Ein sizilianischer Kriminalroman
Aus dem Italienischen von Arianna Giachi
Verlag Klaus Wagenbach Berlin
Die Originalausgabe erschien 1961 unter dem Titel Il giorno della civetta bei Giulio Einaudi editore in Turin. Die erste deutsche Ausgabe wurde 1964 im Walter-Verlag in Olten veröffentlicht.
E-Book-Ausgabe 2014
© Leonardo Sciascia Estate. All rights reserved handled by Agenzia Letteraria Internazionale, Milan, Italy.
Published in Italy by Adelphi Edizioni, Milano.
© 1961, 1990 Giulio Einaudi editore, Torino
© 1998 Paul Zsolnay Verlag, Wien, mit freundlicher Genehmigung
© 2009 für diese Ausgabe:
Verlag Klaus Wagenbach, Emser Straße 40/41, 10719 Berlin
Alle Rechte vorbehalten.
Jede Vervielfältigung und Verwertung der Texte, auch auszugsweise, ist ohne schriftliche Zustimmung des Verlags urheberrechtswidrig und strafbar. Dies gilt insbesondere für das Herstellen und Verbreiten von Kopien auf Papier, Datenträgern oder im Internet sowie Übersetzungen.
ISBN 978 3 8031 4175 0
Auch in gedruckter Form erhältlich: 978 3 8031 2619 1
Lesen Sie weiter…
Kapitel 1
Nachbemerkung
Anmerkungen
Leonardo Sciascia Jedem das Seine
Niemand hat etwas gesehen, am Ende wussten aber alle Bescheid: Mord und Korruption, ein meisterhaftes Gesellschaftsbild und ein spannender Kriminalroman aus Sizilien vom Großmeister der Mafia-Romane.
Aus dem Italienischen von Arianna Giachi
WAT 687. 144 Seiten. Auch als E-Book erhältlich
Andrea Camilleri Die Mühlen des Herrn
Im berüchtigten Sizilien Camilleris wird über Nacht eine ganze Mühle abgebaut, um die Staatskasse zu betrügen: Bovara kommt im Auftrag des Finanzministeriums zur Prüfung der Mühlensteuer. Er mietet sich bei einer reichen Witwe ein, muss aber bald erfahren, wie hart das Leben ist, wenn man unangenehmen Wahrheiten auf der Spur ist. Ein eifriger Inspekteur, eine schöne Witwe, ein sündiger Pfarrer und natürlich ein gerissener Mafioso: Jeder will etwas anderes, keiner entkommt den Mühlen des Herrn.
Aus dem Italienischen von Moshe Kahn
Quartbuch. Gebunden. 224 Seiten. Auch als E-Book erhältlich
Émilie de Turckheim Im schönen Monat Mai
Es gilt ein Erbe anzutreten. Dafür jedenfalls kommen die »Hirnschüssler« aus Paris aufs Jagdgut von Monsieur Louis, der unerwartet verstarb. Dort empfangen sie die Gutsknechte Aimé und Martial, schlechtes Wetter und einige Unvorhersehbarkeiten.
Aus dem Französischen von Brigitte Große
WAT 702. 112 Seiten. Auch als E-Book erhältlich
Wenn Sie sich für diese und andere Bücher aus unserem Verlag interessieren, besuchen Sie unsere Verlagswebsite: www.wagenbach.de
Wollen Sie regelmäßig über neue Bücher informiert werden, schreiben Sie uns eine E-Mail an vertrieb@wagenbach.de oder abonnieren Sie den Newsletter direkt über unsere Verlagswebsite.
Verlag Klaus Wagenbach Emser Straße 40/41 10719 Berlin
www.wagenbach.de
Sciascias erster und berühmtester Mafia-Roman: Kann Capitano Bellodi den Mord an einem sizilianischen Kleinunternehmer aufklären? Wer hat ihn begangen? Wer steckt dahinter?
… so wie bei Tag die Eule …
SHAKESPEARE, HEINRICH VI.
