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Für Petra Amerell
Vollständige E-Book-Ausgabe der im Piper Verlag erschienenen Buchausgabe 1. Auflage 2015
ISBN 978-3-492-96926-0
© Piper Verlag GmbH, München/Berlin 2015
Covergestaltung und Illustration: Kornelia Rumberg;
www.rumbergdesign.de
Datenkonvertierung: abavo GmbH, Buchloe
Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.
Isa ließ sich die Schmeichelei gern gefallen. Sie drehte sich langsam vor dem dreiteiligen Spiegel, beschaute sich von allen Seiten.
Es passt zur Farbe Ihrer Augen.
Ist der Ausschnitt nicht zu tief?
Nein, Sie können sich das leisten. Darf ich?
Die Verkäuferin zupfte ein wenig am kleinen, offenen Stehkragen, lobte Isas Figur, das Kleid ist wie für Sie gemacht.
Isa glaubte, in der hellen Stimme einen vertrauten Akzent zu erkennen, wie sie einzelne Vokale aussprach.
Napoli?
Sie fragte wie nebenbei, bewunderte sich im Spiegel.
Hört man das?
Ich liebe es!
Die Verkäuferin lächelte.
Der Stoff ist ganz leicht, er fällt schön. Es wäre auch mit einem Gürtel attraktiv.
Das Kleid war sommerlich luftig und bedeckte das halbe Knie. Isa gefiel sich darin, sie war mit den Jahren etwas knochiger geworden, flacher, eine ausgeprägte Taille hatte sie nie gehabt. Der Stoff floss weich an ihrem Körper herab.
Gibt es denn eine Farbe, die nicht zu meinen Augen passt?
Am besten sieht es immer aus, meinte die Verkäuferin, wenn die Farbe der Kleidung die Augenfarbe aufgreift, Ihre Augenfarbe ist jetzt ganz eindeutig definiert.
Die beiden Frauen betrachteten einander im Spiegel. Sie hatten die gleichen dunkelbraunen Augen. Doch die Verkäuferin hätte dieses elegante Kleid nicht tragen können.
Sie sind doch beim Radio?
Isa lachte, ja, bin ich.
Ich habe Ihre Stimme erkannt, freute sich die Verkäuferin.
Ja, ich bin Isa Lerch.
Der heimliche Schwarm meines Vaters, verriet die Verkäuferin, das Idol meiner Mutter.
Beide lachten.
Ich nehme es.
Ich beglückwünsche Sie.
Die Verkäuferin, die Isa ein wenig an ihre Tochter erinnerte, legte das Kleid über den Arm und trug es zur Kasse. Es wurde in Seidenpapier eingeschlagen und sorgfältig in eine lackierte blaue Tüte geschoben. Isa zahlte mit Karte und trat auf die Straße.
Gleißender Nachmittag. Viele junge Frauen fielen Isa auf, ihre langen Beine, präsentiert in Strümpfen mit Phantasiemustern. Es sah gut aus, klasse. Isa war voller Bewunderung. Der Anblick versetzte ihr aber auch einen Stich. In so knappen Shorts und kurzen Röcken herumzulaufen war das Privileg der Jugend. Die Frauen, die sie anhatten, blieben jung, auch wenn sie sich umdrehten. En face sahen sie ein wenig blasiert aus und vielversprechend.
Ach, die Schuhe, toll!
Verliebt in Schuhe, darüber hatte Isa vor Jahren eine Sendung gemacht. Einer der Studiogäste, ein prominenter Designer, hatte ausgeführt: Wenn eine Frau High Heels trägt, hebt sich ihr Po, er wölbt sich und gewinnt optisch fünfundzwanzig Prozent.
Isa hatte die sonore Stimme wieder im Ohr: Ein Viertel mehr Rundung, Sie haben richtig gehört, meine Damen, das hohe Gesäß wertet die Silhouette unglaublich auf.
Wie bei einer kleinen Turnerin mit Hohlkreuz, lästerte die in der Gesprächsrunde sitzende Orthopädin.
Lassen wir das so stehen, bestimmte Isa – und darauf hatten im Studio die Telefone geklingelt.
Die Straßenbahn schrillte. Kleine Vögel hockten in staubblättrigen Bäumen. Junge Leute, die sich selbst und einander in witzigen Posen und Verrenkungen mit dem Smartphone fotografierten. Sie amüsierten sich, Daumen hoch, gefällt mir. Ein Drehorgelmann aus einer anderen Welt sammelte in seinem Zylinder Geld für einen guten Zweck.
Rettet das Weiße Nashorn.
Isa trug die gleiche Retrosonnenbrille wie Julia Roberts im Film Erin Brockovich. Sie genoss es, die Geschäfte und Boutiquen an der Bahnhofstraße abzuklappern. Zielstrebig auf Beutezug. Heute war sie bei Feldpausch fündig geworden. Der Kauf hatte sie glücklich gemacht, und das wirkte sich auf alles aus, was sie wahrnahm.
Im Schaufenster einer Buchhandlung entdeckte sie das neue Buch von Murakami; sie nahm den Roman als Geschenk für ihren Mann mit. Für sich kaufte sie das Berliner Journal von Frisch, ein Tagebuch, das zwanzig Jahre im Banksafe auf seine Veröffentlichung hatte warten müssen. Der Buchumschlag und die Tüte, in der ihr Kleid lag, hatten dieselbe Farbe. Natürlich würde auch Severin den Frisch lesen; als junger Mann hatte er den Schriftsteller verehrt, der zu viel getrunken und sich schon mit sechzig steinalt gefühlt hatte. Aber zuerst würde Severin sich auf den Murakami stürzen. Seine Figuren waren anrührend weltverloren und erfrischend jung, die superklugen Murakami-Mädchen, die noch mit abstehenden Ohren sexy waren, könnten auch einem Manga entspringen.
In einem Café trank sie einen doppelten Espresso und erlaubte sich einen kleinen Brandy. Sie blätterte in dem Journal, bestellte einen zweiten Brandy, versank in dem blauen Band. Frisch war klein, dick und sich selbst unsympathisch. Seine Selbstbezogenheit verwunderte sie nicht. Auf Frischs Grab wucherten gewiss Mimosen. Der samtige Brandy entfaltete die Wirkung eines Weichzeichners. Isa verzieh dem armen Schriftsteller, der in seiner Männerwelt schmorte und Frauen nie verstanden hatte. Sie waren ihm zu anstrengend gewesen.
