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St. Pancras oder Pankratius ist der Schutzheilige der Kinder und wird gegen Meineid und falsches Zeugnis angerufen.
Anonym
In den ersten Sekunden nach dem Aufwachen wusste er nicht einmal, wer er war.
Der Schwebezustand hielt an, bis sein Bewusstsein allmählich aus den trüben Fluten des Schlafs auftauchte. Die harte Kante seiner eigenen Fingerknöchel drückte gegen seinen Wangenknochen, und er registrierte, dass er auf der Seite lag. Als er die Hand bewegte, spürte er raue Stoppeln auf der Haut. Vorsichtig tastete er mit der Zunge in der Mundhöhle umher. Sie fühlte sich pelzig an, und er musste schlucken, um gegen den säuerlichen Nachgeschmack des Biers anzukämpfen.
Wortfetzen drangen an sein Ohr, verrauscht und abgehackt wie aus einem alten Radio. Waren es Mädchenstimmen? Einen Moment lang glaubte er, es seien seine Töchter, die mit ihren Freundinnen über irgendetwas kicherten. War er zu Hause? Aber nein, die Stimmen klangen angespannt. Sie lachten nicht, sie stritten sich. Er machte eine weibliche Stimme aus, dann eine männliche. Als er sich herumwälzte, spürte er, wie der Stoff seines Schlafsacks über seine Haut glitt, dann den Druck der harten Dielen des alten Holzbodens, auf dem er lag.
Also nicht zu Hause. Nicht in seinem eigenen Bett, neben seiner Frau.
Schlagartig kam die Erinnerung zurück. Er war in der Wohnung in der Caledonian Road. Von dem Schnellrestaurant im Erdgeschoss stieg der Duft von Brathähnchen auf und verstärkte das flaue Gefühl in seinem Magen.
Er merkte, dass die Hand unter seinem Gesicht eiskalt war. Die Wohnung war nicht geheizt.
Die Stimmen wurden lauter, kamen näher. Er erkannte Matthew – arrogant, ungeduldig, aufbrausend. Dann Paul, der ihm widersprach, mit mürrischem, zunehmend quengelndem Unterton.
Er würde mit ihnen reden. Gemeinsam würden sie die beiden zur Vernunft bringen, er und Wren.
Wren. O Gott.
Die Erinnerung holte ihn ein und mit ihr eine so abgrundtiefe Verzweiflung, dass es ihm den Atem raubte. Wren würde nicht wiederkommen.
Jetzt wusste er, wer er war, und er wusste genau, wo er war. Es schien ihm mehr, als er ertragen konnte.
Doch dann fiel ihm wieder ein, was er an diesem Tag zu tun hatte.
London war elend kalt für Mitte März. In den Parks und Vorgärten zeigten sich schon ein paar kühne Krokusse, aber ein strenger Frost hatte die Narzissen erfrieren und die frühen Blüten der Obstbäume zu Kristall erstarren lassen.
Detective Superintendent Duncan Kincaid ging von der U-Bahn-Station Holborn zur Southampton Row, den Mantelkragen hochgeschlagen, den Hals mit einem dicken Wollschal umwickelt, die behandschuhten Hände tief in den Manteltaschen vergraben. Der Himmel war dunkelgrau, und als Kincaid nach Osten in die Theobald’s Road einbog, holte ein Windstoß ihn fast von den Füßen. Er senkte den Kopf und marschierte unverdrossen weiter. Die Wetterfrösche sagten, dass der Wind von der sibirischen Steppe herwehte – er überlegte schon, ob er sich eine dieser russischen Fellmützen mit Ohrenklappen zulegen sollte. Wenigstens verstand er jetzt, warum die Russen diese albernen Kopfbedeckungen trugen.
Er beschleunigte seine Schritte, als der Betonklotz der Polizeiwache von Holborn vor ihm auftauchte. Auch wenn die Architektur des Gebäudes ein wenig an einen Gulag erinnerte, verhieß es doch zumindest Wärme.
Holborn Station – seit nunmehr zwei Wochen sein zweites Zuhause. Und doch fühlte er sich immer noch so fehl am Platz wie an seinem schwierigen ersten Tag. Und er war noch genauso wütend.
