3
ICH WOLLTE GERADE einen Sprungwurf machen, als ich den Wagen von Onkel Myron in der Einfahrt hörte.
Myron Bolitar war in dieser Stadt so etwas wie eine Sportlegende. Er hielt im Basketball jeden Punkterekord, hatte auf dem College zwei NCAA-Final-Four-Titel gewonnen und es in der ersten Auswahlrunde in das Team der Boston Celtics geschafft. Aber dann beendete eine plötzliche Knieverletzung seine NBA-Karriere, bevor sie richtig begonnen hatte.
Mein Vater – Myrons jüngerer Bruder – hatte oft davon gesprochen, wie entsetzlich mein Onkel darunter gelitten hatte. Er hatte Myron geliebt und wie einen Helden verehrt, bis meine Mutter mit mir schwanger wurde. Myron hatte nicht viel für meine Mutter übrig, und das ist noch milde ausgedrückt. Ich vermute, er hielt mit seiner Meinung auch nicht hinterm Berg. Das führte zu einem heftigen Streit zwischen den beiden Brüdern, der damit endete, dass Myron meinem Vater ins Gesicht schlug.
Sie haben sich danach nie wieder gesehen oder miteinander gesprochen.
Jetzt war es dafür natürlich zu spät.
Ich weiß, dass Myron sehr darunter leidet und dass er das, was geschehen ist, durch mich gern wiedergutmachen würde. Allerdings kapierte er nicht, dass es nicht an mir war, ihm zu verzeihen. In meinen Augen war er derjenige, der meine Eltern einen Weg einschlagen ließ, der letztlich zum Tod meines Vaters und der Drogenabhängigkeit meiner Mutter führte.
»Hey«, begrüßte Myron mich.
»Hey.«
»Hast du schon was gegessen?«, fragte er.
Ich nickte und warf den Ball Richtung Korb. Myron fing den Rebound auf und gab ihn an mich zurück. Der Basketballplatz bedeutete uns beiden eine Menge und war dadurch neutrales Territorium für uns, eine Waffenstillstandszone, unsere persönliche Schweiz. Auch der nächste Korb, den ich versuchte, ging daneben, und ich zuckte zusammen, was Myron nicht entging.
»In zwei Wochen sind die Testspiele, oder?«, fragte er.
Er sprach vom Probetraining für die Aufnahme in die Basketballmannschaft der Kasselton Highschool. Ich muss gestehen, dass ich hoffte, seinen Rekord zu brechen.
Ich schüttelte den Kopf. »Sie sind vorgezogen worden.«
»Auf wann?«
»Montag.«
»Das ist bald. Bist du aufgeregt?«
Klar war ich aufgeregt. Total. Aber ich zuckte bloß mit den Achseln und machte meinen nächsten Wurf.
»Du bist erst in der Zehnten«, sagte Myron. »Zehntklässler werden fast nie in die offizielle Schulmannschaft aufgenommen.«
»Hast du nicht als Zehntklässler angefangen?«
»Touché.« Myron warf mir noch einen Pass zu und wechselte das Thema. »Immer noch ein bisschen angeschlagen von gestern Abend?«, wollte er wissen.
»Ja.«
»Und sonst?«
»Was meinst du?«
»Vielleicht sollten wir dich besser zu einem Arzt bringen?«
Ich schüttelte den Kopf. »Geht schon.«
»Willst du über das, was passiert ist, sprechen?«
Wollte ich nicht.
»Ich habe den Eindruck, dass du dich und andere in Gefahr bringst«, sagte Onkel Myron. »Liege ich damit richtig?«
Ich überlegte, was ich darauf antworten sollte, ohne die Wahrheit preisgeben zu müssen. Myron kannte ein paar Fakten. Die Polizei kannte ein paar Fakten. Aber ich konnte ihnen nicht alles sagen. Außerdem hätten sie es wahrscheinlich sowieso nicht geglaubt. Ich konnte es ja selbst nicht glauben, verdammt.
»Ein Held zu sein, zieht immer Konsequenzen nach sich, Mickey«, fuhr Onkel Myron leise fort. »Selbst wenn du davon überzeugt bist, das Richtige zu tun. Ich musste das auf die harte Tour lernen.«
Wir sahen uns an. Myron wollte noch etwas hinzufügen, als sein Handy klingelte. Er schaute aufs Display und erstarrte kurz.