Im Regal standen mehr als einhundert Skizzenbücher.
Sein Tablet lag auf dem Tisch; ein leuchtendes Display, auf dem er mit dem Finger zeichnete. Es fühlte sich sonderbar an, ließ ihn aber nicht kalt.
Wenn er ins Freie hinaustrat, hatte er den Eindruck, sich in einem Krater aufzuhalten. Die Vorstellung behagte ihm. Kies und Schotter und Sand, senkrecht stieg die Nordwand hoch, der Grund lag tief unter Ackerland und Wald.
Die stillgelegte Kiesgrube war sein Arbeitsplatz.
Früher hatte da eine windige Baracke gestanden, er hatte sie abgerissen und ein Atelier mit Oberlicht und einer Rückwand aus Glas gebaut. Severin liebte diesen Ort, nichts lenkte ihn von der Arbeit ab, kein überflüssiges Grün, kein Firlefanz, kein Mensch. Es wuchsen ein paar Brennnesseln, Ampfer und Disteln. Vor dem Atelier sandige Kuhlen, in denen Vögel badeten. Steinbrocken und Schutt. Es gedieh hier nichts Besonderes, es gab nichts mehr zu holen. Aller Kies abgetragen, die Grube ausgebeutet. Nur Schienen und ein Rollwagen waren die Zeugen des ehemaligen Kieswerks, seiner profitablen Epoche.
Dieser Platz taugte Severin Lerch für seine Kunst. Eine Mondlandschaft, wie ausgestanzt. Bevölkert von seinen Skulpturen. Es war ihm wichtig, sie im Gelände zu platzieren, seine Abkömmlinge, seine Androiden. Darüber spannte sich der Himmel mit wechselnden Farben und fahrenden Wolken. Hier konnte er abtauchen, hier verfügte er über die Zeit, verwaltete er die Zeit, vergaß er die Zeit, wenn das Empfinden und die Hände denselben Takt hatten und er wie glücklich ferngesteuert an einer Skulptur arbeitete.
Bloß im Winter, wenn es schneite und schneite, kam es vor, dass ihn der Gedanke heimsuchte, seine Welt verkehre sich in ihr Gegenteil, und er glaubte, an diesem Ort gefangen zu sein, und fürchtete, umgeben von weißen Mauern, nie mehr wegzukommen, lebenslang im selbst geschaffenen Paradies ausharren zu müssen.
Als junger Künstler hatte er die Grube auf einer Landkarte entdeckt und sie im Gelände gesucht. Er fand den Krater und wusste sogleich: Hier bleibe ich. Er fühlte sich wie ein Neusiedler, wie ein Pionier, wie ein kühner Eroberer, der vom Pferd stieg und seinen Speer in die Erde rammte.
Das ist mein Platz.
Er wollte in großen Zeitabschnitten denken.
Ja, es ging um ein Langzeitprojekt.
Um ein Lebenswerk.
Er sprach mit dem Grubenbesitzer, verhandelte mit den Behörden. Niemand trug Einwände vor. Der Mann stört ja keinen dort. So einfach begann seine Lebens- und Liebesgeschichte mit dem heilignüchternen Ort.
Um in der Abgeschiedenheit nicht einsam zu sein, kaufte er einen Hund, seinen ersten Akita. Der imposante Wächter mit dem Herzen und Blut eines Wolfs sollte Severins Welt beschützen: der schneeweiße Akita I.
Doch nun war die Zeit von Akita IV. Und trotz der Anwesenheit des braven Hundes, der sich tagsüber auf dem Gelände aufhielt und nachts ins Atelierhaus eingesperrt wurde, hatte Lerch zu seinem Ärger feststellen müssen, dass sich Krieger in der Grube herumtrieben. Skulpturen waren mit Farbe bespritzt, eine große Arbeit war mutwillig umgestürzt worden.
Lerch hatte die Vorfälle der Polizei gemeldet. Zwei Beamte waren mit dem Streifenwagen vorgefahren, hatten die malträtierten Skulpturen überprüft und Severin Lerch nach ihrer Besichtigung des Grubengeländes mitgeteilt: Klarer Fall. Es handelt sich um Farbspuren von Druckluftwaffen.
Ist Ihnen nie etwas Verdächtiges aufgefallen, haben Sie keine Beobachtungen gemacht?
Doch, das hatte er.
Vom Tisch aus, an dem er saß und lustlos über das Tablet strich, ging der Blick auf die Wand der Kiesgrube, die er schon oft gezeichnet und fotografiert hatte.
Es war ihm klar, dass er auf dem Tablet nicht eigentlich kritzelte und zeichnete, seine Finger zogen Linien, aber ob sie dick oder dünn, weich oder hart ausfielen, war nicht vom Druck abhängig, den er erzeugte, sondern von der Einstellung. Die Werkzeuge waren virtuell. Nicht er trug mit dem Pinsel Farbe auf, das Gerät ließ Farben auf einen Befehl hin erscheinen. Severin konnte sie verändern, speichern und wieder löschen. Es war nicht möglich, das eigene Werk zu berühren, die Finger berührten einen Bildschirm, immer denselben Bildschirm, dieselbe Oberfläche, was auch darauf dargestellt war.
Die Wand der Grube überragte das Atelier weit. Oben, am Rand, standen Bäume, deren Wachstum Severin Lerch über die Jahre hinweg verfolgt hatte, um einmal Skulpturen aus ihren Stämmen zu sägen. In der schroffen Wand nisteten Schwalben. Den stillen Tümpel, der im Hochsommer manchmal austrocknete, bevölkerten jetzt Frösche.
Sobald Severin an einer neuen Skulptur herumdachte, begann er, im Lager nach geeignetem Holz zu suchen, nach einem Stamm, dick genug für das Werk, das in seiner Vorstellung Gestalt annahm, während sich Augen und Hände mit dem Rohmaterial beschäftigten.