Als er Mitte Februar nach seiner Elternzeit seinen Dienst bei Scotland Yard wieder hatte antreten wollen, hatte er sein Büro leer vorgefunden. Er war von seinem Posten als Leiter des Morddezernats beim Yard, den er jahrelang innegehabt hatte, zu einem Sonderermittlungsteam hier in Holborn versetzt worden. Es war eine Herabstufung, auch wenn er seinen Dienstgrad behalten hatte. Es hatte keine Vorwarnung und keine Erklärung gegeben.
Sein unmittelbarer Vorgesetzter, Chief Superintendent Denis Childs, hatte wegen eines Notfalls in der Familie ins Ausland reisen müssen. Das hatte Kincaids Sorgen noch vermehrt, hatte er doch mit seiner Familie das Haus von Childs’ Schwester Liz gemietet, nachdem deren Mann sich für fünf Jahre beruflich in Singapur verpflichtet hatte.
Er mochte Liz Davies, obwohl sie immer nur per E-Mail kommuniziert hatten, und er hoffte, dass der familiäre Notfall im Ausland nichts mit ihr zu tun hatte.
Im Zuge von Kincaids Versetzung nach Holborn hatte sein Sergeant Doug Cullen einen Job in der Datenerfassung beim Yard aufs Auge gedrückt bekommen – vordergründig, um seine Wiedereingliederung nach einem Knöchelbruch zu erleichtern. Und so musste Kincaid nun bei der Einarbeitung in seinen neuen Job ohne Cullens kompetente, zuweilen etwas oberlehrerhafte Unterstützung auskommen.
Einen guten Detective Sergeant zu verlieren – einen Partner, mit dem man mehr Stunden verbrachte als mit der eigenen Frau –, das rangierte in seinen Augen auf der Skala der biografischen Brüche knapp unterhalb einer Scheidung. Und mit seinem neuen Team hatte es keine Flitterwochen als Entschädigung gegeben.
Und da sah Kincaid auch schon seinen neuen Detective Constable, George Sweeney, die Stufen des LA-Fitnesscenters gegenüber dem Polizeirevier heruntertraben. Frisch von seinem morgendlichen Trainingsprogramm kommend, trug Sweeney einen Dreiteiler, den er sich vom Gehalt eines Constables eigentlich nicht leisten konnte, dafür keinen Mantel. Sein kurzes Haar war noch feucht und zu einer modischen Stachelfrisur gegelt, die Wangen leuchteten rot von seinen gesundheitsförderlichen Anstrengungen.
»Morgen, Chef«, rief Sweeney mit übertriebenem Enthusiasmus, als sie beide den Eingang der Wache erreichten. »Sie sehen ja aus wie der Tod auf Urlaub«, fügte er mit einem Seitenblick auf Kincaid hinzu. »Bisschen zu viel gefeiert gestern?« Sweeney zwinkerte und schien es sich gerade noch zu verkneifen, Kincaid den Ellbogen in die Seite zu stoßen. Der Mann konnte echt lästig sein.
»Krankes Kind«, erwiderte Kincaid knapp. Ihre dreijährige Pflegetochter Charlotte hatte einen schlimmen Husten, und er und Gemma hatten abwechselnd bei ihr gewacht.
»Na ja.« Sweeney zuckte mit den Schultern. »Dann kann der Tag ja nur noch besser werden, was, Chef?«
Kincaid spürte einen leichten Stich auf der Wange und gleich darauf einen zweiten. Aus den tief hängenden Wolken begann Eisregen niederzuprasseln.
»Ich zieh doch keine Strickjacke an«, sagte Andy Monahan.
Dazu setzte er die störrische Miene auf, die Detective Sergeant Melody Talbot in den zwei Monaten, die sie nunmehr ein Paar waren, zur Genüge kennengelernt hatte. Es hatte sie all ihre Überredungskunst gekostet, ihn in die angesagte Boutique in Soho zu lotsen.
