Montag, 30.12., 7.30 Uhr
Paul schreckt hoch. Er war an die Wand gelehnt im Stehen eingenickt. Er stieß sich von der Wand ab und lief durch die Zelle. Durch das Oberlicht über der Außentür konnte er bis zur Außenpforte sehen. Er sah auf seine Armbanduhr. Es war sieben Uhr dreißig. Die Zeit verging überhaupt nicht. Er setzte sich hin und drehte sich erneut eine Zigarette. Francesco, tja …
Gino hatte seinen Vater nie wirklich erlebt, aber Paul konnte ihn nicht vergessen. Erst nachdem Gino im Alter von zwanzig Jahren einen Einberufungsbefehl des italienischen Militärs erhalten hatte, war klar, dass er Italiener war. Keiner hatte das bedacht. Später, als er Deutscher wurde, war auch der letzte gültige Name Francescos zu Tage gekommen: Rapisarda. Aus Acireale in Sizilien sollte er stammen.
1977 ist Paul dann nach Sizilien gereist. Er hätte viel darum gegeben, Francesco wiederzusehen. In Acireale gab es so viele Rapisardas wie Schmitz in Köln. Fakt war wohl, dass Francesco, als die Italiener 1943 die Fronten wechselten und zu den Alliierten überliefen, in Deutschland im Lazarett lag und Angst hatte, interniert zu werden oder ins KZ zu kommen. Deshalb nahm er den Namen eines ihm bekannten Faschisten an und wurde in die SS aufgenommen. Nur um zu überleben!
»Überleben«: überhaupt ein wichtiges Wort. Auch für die Menschen im Gefängnis. Wie überlebt man das? Paul war da Profi. Er hatte im Leben oft und lange im Gefängnis gesessen. Paul war zwar erst Mitte dreißig, aber schon mit fünfzehn kam er das erste Mal ins Jugendgefängnis. In den letzten zwanzig Jahren war er fast die Hälfte der Zeit im Knast gewesen. Er wusste, ohne es erklären zu können, dass der Rückzug ins eigene Ich der einzige Schutz war.
Die, die gegen die Inhaftierung protestierten und mit dem Kopf gegen die Wand liefen, brachten sich entweder schleichend um oder wurden irgendwann in der Beruhigungszelle erschlagen. Andere passten sich total an. Das war die Mehrzahl.
Paul war sich sicher, dass achtzig Prozent seiner Knastkollegen gar nicht in den Knast gehörten, sondern eigentlich in eine andere soziale Einrichtung. Sie waren einfach nur lebensunfähig und, ohne es sich selbst gegenüber zuzugeben, sogar gerne im Knast. Hier im Knast waren die Regeln einfach und durchschaubar: Sie bekamen drei Mahlzeiten am Tag, mussten arbeiten, durften eine Stunde am Tag an die frische Luft und hatten null Verantwortung. Draußen war das Leben weit schwerer. Deswegen kamen die meisten zurück. Und insgeheim waren sie dann auch noch über das Wort »kriminell« stolz. Sie waren wenigstens kriminell und nicht nur »Sozialpenner«!
Aber ihre Kriminalität hielt sich wirklich in Grenzen. Während sie drinnen voller Stolz Geschichten von Banküberfällen und ähnlichen Gelderoberungsaktionen erzählten, hatten sie sich in Wahrheit mit immer wiederholtem Kleinkram in die Nesseln gesetzt. Aber auch das zählt bei der Justiz. Wiederholungstäter! Und ist die Beute noch so klein, sperrt ihn ein, sperrt ihn ein.
Jede Verurteilung wird addiert, und jedes Mal gibt’s mehr Knast bis zur vielbeschworenen Sicherungsverwahrung. Dann nämlich, wenn er schon zehnmal oder mehr oder weniger vor dem Richter gestanden hat, und er ihnen lästig wurde, gab’s die SV, auch »Rucksack« genannt.
Die nach dem Ende der Strafe abzusitzende Sicherungsverwahrung, die bis zu neun Jahren dauert, war zwar in der Nazizeit ins Strafgesetzbuch gekommen, aber auch die bundesdeutsche Justiz nutzt den Paragraphen auch heute noch sehr gerne, um jemanden, ohne dass er speziell etwas getan hat, einfach länger festzuhalten: »Sicherungsverwahrung«.
So etwas mag verständlich sein, wenn ein Täter andere verletzt oder getötet oder massive sexuelle Übergriffe auf dem Konto hatte, aber das hatten die wenigsten in der Sicherungsverwahrung auf dem Zettel. Die meisten sitzen, weil sie immer wieder sitzen.
Addiert und multipliziert
Auf meiner Knastabteilung liegen dreißig Gefangene
Abzüglich der Sittenstrolche, der Schläger, der Drogenheinis und der Alimentenverweigerer bleiben etwa zwanzig als Eigentumsdelikttäter
Betrüger, Räuber, Einbrecher
Von dreihundert Knackis im ganzen Haus also zweihundert
Nur ein Einziger von den zweihundert wäre in der Lage, vom Ergebnis seiner Straftaten draußen gut zu leben.
Die Übrigen: Eierdiebe!
Durchschnittsbeute nach Einsicht in viele Akten pro Straftat: 190 Mark.