Ein Weg führte westwärts ansteigend aus der Kiesgrube hinaus, an seinem Ende begann die vertraute Landschaft – Wiesen, Ackerland, ein paar Gehöfte –, in welcher der Krater lag. Er war nicht eingepasst wie ein natürlicher See. Er ähnelte dem Einschlagloch eines Meteors. Die am Kraterrand stehenden Bäume, zwischen denen Severin die maskierten Männer mit den futuristischen Waffen zum ersten Mal hatte herumschleichen sehen, gehörten zum anschließenden Wald.
Spät am Morgen. Das Haus knarrte, Holz dehnte sich, die Sonne prallte auf das alte Dach. Isa machte sich im Bad zurecht, die Wasserleitung summte. Das Radio lief und brachte Welt ins Haus.
Der Spiegel war ehrlich. Besonders nachdem sie die Kontaktlinsen eingesetzt hatte. Doch die Augen waren akzeptabel, das Braun glänzte, das Weiß schimmerte wie Schildpatt. Isa schminkte die Lippen mit einem satten Zinnober. Das war der vollkommene Ton für heute. Die Entscheidung, ob sie eine Halskette oder Ohrringe tragen sollte, fiel ihr nicht leicht. Sie legte die Kette um den Hals und befestigte die Ohrringe. Schwere Kreolen. Zu viel Gold, sagte der Spiegel, und sie ziehen die Ohrläppchen nach unten.
Isa hatte eine Schwäche für Gold. Den Ring mit dem Rubin, den Severin ihr zum letzten runden Geburtstag geschenkt hatte, ließ sie bestimmt nicht weg. An manchen Tagen war er ein wenig zu groß und rutschte vom Finger, wenn sie mit der Hand eine zu heftige Bewegung ausführte.
Du hast dich ganz schön aufgebrezelt.
Isa wusste, dass Severin sie mit so einer Bemerkung nur aufziehen wollte. Er liebte ihre Art, sich zu kleiden, sie konnte gar nichts falsch machen, es amüsierte ihn, dass seine Frau, wenn ihr danach war, einen Nachmittag lang durch die Stadt stromerte, um den Gürtel zu finden, der ihr für das neue Kleid vorschwebte, denn unter dem Dutzend, die im Schrank hingen, entsprach keiner ganz ihrer Vorstellung.
Dabei habe ich ein Buch lesen wollen, konnte sie danach sagen, oder: Ich hatte einen Besuch im Museum geplant, die Pompeji-Ausstellung, schau, leider habe ich keinen Gürtel gefunden, aber Schuhe, die grünen Pumps sind doch genial.
Übertreib es nicht, könnte Severin heute einwenden.
Sie sollte die Kreolen doch lieber ablegen.
Severin war in ihrem Leben der Rückhalt, und sie war in seinem Leben doch auch eine feste Größe. Daran glaubte Isa. Sie wollte das glauben. Ihr Mann war ihr größter Fan und gab ihr das Gefühl, geliebt zu werden, immer noch. Wie eine Schauspielerin würde sie in der Küche auftreten, zum Brunch erscheinen. Um gelobt und bestätigt zu werden. Um den ersten Applaus des Tages entgegenzunehmen.
Severin hörte Isa die Treppe herunterkommen. Sie lebten seit vielen Jahren allein in dem großen Haus, doch Severin hätte die Schritte seiner Frau auch unter vielen anderen sogleich erkannt.
Er hatte den Tisch gedeckt, sogar Gänseblümchen in ein Glas gestellt. Sie war überrascht, strahlte, danke, Severin. Ein besonderer Tag, sie wusste seine Aufmerksamkeit zu schätzen. Gab ein paar kehlige Laute von sich, schaute auf die Uhr an ihrem Handgelenk.
Sie hatten vierzig Minuten Zeit.
Alles war vorbereitet, der Kaffee, ein perfektes Ei für Isa, und auch ihr Toastbrot genau so geröstet, wie sie es am liebsten mochte. Es musste noch warm sein, damit die Butter zerlief und die Orangenmarmelade in die Krume sickerte.
Isa umarmte ihren Mann.
Sie küsste ihn nicht, der frische Lippenstift.
Es war fast schmerzhaft schön. Sein Körper fühlte sich gut an, sein Herz klopfte laut. Verlangen flammte auf, verengte ihre Pupillen; sie hatte Lust, mit ihm zu schlafen. Aber das war jetzt nicht möglich, einmal mehr. Meistens wollte sie mit ihm schlafen, wenn er im Atelier arbeitete, und er wollte es, wenn sie sich im Radiostudio aufhielt. So blieb das Bett kalt.
Isa schmiegte sich an ihn, er roch frisch nach Morgen, ja, Severin war bestimmt schon draußen gewesen, war zum Atelier gefahren, um seinen Hund, das riesige Vieh, über das sie ein Hausverbot verhängt hatte, zu versorgen und ins Freie zu lassen. Auf dem Heimweg hatte er Käse und Schinken, Eier, Tomaten, Olivenpaste und frische Feigen für ihren Brunch eingekauft.
Das Radio lief auch in der Wohnküche.
Severin löste sich aus Isas Armen, hielt sie weiter an den Händen, pries das neue Kleid.
Isa schleckte bittersüße Marmelade vom Finger. Gefiltert von den mächtigen Kronen der Obstbäume, zwischen denen Severins große Skulpturen standen, strömte Helligkeit in die Küche.
Das Licht modellierte die Gegenstände.
Severin achtete darauf.
Isa empfand das Licht als Überschwemmung und behauptete, der Himmel sei nicht nur hellblau, sondern auch hellhörig, ein hochempfindliches Aufnahmegerät, dem nichts entgeht.
Wenn Severin einen Raum beträte, in Gedanken abwesend, an einem fremden Ort, wo er Isa nicht vermutete – aber unerwartet anträfe: In diesem unschuldigen Augenblick würde er sie als schöne Frau wahrnehmen.
Severin begehrte Isa noch immer.
Doch sie waren kein symbiotisches Paar, nie gewesen.
Es war das erste Mal in dieser Woche, dass sich Isa und Severin am Tisch gegenübersaßen, es war Freitag. Sie schliefen seit Jahren in getrennten Zimmern, er übernachtete hin und wieder auch im Atelier, und es war keine Seltenheit, dass sie ein paar Tage nichts voneinander hörten und sich im Haus auch nicht begegneten, zu unterschiedlich waren ihre Tagesabläufe und die innere Uhr.