»Sorry«, sagte er an mich gewandt, »aber da muss ich drangehen.«
Er entfernte sich ein paar Schritte, bis er außer Hörweite war, und nahm erst dann das Gespräch an.
Du bringst dich und andere in Gefahr …
Dass ich mich selbst in Gefahr brachte, war ganz allein meine Sache – aber was war mit meinen Freunden? Was war mit den »anderen«? Ich schlenderte in die entgegengesetzte Richtung und zog mein eigenes Handy heraus.
Wir waren zu viert in diesen zwielichtigen Nachtclub gegangen, um Ashley zu retten: Ema und ich, klar – und Löffel und Rachel. Löffel war wie Ema und ich ein Außenseiter. Rachel das genaue Gegenteil.
Ich musste mich dringend erkundigen, wie es ihnen ging.
Von Löffel, dem ich zuerst schrieb, erhielt ich folgende automatische Rückantwort: Leider kann ich Ihre Nachricht derzeit nicht persönlich entgegennehmen. Aufgrund jüngster Ereignisse stehe ich unter Hausarrest, bis ich 34 bin.
Und weil Löffel nun mal so war, wie er war, hatte er noch einen Nachsatz hinzugefügt: Übrigens starb Abraham Lincolns Mutter im Alter von 34 Jahren an einer Milchvergiftung.
Ich musste lächeln. Löffel hatte sich den Transporter seines Vaters »geliehen«, um uns zu helfen. Da er von uns allen die besorgtesten und liebevollsten Eltern hatte, nahm ich an, dass er auch den größten Ärger bekommen hatte. Zum Glück war Löffel jemand, der sich immer zu helfen wusste. Um ihn musste man sich wahrscheinlich keine Sorgen machen.
Danach schrieb ich dem vierten und zuletzt hinzugekommenen Mitglied unserer kleinen Gang – Rachel Caldwell. Wie soll man sie beschreiben …? Um es auf den einfachsten Nenner zu bringen: Rachel war das heißeste Mädchen der Schule. Sie war allerdings noch sehr viel mehr als nur superheiß, also bitte ich darum, mich nicht voreilig als sexistisches Schwein abzustempeln. Ihr Mut und der Einfallsreichtum, den sie an diesem Ort des Grauens bewiesen hatte, waren schlicht überwältigend.
Trotzdem muss ich, um an dieser Stelle wirklich komplett ehrlich zu sein, zugeben, dass das Erste, was mir – und fast jedem anderen in der Schule – bei ihrem Anblick in den Sinn kam, die Tatsache war, dass sie einfach unfassbar heiß war.
Wieso Rachel sich mit dem unbeliebten Neuling (mir), mit dem sich selbst als Goth-Emo bezeichnenden »fetten Mädchen« (Ema) und dem Schulhausmeistersohn und Nerd (Löffel) verbündet hatte, war mir nach wie vor ein absolutes Rätsel.
Ich grübelte angestrengt darüber nach, was ich Rachel schreiben sollte. Leider muss ich gestehen, dass ich in ihrer Gegenwart immer nervös und leicht dumpfbackig wurde und schwitzige Hände bekam. Mir ist klar, dass ich mich nicht so hätte anstellen sollen. Normalerweise war ich eigentlich ganz vernünftig und stand über den Dingen. Na ja, vielleicht auch nicht. Nachdem ich gründlich darüber nachgedacht hatte, was ich ihr schreiben sollte, entschied ich mich jedenfalls für diesen ausgeklügelten und charmanten Opener: Alles klar?
Wie unschwer zu erkennen ist, habe ich es mit Frauen wirklich drauf.
Ich wartete auf Rachels Antwort. Vergeblich. Als Onkel Myron sein Telefonat beendet hatte und wieder zurückkam, wirkte er, als wäre er tief in Gedanken versunken.
»Alles klar?«, bediente ich mich meiner gerade eben bei Rachel unter Beweis gestellten Wortgewandtheit.
»Alles bestens«, antwortete Myron.
»Wer war es denn?«
Die Stimme meines Onkels klang belegt. »Ein guter Freund, von dem ich lange nichts mehr gehört habe.«
»Und was wollte er?«
Myron starrte stumm in die Ferne.
»Hallo?« Ich wedelte mit der Hand vor seinem Gesicht.
