Aufspaltung in Erkennender und Erkanntes und erkennt das eine im Unterschied zu anderem. Wissenschaft ist spirituell und logisch zugleich. Logos wird zum Symbol der letzten Wahrheit. Sie ist die Leiter, die wir wegwerfen, sobald wir im Wissen angekommen sind.

4 Der positivistische Glaube an die Wahrheit der Wahrnehmung

Popper verfasst die radikalste Kritik der platonischen Ideenlehre, die er als antidemokratischen, reaktionären Reflex43 von Platon auf die aktuellen politischen Entwicklungen seiner Zeit brandmarkt: „Platon [war] ein totalitärer Parteipolitiker […], dem bei seinen unmittelbaren praktischen Unternehmungen der Erfolg versagt blieb, dessen Propaganda dafür, die ihm verhaßte Zivilisation zum Stillstand zu bringen, ja sogar zu vernichten, auf die Dauer leider nur zu erfolgreich war.“44

Die Behauptung einer absolut wahren Ideenwelt ist nicht nur ein radikal aristokratisches Moment in Platons Denken und führt den Wissenschaftler als Ausnahmemenschen aus der Menge der Bürger hinaus, sondern führt auch letztlich im Namen der wissenschaftlichen Wahrheit zur Anwendung der Gewalt im Namen der Wahrheit mit dem Ziel einer totalitären,45 geschlossenen Gesellschaft46 unter Favorisierung der abstrakten Einheit des Ganzen bei Ausrottung der Vielheit in Form der Individualität.47 Wahrheit, Einheit, Wissenschaft auf der einen Seite und wahrnehmungsbasierte alltägliche Wirklichkeit auf der anderen Seite stehen sich damit feindselig gegenüber. Das führt bereits bei Platon zu Problemen. Sobald sich der Wissende in die Welt der Vielen begibt, fängt er an, die auf sinnlicher Wahrnehmung beruhenden Meinungen der Vielen abzuwerten,48 möglicherweise sie gewaltsam umzuwenden.49 Er bemerkt nicht, dass sich sein Wissen beim Abstieg in die Höhle der Menschen unweigerlich in eine Meinung unter vielen verwandelt. Der Wissenschaftler ist untauglich geworden für das Leben unter den Vielen, er wird ungeschickt und wirkt lächerlich.50 Der auf das ewige, mathematisch-vernünftige Wissen Ausgerichtete verliert seine Wahrnehmungsfähigkeit, maßt sich aber ein alternativloses Urteil über die Wirklichkeit an. Darauf reagieren die Vielen konsequenterweise mit der Ermordung des Vernunft-Wissenschaftlers.51 Platon selbst sieht sehr hellsichtig diese Zusammenhänge in seinem Höhlengleichnis. Doch dieser Blick bleibt eine einseitige Perspektive, die unfähig ist, den eigenen Standpunkt kritisch von außen zu betrachten. Nicht der eigene wissenschaftliche Standpunkt ist das Problem, sondern allein die an der Wissenschaft nicht interessierte Gesellschaft, die von ihm zum lächerlichen und stupiden Mob stilisiert wird.52

Tritt man aus dem Wissensmodell platonischer Prägung jedoch heraus, sieht man schnell, dass es nicht nur ein einziges mögliches, in sich schlüssiges Modell von Wahrheit gibt, sondern mehrere, die alle nebeneinander letzte Wahrheit für sich beanspruchen. Wenn mehrere Wissende logisch stringent ein je verschiedenes System des Wissens vertreten, das sich nicht in ein übergreifendes Wissen synthetisieren lässt, dann erlischt damit notwendigerweise der absolute Wahrheitsanspruch der jeweiligen Ideen. Die Wahrheit der Idee verwandelt sich dann unwillkürlich in die Scheinhaftigkeit eines Idols, wie es Francis Bacon in seiner Beschreibung der Idole des Theaters beschreibt.53 Das konsequente, an der mathematischen Wahrheit orientierte Denken führt nun nicht mehr zum objektiv eindeutigen Wissen, sondern verstellt dieses vielmehr. Wer Wissenschaft betreiben will, muss sich von diesen Idolen befreien, die natürlicherweise auftreten, wenn wir uns auf unseren Denkweg verlassen. Auch Bacon arbeitet mit zentralen Metaphern. Dem rein theoretisch vorgehenden Wissenschaftler, der sich wie Platon in sein Gedankensystem verspinnt, stellt er den radikalen Empiriker gegenüber, der gleich einer Ameise unsystematisch Beobachtungen anhäuft.54 Foucault beschreibt solche reinen Beschreibungen in der vormodernen Medizin, die unsystematisch Beobachtungsbeschreibungen anhäuft, um die Beobachtungen zu immer stärkerer Genauigkeit zu treiben.55 Bacons eigenes und für die Entwicklung der empirischen Wissenschaftstradition so folgenreiches Wissenschaftsmodell präsentiert er in der Metapher der Biene, die den Nektar der Blüten zu Honig verarbeitet, wie in der Wissenschaft durch (methodische) Selbsttätigkeit Wahrnehmung zu wissenschaftlich qualifizierter Beobachtung umgeformt wird.56