Er stand früh auf, sie ging spät ins Bett.
Heute beginnt die Saison, Konzert am Nachmittag, wie du weißt, sagte sie, ich war mit den Vorarbeiten beschäftigt, habe mich einhören müssen, eingewöhnen.
Nicht gerade Tanzmusik, sagte Severin.
Nein, eher Musik wie ein Kreisverkehr im Kopf.
Ich habe viel gezeichnet in der letzten Zeit, sagte er, mit ein paar Blättern bin ich ganz glücklich.
Entspannt besprachen sie die verstrichenen Tage, ein Update, scherzte Isa. Jeder von ihnen liebte, was er tat, doch sie hatten sich das Interesse für die Arbeit des anderen bewahrt.
Severin freute sich über den neuen Murakami, den sie ihm schenkte, er hatte bereits darüber gelesen.
Sandra und Matthias, die erwachsenen Kinder, waren ein ergiebiges Thema, die kolossal tüchtige, stets um die Familie bemühte Tochter, die gern das Haus voll fröhlich lärmender Kinder hätte, und der manchmal abgehobene Sohn, ein smarter Coach, der Seminare mit dem Ziel leitete, das Selbst der Teilnehmer zu entwickeln und zu optimieren.
Es ist immer zu viel los, stöhnte Isa.
Du wärst doch unglücklich, wenn es anders wäre.
Das stimmt, gab sie zu.
Als Isa nach dem Brunch wegfuhr, ins Studio, wo sie noch Vorbereitungen zu treffen hatte und von ihrem jungen Assistenten mit den letzten Neuigkeiten vertraut gemacht wurde, räumte Severin den Tisch ab und stellte das Geschirr in die Spülmaschine. Auf dem Glas und der Tasse, die Isa benutzt hatte, waren Abdrücke von ihrem Lippenstift. Überall hinterließ sie Lippenstiftspuren. Er hatte einmal überlegt, sie festzuhalten, weibliche Markierungen. Malen konnte er das nicht, es blieb zu stofflich, gezeichnet stellte es ihn auch nicht zufrieden, als Comic wurde es zu hart, beim Fotografieren gelang es am besten, das Flüchtige und Fette zugleich, das konturlos Verschmierte. Wenn sie mitten in der Nacht heimkam und Durst hatte. Wenn sie aus der Flasche trank und er am Morgen den Lippenstift zuerst schmeckte, danach den Abdruck sah. Es war eine Unart. Isa verstand ihn nicht, Lippenstift hat doch keinen Geschmack, erklärte sie, Frauenzungen bemerken das nicht mehr, Frauen schlecken ihren Lippenstift weg und schlucken, ohne mit der Wimper zu zucken.
Dieser Stimme war der junge Severin erlegen. Ihrer Verführungsmacht. Fern im letzten Jahrhundert, nach dem Kurs Aktzeichnen an der Akademie. Statt nach Hause zu gehen, folgte er einer Eingebung, lief er der Nase nach. Und saß bald bei Freunden in einem Biergarten, an einem von einer blühenden Kastanie beschatteten Tisch. Eine Frau kam dazu, Isa, Isabella Leardi hieß sie. Neben Severin war noch ein Stuhl frei. Darf ich? Ja. Und der Funke sprang schon, bevor sie sich gesetzt und den Rock zurechtgezogen hatte. Ein gemeinsamer Bekannter stellte sie vor: Isabella studiert Kunstgeschichte und jobbt beim Radio.
Sie bestellte ein Bier.
Und als kennten sie einander seit ewig, begann Isa von ihren Plänen zu sprechen. Severin hörte genau zu. Eben noch hatte er im Saal der Akademie eine Frau gezeichnet, sie war nackt und nichts als ein Körper gewesen, ein Objekt, das er mit kühlem Blick studiert hatte. Jetzt saß er einer anderen Frau gegenüber, einer irritierenden Stimme, er könnte die Augen schließen, nur die Töne und Laute hören, Silben und Wörter.
Worüber sprach sie?
Sie lachte laut. Warum? Ihr Wesen, ihre Stimme hatten etwas Ansteckendes. Severin lachte ebenfalls. Ihre Stimme nistete sich ein. In seinem Ohr, in seinem Kopf, in seinem Körper.
Endlich ein Mann, freute sich Isa, der sie verstand.
Sie erzählte lebhaft von ihrer kürzlich eigenmächtig unternommenen Reise nach New York, von dem unmöglichen Interview, das sie unbedingt möglich machen wollte und das tatsächlich Aufsehen erregt hatte.
Ich habe es gehört, Bella, sagte Severin.
Nenn mich nicht Bella, ich kann das nicht ausstehen.
Severin rieb sich die Augen. Was hatte sie ihm erzählt, wie hatte sie ausgesehen? Die Stimmungen überwogen. Am nächsten Tag, als sie sich wiedersahen, beinahe überstürzt hatten sie sich verabredet, kam Isa der Gedanke, Severin höre ihr so verständnisvoll zu, weil er sie ins Bett bekommen wolle – oder redete und redete sie selbst unaufhörlich, weil ihr die Wirkung, der Zauber ihrer Stimme bewusst war, die Magie, weil sie, die angehende Moderatorin, diesen gut aussehenden Mann und angehenden Bildhauer ins Bett bekommen wollte? Er hatte einen Körper, er zog nicht nur durch ihre Phantasie, er saß ihr gegenüber. Ein ausgeprägter Körpermensch, muskulös, strapazierfähig, mit geschickten, sensiblen Händen. Dass sie für ihn bloß eine Stimme sein könnte, auf diesen Gedanken wäre sie nie gekommen. Und so war es ja auch nicht gewesen. Einer Stimme hätte er nicht die Hand auf den Schenkel legen können. Isa war mit dieser Hand sehr einverstanden.
Mit Ausnahmen.