Sie wartete gespannt, während Andy sich im Spiegel betrachtete. Immerhin hatte er sie nicht gleich wieder ausgezogen. Er hob das Revers an und verzog angewidert den Mund. »Ich seh aus wie ein Opa. Fehlt bloß noch die Regimentskrawatte.«
Andy war Ende zwanzig, und mit seinen zerzausten blonden Haaren, den dunkelblauen Augen und einem Gesicht, das allenfalls ein wenig zu ernst und angespannt war, um hübsch genannt zu werden, sah er aus wie ein Rockstar, bei dessen Anblick die Mädchen reihenweise in Ohnmacht fielen. »Du rollst die Ärmel hoch und trägst dazu ein weißes T-Shirt und eine Levi’s«, bestimmte Melody. »Und du siehst überhaupt nicht aus wie mein Opa.«
Dabei lächelte sie verführerisch, doch Andy schluckte den Köder nicht. »Ich seh aus wie Liberaces Opa. Das verdammte Teil ist babyblau.«
»Nur ohne Strass«, entgegnete sie grinsend. »Und es betont deine Augenfarbe. Außerdem«, spielte Melody ihren Trumpf aus, »kannst du unmöglich zulassen, dass Poppy dich in den Schatten stellt. Vertrau mir einfach.«
Andy beäugte sie kritisch. »Du bist doch die Frau, die im Dienst Super-Detective-Kostüme trägt, und da soll ich deinem modischen Rat vertrauen?« Doch sein Mund hatte sich entspannt, und sie bemerkte ein angedeutetes Blitzen in seinen blauen Augen. »Wenn ich es kaufe, kommst du dann zu dem Gig?«
»Ich werde da sein. Ich hab’s dir doch versprochen.« Der besagte Auftritt sollte am späten Nachmittag in der Haupthalle des Bahnhofs St. Pancras International stattfinden, im Rahmen eines Frühjahrsfestivals mit angesagten Indie-Pop- und Rockbands. Das Konzert würde live im Radio übertragen werden, und zur Rushhour würden Scharen von Pendlern zugegen sein. Es war ein Beleg für den kometenhaften Aufstieg von Andy und seiner neuen Partnerin Poppy Jones, dass sie die Hauptattraktion des Festivals waren.
Melody wusste, dass er nervös war. Es kursierten Gerüchte, dass ein Scout einer großen Plattenfirma im Publikum sein könnte.
»Ganz vorne, an der Bühne?«, fragte Andy, der die Strickjacke für den Moment ganz vergessen hatte.
Auf diese Diskussion wollte Melody sich auf keinen Fall einlassen. Nicht hier, nicht jetzt. Melodys Beharren darauf, in der Öffentlichkeit nicht als Andys Freundin in Erscheinung zu treten, hatte sich zum größten Konfliktpunkt in ihrer Beziehung entwickelt.
Und sie hatte einflussreiche Unterstützung. Sowohl Andys Manager Tam Moran als auch Poppys Manager Caleb Hart war daran gelegen, das Beste aus der harmonischen Bühnenpräsenz des Duos herauszuholen, und die Beziehung ihres Gitarristen mit einer Kriminalbeamtin der Metropolitan Police war in ihren Augen nicht gerade ein verkaufsfördernder Faktor.
Und Melody konnte sich vorstellen, dass auch ihre Vorgesetzten davon nicht sonderlich begeistert wären.
Doch das Problem ging noch tiefer. Von klein auf hatte sie stets eifersüchtig über ihre Privatsphäre gewacht, und das aus gutem Grund. Nur ein paar ihrer engsten Freunde wussten, dass ihr Vater der Besitzer einer der erfolgreichsten – und reißerischsten – überregionalen Boulevardzeitungen war. Wenn diese Verbindung allgemein bekannt würde, könnte es das Ende ihrer Karriere bedeuten. Ganz zu schweigen davon, dass sie es Andy noch nicht erzählt hatte. Irgendwann würde sie reinen Tisch machen müssen – aber nicht heute.
»In dem Teil würde ich dich allerdings auch aus der letzten Reihe mühelos erkennen.« Sie zupfte spielerisch am Ärmel der Strickjacke, bemüht, einen Streit abzuwenden. »Vielleicht lässt sich Poppy dazu überreden, sich zur farblichen Abstimmung ein paar blaue Strähnchen ins Haar zu machen.«
Andy verdrehte die Augen. »Bring sie ja nicht auf Ideen.« Poppy war ohnehin schon ein überkandideltes Blumenkind, da musste man sie nicht noch ermuntern.