»Er hat mich um einen Gefallen gebeten. Einen seltsamen Gefallen.« Myron warf einen Blick auf seine Armbanduhr. »Ich muss mich beeilen. In einer Stunde müsste ich wieder zurück sein.«
Aber mir blieb nicht viel Zeit, mir über Onkel Myrons merkwürdiges Verhalten den Kopf zu zerbrechen, denn genau in diesem Moment verkündete mein Handy den Eingang einer SMS. Ich schaute aufs Display und mein Pulsschlag verdoppelte sich. Nachdem ich meinem Onkel den Rücken zugewandt hatte, öffnete ich Rachels SMS. Sie lautete: Ist gerade schlecht bei mir. Kann ich dich später anrufen?
Ich tippte mit fliegenden Fingern Auf jeden Fall zurück und fragte mich dann, ob das vielleicht zu begierig klang oder ob ich nicht noch ein bisschen hätte warten sollen, wenigstens acht Sekunden lang, damit es nicht so aussah, als hätte ich nichts anders zu tun, als auf ihre Nachricht zu warten.
Ganz schön erbärmlich, oder?
Onkel Myron eilte zu seinem Wagen und ich ging in die Küche und machte mir einen kleinen Snack. Dabei stellte ich mir vor, wie Rachel bei sich zu Hause gesessen und mir die SMS geschrieben hatte. Ich war erst einmal bei ihr gewesen. Gestern. Sie lebte in einem riesigen, von einem videoüberwachten Sicherheitstor beschützten Anwesen, das einem das Gefühl vermittelte, dass es eine ziemlich einsame Angelegenheit war, dort zu wohnen.
Auf dem Küchentisch lag die West Essex Tribune. Dass die großartige Schauspielerin Angelica Wyatt derzeit in unserer kleinen Stadt weilte, hatte es nun schon zum dritten Mal in Folge auf die Titelseite geschafft. Angeblich drehte sie einen Film hier. Das war seit Tagen das Thema Nummer eins an der Kasselton High. Vor allem bei den Jungs in meiner Schule, von denen einige immer noch das nicht ganz jugendfreie Poster, das Angelica in einem nassen Bikini zeigte, im Zimmer hängen hatten. Und der Schlagzeile nach zu urteilen, wurden jetzt auch:
JUGENDLICHE AUS DER STADT UND UMGEBUNG ALS STATISTEN GESUCHT!
Ich hatte Wichtigeres mit meiner Zeit anzufangen, also schob ich die Zeitung beiseite, zog das Foto des Schlächters von Lodz aus der Tasche, legte es auf den Tisch und starrte angestrengt darauf. Dann schloss ich die Augen und prägte mir das Bild ein wie einen Sonnenfleck. Anschließend zwang ich mich, in Gedanken auf diesen verfluchten Highway in Kalifornien zurückzukehren und den Unfall noch einmal zu durchleben … wie ich eingeklemmt im Wagen saß, meinen sterbenden Vater sah und dann in die grünen Augen mit dem bernsteinfarbenen Kranz um die Pupille schaute, deren Blick mir jede Hoffnung raubte.
Vor meinem inneren Auge fixierte ich das Gesicht des Rettungssanitäters, fertigte davon einen imaginären Abzug an und glich ihn mit dem ab, den ich gerade vom Schlächter von Lodz gemacht hatte.
Es war derselbe Mann.
Und genau hier lag das Problem: Das war unmöglich. Entweder hatte der Schlächter einen Sohn, der ihm zum Verwechseln ähnlich sah, oder einen Enkel. Oder ich war dabei, den Verstand zu verlieren.
Es half nichts. Ich musste der Hexe noch einen Besuch abstatten und darauf bestehen, diesmal eine Antwort zu bekommen.
Dafür brauchte ich jedoch eine Strategie, die gründlich durchdacht sein wollte, sodass ich auf alle Eventualitäten vorbereitet war. Zuvor gab es allerdings noch etwas anderes, um das ich mich kümmern musste.
Ein altes Sprichwort lautet: »Nichts in dieser Welt ist sicher, außer dem Tod und den Steuern.«
Wer immer das gesagt hat, hat eine Sache vergessen: Hausaufgaben.