In der Zeit ihres Kennenlernens war er heillos in Adalbert Stifters Der Nachsommer verstrickt. Ein Freund, der über den Roman seine Semesterarbeit schrieb, hatte ihm das Kuriosum untergejubelt. Der Freund sah in Stifter nicht nur einen Anti-Balzac, sondern fragte sich, wie der oberösterreichische Leidenschaftsverächter wohl auf den neun Jahre früher erschienenen Roman Die Kameliendame von Alexandre Dumas d. J. reagiert hätte. Die Halbwelt und die Waldwelt, kalauerte er und wollte mit dem Lesefreak Severin darüber disputieren.
Isa hatte ebenfalls in den Büchern herumgeschmökert.
Stifter lullt mich ein, die Uhr tickt immer langsamer, sagte sie, ich döse weg, der Roman ist eine Schlaftablette.
Es passiert einfach nichts, stimmte Severin Isa zu, aber plötzlich erlahmt beim Lesen meine Geduld, Stifter trachtet danach, meinen Körper wie etwas Überflüssiges, ja Lästiges auszuschalten, ich will und muss dann unbedingt etwas mit den Händen schaffen.
Ohne Stifter wäre Severin nicht auf die Kettensäge gekommen.
Sagten sie später und lachten darüber.
Dumas hat Die Kameliendame in unserem Alter geschrieben, fasste der Freund und zukünftige Literaturwissenschaftler zusammen. Stifter war ein älterer Herr von fünfzig Jahren, als er den Nachsommer dichtete. Sie lebten zur gleichen Zeit in verschiedenen Jahrhunderten, sie waren wie Feuer und Wasser und verkörperten Wertesysteme, die wir heute belächeln.
Severins Bude war vollgestellt, viele Bücher und ein paar Platten, wenig Kleider und Schuhe, er besaß ein altes Röhrenradio mit großen Knöpfen und ein Grammofon. Auf seinem Tisch waren Skizzen ausgebreitet, auf der Matratze auf dem Boden lagen Kunstbände, Michelangelo und Afrikanische Skulpturen, sie mussten die Bücher wegräumen. Doch das Geschirr war gespült, nichts in der Kochnische versifft, in dem Chaos steckte eine Ordnung, sie sah das auf den ersten Blick.
Er öffnete einen Wein, bot Paprikachips an, Früchte.
Sie wollte nur wenig essen, sie wollte viel reden.
Es ist nicht nur wichtig, wer man ist, in diesem Punkt herrschte Einmütigkeit, es kommt ebenso darauf an, was man liebt: welche Bücher, welche Musik, welche Filme.
Du lernst jemanden kennen, verliebst dich, sagte Severin, und bald merkst du, dass all die Dinge, die dir lebenswichtig sind und über die du dich definierst, diese Frau gar nicht interessieren. Sie versteht nicht, dass du eine Ausstellung sehen willst, sie hasst deine Bücher und hört Musik, die dich umbringt.
Dafür hat sie eine 90-60-90-Figur, grinste Isa.
Ein Mann und eine Frau Anfang zwanzig, die sich die Zukunft als einfache Angelegenheit vorstellten: ein roter Teppich, der für uns ausgerollt wird. Sie wussten, was sie zu tun hatten. Und dass das nicht genügte, dass es getan werden musste.
Sie waren jung. Ohne dem Jungsein große Beachtung zu schenken. Das Leben wartete auf sie, wohin sie sich wandten. Die Zeit lag so selbstverständlich vor ihnen, als ob ihr kein besonderer Wert beizumessen wäre.
Sie waren auch sachlich, nüchtern, gewissenhaft.
Isa und Severin teilten einen Apfel. Isa hätte einfach hineingebissen; Severin schnitt ihn mit dem Messer in Spalten.
Es ist ein Boskop, sagte er.
Was du nicht sagst, alberte sie, wehe, du lügst mich an.
Isa und Severin lachten viel, hielten sich an den Händen, bald konnten sie die Finger nicht mehr voneinander lassen. In seiner Bude hatten sie das erste Mal miteinander geschlafen.
Doch jetzt waren sie keine jungen Verliebten mehr, und der rote Teppich, na ja.
Matthias horchte auf. Er saß am Tisch, dachte über sein Konzept nach, über Routine und Erfahrung, über die Abgründe, die sie bargen. Er saß still da, die Zeit war ausgeblendet. Einmal, als er noch Angestellter war, hatte er nach Feierabend im Großraumbüro so reglos dagesessen und gearbeitet, dass das von einem Bewegungsmelder gesteuerte Licht ausgegangen war.
Matthias Lerch war Personalentwickler, er bot Kurse und Seminare an. Firmen buchten ihn für die Schulung junger, für den nächsten Karriereschritt vorgesehener Spitzenleute.
Ohne Führung macht jeder, was er will.
Matthias drehte das Radio lauter.
Isa Lerch sprach mit einem Komponisten. Der Mann, der in langen Sätzen und näselnd referierte, war ein Shootingstar und behauptete, seine Musik sei ohne Anfang und Ende.
Seine Mutter ließ den Komponisten über musikalische Strukturen und serielles Denken monologisieren. Bis er ins Stocken geriet und Musik mit einem nächtlichen Strom verglich, aus dem er mit angehaltenem Atem schöpfe.
Sie lassen sich von der Muse küssen, reizte die Mutter.
Oder sind Sie Buddhist?, hakte sie nach.
Matthias mochte ihre kernige Stimme.
Auf die romantische Erklärung des jungen Komponisten und die Fragen der Moderatorin folgte Stille. Matt fürchtete schon, die Leitung sei unterbrochen oder ein schwerer Hebel müsse noch umgelegt werden. Er wartete auf das Stück, in dessen Klänge der Sound eines Motorrads verschliffen sein würde. Kickte im Studio nicht bereits jemand die Maschine an? Oder drang der Motorenlärm von der Straße herein? Er stellte das Radio lauter. Nun war da ein Knistern. Es konnte der Grundton des Weltalls sein, die Gischt des ewigen Stroms, der sich bemerkbar machte, oder eine Störung im Gerät.
Es könnte der Anfang sein.
Gewesen sein?
Matthias Lerch war mit dem Radio aufgewachsen. Es gehörte zu seinem Leben. Als Junge hatte er es geliebt, im dunklen Zimmer im Bett zu liegen. Nur die Skala des Radios leuchtete. Er hatte darauf gewartet, seine Mama zu hören, ihre innige Stimme, gehofft, dass sie ihm eine gute Nacht wünschen würde, und einmal hatte sie es tatsächlich getan.