»Na los doch, gib dir einen Ruck. Zeig ein bisschen Mut.«
Er sah sie herausfordernd an. »Krieg ich auch eine Belohnung?«
»Über das Après-Gig können wir noch reden.« Sie strich zärtlich über den Ärmel der Strickjacke.
Der Verkäufer, der Andy interessiert beäugt hatte, schnalzte angewidert mit der Zunge.
»Tja, tut mir leid.« Melody zwinkerte dem Verkäufer zu, während sie Andy die Strickjacke von den Schultern zog. »Der ist schon vergeben. Aber wenigstens haben Sie ein Geschäft gemacht.«
Detective Inspector Gemma James starrte den Bericht auf ihrem Computerbildschirm an und widerstand der Versuchung, den Kopf auf den Schreibtisch sinken zu lassen. Das Stimmengewirr im CID-Büro des Reviers South London, das Klappern der Tastaturen, das Läuten der Telefone, alles verschwamm zu einem einschläfernden Summen.
Gestern Abend war Charlotte das erste Mal krank geworden, seit sie und Kincaid sie im vergangenen Herbst zu sich genommen hatten, und Gemma befürchtete, dass sie beide angesichts eines ganz gewöhnlichen Kinderhustens überreagiert hatten.
Jetzt zählte sie die Minuten, bis sie sich guten Gewissens einen Nachmittagskaffee gönnen könnte. Sie streckte sich, blinzelte und versuchte sich wieder auf den Bildschirm zu konzentrieren.
Gemma und ihre Kollegen von der Mordkommission South London verdächtigten einen Mann, ein zwölfjähriges Mädchen namens Mercy Johnson entführt, vergewaltigt und ermordet zu haben. Es war der dringlichste Fall des Teams, doch bislang hatten sie nichts hinreichend Konkretes in der Hand, das eine Hausdurchsuchung gerechtfertigt hätte, geschweige denn einen Haftbefehl.
Dillon Underwood war weiß, stammte aus einer Mittelschichtfamilie und verfügte über einen ausgesprochen manipulativen Charme; das Opfer, Mercy, kam dagegen aus der Unterschicht und war schwarz. Gemma und ihr Team befürchteten daher, dass Underwoods geschmeidige, einnehmende Art ihm bei seiner Verteidigung helfen würde. Und so hatten sie viele Stunden damit zugebracht, die Akten nach belastenden Indizien zu durchkämmen, um zumindest seine Wohnung durchsuchen zu können und ein DNS-Profil zu bekommen.
Gemmas Detective Sergeant, Melody Talbot, hatte den Nachmittag damit verbracht, Underwoods Kollegen noch einmal zu befragen, in der Hoffnung, vielleicht die entscheidende Information herauszufiltern, die ihnen bisher entgangen war.
Melody würde anschließend nicht mehr ins Büro zurückkommen – sie hatte Gemma erklärt, dass sie vorhabe, von dort gleich zum Bahnhof St. Pancras zu fahren, wo ihr Freund ein Konzert gab.
Bei dem Gedanken musste Gemma lächeln. Ihre adrette, gewissenhafte und stets makellos gekleidete Assistentin an der Seite eines leicht gammligen Rockgitarristen.
Sie wandte sich wieder dem Monitor und den Angaben zu ihrem Verdächtigen zu. Der zweiundzwanzigjährige Dillon Underwood arbeitete als Verkäufer in einem Elektronikgeschäft in Brixton, und er war in seinem Job offenbar recht erfolgreich. Besonders bei der weiblichen Kundschaft, wenn man den anderen Angestellten Glauben schenken durfte. Mercy Johnson hatte den Laden in den Wochen vor ihrem Tod mehrmals aufgesucht. Sie hatte sehnsüchtig die Computer bewundert, denn sie hatte gehofft, ihre Mutter dazu zu überreden, dass sie ihr zum dreizehnten Geburtstag einen schenkte. Aber die Überwachungskameras des Ladens konnten nicht belegen, dass Mercy von Dillon bedient worden war, und so blieben ihnen nur die Aussagen der besten Freundinnen des Mädchens. Wieder nur ein Indizienbeweis – und die Verteidigung würde keine Mühe haben, die Zeugenaussagen zweier Zwölfjähriger in Zweifel zu ziehen.
