1 Ängstlich und aggressiv als Kind – psychisch krank als Erwachsener

1.1 Die Kindheit prägt unser Verhalten

Die meisten Kinder und Jugendlichen mit Verhaltensproblemen suchen in ihrem Elternhaus oder in der Schule nach den Ursachen ihrer Unzufriedenheit mit sich selbst, um ihre über Jahre bestehende Hilflosigkeit zu überwinden. Aus Selbstschutz und zur eigenen psychischen Entlastung richten sie gegen andere in ihrem persönlichen Umfeld Schuldzuweisungen.

Bisher wurde, ausgehend von den Thesen der Psychoanalyse, eine von den Eltern ausgehende Beziehungsstörung als Hauptursache für psychische Auffälligkeiten im Kindesalter angesehen. Die Grundlagen dieser Theorie wurden vor gut 100 Jahren von Sigmund Freud formuliert, dessen Konzept auf dem sog. „Ödipus-Komplex“ basiert. Dieser sieht, kurz gesagt, in der Rivalität von Mutter und Tochter um die Zuneigung des Vaters und der Rivalität zwischen Vater und Sohn um die Gunst der Mutter die Ursache für die Entwicklung einer gestörten Eltern-Kind-Beziehung mit den verschiedensten Folgen.

Die neurobiologisch orientierte Forschung der letzten Jahrzehnte zeigt jedoch immer deutlicher, dass Beziehungsstörungen durch Verhaltensauffälligkeiten der Kinder und Jugendlichen selbst – in Wechselwirkung mit ihrem häufig ebenfalls verhaltensauffälligen Umfeld – entstehen. Dabei spielt eine „andere“ Art der Wahrnehmungsverarbeitung und deren Auswirkungen auf die Entwicklung von Selbstwertgefühl und Sozialverhalten eine wichtige Rolle.

Diese meist angeborene Regulationsstörung erschwert es den Kindern von klein auf, den Anforderungen, die an sie gestellt werden und die sie an sich selbst stellen, gerecht zu werden. Die Betroffenen sind ständigen Enttäuschungen, sowohl im Leistungs- als auch im sozialen Bereich, ausgesetzt. Das vorwiegend erfolglose Streben nach gewünschter Veränderung beeinträchtigt ihr Selbstwertgefühl und Verhalten. Das gezeigte Verhalten irritiert Eltern, Geschwister, Freunde, Klassenkameraden und Lehrer, die es sich nicht erklären können und als gegen sich gerichtet deuten. So entsteht ein Kreislauf, der vom betroffenen Kind keinesfalls so gewollt ist, und bei dem es selbst am meisten unter dem Gefühl der Isolation leidet.

Häufige Aussagen eines betroffenen Kindes lauten: „Alle sind gegen mich!“, „Niemand versteht mich!“ oder „Mich mag sowieso keiner.“

Die Betroffenen entwickeln je nach Veranlagung ängstliche oder aggressive Verhaltensweisen, die ohne Behandlung an Dauer und Intensität zunehmen, bis sie schließlich nicht mehr tolerierbar sind.

1.2 Reaktionen der Umgebung

Durch erzieherische Maßnahmen wie Nichtbeachtung unerwünschter Verhaltensweisen, ständiges Kritisieren, dauerndes Zurechtweisen oder gute Ratschläge („Strenge dich mehr an!“, „Es geht schon, wenn du dir mehr Mühe gibst!“, „Du kannst es, wenn du willst!“ usw.) fühlen sich viele Kinder noch ungerechter behandelt und überhaupt nicht mehr verstanden. Denn ihr Problem ist es gerade, dass ihnen die Änderung des Verhaltens trotz großer Bemühungen ohne Hilfe von außen nicht gelingt.

Manche Kinder reagieren aggressiv, andere mit verschiedenen Ängsten, je nach genetischer Veranlagung und Umwelteinfluss.

Die Ängstlichen geben sich selbst für alles die Schuld, ziehen sich zurück und entwickeln Autoaggressionen. Sie leiden am meisten, was häufig von der Umwelt gar nicht bemerkt wird. Der oberflächliche Betrachter bemerkt wohl ihr introvertiertes Verhalten, ansonsten hinterlassen sie einen angepassten, liebenswerten und unauffälligen Eindruck, solange ihre Fähigkeit zur Kompensation ausreicht. Ist diese erschöpft, führen ihre aufgestauten Emotionen zu unerwartet heftigen Reaktionen, die den Beginn einer schweren psychischen Störung einleiten können.