Der Dreiklang ertönte im Flur, ein Gong, jemand musste unten vor der Haustür auf die Klingel drücken. Ausgerechnet jetzt eine Störung. Matthias begab sich ins Schlafzimmer, wo er vom Fenster aus auf die Straße hinunterschaute. Sein Vater stand vor dem Haus, Matt sah seine Schirmmütze, seine kräftigen Schultern, seine Jacke, deren Taschen ausgebeult waren, weil er sie mit Büchern vollstopfte. Immer hatte der Vater ein Buch dabei, und darum, behauptete er, kenne er keine Wartezeit, nur geschenkte Zeit, Lesezeit. Das konnte Matthias so stehen lassen. Doch Severin neigte dazu, ihm Romane aufzuschwatzen.
Lies das, Matti, das solltest du unbedingt lesen.
Sein Hund, der japanische Akita, umstandslos auch Akita genannt, hockte neben ihm, ein großes schneeweißes Tier. Und jetzt drückte der Vater wieder den Klingelknopf. Sein Besuch passte Matt gar nicht, warum rief er nicht vorher an, um das abzusprechen? Matthias hatte überhaupt keine Lust, sich auf ihn einzulassen und sich mit ihm zu streiten.
Erneut der Dreiklang.
Gerade weil sein Vater so selbstgewiss Hier bin ich signalisierte, ließ Matt ihn auflaufen. Er wollte jetzt das vorn und hinten beschnittene Opus Zwei hören und nicht das Lamento seines Vaters, das ebenfalls kein Anfang und Ende kannte. Sein liebstes Thema, die Krise der Skulptur, kannte Matt schon auswendig. Alle Welt macht einen Aufstand um Installationen und Videos, die kein Mensch versteht, beschwerte er sich regelmäßig. Oder die Nackte auf der Kunstmesse in Basel. Schreibt BRA auf den Busen und SLIP auf den Hintern und verkündet: Ich erlöse euch damit von der Alltagsblindheit.
Genügte es nicht, den anstrengenden Vater und seinen Hund, mit dem Matthias ihn in den vergangenen Monaten öfter gesehen hatte als in Begleitung der Mutter, gelegentlich in einem Café zu treffen, damit er seine Theorien ausbreiten konnte? Während der Hund unter dem Tisch lag und Matt aufpassen musste, wohin er die Füße stellte. Denn das Tier ließ sich von Fremden nicht gern berühren, und Matt war für Akita immer ein Fremder geblieben. Er mochte das Tier nicht, Hunde generell nicht. Akita schien die Abneigung persönlich zu nehmen und hielt Abstand.
Große Hunde flößten Matthias Angst ein. Wenn sie auf ihn zutrotteten, die feuchte Nase auf sein Geschlecht gerichtet, das sie gleich ausgiebig beschnüffeln würden, nahm er die Hände hoch. Ein Fehler, den seine Mutter nicht beging. Isa empfand für den muskulösen japanischen Hund auch keine besondere Sympathie, aber sie wies das zudringliche Tier mit einem gezielten Klaps in die Schranken.
Akita ist nicht der Hellste, er hält Severin für Gott.
Der Sohn liebte die Mutter.
Mit dem Vater hatte er Schwierigkeiten. Der Vater kam ihm zu nah. Oder er kam gar nicht an ihn heran. Sie waren beide überempfindlich. Es fehlte ihnen das Gespür für die Distanz. Dabei liebte Matthias auch seinen Vater. Leider nicht immer gleich stark, und heute liebte er ihn gar nicht. Von dieser Erkenntnis verstimmt, ging er in sein Wohnzimmer zurück, wo nun, viel zu laut, das Konzert brandete, dessen Anfang er verpasst hatte.
Er zögerte, wollte dem Gespräch ausweichen.
Da hinterließ Severin schon eine Nachricht: Warum lässt du mich nicht ins Haus, was ist los mit dir, Matti, du bist doch in der Wohnung, sei nicht so albern, mach die Tür endlich auf, ich hab dich am Fenster gesehen.
Matthias stand wieder am Fenster, beobachtete den Vater und den misstrauischen Akita, der ihm Rückendeckung zu geben schien.
Wieder redete der Vater in sein Telefon, die freie Hand, eine große Hand, lag dabei auf dem Kopf des Hundes: Hörst du mich denn nicht, bist du etwa nicht allein, Matt, aha, verstehe, lass dich nicht dabei stören, ich warte im Schreibladen an der Ecke, bis ihr fertig seid.
Doch Severin Lerch wandte sich nicht ab, er klingelte erneut. Das war typisch: Der Vater sagt dies und tut das, er ist ein Verfechter des Mottos, dass auch das Gegenteil der Wahrheit wahr ist, ja, verschiedene Wahrheiten stehen wie Skulpturen einträchtig nebeneinander.
Jetzt scharrte der Vater vor der Tür, schüttelte den Kopf, ungeduldig und ungehalten, weil sie nicht aufging. Matthias erinnerte sich, wie enttäuscht er als Junge immer wieder vor der verschlossenen Ateliertür gestanden hatte.
Am Morgen hatte der Vater ihm einen Kinobesuch versprochen, Dschungelbuch, abgemacht. Am Nachmittag, als Matti an die Tür klopfte, war er gar nicht da. Er hatte sein Versprechen vergessen. Einzig beim Zeichnen war auf ihn Verlass gewesen. Der Vater liebte Comics. Geduldig zeigte er seinem Jungen, wie man ein Gesicht aufbaut, wie man die Mimik verändert, wie man eine Figur entwickelt.
Schau Micky-Maus an, er hat nur vier Finger. Für alle Gesten genügen vier Finger.
Severin Lerch war von seiner Kunst besessen. Die Erde war nicht das Zentrum des Sonnensystems, der Künstler aber der Mittelpunkt seines Universums.
Mit der Kettensäge bearbeitete er Baumstämme, seine archaischen Skulpturen hatten ihn bekannt gemacht, Frauen mit spitzen Brüsten, stämmigen Beinen und einem derb geschnitzten Geschlechtsteil, das er am Schluss mit einem Farbklecks markierte.