Es gab Zeugen, die Underwood am Abend von Mercys Verschwinden in einem gut besuchten Club in der Brixton Road gesehen haben wollten, doch es war die Art von Lokal, wo man seine Freunde im Gedränge leicht für ein, zwei Stunden aus den Augen verlieren konnte.
Mercys Leiche war zwei Tage darauf von einer Spaziergängerin, die ihren Hund im Park von Clapham Common ausführte, in einem Gebüsch gefunden worden. Underwood besaß kein Auto, wenn er also den Club lange genug verlassen hatte, um Mercy treffen und töten zu können, müsste er zu Fuß gegangen sein. Und er müsste sich mit Mercy im Park verabredet haben.
Als das Mobiltelefon auf Gemmas Schreibtisch klingelte, stürzte sie sich gleich darauf, in der Hoffnung, dass es Duncan war. Sie machte sich Sorgen um ihn, seit er den neuen Job in Holborn angetreten hatte. Sicherlich hatte sie damit gerechnet, dass es eine Umstellung für ihn sein würde, aber nun war doch schon einige Zeit vergangen, und die Situation schien sich kaum gebessert zu haben.
Doch der Anruf kam von Kit, ihrem vierzehnjährigen Stiefsohn, und ein Blick auf die Uhr sagte ihr, dass die Kinder wohl schon von der Schule zurück waren.
Hastig nahm sie das Telefon ans Ohr und sagte: »Hi, Schatz, ist alles in Ordnung?«
Aber es war nicht Kit. Die Stimme ihres sechsjährigen Sohnes Toby tönte so laut in ihr Ohr, dass sie zusammenzuckte.
»Mummy, Mummy, Kit hat gesagt, ich darf sein Handy benutzen. Wir haben eine Katze gefunden. Im Garten. Mit Babys!«
»Babys? Wo? In welchem Garten?«, fragte sie verwirrt. Sie hatte immer noch nicht richtig umgeschaltet.
»Katzenbabys!«, rief Toby begeistert. »Aber die sind voll klein. Wie – wie Schweinchen!«
»Schweinchen?«, fragte Gemma. Dann hörte sie Kits Stimme im Hintergrund, offenbar korrigierte er Toby. »Toby, Schätzchen«, sagte sie, »gib mir doch mal Kit.«
Es raschelte ein wenig, und dann meldete sich Kit. »Gemma.« Ein banges Gefühl beschlich sie. Wenn Kit entspannt war oder sie necken wollte, nannte er sie immer »Mum«.
»Was hör ich da von einer Katze im Garten?« Sie blickte aus dem Fenster des CID-Büros zu dem bleigrauen Himmel auf. Die Temperatur schwankte um den Gefrierpunkt, und sie wusste, dass der Wind eisig war.
»Du kennst doch den Schuppen?«
Ihr Haus in Notting Hill grenzte mit der Rückseite an einen Gemeinschaftsgarten mit einem kleinen Schuppen in der Mitte, in dem Gartengeräte aufbewahrt wurden.
»Wir waren mit den Hunden draußen«, fuhr Kit fort, »und sie haben etwas gehört.« Tess war der Terrier, der Kit zugelaufen war; Geordie war Gemmas Blauschimmel-Cockerspaniel; beide hatten einen guten Jagdinstinkt. »Als wir die Tür aufgemacht haben …«
»Ist da nicht ein Schloss dran?«, unterbrach ihn Gemma.