Der Autobus sollte gerade losfahren. Er brummte und ratterte; einige Male heulte der Motor auf. Schweigend lag der Platz im Grau der Morgendämmerung. Nebelschwaden hingen um die Türme der Pfarrkirche. Nur der Autobus brummte. Dazu, flehend und spöttisch, die Stimme des Ölkuchenverkäufers: »Ölkuchen, heiße Ölkuchen.« Der Schaffner schloß die Wagentür. Mit einem scheppernden Geräusch setzte der Autobus sich in Bewegung. Der letzte Blick des Schaffners fiel auf den dunkelgekleideten Mann, der herbeirannte. »Einen Augenblick«, sagte der Schaffner zu dem Fahrer und öffnete noch während des Fahrens die Wagentür. Da knallten zwei Schüsse. Der Dunkelgekleidete, der gerade auf das Trittbrett springen wollte, schwebte einen Augenblick lang in der Luft, als ziehe eine unsichtbare Hand ihn empor. Die Mappe entglitt seiner Hand. Langsam sank er über ihr zusammen.
Der Schaffner fluchte. Sein Gesicht war schwefelfarben geworden. Er zitterte. Der Ölkuchenverkäufer, der drei Meter von dem Gestürzten entfernt stand, zog sich im Krebsgang Richtung Kirchentür zurück. Im Autobus rührte sich niemand. Der Fahrer war wie versteinert, die Rechte an der Handbremse, die Linke auf dem Lenkrad. Der Schaffner betrachtete alle diese Gesichter, die blicklos waren wie die Gesichter von Blinden. »Den haben sie umgebracht«, sagte er, setzte seine Mütze ab und begann sich heftig mit der Hand durch die Haare zu fahren. Dabei fluchte er noch immer.
»Die Carabinieri«, sagte der Fahrer, »wir müssen die Carabinieri holen.«
Er stand auf und öffnete die Wagentür. »Ich gehe«, sagte er zum Schaffner.
Der Schaffner schaute auf den Toten und dann auf die Fahrgäste. Im Autobus saßen auch Frauen, alte Frauen, die jeden Morgen schwere, weiße Leinensäcke bei sich hatten und Körbe voller Eier. Ihren Röcken entströmte der Geruch von Steinklee, Mist und verbranntem Holz. Gewöhnlich schimpften und zeterten sie. Jetzt waren sie stumm. Jahrhundertealtes Schweigen schien auf ihren Gesichtern eingegraben.
»Wer ist das?« fragte der Schaffner und deutete auf den Toten.
Niemand antwortete. Der Schaffner fluchte. Er war bei den Fahrgästen dieser Buslinie für sein Fluchen bekannt. Er fluchte mit Hingabe. Man hatte ihm schon mit Entlassung gedroht. Denn mit seiner üblen Angewohnheit, dauernd zu fluchen, ging er soweit, daß er keine Rücksicht auf die Anwesenheit von Geistlichen und Nonnen im Autobus nahm. Er stammte aus der Provinz Syrakus und hatte mit Mordfällen nur wenig Erfahrung. Eine dumme Provinz, die Provinz Syrakus. Deshalb fluchte er jetzt noch ärger als sonst.
Die Carabinieri kamen, der Maresciallo* mit finsterem Gesicht, unrasiert und unausgeschlafen. Wie eine Alarmglocke schreckte ihr Erscheinen die Fahrgäste aus ihrem dumpfen Brüten auf. Sie begannen hinter dem Schaffner durch die andere Tür auszusteigen, die der Fahrer offengelassen hatte. Scheinbar gleichgültig, als schauten sie nur zurück, um die Kirchtürme aus dem richtigen Abstand zu bewundern, strebten sie dem Rand des Platzes zu und bogen, nach einem letzten Blick zurück, in die Gassen ein. Maresciallo und Carabinieri bemerkten nichts von dieser Flucht in alle Himmelsrichtungen. Den Toten umringten jetzt rund fünfzig Personen, Arbeiter aus einer Lehrwerkstatt, die gar nicht glauben konnten, einen so ergiebigen Gesprächsgegenstand für ihre achtstündige Muße gefunden zu haben. Der Maresciallo befahl den Carabinieri, den Platz räumen zu lassen und die Fahrgäste aufzufordern, wieder in den Autobus zu steigen. Und die Carabinieri drängten die Neugierigen in die Straßen zurück, die in den Platz mündeten, und forderten die Fahrgäste auf, sich wieder in den Bus zu setzen. Als sich der Platz geleert hatte, war auch der Autobus leer. Nur der Fahrer und der Schaffner blieben übrig.
»Wie?« fragte der Maresciallo den Fahrer. »Wollte denn heute niemand mitfahren?«
»Ein paar Leute schon«, sagte der Fahrer mit zerstreuter Miene.