Die Aggressiven leiden psychisch weniger und geben für ihr Verhalten den anderen die Schuld, was durch den oberflächlichen Wahrnehmungsstil begünstigt wird, ebenso wie durch die Fähigkeit, Unangenehmes auszublenden. So können sie über lange Zeit die Reaktionen der Umwelt auf ihr Verhalten ignorieren oder verdrängen.

1.3 Dauerstress – Ursachen und Folgen

Aggressivität und Ängste als Folgen einer angeborenen veränderten Verarbeitung von Wahrnehmungen können Defizite im Leistungs- und Verhaltensbereich verursachen und so über einen langen Leidensweg zum Kindheitstrauma werden. Je schwerer die Störung der Wahrnehmungsverarbeitung ist, umso stärker wird die Entwicklung der Persönlichkeit beeinträchtigt, deren erste Anzeichen immer Verhaltensauffälligkeiten sind. Sie signalisieren den Beginn einer psychischen Störung, deren Ursachen beim Kind selbst oder in seinem sozialen Umfeld liegen. Beide beeinflussen sich gegenseitig und lösen im Körper Stressreaktionen aus. Jede schwere und anhaltende psychische Belastung erzeugt Dauerstress, der wiederum Körper und Psyche noch mehr belastet.

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Abb. 1: Von den Eltern mitgebrachte Zeichnungen von Kindern und Jugendlichen, die auf ein Aggressionspotential hinweisen.

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Ständige Enttäuschungen beeinträchtigen das Selbstwertgefühl, verunsichern, verursachen Ängste oder Aggressionen – deren Folge eine psychisch instabile Persönlichkeit mit Dauerstress ist. Ein ständig erhöhter Spiegel an Stresshormonen im Blut verringert die Bildung von Serotonin, dem sog. „Wohlfühl- oder Glückshormon“, dessen Mangel wiederum zu Ängsten, Zwängen und Depressionen führt.

1.4 Was tun bei mangelhafter Fähigkeit zur Verhaltenssteuerung?

„Auffälliges Verhalten“ kann aber auch bedeuten, dass Kinder und Jugendliche eigentlich anders sein wollen, es aber aus vielerlei Gründen nicht können. Diesem Konflikt sind sie hilflos ausgesetzt und erleben ihn als sehr belastend. Meist können sie ihre Probleme nicht verbalisieren, weil sie sie selbst nicht verstehen. Deshalb sollte auffälliges Verhalten möglichst von Beginn an hinterfragt werden. Dazu muss nicht immer gleich ein Therapeut hinzugezogen werden, sondern die Eltern sollten mit den Lehrern und natürlich mit dem Kind nach den möglichen Ursachen suchen. Eltern und Lehrer sollten ihre Kompetenzen und Möglichkeiten, die Kinder im Leistungs- und Sozialverhalten zu beurteilen oder durch entsprechende Maßnahmen deren Verhalten zu beeinflussen, nutzen. Gelingt das nicht, sollte ein Neuropädiater oder ein Neuropsychiater nach den möglichen Ursachen für das veränderte Verhalten befragt werden. Hier muss immer das Ziel sein, die Ursachen zu beseitigen. Da es aber noch viel zu wenige entwicklungsneurologisch ausgebildete Ärzte gibt, brauchen viele Betroffene eine Anleitung zur Selbsthilfe. Bei der Vielzahl der angebotenen Therapien ist es erforderlich, dass sich die Betroffenen zuerst ausführlich über mögliche Ursachen und therapeutische Maßnahmen informieren. Die Selbsthilfegruppen leisten hierbei eine hervorragende Arbeit und sollten neben dem Kinderarzt die ersten Ansprechpartner sein.

1.5 Wann sollte ein Verhaltenstherapeut befragt werden?

Jede Therapie sollte den Betroffenen als Ganzes in seiner biopsychosozialen Einheit sehen und das soziale Umfeld mit einschließen. Bei allen psychischen und psychosomatischen Auffälligkeiten sind die Beeinträchtigung des Selbstwertgefühls und der Leidensdruck der Betroffenen die wichtigsten Parameter für die Schwere der Symptomatik und entscheiden über die Dringlichkeit einer professionellen Hilfe.

Ein gutes Selbstwertgefühl in der Kindheit zu erlangen, ist die wichtigste Voraussetzung für psychische Stabilität im Erwachsenenalter. Das Selbstwertgefühl entwickelt sich in der frühen Kindheit, etwa zwischen dem achten und zwölften Lebensjahr, und ist später nur noch sehr schwer zu verändern, da es viele Denk- und Verhaltensweisen prägt, die sich dann einschleifen. Die Fähigkeit zur Gefühlssteuerung und somit auch zur Steuerung von aggressivem Verhalten ist in ihrer Anlage angeboren. Störungen in diesen Bereichen können schon in den ersten Lebensjahren beobachtet und therapeutisch beeinflusst werden.