Nach einer kurzen Pause sagte Kit: »Ich hab einen Hammer benutzt. Wir haben so ein Wimmern gehört, und wir dachten, es könnte ein Baby sein oder so.«
Gemma ließ das für den Moment auf sich beruhen. »Und?«
»Da war ein Haufen Sackleinen. Ich hab Toby gesagt, dass er die Hunde draußen festhalten soll. Und dann hab ich die Katze gesehen, die hatte sich da so eine Art Nest gemacht. Mit vier Jungen. Gemma, sie ist so dünn, und die Kätzchen sind so winzig. Ich hab Angst, dass sie sterben.«
»Aber Kit, es ist nicht unsere Katze. Vielleicht gehört sie einem der Nachbarn …«
»Sie ist am Verhungern, Gemma. Sie kann kaum noch den Kopf heben. Wir müssen irgendetwas tun.«
Kätzchen. Du lieber Himmel. »Okay, Kit, warte mal einen Moment«, sagte Gemma und versuchte sich zu sammeln. »Du kannst sie nicht einfach ins Haus bringen, allein schon wegen Sid und den Hunden, selbst wenn sie es zulassen würden.« Sie biss sich auf die Lippe, während sie nachdachte. »Bryony«, sagte sie. »Ruf Bryony an.«
Bryony Poole war ihre Tierärztin – und sie war es gewesen, die Gemma dazu überredet hatte, Geordie zu adoptieren. »Bryony wird schon wissen, was zu tun ist.«
»Kommst du bald nach Hause?«
Sie hörte das leichte Beben in Kits Stimme. Er gab sich solche Mühe, erwachsen zu sein, doch er konnte es nicht ertragen, irgendein Wesen hilflos oder verletzt zu sehen – oder schlimmer noch, verlassen oder ausgesetzt.
»Ja, Schatz«, sagte sie. »Ich komme, sobald ich kann.«
Nichts, was Paul Cole tat, war für seine Eltern jemals gut genug. Auch nicht für seine Lehrer damals in der Schule. Und jetzt auch nicht für alle anderen in der Gruppe. Nicht für Matthew, der sich für ein Geschenk Gottes an die gesamte Menschheit hielt.
Und vor allem nicht für Ariel.
Sie hatte nicht geglaubt, dass er das heute durchziehen würde, doch er würde ihr das Gegenteil beweisen.
Er rückte die Riemen seines Rucksacks zurecht und spürte, wie ihm der Schweiß unter den Armen ausbrach, obwohl es hier in der oberen Halle des St. Pancras International verdammt kalt war. Er stand in der Nähe der Rolltreppen am Nordende der Halle, sodass er die obere und die untere Ebene gut überblicken konnte. Jetzt trat er an die gläserne Brüstung und sah auf die anschwellenden Pendlerscharen hinunter. Es war Rushhour, die Leute schoben und drängelten, alle wollten noch rasch ihre Einkäufe erledigen und ihren Zug erwischen. Sie huschten umher wie die Ratten, ohne je aufzublicken, und niemand hatte ein Auge für das prächtige himmelblaue Tonnendach des Bahnhofs.
Und auch die Züge interessierten sie nicht. Hinter Searcys, der Yuppie-Champagnerbar, die sich quer über die Mitte der oberen Halle erstreckte, warteten zwei schnittige gelbe Eurostar-Züge am Bahnsteig auf die Abfahrt nach Paris. Die Männer und Frauen in ihren maßgeschneiderten Anzügen und Kostümen, die ihren Feierabend-Schampus schlürften, hatten keinen Schimmer, was für Wunderwerke diese Züge waren oder was alles nötig war, um sie am Laufen zu halten. Sie nahmen alles in ihrem Luxusleben als selbstverständlich hin. Nun, wenn sie heute Abend zu Bett gingen, würden sie vielleicht nicht mehr ganz so selbstgefällig sein.
Paul riss sich vom Anblick der Züge los und sah auf seine Uhr, ehe er wieder die untere Halle absuchte. Die anderen sollten bald hier sein. Direkt unter dem Searcys konnte er Musiker sehen, die sich auf ihren Auftritt vorbereiteten. Es war das erste Konzert des Frühjahrs-Musikfestivals im Bahnhof. Das war einer der Gründe, weshalb sie gerade diesen Tag gewählt hatten – mit den Zuschauerscharen, die sich um die Bühne drängten, wären mehr Menschen auf engem Raum versammelt, und die Presseberichterstattung über die Band wäre ein weiterer Pluspunkt.
Eine zierliche junge Frau mit roter Stachelfrisur ging in die Hocke und nahm eine Bassgitarre aus einem Kasten, während ein blonder Typ an einem Verstärker herumhantierte. Die ersten Passanten blieben stehen, um zuzuschauen. Jetzt wurde es ernst.
Dann sah er die Gruppe. Sie kamen von der U-Bahn-Station am anderen Ende der Halle. Matthew – durch seinen hohen Wuchs und seinen federnden Gang auf den ersten Blick zu erkennen, auch wenn er eine Strickmütze über seinen dunklen Lockenschopf gezogen hatte. Cam. Iris. Trish. Lee. Und Dean – er zog den flachen Rollkoffer mit ihren Plakaten, die nur noch zusammengesteckt werden mussten. Es würde ihnen nicht viel Zeit bleiben.