»Ein paar Leute«, sagte der Maresciallo, »das hieße fünf oder sechs. Ich habe diesen Autobus noch nie abfahren sehen, ohne daß nicht der letzte Platz besetzt gewesen wäre.«
»Ich weiß nicht«, sagte der Fahrer. Er dachte angestrengt nach. »Ich weiß nicht. Ein paar Leute, meine ich, sozusagen. Sicher waren es nicht nur fünf oder sechs. Es waren mehr. Vielleicht war der Autobus voll … Ich schaue nie nach den Leuten, die da sind. Ich setze mich auf meinen Platz, und los geht’s … Ich schaue nur auf die Straße. Dafür werde ich bezahlt.«
Der Maresciallo fuhr sich mit gespreizten Fingern nervös übers Gesicht. »Ich verstehe«, sagte er. »Du schaust nur auf die Straße. Aber du«, und er wandte sich wütend an den Schaffner, »du reißt die Fahrscheine ab, kassierst das Geld, gibst heraus. Du zählst die Leute und schaust ihnen ins Gesicht … Und wenn du nicht willst, daß ich deiner Erinnerung auf der Wache nachhelfe, mußt du mir sofort sagen, wer im Autobus war. Wenigstens zehn Namen mußt du mir nennen … Seit drei Jahren tust du auf dieser Linie Dienst. Seit drei Jahren sehe ich dich jeden Abend im Café Italia. Du kennst das Dorf besser als ich …«
»Besser als Sie kann niemand das Dorf kennen«, sagte der Schaffner lächelnd, als wolle er ein Kompliment abwehren.
»Na schön«, sagte der Maresciallo grinsend, »ich am besten und dann du. Schon recht … Aber ich war nicht im Autobus, sonst würde ich mich an jeden einzelnen Fahrgast erinnern. Also ist das deine Sache. Wenigstens zehn mußt du mir nennen.«
»Ich kann mich nicht erinnern«, sagte der Schaffner. »Bei meiner Mutter selig, ich kann mich nicht erinnern. Im Augenblick kann ich mich an nichts erinnern. Es ist, als träumte ich.«
»Ich werd dich schon aufwecken, aufwecken werd ich dich«, brauste der Maresciallo auf. »Mit ein paar Jahren Gefängnis weck ich dich auf …« Er unterbrach sich, um dem Amtsrichter entgegenzugehen. Und während er ihm mitteilte, um wen es sich bei dem Toten handelte, und ihm von der Flucht der Fahrgäste berichtete, kam es ihm beim Anblick des Autobusses so vor, als stimme irgend etwas nicht, als fehle etwas. Wie wenn wir plötzlich etwas Vertrautes vermissen, etwas, das durch häufigen Gebrauch oder Gewöhnung an unseren Sinnen haftet und nicht mehr bis in unser Bewußtsein dringt. Aber seine Abwesenheit erzeugt eine gewisse Leere, ein Unbehagen in uns, wie das ärgerliche Verlöschen eines Lichtes. Bis uns das, was wir vermissen, plötzlich wieder bewußt wird.
»Irgendwas fehlt hier«, sagte der Maresciallo zum Carabiniere Sposito, der als geprüfter Buchhalter die Stütze der Carabinieri-Dienststelle von S. war. »Irgendwas oder irgendwer fehlt.«
»Der Ölkuchenverkäufer«, sagte der Carabiniere Sposito.
»Herrgott, der Ölkuchenverkäufer!« rief der Maresciallo aus und dachte über die Schulen seines Landes: Das Buchhalterdiplom bekommt dort wirklich nicht jeder Hergelaufene.
Ein Carabiniere wurde losgeschickt, sich den Ölkuchenverkäufer zu schnappen. Er wußte, wo er zu finden war. Denn gewöhnlich ging er nach der Abfahrt des ersten Autobusses seine heißen Ölkuchen im Hof der Volksschule verkaufen.
Zehn Minuten später hatte der Maresciallo den Ölkuchenverkäufer vor sich. Das Gesicht eines Ahnungslosen, den man aus tiefstem Schlaf geschreckt hat.
»War der hier?« fragte der Maresciallo den Schaffner und zeigte auf den Ölkuchenverkäufer.
»Der war hier«, sagte der Schaffner und schaute auf seine Schuhe.