Zentrale Momente des Wissenschaftsmodells, die noch heute das naturwissenschaftliche Modell von Wissenschaft bestimmen, sind in diesem Kontext bereits von Bacon beschrieben:

1. Naturwissenschaftliches Wissen ist antimetaphysisch, im Falle von Bacon sogar induktiv;57 es setzt mit der Wahrnehmung an, um auf der Grundlage der Wahrnehmung in immer größeren Allgemeinheitsstufen Wissen zu produzieren, das sich immer neu an der Wahrnehmung zu bewähren hat. Je höher der Allgemeinheitsgrad einer Theorie, desto skeptischer ist das naturwissenschaftliche Denken. Wissenschaft pendelt somit ständig zwischen den beobachtbaren Tatsachen und den Theorien, ihr Zentrum liegt in den „mittleren Sätzen“ konkreter, den Daten abgelesener Allgemeinheiten. Sie bilden die Basis für beides, für die Wahrnehmung wie für die theoretischen Schlussfolgerungen. Dieser Positivismus geht sogar so weit, skeptisch gegenüber jeder Form theoretischer Erklärung in Form einer Kausalaussage zu sein und diese zu ersetzen durch schlichte konkrete allgemeine Regelmäßigkeiten mit ihrem jeweiligen Prognosevermögen.58 Wissenschaft bedarf dadurch nicht mehr einer persönlichen Vernunftgenialität des Wissenschaftlers, sondern eher eines kindlichen Gemüts der Unbedarftheit, das nicht den Verführungen der Vernunft erliegt.59

2. Die Wahrnehmung im wissenschaftlichen Kontext trennt sich von der Alltagswahrnehmung. Das naturwissenschaftliche Experiment in einem von der Welt abgetrennten Labor bildet den Prototyp der wissenschaftlichen Methode, das auf jede Einzelwissenschaft angewandt wird. Der Gegenstand der Forschung wird im Labor isoliert, um ihn so genau wie möglich durch Einwirkung zu befragen und die Folgen dieser Einwirkungen zu beobachten und zu dokumentieren. Es gilt, den Löwen beim Schwanz zu packen.60 Die Möglichkeit des experimentellen Überprüfens durch Experimente entscheidet über den Status einer Wissenschaft.61 Die wissenschaftliche Wahrnehmung geht auf in der auf wissenschaftliche Befragung folgenden dokumentierbaren Wahrnehmung der Antwort der Gegenstände.62 Da die Gegenstände diese Antwort nicht freiwillig geben, müssen sie überlistet werden.

3. Eng verbunden mit der Methodisierung der Wahrnehmung und der damit verbundenen Trennung von der alltäglichen Wahrnehmung ist die Ausschaltung der Subjektivität. Die Sinnesempfindung hat immer auch privatsubjektive Anteile. Ich selbst habe einen bestimmten Eindruck, über den andere nicht verfügen können, der aber auch nicht anderen ohne weiteres unterstellt werden kann. Im empiristischen Modell verwandelt sich die subjektive Wahrnehmung jedoch in objektive Beobachtung. Auch die wissenschaftliche Beobachtung wird zwar des subjektiven Wahrnehmungsgehaltes nicht ganz ledig, doch sie fügt den Eindrücken der Sinne weitere Kriterien hinzu. Beobachtung geschieht nicht zufällig, sie wird gemacht, die Gegenstände der Forschung werden aktiv methodisch handelnd befragt.63 Den Gegenständen werden Beobachtungen abgerungen. Damit wird Täuschungsanfälligkeit minimiert. Gleichzeitig ist es nicht die Einzelwahrnehmung, die die wissenschaftliche Beobachtung generiert, sondern deren prinzipielle Wiederholbarkeit. Jeder, der das Experiment überprüft, wird zum gleichen Beobachtungsergebnis kommen. Wahrnehmung wird so zumindest potentiell intersubjektiviert. Der Forscher wird prinzipiell austauschbar.64 Schließlich zeichnet sich die wissenschaftliche Beobachtung durch eine spezifische dokumentierbare Genauigkeit aus. Der Beobachter wird gezwungen, genau hinzuschauen und seine Beobachtung entsprechend zu dokumentieren. Nur solche Sinneseindrücke gelten hinfort als wissenschaftlich, die sich mathematisch objektivieren lassen und damit die subjektive Empfindung abgestreift haben. Zählbarkeit und Genauigkeit bilden eine Einheit. Die Objekte der Wahrnehmung verwandeln sich in mathematisierte Daten.