Es ist immer die Summe verschiedener Störungen, die die Entwicklung des Kindes traumatisch belasten und professionelle Hilfe erfordern. Eine frühzeitige Behandlung kann helfen, Häufigkeit und Schwere von psychischen und psychosomatischen Erkrankungen zu reduzieren. Hier reicht eine Verhaltenstherapie allein oft nicht aus; eine entwicklungsneurologische und psychiatrische Diagnostik sollte deren Ursachen klären. Dazu dient die Beantwortung folgender Fragen:

Es ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe und eine Notwendigkeit, die Frühdiagnostik möglichst vielen Kindern zugänglich zu machen. Denn psychische Erkrankungen nehmen immer mehr zu und werden schon als „Epidemie des 21. Jahrhunderts“ bezeichnet. Leider werden ihre ersten Symptome, die schon im Kindesalter zu finden sind, als solche bis heute nur unzureichend bewertet oder fehlinterpretiert.

1.6 Jahrzehnt der Verhaltensstörungen

In den USA wurde der Zeitraum von 2000 bis 2010 zum Jahrzehnt der Verhaltensstörungen erklärt, weil sie ständig an Bedeutung zunehmen und ihre gesellschaftlichen Folgen noch immer unterschätzt werden. Folgen von Verhaltensstörungen können sein:

Um Verhaltensstörungen mit diesen möglichen Folgen zu verhindern, muss das Verhalten der Kinder hinterfragt werden und es muss ihnen geholfen werden, ihre Gefühle, Wahrnehmungen und Reaktionen besser steuern zu können. Von einer ungestörten psychischen Entwicklung hängt nicht nur der Erfolg der Kinder in Schule und Beruf ab, sondern sie ist auch die wichtigste Voraussetzung, um später den Anforderungen des Lebens gewachsen zu sein.

2 Selbstwertgefühl und Verhalten

„Beobachte dein Kind, wie es sich verhält,
und es zeigt dir, wie es sich entwickeln wird.“

2.1 Das Selbstwertgefühl

Mit einem guten Selbstwertgefühl besitzt ein Mensch psychische Stabilität und die Gewissheit, den Anforderungen des Lebens gewachsen zu sein. Ein gutes Selbstwertgefühl ist das Wichtigste, was wir unseren Kindern auf ihren Lebensweg mitgeben können und in das viel investiert werden sollte. Als Voraussetzung für eine psychische Stabilität bestimmt es heute mehr denn je den Erfolg in der Schule, im Beruf, in der Bewältigung des ganzen Lebens und ist eine Grundbedingung für psychische Gesundheit. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) schreibt dieser psychischen Komponente einen großen Wert in der Definition des Begriffes Gesundheit zu:

„Gesundsein bedeutet nicht nur Freisein von Krankheiten, sondern den Zustand völligen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens.“

Das Selbstwertgefühl wird definiert als „ein wohl gefügtes Selbst, in welchem die verschiedenen Selbstaspekte dynamisch zu einer harmonischen Ganzheit organisiert sind“ (Kernberg, 1975). Solche Selbstaspekte einer jeden Person sind: Willenskraft, Antrieb, Interesse, Motivation, Anstrengungsbereitschaft, Entscheidungsfähigkeit, Gefühlstiefe sowie die Möglichkeit, die vorhandenen Fähigkeiten optimal anwenden und genießen zu können.

Das Bewusstsein vom eigenen Selbst als eine sich wiederholende positive Erfahrung durch Anerkennung vom sozialen Umfeld und der Zufriedenheit mit eigenen Erfolgen hat einen ungemein großen Stellenwert in der Persönlichkeitsentwicklung.

Ein schlechtes Selbstwertgefühl mit wenig Selbstvertrauen, anhaltender Verunsicherung, sich wiederholenden Enttäuschungen und psychischen Belastungen kann psychische Störungen verursachen. Diese rangieren nach den Herz-Kreislauf-Erkrankungen auf Platz 2 aller Krankheiten und beginnen fast immer mit Verhaltensauffälligkeiten in der Kindheit. Doch dieser Zusammenhang wird noch zu wenig beachtet, beginnende psychische Störungen werden zu spät diagnostiziert und einzelne Symptome mit den verschiedensten therapeutischen Strategien behandelt, ohne nach deren Ursache zu fahnden. Dadurch vergeht kostbare Zeit, weil die Symptome wechseln können und die eigentliche Ursache unerkannt bestehen bleibt.