Addiert und multipliziert …
Mit circa 6.000 Inhaftierten in Hessen und
Circa 60.000 in der gesamten Bundesrepublik
Ergibt das eine Summe,
Sie entsprach OHNE Trick,
Nicht mal der Hälfte dessen, was Flick …
Im Gegensatz zu den meisten Knastkollegen fühlte Paul sich zwar nicht wohl im Knast, aber er jammerte auch nicht ewig rum und machte alle anderen dafür verantwortlich. Er wusste, er war Erwerbskrimineller, ein Einbrecher mit Erfolg, er konnte eine Zeitlang gut davon leben, davon zeugten elegante Eigentumswohnungen, Weltreisen und schicke Autos, Porsche oder Ferrari zum Beispiel. Problematisch war nur, dass die Polizei ihn als hochkarätigen Intensivtäter erkannt hatte und ihn daher ununterbrochen überprüfte und verdächtigte, alles, aber auch alles verbrochen zu haben, und ihn mit Festnahmen und Telefonüberwachungen einschränkte und belästigte.
Dabei war es doch ganz einfach: Wenn er beim Juwelier Wempe eingebrochen wäre, ihm aber der Einbruch bei Uhren Christ angelastet wurde, so war er ganz einfach UNSCHULDIG. Aber immer wieder fanden die Bullen einen Richter, der ihn einbuchtete. Und viele Versuche Pauls, auszusteigen und etwas anderes zu machen, wurden schon im Ansatz zerstört. Der Klassiker: eine Kneipe. Paul hatte sie gepachtet, die erste Frau die Konzession bekommen, und es sah aus, als werde alles gut, damals in der Altstadt von Bonn. Aber kaum begannen sie zu arbeiten, standen die Bullen an der Theke und stellten ihm ein Ultimatum: Entweder sie sorgten für Konzessionsentzug, weil er die Frau nur vorgeschoben habe und er als Vorbestrafter gar keine Gaststätte betreiben dürfe. Andererseits würden sie »ein Auge zudrücken«, wenn er bereit wäre, umfassend über seine Milieukollegen auszusagen. Das Lokal wurde geschlossen.
Paul hatte für sich eine gute Methode entwickelt, im Knast zurecht zu kommen: Nach jeder Festnahme war die Katastrophe da. Alles, was er draußen aufgebaut hatte, alles, was in der nächsten Zeit anstand, brach zusammen. Auch die Liebesbeziehungen, egal ob verheiratet oder nur verliebt. Und es dauerte etwa zwei Monate, bis sich Paul so weit erholt hatte, um sich im Knastalltag verstecken zu können. Er dachte dann kaum noch an draußen und befasste sich stattdessen mit dem Alltag drinnen. Wie sieht die Arbeit aus? Wer liegt mit auf der Abteilung? Wer ist interessant für ein Gespräch? Wer nicht? Wann gibt’s Einkauf? Wann Besuch? Wer von den Beamten ist erträglich? Wer ein Arsch? Und von wem könnte man wirklich Hilfe erhoffen, wenn es denn nötig war?
Das Draußen war für ihn nach einiger Zeit so weit weg, dass er auch jedes Zeitgefühl verlor. So benutzte er bei Gesprächen häufig den Ausdruck: NEULICH! Gemeint war aber der Zeitpunkt der Inhaftierung vor zwei Jahren und davon ausgehend NEULICH.
Am liebsten plünderte Paul die Gefängnisbibliotheken, die durchaus reichhaltig ausgestattet waren. Er las gerne, so wie schon als Kind.
Als Schüler war Paul Mitglied der katholischen Stadtbücherei und ein eifriger Leser. Sein Glück, dass die Bibliotheksleiterin lange Zeit krank war. Paul nahm sich, was er haben wollte, und brachte es gelesen zurück. Bis zu jenem Tag, als er mit den ausgesuchten Büchern an die Theke trat, um sie auf seine Karte eintragen zu lassen. Die Bibliothekarin warf einen Blick auf die Titel, dann auf Paul und fragte entrüstet: »Sag mal, wie alt bist du denn?« »Zehn.«
Entschlossen schnappte sie die Bücher und sagte im Weggehen: »So was darfst du noch gar nicht lesen! Da drüben, Enid Blyton, such dir so was aus!«
Paul kochte. »Die dumme Kuh!«, schimpfte er innerlich. Enid Blyton hatte er schon vor Jahren gelesen. So ein Kinderkram. Er wollte andere Sachen lesen. Leon Uris, Updike, Norman Mailer, John Steinbeck. Oder die Russen, Tolstoi und Scholochow oder Dostojewski. Und er musste zugeben, Raskolnikow, der Mörder aus Schuld und Sühne, war ihm sehr, sehr sympathisch. Den konnte er total verstehen. Und er wollte mehr davon. Heute hatte er sich Der Idiot von Dostojewski ausleihen wollen, sowie Von Mäusen und Menschen von John Steinbeck.
Die Bibliothekarin kam mit einem Stapel Kinder- und Jugendbücher zurück: »Hier, das ist was für dich!«
Paul zog seine Karte zurück, auf der sie die Bücher eintragen wollte, und sagte: »Die kenn ich schon alle!« – »Na, dann nicht!«, sagte sie kalt und legte die Bücher hinter sich.
Gott sei Dank hatte sich während ihrer Diskussion eine kleine Schlange hinter Paul gebildet und die Bibliothekarin war beschäftigt. Paul flitzte zurück in die Bücherei, holte sich die Bücher, die er sich ausgesucht hatte, wieder aus dem Regal, steckte sie in seine Schultasche und flitzte schnell an der Registrierstelle vorbei. Wieder war er gezwungen zu klauen, so dachte Paul damals, nie wollte man ihm geben, was er brauchte.
Natürlich hat Paul die Bücher immer wieder zurückgebracht. Genauso heimlich, wie er sie entwendet hatte.
Im Knast war das nicht nötig gewesen. Hier konnte er die ganze Weltliteratur rauf und runter lesen. Bei einem Knastaufenthalt war es ihm sogar gelungen, als Helfer des Gefängnislehrers in der Bibliothek zu arbeiten. Da war ihm der Stoff nie ausgegangen.