5 Die falsifikatorische Umkehrung von der Induktion zur Deduktion

Eine wesentliche Weiterentwicklung des empiristischen Modells geschah insbesondere durch die Umkehrung des logischen Wahrheitsweges von der Induktion zur Deduktion. Aufgabe der Wissenschaft bleibt die Verhältnisbestimmung zwischen allgemeiner Gesetzmäßigkeit nach dem Vorbild der Mathematik und den direkt oder indirekt über Apparaturen und Hilfsmittel wahrnehmbaren empirischen Daten. Doch statt induktiv zu versuchen, den Daten Gesetzmäßigkeiten abzulesen, wird im 20. Jahrhundert der Weg umgekehrt. Aus logisch zufälligen Daten lassen sich niemals positiv logische Gesetzmäßigkeiten ableiten. Der induktive Weg ist logisch ausgeschlossen.65 Das führt zu einer Umwertung der natürlichen Gesetzmäßigkeiten. Naturgesetzmäßigkeiten verlieren den Status der letztgültigen Wahrheit und gelten nunmehr lediglich als vorläufige Hypothesen bis zu ihrer Widerlegung. Die Revolutionen in der Physik im zwanzigsten Jahrhundert in Form der Relativitätstheorie oder der Quantenmechanik haben hier ihre wissenschaftstheoretischen Spuren hinterlassen. Diese Hypothesen können zwar durch Forschung gestützt, jedoch nie im klassischen Sinne bewiesen werden. Der weitere Gang der Wissenschaft kann die bisher gültigen Naturgesetze durch völlig neue Modelle ersetzen, wie die Relativitätstheorie von Einstein Newtons Gravitationsgesetz abgelöst hat. Naturgesetze sind nichts anderes als einfache Hypothesen und haben somit keinen fundamental anderen Status als persönliche Glaubens- und Gewissensentscheidungen:

„Die rationale und phantasievolle Analyse der Folgen einer ethischen Theorie zeigt eine gewisse Analogie zu der Methode der Wissenschaft. Denn auch in der Wissenschaft nehmen wir eine abstrakte Theorie nicht deshalb an, weil sie an und für sich überzeugend ist. Wir entschließen uns vielmehr, sie anzunehmen oder abzulehnen, nachdem wir jene konkreten und praktischen Folgen untersucht haben, die durch ein Experiment direkt geprüft werden können. Aber es besteht ein grundlegender Unterschied. Im Fall einer wissenschaftlichen Theorie hängt unsere Entscheidung von den Ergebnissen der Experimente ab. Wenn diese Experimente die Theorie bestätigen, so nehmen wir sie an, bis wir eine bessere gefunden haben. Wenn die Experimente der Theorie widersprechen, dann verwerfen wir sie. Aber im Fall einer ethischen Theorie können wir ihre Folgen nur mit unserem Gewissen konfrontieren.“66

Die Wissenschaft wird damit zu einer Institution der Überprüfung von Überzeugungen, die mit Hilfe der wissenschaftlichen Logik erfolgt. Eine theoretische Überzeugung in Form einer Hypothese kann jedoch nicht einfach in eine logisch stringente Wahrheitsaussage verwandelt werden. Wahrheit bezieht sich vielmehr nur auf das Nichteintreffen einer Hypothese. Wissenschaft reduziert sich selbst auf ein spezifisches Testverfahren für Hypothesen, wobei eine These so lange als wissenschaftlich haltbar vertreten werden kann, so lange sie zum einen überhaupt durch Beobachtung falsifizierbar ist, zum anderen trotz vielfältiger Versuche bisher noch nicht falsifiziert worden ist. Eine Hypothese kann den Falsifikationsversuchen standhalten. Sie hat sich dann bewährt, ohne jedoch jemals im logischen Sinne wahr zu werden. Unumstößlich und endgültig wahr ist nur die gelungene Falsifikation, die zu Fall gebrachte Hypothese. Das Aufzeigen des empiristischen Nichteintreffens eines einzelnen Falls falsifiziert die allgemeine Hypothese eindeutig und unumstößlich (modus tollens). Wissenschaft geht damit auf in Hypothesenkritik. Die operiert als kritischer Rationalismus, der lediglich negativ Wahrheit erzeugt.