»Also«, sagte der Maresciallo mit väterlicher Milde, »du bist heute morgen wie gewöhnlich hiergewesen, um Ölkuchen zu verkaufen. Am ersten Autobus nach Palermo, wie gewöhnlich …«
»Ich habe einen Gewerbeschein«, sagte der Ölkuchenverkäufer.
»Ich weiß«, sagte der Maresciallo und sandte einen geduldheischenden Blick zum Himmel empor. »Ich weiß. Und dein Gewerbeschein interessiert mich nicht. Ich will nur eins von dir wissen. Wenn du mir das sagst, laß ich dich gleich laufen, damit du den Kindern Ölkuchen verkaufen kannst. Wer hat geschossen?«
»Wieso?« fragte der Ölkuchenverkäufer erstaunt und neugierig. »Ist denn geschossen worden?«
»Ja, um sechs Uhr dreißig. Von der Ecke Via Cavour aus. Zwei Schüsse aus einem kurzen Jagdgewehr, zwölfkalibrig oder mit abgesägten Läufen. Von den Leuten im Autobus hat niemand was gesehen. Eine Hundearbeit, herauszubekommen, wer im Autobus war. Bis ich kam, hatten sie sich schon verdrückt … Einer, der Ölkuchen verkauft, erinnerte sich, aber erst nach zwei Stunden, an der Ecke Via Cavour/Piazza Garibaldi habe er so etwas wie einen Kohlensack gesehen. Soll an der Kirchenecke gelehnt haben. Von diesem Kohlensack sind zwei Lichtblitze ausgegangen, sagt er. Und er hat der heiligen Fara einen Scheffel Kichererbsen versprochen. Denn es ist ein Wunder, sagt er, daß er nicht getroffen worden ist, so dicht, wie er neben dem Ziel stand … Der Schaffner hat nicht einmal den Kohlensack gesehen … Die Fahrgäste, die rechts saßen, sagen, die Fensterscheiben seien trübe wie Milchglas gewesen, so beschlagen waren sie. Und vielleicht stimmt das sogar … Ja, Vorsitzender einer Baugenossenschaft. Einer kleinen Genossenschaft. Anscheinend hat sie nie größere Aufträge übernommen, höchstens bis zu zwanzig Millionen. Kleine Projekte in Arbeitersiedlungen, Kanalisationsarbeiten, Straßen im Ort … Salvatore Colasberna. Co-la-sber-na. Maurer von Beruf. Die Genossenschaft hat er vor zehn Jahren zusammen mit zwei Brüdern und vier oder fünf anderen Maurern aus dem Dorf gegründet. Der eigentliche Direktor war ein Landmesser, aber er selbst beaufsichtigte die Arbeiten und kümmerte sich um die Verwaltung … Das Geschäft ging so lala. Er und die anderen begnügten sich mit kleinen Gewinnen, als wären sie Lohnarbeiter … Nein, offenbar gehören ihre Bauten nicht zu der Sorte, die beim ersten Regen auseinanderfällt … Ich habe ein funkelnagelneues Bauernhaus gesehen, das wie ein Kartenhaus zusammenfiel, weil eine Kuh sich daran scheuerte … Nein, die Firma Smiroldo, ein großes Bauunternehmen, hatte es gebaut. Ein Bauernhaus, das von einer Kuh umgeworfen wird … Colasberna, habe ich mir sagen lassen, hat solide gearbeitet. Hier ist doch die Via Madonna di Fatima. Die hat seine Genossenschaft gebaut. Trotz all dem Autoverkehr hat sie sich noch keinen Zentimeter gesenkt. Dabei bauen größere Firmen Straßen, die nach einem Jahr aussehen wie die Kamelhöcker … Ja, Vorstrafen hatte er. Neunzehnhundertvierz … Hier, vierzig. Am dritten November vierzig … Er fuhr mit dem Autobus. Autobusse scheinen ja sein Verhängnis gewesen zu sein. Es wurde über den Krieg gesprochen, den wir in Griechenland angefangen hatten. Jemand sagte: ›Die zwingen wir in vierzehn Tagen in die Knie.‹ Er meinte Griechenland. Colasberna sagte: ›Sprichst du von Turnübungen?‹ Im Autobus war einer von der Miliz, der zeigte ihn an … Wie? … Entschuldigen Sie, Sie haben mich gefragt, ob er Vorstrafen hatte. Und ich antworte an Hand seiner Papiere: Ja, er hatte welche … Schön. Er hatte also keine Vorstrafen … Ich, Faschist? Wo ich mich bekreuzige, wenn ich das Rutenbündel sehe … Jawohl, zu Befehl.«
Übertrieben behutsam legte er den Hörer auf und wischte sich mit dem Taschentuch über die Stirn. Der war Partisan, dachte er, ausgerechnet an einen, der Partisan war, mußte ich geraten.