In Mattis Erinnerung arbeitete der Vater auf dem Werkplatz, eine Dose mit Farbe in der einen Hand, den Pinsel in der anderen. Matthias näherte sich, der Vater bemerkte ihn und fragte: Willst du? Bevor der Junge sich äußerte, überließ er ihm Dose und Pinsel. Matti zögerte. Sei nicht zimperlich, ermunterte der Vater, los. Matti errötete. Der Vater grinste und nahm ihm die Gerätschaften aus den Händen, tauchte den dicken Pinsel, ohne lange zu fackeln, in die Farbe und stupste die Skulptur genau dort an, wo man nicht einfach so hinlangte.
Der Beifall klang verhalten, aber der Tontechniker achtete darauf, dass der Applaus die Abmoderation angemessen untermalte. Isa Lerch wartete, sie hatte ein Gespür für Pausen, und verabschiedete sich dann von den Hörerinnen und Hörern zu Hause.
Das Lämpchen leuchtete auf.
Sie war nicht mehr auf Sendung.
Der Komponist verneigte sich, die Musiker hatten sich erhoben. Isa betrat die Bühne, umarmte den Komponisten. Er zitterte. Opus Zwei war nun in der Welt und keine Zukunftsmusik mehr. Gut gelaunt wandte Isa sich an das Publikum im Saal. Der Applaus umfing sie. Isa Lerch dankte, klatschte mit, alle hingen an ihren Lippen, als sie die Schlussworte sprach. Sogar das auf der Konzertbühne exotisch wirkende Motorrad, die feuerrote Ducati, schien in den Bann der klugen Moderatorin geraten zu sein.
Ein paar Minuten später strömte das Publikum ins Foyer. Zufriedene Mienen, Grüppchen bildeten sich, man redete, palaverte, bediente sich am Buffet und verdrehte den Hals nach Isa Lerch.
Sie schien immer im Licht zu stehen.
Oder leuchtete sie von innen heraus?
Isa war nach der geglückten Sendung euphorisiert, fühlte sich aber auch eingekreist, bedrängt. Sie spürte den Wunsch der Gäste – und alle waren ihre Gäste –, in ihre Nähe zu gelangen.
Eine Ducati, erstklassig, sagte ein Konzertbesucher mit buschigen Koteletten, wissen Sie, dass Harley-Davidson seinen Sound patentieren lassen hat, als geistiges Eigentum?
Isa wusste es nicht.
Ein Konkurrent aus Japan hatte einen Chip entwickelt und in seine Maschinen eingebaut, damit sie röhrten wie Harleys. Den mussten sie wieder ausbauen, erzählte der Mann mit einem Grinsen, ich bin die Route 66 mit einer Moto Guzzi California gefahren, von Chicago nach Santa Monica. Der Komponist hat das Vibrato der Maschine in sein Stück einbezogen, so etwas hat schon Pink Floyd ausprobiert. Auf der Platte Ummagumma surrt eine Stubenfliege herum.
Isa nahm sich Zeit, hörte geduldig zu, sie genoss das auch, den persönlichen Kontakt mit ihren Fans, den Austausch mit ein paar Stellvertretern der Tausendschaften, die draußen zugehört hatten.
Ich bin mit meiner Frau hier, sagte der Mann, aber eigentlich bin ich wegen Ihnen gekommen, Isa. Hätte ich noch mein Motorrad, würde ich Sie zu einer Spritztour einladen.
Das geht nun leider nicht, folgerte Isa, dafür könnten Sie mir ein Glas Prosecco besorgen.
Yep, das mach ich sehr gern, es ist mir eine Ehre.
Der willige Mann, der sein kostbares Resthaar hinten zu einem Schwänzchen zusammengebunden hatte, machte sich zügig auf den Weg zur Theke.
Seine Frau blieb bei Isa stehen und kommentierte das Opus Zwei: Meins war das nicht, ich steh immer noch auf Johnny Cash.
Isa bemerkte, dass die etwas klapprige Frau ein indianisches Armband trug. Ihr Haar war rabenschwarz, sie hatte schwere rote Lippen.
Der Mann mit dem Entenschwänzchen brachte Isa und seiner Frau ein Glas Prosecco.
Danke, rief Isa, hob das Glas.
Auf Led Zeppelin, knurrte der Mann und zwinkerte seiner Frau zu, die beiden waren im Gleichklang.
Stairway to Heaven.
Der nette Proseccoholer und Led-Zeppelin-Fan freute sich und zeigte Isa ein Foto auf seinem Handy: Er lehnte mit nacktem Oberkörper lässig an einer Moto Guzzi, seine Frau saß im Sattel, lange Beine in Hotpants, beide waren nicht wiederzuerkennen.
Da tragen Sie eine Levi’s 501, sagte Isa.
Das stimmt, bestätigte der Mann, die 501 bleibt unübertroffen.
Er ist in Sie verliebt, verriet seine Frau und zupfte an seiner Krawatte. Er folgt Ihnen auf Facebook.
Eine reizende Dame mischte sich ein, sie war nervös: Ich möchte nicht stören, Frau Lerch, ihre Stimme überschlug sich, ich höre Sie immer beim Autofahren, ich habe Ihnen Truffes du Jour mitgebracht.
Lächeln aus Freundlichkeit. Isa war gewillt, deutlich zu zeigen, wie wichtig ihr die Leute waren. Ältere Herrschaften, treue Hörerinnen und Hörer, ihre Generation oder ein paar Jahre älter. Einige von ihnen waren früher Blumenkinder gewesen, sie hatten Marihuana geraucht und am Strand Liebe gemacht.
Ein storchenbeiniger Herr sprach Isa an, Beatles-Mähne, geföhnt und schneeweiß.
Heutzutage fehlt der Welt die Magie, behauptete er und räusperte sich, mit Verlaub, Frau Isa, Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band ist noch immer meine Lieblingsplatte.
When I’m 64, augenzwinkernd deutete er die Melodie an.
Ja, lachte Isa, das hören wir jetzt mit anderen Ohren.
Damals war der Popsong ein launischer Vorgriff gewesen, Zukunftsmusik, nicht einmal ihre Eltern waren so alt gewesen.
