Die Sache mit Max
Erzählungen
von
Judith Simon-Graf
Impressum:
Cover: Karsten Sturm-Chichili Agency
Foto: fotolia.de
© 110th / Chichili Agency 2014
EPUB ISBN 978-3-95865-448-8
MOBI ISBN 978-3-95865-449-5
Urheberrechtshinweis:
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Manche Menschen haben leider keinen Max.
Ob Sandra am weihnachtlichen Kaffeetisch von bleierner Müdigkeit überwältigt wird oder nach einem Gruselfilm nicht schlafen kann. Max ist für sie da, ob beim Kuchenbacken, beim Falten von Papierfliegern oder einfach nur, wenn sie mit sich und der Welt uneins ist, was durchaus öfter passiert, als sie sich wünscht. Und wenn Max gerade nicht da ist, dann ist er zumindest per Telefon für sie erreichbar.
Max ist kein Weichei. Er rückt die Dinge zurecht. Manchmal jedenfalls. Sandra und er zoffen sich schon gelegentlich, meist aber besitzt er ihr gegenüber eine formidabel stoische Gelassenheit. Sie ist notwendig, findet Max, auch wenn Sandra das hin und wieder ganz anders sieht. Aber immerhin: Ohne Max, und das scheint amtlich, wäre aus Sandra nicht Sandra geworden….
Geboren in den letzten Zügen der Sechziger Jahre, wuchs sie während der folgenden beiden Jahrzehnte mit zwei Geschwistern und von ihren Eltern relativ wohlbehütet auf. Der Bruder ein Freak, die Schwester eine ewige Schönheit, sie als Mittlere er-reichte das Erwachsenalter ohne größere Schäden, dafür aber mit jeder Menge Haar-farben und –frisuren, Grenzerfahrungen bei Independent-Live-Konzerten und spätpu-bertären Ereignissen, stets mit genügend Phantasie im Kopf.
Die Neunziger waren im frühen Stadium rebellisch orientiert, späterhin besetzt durch zwei Früchte ihrer Lenden, die ihr Leben – und das ihres Gatten - im Wesentlichen bestimmten. Kreativität wurde zugunsten nackten Überlebens hintangestellt. Bis es sie 2007 eiskalt erwischte. Von da an schrieb sie, was ihr in den Sinn kam und so oft sie konnte.
Gelesen hat sie leise und laut, vor Publikum, vorgetragen, sogar in Theater hat sie sich versucht. Schlussendlich sind ihre schriftlichen Veröffentlichungen nur eine logische Folge. Heute tut sie manchmal so, als sei sie blond. Dabei ist sie in Wirklichkeit weiss. Jedenfalls meistens.
Sandra wurde plötzlich müde. Sehr müde. Mitten am Kaffeetisch. Während Schwiegermama den Kaffee einschenkte und die Zwillingsnichten mit muffigen Gesichtern ihre alljährlichen Gutscheine zusammenzählten, während Max noch die Nachrichten vom Sofa aus verfolgte, ergriff Sandra jenes wohlbekannt bleierne und unausweichliche Müdigkeitsgefühl. Sie lehnte sich bei ihrem Liebsten, der neben ihr saß, an und schloss die Augen. Wärme strahlte von ihm aus. Pulsierende, kraftstrotzende Wärme. Sie schmiegte sich dichter, ließ sich in Gedanken noch ein Stückchen tiefer fallen - ja, bitte nur für einen kurzen Augenblick! - und träumte von angewärmten Federdecken, von ihren beiden nackten Leibern darinnen und wohlig freien und vollkommen unweihnachtlichen Gefühlen. Unwillkürlich musste sie seufzen. Das war lauter als vermutet und natürlich als gewünscht.
Es ruckte. Ihr Liebster war ihrer Schwere ausgewichen. Peinlich berührt, wie sie ganz sicher wusste, während sie die Lider geschlossen hielt, saß er jetzt auch ganz sicher ganz steif neben ihr. Plötzlich distanziert. Kaffee!, dachte sie, verbissen um ihr Gleichgewicht kämpfend, ja, Kaffee wird sie bestimmt retten können, und sie öffnete die Augen, griff zur Tasse und stürzte ihren noch ausgesprochen heißen, weil frisch aufgebrühten in einem Zuge herunter. Au!
Sandra blickte in die Runde. Alle anderen saßen nur so da und tranken gar nicht. Schauten sie nur an. Mist! Der Kuchen war ja noch nicht einmal verteilt, Schwiegermama verharrte gerade beim Verteilen des Kaffees und Max saß ja auch noch immer auf der Couch und sah fern. Na klar! Der ließ sich doch immer gern bitten! Sandra hob ihre Tasse erneut und diesmal entschlossener in Richtung Schwiegermamas drängender Kaffeekanne. Der Liebste knuffte ihr seinen Ellenbogen in die Rippen und zischte etwas. Es klang irgendwie unfreundlich. Schwiegermama goss indes irritiert nach, den Blick fest auf die Tasse geheftet. Sandra kämpfte mit ihren Augenlidern und trank.
