Irmgard Weth
neu erzählt und kommentiert
„Nachdem Gott vorzeiten vielfach und auf vielerlei Weise
geredet hat zu den Vorfahren durch die Propheten,
hat er in diesen letzten Tagen zu uns geredet durch den Sohn.“
Hebr 1,1
Was ist das Geheimnis der Bibel? Worin liegt ihre eigentümliche Faszination? Warum werden Menschen bis heute von ihrer Botschaft ergriffen? Es ist das Zeugnis von dem Einen Gott, der auf vielfache Weise zu Menschen gesprochen hat und spricht. Es ist das eine Wort Gottes, das verborgen die ganze Geschichte der Menschheit durchzieht und in Jesus Christus seine Mitte hat. Alle Erfahrungen der Menschen, Freude und Leid, Hoffnung und Enttäuschung, Zeiten der Gottesnähe und Zeiten der Gottesferne, sind von diesem Wort umschlossen.
Das ist die verheißungsvolle Botschaft, die das Alte Testament für uns bereithält. Zu Unrecht trägt dieser Teil der Bibel den Namen „Altes“ Testament. Er ist durch das Neue Testament weder überholt noch widerlegt. Vielmehr führt er uns an den Anfang und auf den Grund unseres Glaubens zurück und lädt dazu ein, die Botschaft der Bibel ganz neu und von Anfang an zu buchstabieren. Dabei werden wir die überraschende Entdeckung machen, dass der Gott des Alten Testaments – entgegen vielen Vorurteilen gegenüber dem sog. „alttestamentarischen Gott“ – ein Gott der Liebe ist. „Wo ist solch ein Gott, wie du bist?“, ruft der Prophet Micha aus, überwältigt von Gottes vergebender Liebe (Mi 7,18). Und staunend bekennt die Gemeinde in den Psalmen: „Wer ist wie der Herr, unser Gott, der oben thront in der Höhe und der den Geringen aufrichtet aus dem Staub?“ (Ps 113,5–7). Es ist das Staunen über den Weg Gottes, der in die Tiefen der Menschheit herabsteigt und den Menschen nahekommt. Das ist die gute Nachricht, das „Evangelium“ des Alten Testaments, das zu Recht auch das „Erste Testament“ genannt wird. Es ist der verborgene Schatz, den es in diesem alten Buch neu zu entdecken gilt. Der Vater Jesu Christi ist kein anderer Gott als der, „der Himmel und Erde geschaffen hat“, und der sich seinem Volk als „der Herr, dein Gott“ offenbart hat (Ex 20,2).
Der vorliegende Band möchte die Leserinnen und Leser mit auf den Weg nehmen, den die Schriften des Alten Testaments selbst vorgeben. Auf diesem langen, aber lohnenden Weg will er uns die Botschaft dieses alten Buchs neu erschließen. In Entsprechung zu den drei großen Kapiteln des Alten Testaments – Geschichtsbücher, Prophetische Bücher und Lehrbücher – beschreibt er den Weg des Wortes Gottes in drei Schritten: (1) Gottes Wort in der Geschichte seines Volkes, (2) Gottes Wort im Wort der Propheten, (3) Gottes Wort in der vielstimmigen Antwort der Gemeinde auf sein Wort.
Dabei sind vorweg zwei grundlegende Fragen zu klären:
(1) Wie soll in diesem Band von Gott geredet werden? Gott hat sich Mose mit seinem Namen offenbart (Ex 3,14) und bleibt doch der Unfassbare, der sich dem Zugriff des Menschen entzieht. In jüdischer und auch in christlicher Tradition wird dem dadurch Rechnung getragen, dass der Gottesname JHWH nicht ausgesprochen, sondern durch die Anrede „Herr“ (hebr. „adonaj“ ) ersetzt wurde. Als Ausdruck der Ehrerbietung gegenüber dem heiligen Gott wird sie in dieser Ausgabe bewusst beibehalten und nicht durch andere Gottesnamen ersetzt.