Viele von Isas Jahrgängern hatten auch damals einen gediegenen Liederabend den angesagten neuen Krachmachern vorgezogen. Andere hatten sich wirren Sinfonien wie schicksalhaften Stürmen überlassen. Und Tausende hatten schlichte Schlager geträllert. Nicht jeder schaffte es, rechtzeitig in der Zeit anzukommen, in der er lebte. Das galt auch für Isa. Sie steckte nicht selten mit dem rechten Fuß in einem anderen Jahrzehnt als mit dem linken.
Zeit, das schien etwas Unverbindliches zu sein, es gab massenhaft davon, verschiedene Zeiten, ineinander verschoben und verschachtelt. Die meisten Leute ihres Alters hatten sich wohl aus diesem Grund irgendwann einmal erlaubt, einen Schnitt zu machen. Als wären sie der Gegenwart überdrüssig geworden. Als hätten sie Augen am Rücken, eine neue Sicht, die es ihnen nahelegte, ohne Ironie zu verkünden: Zu meiner Zeit.
Es war ein anderer Ausdruck für damals. Darauf kamen sie am liebsten zurück, immer neu. Mit einem verstörenden Lächeln. In jedem Leben schien es so etwas wie ein Goldenes Zeitalter zu geben, von dessen Helden man sich schwerer als vom Ehepartner trennte. Isa wusste das nicht zuletzt aus Gesprächen mit Radiohörern, die sich ihr am Telefon anvertraut hatten.
Nun waren sie in Scharen gekommen, gut gelaunt, um ein paar Worte mit Isa zu wechseln. Hier zu sein erfüllte sie mit Stolz, sie wähnten sich ihr in einer Art Komplizenschaft verbunden. Autogramme verlangten sie nicht; aber bitte ein Foto, sie hielten ihr Phone schon in der Hand, und sie wollten mit Isa Lerch anstoßen.
Sie waren wirklich sehr verschieden, gleich nur im Alter. Und alle waren sie weiter entfernt von ihrem ersten Tanz als von ihrem letzten.
Rock ’n’ Rollstuhl.
Einige hatten in ihrer Zeit im Bach-Chor gesungen und in Weiß geheiratet. Andere hatten in ihrer Zeit in Konzerten randaliert und Stühle kaputt geschlagen. Jetzt standen sie einträchtig um das Buffet herum, nippten an Sektgläsern, kosteten Häppchen und waren darauf bedacht, dass nichts zwischen den Zähnen hängen blieb.
Hände weg von Mohnbrötchen.
Dauerlächeln, Isa spürte ihr Gesicht nicht mehr.
Merci, sagte eine muntere Lady mit rosafarbenem Haar, sie betrachtete das Foto auf dem Display, lächelnd, das zeige ich meinen Freunden heute Abend im Tangokurs.
Mit einem Mal fühlte Isa sich müde, die Anspannung war von ihr gewichen, der Adrenalinspiegel sank, die Zuneigung hatte sie ausgelaugt, der Prosecco benebelt. Sie hatte an diesem Ort nichts mehr zu tun und den Wunsch, abzuhauen. Natürlich war ihr klar, dass das nicht ging, dass sie das nicht tun durfte, es wäre ein Affront. Durchzuhalten gehörte zu ihrem Job, entspann dich, Isa.
Kommen Sie einmal zu uns in den Scrabble-Club? Ich darf Sie offiziell einladen, ich bin die Präsidentin.
Die Dame trug einen violetten Businessanzug und eine rosa Rüschenbluse, sie kramte in der Handtasche und überreichte Isa ihre Visitenkarte, ohne dass sich in ihrem Gesicht dabei ein Fältchen bewegte.
Jetzt durfte auch sie gehen.
Gut gemacht, Respekt.
Matthias hatte ihr eine SMS geschickt: Der wohlerzogene Sohn lobte das Konzert, aber das war nicht die Hauptsache, wichtig war, dass er seiner Mutter ein Zeichen gab, genau wenn sie es brauchte.
Eine junge Frau fing Isa vor der Ausgangstür ab. Sie hatte ein schmales Gesicht, rostrotes Haar, asymmetrisch geschnitten, eine üppige Strähne fiel ihr über die Augen.
Sie strich das Haar beiseite.
Isa glaubte, sie zu kennen, ihr Gesicht war ihr aufgefallen, in der Cafeteria. Sie erinnerte sich auch an die Geste, mit der sie den Haarvorhang beiseiteschob, nicht aber an ihren Namen.
Sie waren doch Redakteurin bei uns?
Ja, Sie haben ein gutes Gedächtnis, vor bald einem Jahr, ich heiße Dorit Rösner. Hätten Sie ein bisschen Zeit für mich?
Isa spürte, dass sie die Stirn runzelte, während sie zu verstehen suchte, was sich hinter der harmlosen Frage verbarg.
Kommen Sie mit, forderte Isa die Frau auf.
Durch die Glastür trat sie ins Tageslicht, die Helligkeit schmerzte in den Augen, sie schützte sich mit der Sonnenbrille.
Gleich um die Ecke war ein Pub, dort ging sie gern hin, das Lokal war angenehm düster. Nach Auftritten zog Isa die Höhle einem Straßencafé vor. Sie hatte für heute genug Licht abbekommen. Ein Guinness war jetzt das Richtige, ein Absacker.
Sie zogen los.
Schon wieder hatte Isa jemanden im Schlepptau.
Leider zieht Konzert am Nachmittag kein junges Publikum an, begann Isa und ärgerte sich, warum machte sie ihre eigene Sendung herunter? Die jüngsten Zuhörer, fuhr sie trotzdem fort, sind mittelalt, kultivierte Endvierziger.
Das liegt auch an der Musik, sagte Dorit. Es ist Musik, zu der einem kein Tanzschritt einfällt, man erstarrt, verkrampft sich, ich habe morgen Muskelkater, weil ich mich nicht entspannen konnte.
Dann hat Ihnen das Konzert überhaupt nicht gefallen?
Dorit schüttelte den Kopf. Mir musste es ja nicht gefallen. Ich bin wegen Ihnen hier. Und es hat mir auch großen Spaß gemacht. Die Musiker waren süß. So erwachsen bei der Sache.