Kuchen…?, leierte sie laut, nachdem sie die Tasse abgesetzt hatte, nein…zuviel Gans. Puh…und Rotkohl. Wisst Ihr...war ja echt lecker. Ja. Max? Kommst Du dann auch…
Schweigen. Alle schauten betreten. Max raschelte herum und benutzte die Fernbedienung. Der Fernseher hörte jäh auf zu plärren. Ganz still wurde es auf einmal, mucksmäuschenstill. Max erhob sich. Schwiegermama strafte Sandra stellvertretend für alle Anwesenden mit Verachtung durch Nichtachtung, ihr Liebster tat dasselbe durch Nichtberührung und Sandra spürte neben dem unbändigen Drang, sich vornüber ins Service fallen zu lassen, nun auch noch überflüssige Albernheit und Hysterie.
MAX?
Sandra wurde nun noch müder und obwohl Max nun betont langsam und irgendwie ziemlich arrogant an der opulenten Kaffeetafel Platz nahm und so das Zeichen zur allgemeinen Fortführung weihnachtlicher Völlerei gab und obwohl Schwiegermama schon Tränen der Enttäuschung in den Augen standen und die Zwillinge ihre eigenen pubertären Äuglein ohne Tränen verdrehten und obwohl Sandras Liebster besänftigend, nein, eher deeskalierend nach ihrer Hand griff und zudrückte, konnte Sandra nichts dagegen tun, dass sie nun endlich und schlicht und ergreifend einschlief. Weil sie einfach einschlafen musste! Und um das Service zu retten, fiel sie instinktiv nach hinten, dort wo nur die Wand war. Es macht klonk! und das Letzte, was Sandra spürte und hörte, war, wie sich ihr Mund weit öffnete, ihre Schnarchlaute begannen und das weihnachtlich total aufgeheizte Schwiegermamawohnzimmer mit dezenten und total unweihnachtlichen Geräuschen erfüllten. Ja, und danach befand sich Sandra für eine herrlich zeitlose Ewigkeit unter aufgeheizten Federdecken und ließ sich von dem Liebsten streicheln.
Sandra?
Pscht, Max?
Weihnachten ist vorbei, Du kannst wieder aufwachen...
Max? Magst Du eigentlich Rosinen?
Schweigen. In der Küche war es warm. Draußen schneite es. Der Morgenhimmel schimmerte in zartem Orange. Drinnen stand Sandra im Schlafanzug am Küchentisch und buk Apfelkuchen. Der Telefonhörer balancierte sie einschultrig am Ohr. Ihre Hände waren klebrig, ihr Mund auch und den Schlafanzug zierten eine Menge Flecken.
Sag doch mal, Max!
Es war still in der Leitung. Das ärgerte Sandra. Typisch! Sie nahm den Quirl, stellte ihn an und rührte. Vehement. Dann halt ohne Rosinen! Sie versuchte sich zu konzentrieren. Ist der Ofen vorgeheizt? Ja. Vanille drin? Ja. Und wie sie sich so in Rage rührte und der Quirl immer schneller wurde und wie die Hitze so vom Ofen zu ihr hinüber drängte und ihren kalten Hintern erwärmte und der Teig immer sämiger und schaumiger wurde, da raschelte es plötzlich im Hörer.
Okay, doch Rosinen. Bloß den Zimt nicht vergessen! Eine dünne Schicht Baiser, ja, ja, natürlich mit den Mandeln darinnen, die kommen später darüber. Zack, zack, das Blech her. Hmmmm. Der Teigschaber wurde ab-, die Schüssel ausgeschleckt, wie sich das gehörte. Sandras Haare waren zu einem strengen Zopf verbunden, damit ihre Haare nicht verklebten. Stille im Hörer. Sandra genoss.
Sie machte ja immer die doppelte Menge Teig. Niemand sagte ihr, dass es vollkommen maßlos sei und selbst Max hatte sie nie dafür zurechtgewiesen. Also schleckte und naschte sie und als sie am Nachmittag mit ihrem Liebsten am Esszimmertisch saß und Kuchen aß, lag der Telefonhörer direkt neben ihrem Teller. Max schwieg. Was sonst.
Muss das mit dem Telefon sein, Schatz?
Tatsächlich musste das sein, erwiderte sie.
Na gut.
Sandra war nicht etwa eine Frau mit einer Essstörung. Nein, sie war völlig normal. Vergleichsweise schlank, eher sportlich. Eine kerngesunde Frau eben. Sandra buk nur fürchterlich gerne Kuchen. Sie bereitete ihn, da sie ja so herrlich viel nasche wollte, sicherheitshalber mit der doppelten Menge Teig zu, denn nur so konnte sie ihn, in perfekter Weise gebacken, ihrem Liebsten am Feierabend zu einer schönen Tasse Kaffee kredenzen. Ihr Liebster wiederum wusste das zu schätzen und würde einen Teufel tun, ihr die Marotte mit dem Telefon vorzuwerfen. Rosinen hin oder her, schließlich hatte er ja etwas davon. Und so war doch alles in bester Ordnung.
Nicht wahr, Max?