(2) Wie können die Texte der Bibel in die Sprache unserer Zeit übersetzt werden und dennoch ihrem eigenen Anspruch als verbindliches Wort gerecht werden? Voraussetzung dafür ist, dass wir den Texten zutrauen, dass sie in jeder Zeit und zu allen Menschen sprechen, dass wir sie ausreden lassen und ihnen nicht ins Wort fallen. Dies gilt auch für die Textfassungen in diesem Band. Sie sind aus dem ständigen Dialog mit den biblischen Originaltexten hervorgegangen und möchten diese in unserer Zeit neu zum Klingen bringen.
Dabei folgt die vorliegende Ausgabe des Alten Testaments nachstehenden Leitlinien:
kommen in ihrer Vielstimmigkeit zur Sprache. Die Auswahl und der Umfang der Texte richtet sich nach ihrem jeweiligen Inhalt. Durch sie soll sich ein repräsentatives Bild des Ersten Testaments und seiner besonderen Botschaft ergeben. Ergänzende Texte aus den apokryphen Schriften konnten nur in Ausnahmen berücksichtigt werden.
liegen neben der hebräischen Textvorlage verschiedene Übersetzungen zu Grunde. Die Texte orientieren sich aber vorzugsweise an der revidierten Fassung der Lutherbibel (1984). Zum einen, weil die Sprache Martin Luthers in ihrer Dichte, in ihrer Ausdruckskraft und in ihrem Sprachrhythmus Maßstäbe gesetzt hat, an der sich die eigene Textfassung zu messen hat. Zum andern, weil sich die Neukirchener Bibel in der Tradition Martin Luthers versteht und vertraute Texte auch bei behutsamen Veränderungen wiedererkennbar bleiben sollten. Bei der Gestaltung der Texte wurde vor allem auf den Sprachfluss und auf den Rhythmus der Sprache geachtet. Dabei war die eigene Erfahrung leitend, dass sich die Texte der Bibel oft erst bei lautem Lesen und bei fortlaufender Lesung voll erschließen.
zu den einzelnen Büchern stellen den jeweiligen geschichtlichen Zusammenhang her und zeigen die inhaltlichen Schwerpunkte ihrer Botschaft auf. Sie sind vor allem als Hilfe zum eigenen Bibelstudium zu verstehen.
im Anschluss an die biblischen Texte möchten einen eigenen Zugang zu den Textaussagen erschließen. Dies gilt insbesondere für jene Texte, die uns fremd und widersprüchlich erscheinen.
bilden einen eigenen Schwerpunkt in dieser Ausgabe. Zum einen sind sie den Erzähltexten zugeordnet, wo immer es die Psalmtexte selbst nahelegen. Zum anderen werden am Ende des Buches ausgewählte Psalmgebete aus dem Psalter vorgestellt. Die dazugehörigen Meditationen möchten dazu anregen, eine eigene Antwort auf die Psalmen zu formulieren.
Dieser Band wäre ohne intensive Begleitung nicht zustande gekommen. Zuerst danke ich meinem Mann, Dr. Rudolf Weth, der das Projekt von Anfang an unterstützt, beraten und begleitet hat. Ferner danke ich dem Verlag für seine vielfache Unterstützung, und stellvertretend für viele andere danke ich Nicole Rupschus für die sorgfältige und theologisch fundierte Durchsicht des Manuskripts. Mein Dank gilt aber vor allem Birgit Schubert, Mitarbeiterin im Neukirchener Kalenderverlag. Durch ihren unschätzbaren Einsatz, ihre kontinuierliche Begleitung und kompetente Beratung hat sie entscheidenden Anteil an der Gestaltung und Fertigstellung dieser Buchausgabe.