Die beiden Brüder Colasberna und die anderen Mitglieder der Baugenossenschaft Santa Fara warteten auf die Ankunft des Capitano. Ganz in Schwarz, die beiden Brüder mit schlaffen schwarzen Halstüchern, unrasiert und mit geröteten Augen, saßen sie in einer Reihe nebeneinander, in einem Raum der Dienststelle der Carabinieri von S. Reglos starrten sie auf eine bunte Zielscheibe, die auf die Wand gemalt war und unter der geschrieben stand: »Schußwaffen hier entladen.« Der Ort, an dem sie sich befanden, und das Warten erfüllten sie mit glühender Scham. Der Tod ist nichts im Vergleich zur Schande.
Etwas abseits, auf der äußersten Kante eines Stuhles, saß eine junge Frau. Sie war nach ihnen gekommen. Sie wolle mit dem Maresciallo sprechen, so hatte sie dem wachhabenden Carabiniere gesagt. Der hatte geantwortet, der Maresciallo habe zu tun. Gleich werde der Capitano kommen, und der Maresciallo habe zu tun. »Dann warte ich«, sagte sie und setzte sich auf die Stuhlkante. Ihre Hände machten einen ganz nervös, so unruhig waren sie. Sie kannten sie vom Sehen. Sie war die Frau eines Baumbeschneiders, der nicht aus dem Dorf stammte. Nach dem Krieg war er aus dem benachbarten Dorf B. zugezogen und hatte sich in S. niedergelassen; er hatte hier geheiratet. Und auf Grund der Mitgift seiner Frau und seiner Arbeit galt er in dem armen Dorf als wohlhabend. Die Mitglieder der Genossenschaft Santa Fara dachten: Wahrscheinlich hat sie sich mit ihrem Mann gezankt und bittet um Hilfe. Und das war der einzige Gedanke, der sie von ihrer Schande ablenkte.
Man hörte ein Auto auf den Hof fahren und halten, dann Absatzgetrappel den Gang entlang. Der Capitano betrat den Raum, wo die Männer warteten. Im selben Augenblick öffnete der Maresciallo die Tür seiner Amtsstube, stand stramm und grüßte mit so hoch erhobenem Kopf, als wolle er die Decke näher betrachten. Der Capitano war jung, groß und hellhäutig. Schon bei seinen ersten Worten dachten die Genossenschaftsmitglieder erleichtert und zugleich geringschätzig: Einer vom Festland. Die vom Festland sind freundlich, begreifen aber nichts.
Vor dem Schreibtisch im Amtszimmer des Maresciallo setzten sie sich wieder in eine Reihe. Der Capitano saß im Lehnsessel des Maresciallo, der Maresciallo stand. Und seitlich, vor der Schreibmaschine, saß der Carabiniere Sposito. Er hatte ein Kindergesicht, der Carabiniere Sposito. Aber den Brüdern Colasberna und ihren Teilhabern flößte seine Gegenwart tödliche Unruhe ein, Angst vor dem peinlichen Verhör, vor der schwarzen Saat der Schrift. Weißes Land, drauf schwarz gesät, Sämann denkt daran so stet, heißt es in dem Rätsel der Schrift.
Der Capitano sprach ihnen sein Beileid aus und entschuldigte sich dafür, daß er sie auf die Wache bestellt und sich verspätet habe. Sie dachten nochmals: Einer vom Festland. Wirklich wohlerzogen, diese Leute vom Festland.
Dabei verloren sie aber den Carabiniere Sposito nicht aus den Augen. Die Finger leicht auf die Tasten der Schreibmaschine gelegt, saß er ruhig und gespannt da wie ein Jäger, der, den Finger am Abzug, im Mondschein den Hasen erwartet.
