Andy Stanton
Mr Gum und der schauerliche Hund von Bad Lamonisch
Aus dem Englischen von Harry Rowohlt
FISCHER E-Books
Andy Stanton wohnt in Nord-London. Er studierte Englisch in Oxford, aber da haben sie ihn rausgeschmissen. Er war Drehbuchdramaturg, Witzbildzeichner, NHS-Lakai und vieles, vieles andere. Er hat viele Interessen, aber am liebsten mag er Cartoons, Bücher und Musik (sogar Jazz). Eines Tages möchte er in New York oder Berlin oder so leben, weil er Phantasien über die Boheme nachhängt. Sein Lieblingsausdruck ist »Ich habe keinen Lieblingsausdruck«, und sein Lieblingswort ist »ist«. Dies ist sein neuntes Buch.
David Tazzyman lebt mit seiner Freundin Melanie und seinem Sohn Stanley in Süd-London. Er wuchs in Leicester auf, studierte Illustration an der Manchester Metropolitan University und bereiste dann Asien, bevor er 1997 nach London zog. Er mag Fußball, Kricket, Musik und Zeichnen. Sellerie mag er immer noch nicht.
Erschienen bei FISCHER E-Books
Die englische Originalausgabe erschien 2011 unter dem Titel ›Mr Gum in ‘The Hound of Lamonic Bibber’ Bumper Book!‹ by Egmont UK Limited, London
Text copyright © 2010 Andy Stanton
Illustration copyright © 2010 David Tazzyman
Für die deutschsprachige Ausgabe:
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2015
Covergestaltung: Karin Dahlhaus, Vreden, unter Verwendung einer Illustration von David Tazzyman
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-7336-0113-3
Es war ein schniekes Abendessen gewesen, ein sehr schniekes sogar. Roastbeef mit Kartoffeln und Meerrettichsauce und dann hinterher der größte, köstlichste Pflaumenrüpel, der dir je unter die Augen gekommen ist. Doch nun lehnte sich Freitag O’Leary zurück, rülpste einmal und wandte sich an seine Gäste.
»Jetzt aber Schluss mit diesem ständigen Herumgesitze und sich mit Essen Zugeschaufele wie das gemeine Getier und sich Pflaumenrüpel unter die Augen kommen Gelasse«, sagte er. »Ziehen wir uns ins Arbeitszimmer zurück, allwo ich eure Phantasie mit einer der unglaublichsten Geschichten aufrütteln werde, die je erzählt worden ist.«
Also folgten die neun Jahre alte Polly und der kleine Björn Schneyder, jener Schulleiter aus Honigkuchen, der nicht größer war als ein handelsüblicher Bleistift, Freitag in sein Arbeitszimmer. Und dort saßen sie nun auf tiefgepolsterten Ledersesseln und bestaunten die Sammlung ihres Freundes, für die er interessante Stücke aus aller Welt zusammengetragen hatte: seltene sprechende Blumen, der fehlende Teil aus dem Bildteppich von Bayeux, der alle Soldaten beim Disco-Tanz zeigte, ein winziges Pony, das in einer Milchflasche lebte, ein von einem Floh geschriebenes Buch – und viele schöne Dinge mehr.
»Was machen diese Dinger hier, Freiti?«, sagte Polly und zeigte auf zwei große alte, verrostete Glocken, die über dem Kamin hingen.
»Das sind die legendären Glocken des Charlie Nest«, sagte Freitag. »Sie gehörten einem furchterregenden amerikanischen Bäcker namens Charlie Nest. Und jetzt kommt etwas Merkwürdiges: Sie läuten immer noch, wenn irgendjemand irgendwo auf Erden ein Brötchen kauft.«
»Und was ist damit?«, sagte Björn Schneyder und zeigte auf einen großen Bronzekopf, der in einer Ecke des Zimmers stand und stolz und wild aussah. »Woher ist der?«
»Ich habe keine Ahnung«, sagte Freitag. »Der ist einfach eines Nachmittags hier hereinspaziert, und jetzt werde ich ihn nicht mehr los. Manchmal, wenn man ihm in den Mund sieht, ist der voller Süßigkeiten. Dann sind es nur Insekten oder Watte. Deshalb nenne ich ihn den ›Riesenhaften Herrn Unvorhersehbar-im-Gesicht‹.«
Draußen fiel der Schnee, sanft und verstohlen wie seltsame, gefrorene Musik. Der Wind schlug gegen die Türen und Fenster der geheimen Hütte: Lasst mich ein, lasst mich ein. Aber drinnen war alles in Ordnung. Das Feuer flackerte auf dem Rost, der Riesenhafte Herr Unvorhersehbar-im-Gesicht stand still und stumm, und die Katze schnurrte zufrieden auf dem heimischen Herd.
»Ich wusste gar nicht, dass Sie eine Katze haben«, sagte Björn Schneyder und ging zu ihr, um sie zu streicheln.
»Habe ich auch nicht«, sagte Freitag, und prompt verschwand die Katze.