Allen, die sich auf den Weg machen wollen, das Alte Testament neu zu entdecken, wünsche ich, dass sie sich von dessen einzigartiger Botschaft fesseln lassen. Denn:
„Unwiderlegbar, unzerstörbar, nie abgenutzt durch die Zeit wandert die Bibel durch die Zeitalter. Ohne Zögern schenkt sie sich allen Menschen. In 3000 Jahren ist sie nicht um einen Tag gealtert. Ihre Kraft wird nicht geringer. Tatsächlich steht sie erst am Anfang ihrer Wirksamkeit. Noch heute ist es, als sei sie nie angerührt worden, als hätten wir nicht einmal damit begonnen, sie zu lesen.“
Abraham Joshua Heschel
Neukirchen-Vluyn, im September 2014
Irmgard Weth
Psalmen, die den Texten in diesem Buch zugeordnet sind:
„Was wir gehört und erfahren haben,
und unsere Vorfahren uns erzählt haben,
das wollen wir ihren Nachkommen
nicht verschweigen.
Wir verkünden ihnen die großen Taten,
die Gott getan hat.“
nach Psalm 78,3ff
Die Geschichtsbücher des Alten Testaments enthalten das vielstimmige Zeugnis von der Geschichte Gottes mit seinem Volk. Sie umfassen einen Zeitraum von über 1000 Jahren, der von den ältesten überlieferten Texten bis zur endgültigen Festlegung der Bücher des Alten Testaments reicht. Ihr verbindendes Thema ist die Geschichte Israels im Horizont der Weltgeschichte. Im Unterschied zu profaner Geschichtsschreibung erfassen die Geschichtsbücher des Alten Testaments nur einen verschwindend kleinen Ausschnitt der Weltgeschichte. Und doch haben ihre Zeugnisse die Geschichte der Menschheit bleibend geprägt, weil in ihnen Gott als der Herr aller Geschichte bezeugt wird.
Das macht die Eigenart der Geschichtsbücher des Alten Testaments aus: Sie sind ganz in der Geschichte verwurzelt – und gehen doch in ihr nicht auf. Sie konzentrieren sich in ihrer Darstellung auf einen begrenzten Raum in der Geschichte – und doch sprengt ihre Geschichte Raum und Zeit, weil sie sich zu dem einen Gott als dem Herrn aller Menschen bekennen, dem Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gehören. Sie enthalten Zeugnisse aus vielen Jahrhunderten – und doch wollen sie nicht nur als historische und literarisch wertvolle Zeugnisse wahrgenommen werden, sondern als Gottes Wort, vermittelt durch Menschen, die sein Wort und Wirken in der Geschichte erfahren haben. Sie alle stehen in einer Kette von Zeugen, an deren Anfang nicht nur ein Name steht. Vielmehr sind sie Ausdruck des vielstimmigen Chors der Gemeinde aus vielen Jahrhunderten.
Dies gilt insbesondere für die 5 Bücher Mose, die in den christlichen Bibeln nüchtern als „Pentateuch“ (wörtl. die in fünf Krügen aufbewahrten Schriftrollen) bezeichnet werden. Ganz anders dagegen die Hebräische Bibel: Nach jüdischem Verständnis sind sie nicht nur als Geschichtsbücher zu verstehen. Sie enthalten vielmehr das Herzstück der Bibel, die Tora, Gottes Weisung und Wort, wie sie im Ersten Gebot zusammengefasst ist: „ICH bin der Herr dein Gott. Du sollst keine anderen Götter neben mir haben“ (Ex 20,1). Dieses Wort bildet die heimliche Mitte der 5 Bücher Mose. Von dieser Mitte aus wird die Geschichte des Volkes Gottes von seinen Anfängen bis zum Einzug ins Land Kanaan entfaltet.
Auf dieser Grundlage bauen auch die folgenden Bücher auf. Sie werden in den christlichen Bibelausgaben, abweichend von der Hebräischen Bibel, als zweiter Teil der Geschichtsbücher bezeichnet. Zu ihnen gehören die Bücher Josua, Richter, das 1. und 2. Buch Samuel und die beiden Bücher der Könige. Alle diese Bücher sind Teil eines großen Geschichtswerks, das den Aufstieg und Niedergang des Königtums in Israel, einschließlich ihrer Vorgeschichte beschreibt. Ihre Leitfrage lautet: Wie hat das Volk Gottes im Lauf seiner Geschichte seinen Glauben in der Auseinandersetzung mit anderen Völkern bewahrt?