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Abb. 2: Kinder zeichnen sich und ihre Familie in Tiergestalt. Den Zeichnungen kann man erste Informationen über das Selbstwertgefühl entnehmen und darüber, wie das Kind sich und die anderen in seiner Familie wahrnimmt.

Die noch immer vorherrschende Meinung, dass die Hauptursache für Verhaltensauffälligkeiten eine Beziehungsstörung zu einem oder beiden Elternteilen ist, wird zunehmend durch die Ergebnisse der aktuellen neurobiologischen Forschung widerlegt. Diese Beziehungsstörungen sind meist nicht Ursache, sondern die Folge des auffälligen Verhaltens des Kindes. Je stärker dieses von der Norm abweicht, umso wahrscheinlicher sind solche Beziehungsstörungen.

2.2 Kindliches Verhalten

Im Folgenden sollen einige Beispiele aus der Praxis demonstrieren, wie das Kind mit seinem Verhalten Aussagen über seine innere Befindlichkeit und damit über sein Selbstwertgefühl macht.

Andreas, 6 Jahre alt

Andreas ist ein 6-jähriger Junge, der bald eingeschult wird, aber nicht in die Schule gehen möchte. Sich ängstlich an die Mutter klammernd, wird er in die ärztliche Sprechstunde gebracht. Er versteckt sich hinter seiner Mutter, die berichtet, dass seine Kindergärtnerin ihn nicht für schulfähig hält und er selbst immer wieder erklärt, nicht in die Schule gehen zu wollen. In der Sprechstunde lehnt er über mehrere Sitzungen hinweg jede Mitarbeit ab. Auch im Kindergarten, zu Hause und in der Ergotherapie ist Andreas z.B. nicht zum Malen zu bewegen und ist motorisch eher ungeschickt. Mit Fremden spricht er ungern, aber im Kindergarten ist er lebhaft, oft laut und manchmal auch aggressiv. Dort nimmt er eher eine dominante Rolle ein. Mit Kritik oder Zurechtweisungen kann er schlecht umgehen. Er ist sehr sensibel, motzt und läuft häufig weg mit der Bemerkung: „Immer ich!“ Zu Hause ist er fast unauffällig und nur fremden Kindern gegenüber sehr zurückhaltend.

Andreas ist sehr wissbegierig, interessiert sich für Tiere und hört gern Geschichten, aber am liebsten spielt er mit seinem Gameboy. Dagegen hat er keine Lust zu zeichnen oder zu malen.

Wir beziehen seine ältere Schwester, die sehr gut mit ihm umgehen kann, in die Behandlung mit ein und bitten sie, mit ihrem Bruder zu malen, was ihr auch nach einiger Zeit gelingt. Aus den mitgebrachten Zeichnungen lässt sich eine deutliche Störung in der Fein- und Visuomotorik erkennen. Die weitere Diagnostik ergibt ein Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom mit deutlicher Beeinträchtigung in der Wahrnehmungsverarbeitung bei sehr hoher Intelligenz, aber schlechtem Selbstwertgefühl.

Andreas erkennt seine Schwächen, die er auch durch Üben nicht beseitigen kann, und reagiert darauf mit Verweigerung. Die begründet er damit, „dass er in der Schule bestimmt sowieso sitzen bleibt, weil er nicht schreiben kann“. Er hat Schwierigkeiten mit dem Schreiben, hält den Stift mit den ersten vier Fingern krampfhaft fest, drückt viel zu sehr auf und führt ihn mit dem Unterarm. Dabei kann er keine Linien einhalten und nach kurzer Zeit schmerzt seine Hand.

Erst eine Behandlung der Ursache bessert seine Probleme – inzwischen besucht er mit gutem Selbstbewusstsein die 5. Klasse des Gymnasiums und gehört zu den besten Schülern.

Marcus, 17 Jahre alt

Marcus ist ein 17-jähriger Jugendlicher, der schwarz gekleidet, mit vielen schwarzen Tattoos und einem lila Haarteil in die Praxis kommt. Seine Schulleistungen sind schlecht und zu Hause macht er, was er will. In seiner reichlichen Freizeit hat er sich einer Gruppe „Gleichgesinnter“ angeschlossen. Er berichtet über seine Gruppe, dass es „ganz normale Jugendliche und junge Erwachsene“ seien, die, wie er, mit sich und der Gesellschaft unzufrieden seien. In der Gruppe würden sie vor allem reden, rauchen und in Maßen Alkohol trinken, aber aggressive oder kriminelle Handlungen ablehnen.