»Also«, fuhr er fort, machte es sich auf seinem Sessel bequem und schlug die Nase übereinander. »Es ist Zeit, euch meine Geschichte zu erzählen. Denn wie ihr vielleicht wisst, bin ich nicht nur ein wunderbarer alter Bursche, der köstliches Roastbeef brät und leckere Pflaumenrüpel bäckt. Ich bin außerdem noch ein überragender Detektiv mit dem Gehirn einer Eule. Zu meiner Zeit habe ich so manche erstaunlichen Rätsel gelöst, wie zum Beispiel das Rätsel der orientalischen Krabbe, das Rätsel des orientalischen Eises, das Rätsel der orientalischen Halskette und das Rätsel, weshalb so viele Rätsel nur aus dem Wort ›orientalisch‹ und einem x-beliebigen Gegenstand dahinter bestehen. ›Aber ist es leicht, Detektiv zu sein?‹, werdet ihr fragen«, fuhr er fort. »Nein, das ist es nicht! Oh, ich sah mich vielen Gefahren gegenüber, einschließlich schrecklichen Giften! Gewehren! Fallen! Schwertern! Und einem Mann, der sich immer wieder anschlich und mir auf die eine Schulter klopfte, aber wenn ich mich umdrehte, stand er immer hinter der anderen Schulter! Das war sein Trick! Es war grauenerregend! Wie schwierig und gefährlich diese Rätsel auch waren, so konnte sich doch keines mit meinem bei weitem unglaublichsten Fall messen –, dem schauerlichen Hund von Bad Lamonisch an der Bibber. Ich habe nie über diesen Fall gesprochen, und ich werde es auch nie tun! Ich habe geschworen, nie ein Sterbenswörtchen darüber zu verlieren, niemandem gegenüber. Nie! Tut mir leid, aber meine Entscheidung ist unwiderruflich. Ich weigere mich total, drüber zu sprechen.«
»Och, bitte«, sagte Björn Schneyder.
»Na gut«, sagte Freitag. »Das Rätsel beginnt vor vielen, vielen Jahren, bevor auch nur einer von euch beiden auch nur geboren war –«
»Nein, beginnt es nicht«, sagte Polly. »Das war erst vor ein paar Jahren, weißt du das nicht mehr? Tatsache ist, dass ich dir geholfen habe, es zu lösen.«
»Stimmt ja«, sagte Freitag. »Okay. Das Rätsel beginnt also vor nicht ganz so vielen Jahren. Es war eine Nacht, genau wie diese –, es hat geschneit wie blöd! Oh, der Schnee fiel wie –«
»Es hat nicht geschneit, Freiti«, sagte Polly. »Es war neblig.«
»Ah, ja«, sagte Freitag. »Stimmt.«
»Du bist wirklich ein Idiot«, sagte eine Tulpe in einer Vase auf dem Kaminsims. »Erzähl die Geschichte richtig.«
»Tut mir leid, seltene sprechende Blume«, sagte Freitag. Und die Stimme senkend, indem er aus seinem Sessel aufstand und sich mit dem Gesicht nach unten auf den Teppich legte, begann Freitag erneut mit seiner Erzählung.
»Der Nebel kroch herein«, sagte er. »Kroch über die ungezähmten und verzauberten Hochmoore. Und durch sein Kriechen bildeten sich ganz feine Wirbel. Wirbel«, flüsterte Freitag im flackernden Licht des Feuers. »Wirbel. Wirbel. Wirbel …«
Wirbel, Wirbel, Wirbel.
Der Nebel schlängelte sich seinen Weg durch die Mitternachtsstraßen von Bad Lamonisch an der Bibber, dick und kalt, und so leise wie ein Meuchelmörder.
Wirbel, wirbel, wirbel.
Der Nebel kroch zum Angeberhügel hinauf und schlug dort oben mal hier, mal dort zu wie ein hinterhältiger Zahnarzt.
Wirbel.
Der Nebel wirbelte noch ein bisschen mehr.
Kein Wirbel.
Der Nebel vergaß zu wirbeln, hing nur so herum und tat nichts.
Wirbel, Wirbel, Wirbel.
Dann fiel es ihm wieder ein, und er machte so weiter wie vorher. Der Nebel umklammerte die Stadt mit seinen kalten, feuchten Fingern, und sogar der Mond hatte Angst, herauszukommen und ihn zu bekämpfen.
Auf der Hauptstraße schien ein einzelnes Licht durch den Nebel. Es kam aus dem Metzgerladen, Willi Wilhelms des Dritten kgl. Fleischwaren. Und wenn du sorgfältig hinhörst, kannst du die Stimmen, die aus dem Innern drangen, hören.
»Hier kommt jetzt ein brillanter Zug«, knurrte die erste Stimme. »Ich werde meinen Läufer nach da drüben schieben und deiner albernen Dame die dämliche Visage einschlagen!«
»Ach, ja?«, krächzte die andere Stimme. »Dann werde ich eben deinen Läufer mit diesem hier, der aussieht wie ein kleines Pferd, total zusammenfurzen!«