»Sonderbar«, sagte der Capitano, als fahre er in einem unterbrochenen Gespräch fort, »wie man sich hierzulande in anonymen Briefen Luft macht. Niemand redet, aber zum Glück für uns, ich meine für uns Carabinieri, schreiben alle. Man vergißt die Unterschrift, aber man schreibt. Bei jedem Mord, bei jedem Diebstahl flattert mir ein Dutzend anonymer Briefe auf den Tisch. Und man schreibt mir auch von Familienstreitigkeiten und von betrügerischem Bankrott. Und von den Liebesgeschichten der Carabinieri …« Er lächelte dem Maresciallo zu und spielte, so dachten die Genossenschaftsmitglieder von Santa Fara, vielleicht darauf an, daß der Carabiniere Savarino mit der Tochter des Tabakhändlers Palizzolo ging. Das ganze Dorf wußte davon, und man rechnete mit Savarinos baldiger Versetzung.
»Im Fall Colasberna«, fuhr der Capitano fort, »habe ich bereits fünf anonyme Briefe bekommen. Für eine Angelegenheit, die sich vorgestern zugetragen hat, schon eine ganz stattliche Anzahl. Und sicherlich bekomme ich noch mehr … Colasberna ist aus Eifersucht umgebracht worden, sagt ein Ungenannter und erwähnt auch den Namen des eifersüchtigen Ehemanns …«
»Unsinn«, sagte Giuseppe Colasberna.
»Das meine ich auch«, sagte der Capitano und fuhr fort: »Ein anderer ist der Ansicht, er sei versehentlich umgebracht worden. Weil er einem gewissen Perricone glich, einem Individuum, das nach Ansicht des ungenannt bleibenden Berichterstatters bald die Kugel treffen wird, die ihm gebührt.«
Die Mitglieder wechselten rasch forschende Blicke.
»Mag sein«, sagte Giuseppe Colasberna.
»Ausgeschlossen«, sagte der Capitano. »Der Perricone, von dem in dem Brief die Rede ist, hat vor vierzehn Tagen seinen Paß bekommen und hält sich augenblicklich in Lüttich in Belgien auf. Ihr wußtet das vielleicht nicht, und gewiß wußte es der Schreiber des anonymen Briefes nicht. Aber einem, der ihn umlegen wollte, wäre dieser Sachverhalt gewiß nicht entgangen … Andere Hinweise, die noch unsinniger sind als diese, will ich gar nicht erwähnen. Aber hier ist einer, den ich euch gründlich zu überdenken bitte. Denn meiner Meinung nach führt er auf die richtige Fährte … Eure Arbeit, die Konkurrenz, die Ausschreibungen. Dem sollte man zweifellos nachgehen.«
Abermals fragende Blicke.
»Das kann nicht sein«, sagte Giuseppe Colasberna.
»Und ob es sein kann«, sagte der Capitano, »und ich will euch sagen, wieso und weshalb. Unabhängig von eurem Fall bekomme ich viele detaillierte Informationen über den Gang der Ausschreibungen. Leider nur Informationen, denn wenn ich Beweise hätte … Nehmen wir mal an, daß in dieser Gegend, in dieser Provinz, zehn Firmen arbeiten. Jede Firma hat eigene Maschinen, eigenes Baumaterial. Dinge, die nachts am Straßenrand oder an der Baustelle stehenbleiben. Und die Maschinen sind empfindlich. Man braucht nur einen Teil davon zu entfernen, unter Umständen nur eine Schraube, dann sind Stunden oder ganze Tage nötig, um sie wieder in Gang zu bringen. Und das Material, das Benzin, den Teer, die Baugerüste verschwinden zu lassen oder an Ort und Stelle zu verbrennen ist eine Kleinigkeit. Gewiß steht in der Nähe der Maschinen oder des Materials oft die Baubude mit einem oder zwei Arbeitern, die dort schlafen. Aber sie schlafen eben. Und es gibt Leute, ihr versteht mich, die niemals schlafen. Liegt es nicht nahe, diese Leute, die nicht schlafen, um Protektion zu bitten? Um so mehr, als euch diese Protektion sofort angeboten worden ist. Und wenn ihr so unklug wart, sie abzulehnen, so ist einiges vorgefallen, das euch überzeugt hat, daß ihr sie annehmen müßt … Selbstverständlich gibt es Dickköpfe, Leute, die nein sagen, sie wollten sie nicht. Und selbst mit dem Messer an der Kehle wollen sie keine Protektion annehmen. Soweit ich sehe, seid ihr solche Dickköpfe. Oder zumindest Salvatore war einer …«
»Davon ist uns nichts bekannt«, sagte Giuseppe Colasberna. Die andern nickten entgeistert.