Aus den weiteren Gesprächen ergibt sich, dass Marcus eine Schwäche in Mathematik hat, deshalb keine Zulassung zum Abitur erhielt und das Gymnasium verlassen musste. Danach sah er für sich keine schulische Perspektive mehr. Zu Hause hält man ihn für „faul“, weil er in der Grundschule zwar gut, aber nur sehr langsam rechnen konnte. Niemand versteht sein Versagen in Mathematik und er verliert immer mehr die Lust am Lernen. Anerkennung findet er schließlich in seiner Gruppe, die ihm Struktur und Halt gibt. Hier herrschen feste Regeln, die er bisher nicht kannte. Bei seinen Kumpels gilt er als zuverlässig und klug und er genießt aufgrund seines Wissens und seiner kreativen Ideen das Vertrauen der anderen, die sich oft bei ihm Rat und Hilfe holen. Er bezeichnet sich selbst als den „Sozialhelfer“ seiner Gruppe.

Die Untersuchung von Marcus ergibt, dass seine Schwäche in Mathematik nur der „Gipfel“ seiner Probleme ist. Marcus hat wenig Selbstvertrauen, reagiert überempfindlich, hat einen hohen Selbstanspruch und eine ausgeprägte Frustrationsintoleranz. Trotz seiner sehr guten Intelligenz hat er keine altersgerechte Einstellung zu Pflichten entwickelt und denkt ausgeprägt nach einem Schwarz-Weiß-Schema („einmal schlechte Noten – immer schlechte Noten“).

Seine Schwäche in Mathematik als Teilleistungsstörung weist auf eine beeinträchtigende Störung in der Wahrnehmungsverarbeitung hin. Durch die Behandlung seiner Wahrnehmungsstörung konnte er nach einem Praktikum eine Fachhochschule besuchen und will später in der Mediengestaltung arbeiten.

Manuela, 13 Jahre alt

Manuela geht in die 7. Klasse einer Realschule, deren Besuch bei ihr Ängste auslöst. Häufig klagt sie morgens über Bauchschmerzen und Übelkeit, die mittags verschwunden sind. Ihre Schulleistungen sind gut, irgendwelche Probleme sind den Eltern nicht bekannt, jedenfalls spricht sie nicht darüber. Zu ihren Freundinnen bestehen zunehmend weniger Kontakte. Die besorgte Mutter erkundigt sich bei der engsten Freundin, die meint, dass Manuela „so anders geworden sei“, man könne „gar nicht mehr mit ihr sprechen, ohne dass sie gleich alles auf sich bezieht“. Den Lehrern fällt nichts auf – Manuela war schon immer eine sehr ruhige Schülerin. Die Schulpausen verbringt sie mit ihrer Freundin und am Unterricht beteiligt sie sich wenig.

Wegen des Verdachts auf psychosomatische Beschwerden wird Manuela in der ärztlichen Praxis vorgestellt. Sie macht einen selbstbewussten Eindruck, meint, ihr „fehle nichts“ und die Beschwerden am Morgen würden „sicher wieder vorübergehen“. „Morgen“ könne sie „mit Sicherheit wieder in die Schule gehen“. Dies verspricht sie immer wieder, aber es gelingt ihr nur selten.

Nach einigen Diagnostikstunden stellt sich heraus, dass Manuela in der Schule gemobbt wird, weil sie anders reagiert als erwartet, die anderen ihre Unsicherheit spüren und sie sich nicht adäquat verteidigen kann Sie hatte schon immer Probleme, sich zu behaupten, ärgert sich schnell, und reagiert kleinkindhaft. Durch ihr unsicheres und steuerungsschwaches Verhalten verliert sie leicht die Kontrolle über ihr Handeln. Das veranlasst die anderen erst recht, sie zu provozieren, worauf sie wiederum überempfindlich reagiert.

Als Kleinkind wurde Manuela von ihrer Mutter sehr verwöhnt. Seit dem zweiten Schuljahr, in welchem Manuela schon einmal den Schulbesuch verweigerte und als deren Ursache eine „Schulphobie“ diagnostiziert und behandelt wurde, bemüht sich ihre Mutter, die Überbehütung durch Anleitung zur Selbständigkeit zu ersetzen.

Die Ursache der jetzigen Problematik mit Schulangst, schlechtem Selbstwertgefühl, unzureichender emotionaler Steuerung und mangelnder sozialer Kompetenz könnte möglicherweise ein Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom ohne Hyperaktivität sein.

Jonas, 19 Jahre alt

Jonas, ein begabter 19-jähriger Student, beginnt nach einem sehr guten Abitur ein anspruchsvolles Studium, versagt aber am Ende des ersten Studienjahres in allen Prüfungen, was für ihn und seine Familie eine Katastrophe ist. Er droht, das Studium abzubrechen, da er glaubt, auch die Wiederholungsprüfungen nicht zu schaffen.