Kurz spielte ich mit dem Gedanken, Myron zu bitten, mir eine Entschuldigung zu schreiben:
Sehr geehrte Mrs Friedman,
aus folgenden Gründen hat Mickey es bedauerlicherweise nicht geschafft, seinen Aufsatz über die Französische Revolution rechtzeitig fertigzustellen: Er hat einer Schülerin das Leben gerettet und mit angesehen, wie ein Mann erschossen wurde, ist aufs Übelste verprügelt und stundenlang von den Bullen verhört worden und hat ein Foto von einem als alter Nazi verkleideten kalifornischen Rettungssanitäter gesehen, in dem er den Mann erkannte, der ihn über den Tod seines Vaters in Kenntnis setzte.
Ich bitte Sie daher um Verständnis, dass Mickey den Aufsatz erst nächste Woche abgeben kann.
Tja. Ob ich damit durchkommen würde? Wahrscheinlich nicht. Außerdem konnte ich das Wort bedauerlicherweise nicht ausstehen. Ein schlichtes leider hätte es doch auch getan, oder etwa nicht?
Oh Mann, ich brauchte dringend Schlaf.
Mein Zimmer war früher – und viel zu lange – Onkel Myrons Zimmer gewesen. Es lag im Kellergeschoss und der Einrichtungsstil hätte als »Retro-Chic« durchgehen können, wenn er nicht so uncool gewesen wäre. Die Möblierung bestand unter anderem aus einem Kunstleder-Sitzsack, einer Lavalampe und ein paar über zwanzig Jahre alten Basketball-Pokalen.
Meine Partnerin für den Aufsatz über die Französische Revolution war keine Geringere als Rachel Caldwell. Ich kannte sie noch nicht lange, aber sie schien mir zu dem Typ Schülerin zu gehören, die ihre Hausarbeiten immer rechtzeitig abgeben. Wir alle kennen diese Mädchen. Am Tag der Prüfung kommen sie ins Klassenzimmer, schwören, dass sie durchfallen werden, beenden den Test dann in Rekordzeit, geben eine perfekte Arbeit ab und verbringen den Rest der Stunde damit, Ringlochverstärker in ihren Arbeitshefter zu kleben.
Bedauerlicherweise würde sie auf keinen Fall zulassen, dass wir den Aufsatz zu spät abgaben.
Fünfzehn Minuten später klingelte mein Handy. Es war Rachel.
»Hallo?«, meldete ich mich.
»Hi.«
»Hi.«
Jep. Wie schon gesagt, ich hatte es einfach drauf mit Frauen. Ich beschloss mit dem weiterzumachen, was in null Komma nichts zu meinem patentierten Eisbrecher geworden war: »Alles klar?«
»Glaub schon«, antwortete sie.
Sie klang irgendwie merkwürdig.
»War alles ganz schön heftig gestern Abend, was?«, fragte ich.
»Mickey?«
»Ja?«
»Glaubst du, dass …?«
»Was?«
»Keine Ahnung. Ist es wirklich vorbei, Mickey? Es fühlt sich nämlich nicht so an.«
Ich wusste nicht, was ich darauf antworten sollte. Mir ging es genauso – als würde das Schlimmste noch bevorstehen. Ich hätte gern etwas Beruhigendes gesagt, wollte aber auch nicht lügen.
»Ich weiß es nicht«, erwiderte ich schließlich wahrheitsgemäß. »Eigentlich sollte es vorbei sein.«
Stille.
Ich: »Morgen müssen wir unseren Aufsatz über die Französische Revolution abgeben.«
Sie: »Stimmt.«
Wieder Stille. Ich stellte mir vor, wie sie allein in der leeren Villa saß, und das behagte mir nicht.
»Sollen wir uns dransetzen?«, fragte ich.
»Bitte?«
»Sollen wir versuchen, den Aufsatz fertig zu bekommen? Ich weiß, es ist schon spät, aber ich könnte zu dir kommen oder wir besprechen alles am Telefon …«
Plötzlich drang ein seltsames Geräusch an mein Ohr.
Durchaus möglich, dass Rachel bei der Vorstellung, ich könnte zu ihr kommen, nach Luft geschnappt hatte. Sicher war ich mir aber nicht. Dann hörte ich wieder irgendein undefinierbares Geräusch.
»Rachel?«, fragte ich.
»Ich muss Schluss machen, Mickey.«
»Was?«
»Ich kann jetzt nicht reden.« Ihre Stimme klang seltsam energisch. »Es gibt da etwas, um das ich mich kümmern muss.«
»Was denn?«
»Wir sehen uns morgen in der Schule.« Sie legte auf.
Aber Rachel irrte sich. Weil am nächsten Tag nichts mehr so sein würde, wie es war.