Die letzten Geschichtsbücher Esra, Nehemia und Ester. beschreiben die Zeit nach der Heimkehr des Volkes aus dem babylonischen Exil. An ihnen wird die Treue Gottes erkennbar, der trotz Israels Versagen an seinem Volk und an seiner Zusage festhält und seinem Volk im Land der Verheißung einen Neuanfang schenkt.
Das 1. Buch Mose / Genesis
„Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde.“ So vielsagend beginnt das erste Buch der Bibel. Damit bekundet es gleich zu Anfang, von wem in diesem Buch die Rede sein soll. Es ist der Eine Gott, der schon vor allem Anfang an da war, noch ehe die Welt geschaffen war, der Anfang und Ende der Zeit umschließt und der darum auch am Anfang allen Nachdenkens über Gott und die Welt steht. Er ist es, der durch sein Wort alles geschaffen hat und sich in der Geschichte der Menschheit auf vielfache Weise offenbart hat.
Das ist das große Thema, das sich von Anfang bis Ende durch alle Bücher der Bibel zieht. Es ist aber in besonderer Weise das Thema des ersten Buches. Wie schon sein Name „Genesis“ anzeigt (dt. Ursprung, Anfang), erzählt es von den Anfängen der Welt, der Menschheit und des Volkes Gottes, die alle ihren Ursprung in Gott haben. Durch sein Wort ist die Welt und der Mensch geschaffen. Durch dasselbe Wort wurde Gottes Volk ins Leben gerufen und zum Segen für die ganze Menschheit gemacht.
Mit diesem Bekenntnis zu Gott als dem alleinigen Ursprung allen Lebens begegnet das Genesisbuch gleich zu Anfang dem Missverständnis, als enthalte dieses erste Buch nur Mythen und alte Geschichten aus grauer Vorzeit. Vielmehr befasst es sich mit den grundlegenden und bleibend aktuellen Menschheitsfragen: Wer bin ich? Woher komme ich? Wozu lebe ich? Wohin treibt unsere Welt? Das Genesisbuch entfaltet diese Fragen in Form einer fortlaufenden Erzählung. In ihr verdichtet sich eine Fülle menschlicher Erfahrungen, die in ihrer ungeschönten Menschlichkeit alle Höhen und Tiefen des Menschseins ausloten. Aber gerade als solche gibt sie Zeugnis von Gottes offenbarem und verborgenen Wirken in, mit und durch Menschen.
Diese Erzählung ist das Ergebnis eines langen mündlichen und schriftlichen Überlieferungsprozesses. Ursprünglich selbständige Überlieferungen, meist an bestimmte Orte gebunden und dort über Jahrhunderte mündlich überliefert, sind mit frühen schriftlichen Zeugnissen zusammengewachsen und stellen in ihrer Endgestalt eine einzigartige Gesamtkomposition dar, die auf vielfache Weise Gottes Wort und Wirken in der Geschichte bezeugt. Aber alle Geschichten des Genesisbuches kreisen letztlich um das eine große Thema: Gottes Volk im Horizont der Völkerwelt. In den ersten 11 Kapiteln entwirft es zunächst ein umfassendes Bild der Welt- und Menschheitsgeschichte, das mit dem gängigen Begriff „Urgeschichte“ nur unzureichend beschrieben ist. In diesem weiten Horizont beschreibt es im zweiten Teil (12-50) den Anfang der Geschichte des Volkes Gottes, der wiederum mit dem Begriff „Vätergeschichte“ nur unzureichend erfasst ist. Es zeigt vielmehr den Weg auf, den Gott mit Abraham und seinen Nachkommen zum Heil der ganzen Welt begann.