In der Schule brauchte Jonas nie viel zusätzlich zu lernen, da er viel aus dem Unterricht im Kopf behalten konnte. Die Schule mit ihrer Struktur formulierte täglich klare Anforderungen, die er ohne Schwierigkeiten erfüllte, was sich auf der Universität schlagsartig änderte. Er freundete sich mit einem Mädchen an, dem er seine ganze Zeit widmete, Partys feiern wurde zu seiner Hauptbeschäftigung. Bei seinen Freunden war er aufgrund seiner kreativen und klugen Art beliebt, aber an Lernen dachte er nicht.

Seine Eltern wollten, dass er sein Studium erfolgreich abschließt und verstanden nicht, wie aus dem einst so ehrgeizigen und fleißigen Jugendlichen ein „Herumtreiber“ werden konnte, wie sie ihn immer häufiger nannten. Um der Kontrolle der Eltern zu entgehen, möchte Jonas zu seiner Freundin ziehen, doch das erlauben wiederum die Eltern nicht und es entwickelt sich ein kleiner Familienkrieg.

In der Sprechstunde werden die Ursachen für Jonas’ „Fehlverhalten“ analysiert: Jonas fehlte im Studium die feste Struktur der Schule. Nach dem Abitur fühlte er sich kräftemäßig „ausgelaugt“ und fiel in eine Antriebslosigkeit. Er genoss jetzt Erfolge und Anerkennung im sozialen Bereich, was weniger Kraft, aber viel mehr Zeit beanspruchte und Spaß machte. Aus Angst, die Anerkennung der Gruppe und die Freundin zu verlieren, wurde sein Studium für ihn zur Nebensache.

Trotz seiner sehr guten Begabung bestand ein Reiferückstand in der Persönlichkeitsentwicklung und es fehlte ihm zeitüberschaubares Denken, eine feste Lebensperspektive und eine altersgerechte Einstellung zu Pflichten.

Bei einem nun ansetzenden intensiven Lernplan stellte sich heraus, dass er Schwierigkeiten bei der Konzentration und der Merkfähigkeit hatte. Wenn er mehrere Seiten las, behielt er den Inhalt nicht und glitt in Gedanken immer wieder ab. Da er nicht rauchte und auch kein „Gras“ inhalierte, wurde nach weiteren Ursachen gesucht, z.B. ein ADS, das bisher durch seine sehr hohe Intelligenz kompensiert wurde.

Zur Ursachenfindung sollten bei anhaltender oder zunehmender Problematik, die sich trotz intensiver Anstrengung der Betroffenen nicht bessert, folgende Bereiche in entwicklungsgeschichtlich vorgegebener Reihenfolge untersucht werden: Veranlagung, Entwicklung, Erziehung, soziales Umfeld, Selbstwertgefühl, Verhalten, soziale Kompetenz, altersentsprechende Reife in der Persönlichkeitsentwicklung sowie psychische Befindlichkeit. Ist einer dieser Teilbereiche erheblich und dauerhaft beeinträchtigt, beeinflusst er alle übrigen Bereiche.

Das bedeutet aber auch, dass jede erwünschte Verhaltensänderung beim Kind eine Verhaltensänderung seines sozialen Umfeldes erfordert. Kein Kind oder kein Jugendlicher kann wie ein Werkstück zu einer Reparatur dem Therapeuten übergeben werden, weil es oder er nicht mehr funktioniert. Die Familie, das soziale Umfeld, die Geschwister und die Schule müssen nach Möglichkeit in die Therapie mit einbezogen werden.

2.3 Die Verhaltensbildung

In den ersten Lebensjahren überwiegen die genetischen Faktoren für die Verhaltensbildung, die die Reaktionen des Kindes beeinflussen. Das Verhalten wird über eine Vielzahl von Genen vererbt und modelliert sich unter aktiver Einflussnahme des sozialen Umfeldes. Das Verhalten kann sich lebenslang nur in einem vorgegebenen Rahmen verändern, der schon in den ersten Lebensjahren festgelegt wird.

Aus der Wechselwirkung zwischen kindlichem Verhalten und der Reaktion des sozialen Umfeldes, vorrangig natürlich der Eltern, können Verhaltensauffälligkeiten entstehen, die die Eltern verunsichern. Die Eltern und das soziale Umfeld beeinflussen durch die Änderung ihres Verhaltens auch das Verhalten des Kindes. Dieses wiederum beeinflusst das Verhalten der Eltern – eine Wechselwirkung, die sowohl vom Kind als auch von den Eltern ausgehen kann. Die Folge ist dann eine Beeinträchtigung der Beziehung zwischen dem Kind und seinen Eltern, was zu einer Beziehungsstörung führen kann, deren Ursache bisher meist nur bei den Eltern gesucht wurde.