Er suchte nach Ariel, doch sie schien nicht mit dem Rest der Gruppe gekommen zu sein. Aber sie war auch irgendwo in der Nähe, da war er sich sicher. Genau wie Ryan.
Paul runzelte die Stirn. Irgendetwas an Ryan Marsh war ihm von Anfang an nicht ganz koscher vorgekommen. Und seit der Sache mit Wren war etwas in seinem Blick, das Paul Angst machte. Nicht, dass er Ryan die Schuld geben würde, um Gottes willen, nein. Allein bei dem Gedanken wurde ihm ganz schlecht. Aber dennoch – manchmal machte Ryan ihn einfach nervös. Er hatte mit Matthew darüber reden wollen, aber Matthew hatte ihn abblitzen lassen, genau wie an diesem Morgen. Dieser blöde Matthew – immer wusste er alles besser. Nur diesmal vielleicht nicht.
Die große Bahnhofsuhr über der Skulptur eines sich umarmenden Paars rückte auf siebzehn Uhr dreißig vor. Die Musiker spielten ein paar Soundcheck-Takte auf ihren Instrumenten. In der Mitte der unteren Ebene schien die Menge sich zu bewegen und anzuschwellen wie ein einziges Lebewesen. Die Gruppe hatte sich zerstreut und auf verschiedene Läden verteilt; sie wollten unbemerkt bleiben, bis die Band richtig zu spielen begonnen hatte und die Kameras der Presse auf sie gerichtet waren.
Dann, nachdem sie noch einmal ihre Instrumente gestimmt hatten, sagte das rothaarige Mädchen etwas ins Mikrofon, und der Gitarrist schlug den ersten Akkord an.
Jetzt wurde es wirklich ernst.
Das Herz schlug ihm bis zum Hals, als er den Rucksack über die Schulter schwang und ans obere Ende der Rolltreppe trat.
Melody nahm die U-Bahn von Brixton nach King’s Cross/St. Pancras. Mit dem Auto hätte sie es im Feierabendverkehr niemals rechtzeitig zu Andys und Poppys Konzert im Bahnhof am anderen Ende der Stadt geschafft. Dennoch wurde sie kurz von Panik gepackt, als bei der Einfahrt in die Station Oxford Circus die Meldung Person im Gleis über den Lautsprecher kam. Sie hasste es, in der U-Bahn festzustecken. Als eine zweite Durchsage den Reisenden auf der Central Line riet, eine andere Route zu nehmen, seufzte sie erleichtert auf.
Der Unfall hatte sich nicht auf ihrer Strecke ereignet. Es gab nichts, was sie hätte tun können, und sie war nur heilfroh, dass ein solcher Albtraum nicht während ihrer Schicht passiert war. Ein Mal hatte sie es im Dienst mit einem Schienensuizid zu tun gehabt, und es gab kaum etwas Schlimmeres.
Sie schüttelte sich bei der Erinnerung, obwohl sie sich zwischen den dicht gepackten Leibern im hinteren Wagen des Zuges kaum rühren konnte. Aber sie war entschlossen, sich nicht von der Arbeit die Vorfreude auf Andys großen Auftritt verderben zu lassen – dem ersten von vielen, da war sie sich sicher. Und sie konnte es kaum erwarten zu sehen, ob er auch wirklich die blaue Strickjacke anhatte.
Eine Frau mittleren Alters, die neben ihr eingezwängt war, sah ihre strahlende Miene und lächelte zurück. Melody nickte ihr zu und beschloss, den kleinen Kontakt als gutes Omen zu werten. Die meisten Londoner waren doch gar nicht so übel, wenn man ihnen nur ein bisschen entgegenkam. Und ein Hoch auf die Leute von London Transport – die taten wirklich ihr Bestes, um den Betrieb am Laufen zu halten.
Doch als der Zug länger als sonst an der Warren Street hielt und dann wieder in Euston, wuchs Melodys Beunruhigung. Andy wäre am Boden zerstört, wenn sie es nicht rechtzeitig schaffte. Sie hatte fast schon beschlossen, in Euston auszusteigen und den Rest zu Fuß zu gehen, als die Türen sich schlossen und der Zug wieder anfuhr.