Eine angeborene Regulationsstörung in der Wahrnehmungsverarbeitung verändert die Reaktion des Kindes auf seine Umwelt. Darauf reagieren wiederum seine Eltern mit einer Änderung ihres Verhaltens. Aus dieser Wechselwirkung kann sich unter ungünstigen Bedingungen eine gestörte Eltern-Kind-Beziehung entwickeln, deren Ursache primär das Verhalten des Kindes ist.

Mit zunehmendem Alter wird das Verhalten immer mehr vom sozialen Umfeld geformt, wobei sich die wesentlichsten Verhaltensmerkmale etwa bis zum sechsten Lebensjahr ausbilden. Das bedeutet aber auch, dass es umso schwieriger ist, eine Änderung des Verhaltens zu erreichen, je älter das Kind oder der Jugendliche ist. Deshalb ist Frühförderung im kognitiven und sozialen Bereich für eine altersentsprechende Persönlichkeitsreife mit gutem Selbstwertgefühl und sozialer Kompetenz von großer Wichtigkeit.

Was beeinflusst die Entwicklung des Verhaltens?

Verhalten wird vor allem über die Fähigkeit zur Selbststeuerung charakterisiert. Auffälliges Verhalten geht einher mit Impulsivität, Rückzug und Regression, Ziellosigkeit, emotionaler Steuerungsschwäche mit Ängsten und Aggressionen, die an Intensität und Dauer die Toleranzschwelle der Umgebung überschreiten, wobei die Beurteilung dieser Schwelle immer subjektiv, milieubedingt und länderabhängig sein wird.

Verhaltensstörungen bei Kindern weisen auf den Beginn einer beeinträchtigten Entwicklung hin, an deren Ende Selbstunsicherheit mit psychischer Labilität und mangelhaftes Selbstbewusstsein mit unzureichender sozialer Kompetenz stehen können.

2.4 Selbstwertgefühl und soziale Kompetenz

Was bedeutet es, über soziale Kompetenz zu verfügen?

Was sind die Zeichen einer unzureichenden sozialen Kompetenz?

Die Entwicklung einer guten sozialen Kompetenz wird im Wesentlichen vom Selbstwertgefühl bestimmt. Beide beeinflussen sich gegenseitig.

Ein gutes Selbstwertgefühl entwickelt sich:

Kinder und Jugendliche mit einem guten Selbstwertgefühl sind sozial eingebunden, haben Freunde, sind glücklich, mit sich zufrieden, offen und kritisch anderen gegenüber, robust und wissen sich vor geistigen, seelischen und körperlichen Angriffen zu schützen und können Grenzüberschreitungen abwehren.

Ein gutes Selbstwertgefühl entwickelt sich vor allem über die Reaktionen von Personen außerhalb der Familie. In der Familie erfährt das Kind normalerweise von Anfang an Liebe und Anerkennung. Kinder, die sich in der Familie und im sozialen Umfeld abgewertet und ungerecht behandelt fühlen, suchen außerhalb der Familie vermehrt nach Anerkennung und Zuwendung.

Kinder und Jugendliche mit einem schlechten Selbstwertgefühl gelten als schwach, denn sie sind ängstlich und unsicher im Handeln, haben keine eigene Meinung, sind schnell beeinflussbar, sind schnell hilflos, haben wenig Selbstvertrauen, sind leicht reizbar und zu empfindlich, wenig selbständig, abhängig von anderen und werden häufig Opfer von Mobbing.

Was führt zu einem positiven Selbstwertgefühl?

Was wirkt negativ?

In der Schulkarriere von Kindern mit auffälligen Verhaltensstörungen werden immer wieder folgende Entwicklungsstufen beschrieben:

  1. Im Kleinkindalter: völlig unauffällig, „ein Sonnenschein“, pflegeleicht, aber leichte Auffälligkeiten wie verzögerte Sprachentwicklung, ist nicht gekrabbelt, hat häufig „gemotzt“.
  2. Im Kindergarten: wenig Förderung der motorischen und sozialen Fähigkeiten, hat nicht gern gemalt oder gebastelt, mangelnde Gruppenfähigkeit, störendes Verhalten mit Mangel an Aufmerksamkeit und Konzentration besonders im Stuhlkreis.
  3. In der Schule: Probleme beim Erlernen des Rechnens, Schreibens oder Lesens, oberflächliches oder zu langsames Arbeiten, fühlt sich schnell ungerecht behandelt, Chaos am Arbeitsplatz oder im Zimmer mit Unfähigkeit, Ordnung zu halten, ständiger Streit mit den Geschwistern, stundenlanges Diskutieren, häufiges Vergessen von Hausaufgaben, Regeln werden nicht eingehalten, schlechtes Schriftbild.
  4. In der Freizeit: großer Bewegungsdrang, wenig Freunde, Probleme mit dem Anfangen von Hausaufgaben, Üben und Lernen bringen nicht den erwünschten Erfolg, fehlende Anerkennung, sehr empfindlich gegenüber Kritik, leicht gekränkt, fühlt sich ständig unverstanden, abgelehnt und ausgegrenzt, innere Verunsicherung mit Versagensängsten und Selbstzweifeln, oppositionell bedingte Verweigerungshaltung mit Aggressionen oder Rückzug bei ängstlich-depressivem Verhalten und starken Stimmungsschwankungen.
  5. Im Jugendalter: Verweigerung von Hausaufgaben, Regelverstöße, Schulausschluss infolge aggressiven und impulsiven Verhaltens oder Schulverweigerung wegen psychosomatischer Beschwerden und massiver Ängste, frühes Rauchen, Bevorzugung aggressiver Computerspiele und gewalttätiger Filme. Spätes oder unpünktliches nach Hause Kommen. Uneinsichtigkeit, Erpressung und Bedrohung von Eltern und Geschwistern.

Selbstwertgefühl und soziale Kompetenz sind ein Maßstab sowohl für eine erfolgreiche Erziehung als auch für eine gute Therapie und für seelische Gesundheit.

Jede Therapie, die mit den Worten beschlossen wird: „Meine therapeutische Behandlung ist beendet, jetzt muss am Selbstwertgefühl des Kindes oder des Jugendlichen gearbeitet werden“, sollte hinterfragt werden. Denn eine Therapie hat nur einen Sinn, wenn sie hilft, das Selbstwertgefühl zu verbessern. Das erfordert eine Behandlung von Ursachen, denn eine Behandlung von Symptomen wirkt meist nur vorübergehend und kann zum Symptomwechsel, zu Begleit- oder Folgeerkrankungen oder zu einem Rückfall führen, der das Selbstwertgefühl erneut belastet.

3 Verhaltensauffälligkeiten

3.1 Die neurologischen Ursachen der Verhaltensbildung

Wenn man nach den Ursachen für auffälliges Verhalten fahndet, muss man

Eine angeborene Regulationsstörung in der Reizverarbeitung ist die häufigste Ursache für Verhaltensauffälligkeiten in den ersten Lebensjahren. Durch die Schwellensenkung reagiert der Organismus empfindlicher auf Stress und durch seine veränderte und zu starke Reaktion auf psychische und soziale Belastungen reichen die ausgebildeten Bewältigungsstrategien nicht mehr aus. Es kommt bei den Betroffenen zur dauerhaft erhöhten Verletzlichkeit bei emotionalen und sozialen Konflikten. Das psychische Gleichgewicht ist gestört, das Nervensystem ist stressanfälliger und die Reaktionen sind unangemessen stark und nicht steuerbar.

Aus einer anfänglichen Verhaltensauffälligkeit wird nach und nach eine Verhaltensstörung.

Personen mit gutem Selbstbewusstsein und guter sozialer Kompetenz haben selten in der Kindheit unter einer angeborenen Regulationsstörung gelitten. Sie profitieren im Alltag von ihren Fähigkeiten und verfügen über ausreichende Bewältigungsstrategien. Sie reagieren sozial angepasst auf psychische Belastungen und Konflikte, ohne seelischen Schaden zu nehmen. Für ihr angepasstes Verhalten ernten sie Respekt und Anerkennung, was sie bewusst genießen können.

Verhaltensauffälligkeiten können die Folgen unzureichend vorhandener Bewältigungsstrategien bei einer angeborenen veränderten Wahrnehmungsverarbeitung sein.

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Abb. 3: Zentren im Gehirn, die für die Verhaltensbildung wichtig sind

Ist die Zusammenarbeit der verschiedenen Zentren der Wahrnehmungsverarbeitung gestört, so sprechen wir von einer Hemmung der sensorischen Integration, was soviel bedeutet wie eine ungenaue und zu langsame Verarbeitung aller im Gehirn ankommenden Reize. Das heißt aber auch, dass ein Abruf von gespeicherten Wahrnehmungen, sei es vom Wissens- oder Gefühlsgedächtnis, nicht schnell genug erfolgt. Ein sofortiger Rückgriff auf bereits gemachte Erfahrungen gelingt nicht mit Sicherheit.

3.2 Wichtige Gehirnbereiche für die Verhaltensbildung