Als die U-Bahn in King’s Cross einlief, war Melody als Erste draußen. Sie rannte auf die Ticketschleuse zu und trabte von dort weiter in Richtung der Halle von St. Pancras. Nur gut, dass sie heute wegen der Kälte Stiefel angezogen hatte, dachte sie, und nicht die hochhackigen Schuhe mit einem jener Kostüme, derentwegen Andy sie so gerne aufzog. Als sie das südliche Ende des Bahnhofs erreichte, war ihr ganz warm, ihre Wangen waren gerötet, und sie musste einen Moment innehalten, um durchzuatmen.
Die Musik drang schwach an ihre Ohren, in unregelmäßigen Schüben, doch sie erkannte sie augenblicklich wieder. Bevor sie Andy kennengelernt hatte, wäre es ihr schwergefallen, eine Gitarre von einem Banjo zu unterscheiden, aber jetzt hätte sie den charakteristischen Klang von Andys Gitarre überall erkannt. Und da, in der nächsten Klangwelle, die sie auffing, war Poppys einmalige, volltönende Leadstimme, unterlegt von Andys Harmoniegesang.
Wenn sie weiter hinten bliebe, würde Andy vielleicht nicht merken, wie sehr sie sich verspätet hatte.
Als sie die Halle selbst betrat, erblickte sie schon jenseits des verglasten Aufzugs die Menschenmenge, die sich um die kleine temporäre Bühne versammelt hatte. Und als sie näher heranging, konnte sie das Duo deutlich erkennen – Poppy in einem fließenden weißen Top über einem kurzen geblümten Rock, wie immer mit Strumpfhose und Stiefeln, und Andy, ein Blickfang in der himmelblauen Strickjacke. Lichtreflexe spielten in seinem zerwühlten Blondhaar und auf seiner leuchtend roten Gitarre.
Andy hatte sie nicht gesehen. Er und Poppy hatten einen neuen Song angestimmt, beide spielten und sangen dazu, voller Konzentration. Melody spürte die gleiche kribbelnde Erregung, die sie empfunden hatte, als sie die beiden das erste Mal hatte spielen hören. Andy und Poppy hatten etwas Elektrisierendes, wenn sie zusammen musizierten, sie verschmolzen zu einem Ganzen, das mehr war als die Summe seiner Teile, und Melody spürte, wie die Energie des Duos die Zuschauer ansteckte.
Unter den Café-Arkaden zu ihrer Linken erblickte sie Tam und Caleb, die Manager der beiden. Sie standen da, mit ihren Kaffeetassen in der Hand, beobachteten gebannt das Geschehen auf der Bühne und grinsten zufrieden.
Dann zog etwas anderes ihren Blick auf sich: Zu ihrer Rechten, in der Nähe des Marks & Spencer Foodstores, reckten ein halbes Dutzend Demonstranten gleichzeitig ihre Plakate in die Luft. Da sie von ihr abgewandt standen, konnte sie nicht lesen, was auf den Schildern stand, doch die Gruppe wirkte eigentlich recht harmlos. Dennoch wollte sie nicht, dass irgendetwas Andys und Poppys besonderen Moment störte. Als sie sich umschaute, sah sie eine uniformierte Beamtin der British Transport Police mit dem Funkgerät in der Hand auf die Demonstranten zugehen.
Gut. Das hätte ihr gerade noch gefehlt, dass sie hier in offizieller Funktion eingreifen müsste. Sie wandte sich wieder der Bühne zu, wo Andys und Poppys Stimmen sich in der letzten Strophe des Songs in einem Crescendo aufschwangen.
Sie hob die Hände, um zu applaudieren, als sie ein dumpfes Zischen hörte, dann ein hohes, schrilles Heulen. Menschen schrien in Panik, als Melody herumfuhr.
Instinktiv zuckte sie zurück und hielt den Atem an. Dort, in dem offenen Bereich im Übergang von der Einkaufspassage zum westlichen Taxistand, brannte ein Feuerball, hell wie ein aufflammendes Streichholz. Und in seiner Mitte war eine menschliche Gestalt.