@ Michelle D. Argyle
Die Autorin
Sara Raasch wusste schon mit fünf Jahren, dass sie für die Bücherwelt bestimmt war. Während ihre Freunde Limonade verkauften, brachte sie ihre handgemalten Bilderbücher an den Mann. Ihre Freunde sehen sie auch heute noch besorgt an, wenn sie versucht, etwas zu malen, und ihre Begeisterung für das geschriebene Wort verleitet sie oft dazu, etwas Tollkühnes zu tun.
Sara Raasch
Schnee wie Asche
Aus dem Englischen von
Antoinette Gittinger
Kinder- und Jugendbuchverlag
in der Verlagsgruppe Random House
1. Auflage
Deutsche Erstausgabe Mai 2015
© 2014 by Sara Raasch
Die amerikanische Originalausgabe erschien 2014
unter dem Titel »Snow like Ashes« bei Balzer + Bray,
an imprint of HarperCollins Publishers, New York.
© 2015 für die deutschsprachige Ausgabe by cbt Verlag
in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München
Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten
Aus dem Englischen von Antoinette Gittinger
Lektorat: Nele Thiemann
Umschlaggestaltung: init | Kommunikationsdesign,
Bad Oeynhausen
Jacket Art © 2014 by Jeff Huang
Jacket Design by Erin Fitzsimmons
he · Herstellung: kw
Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling
ISBN: 978-3-641-15002-0
www.cbt-buecher.de
Für all jene, die den ersten (grauenhaften) Entwurf dieser Geschichte
gelesen und sich das Lachen verkniffen haben, als ich,
damals im zarten Alter von zwölf, verkündete:
»Eines Tages werde ich das veröffentlichen.«
Kapitel 1
»BLOCKEN!«
»Wo?«
»Kann ich dir nicht sagen – du musst meinen Bewegungen folgen!«
»Dann mach langsamer.«
Mather rollt die Augen. »Einem feindlichen Soldaten kannst du auch nicht sagen, langsamer zu werden.«
Ich muss über seine Verzweiflung grinsen, aber das Lachen vergeht mir schnell, als die dumpfe Seite seines Übungsschwerts mir einen Schlag in die Kniekehle versetzt. Ich lande rücklings auf der staubigen Ebene, das Schwert fliegt mir aus der Hand und verschwindet im dichten hohen Gras.
Von jeher ist der Nahkampf mein größter Schwachpunkt gewesen. Aber ich laste das Sir an und der Tatsache, dass er meiner Kampfausbildung erst zustimmte, als ich schon fast elf war. Ein paar mehr Übungsstunden mit dem Schwert hätten mir sicherlich geholfen, jetzt mehr als drei von Mathers Hieben zu parieren. Doch vielleicht würde ich ein Schwert in meiner Hand immer als Fremdkörper empfinden. Ganz anders mein chakram, ein rotierendes Rundmesser, mit dem ich gern werfe. Es war noch nie meine Stärke, aus kurzer Entfernung die Bewegungen eines Gegners vorauszuahnen, wenn ich sein Schwert vor Augen habe.
Die Sonnenstrahlen prickeln auf meiner Haut, während ich zum Himmel hochblicke und aufstöhne, weil sich ein besonders spitzer Stein in meinen Rücken bohrt. Schon zum vierten Mal in den letzten zwanzig Minuten bin ich jetzt auf dem Boden gelandet und beobachte erneut, wie über mir die Halme der Grasebene wogen. Mein Atem geht schwer und Schweiß perlt mir übers Gesicht. Ich bleibe auf dem Rücken liegen und genieße diesen Moment der Ruhe.
Plötzlich kauert sich Mather über mich und versperrt mir die Sicht. Ich hoffe, dass er die plötzliche Rötung meiner Wangen auf die Anstrengung zurückführt. Ganz egal, wie oft er mich niederringt: Er sieht immer unverändert gut aus. Er besitzt diese Art von Attraktivität, die mir körperliche Schmerzen bereitet, mich unverzüglich auf die nächstbeste Sitzgelegenheit zustolpern lässt, wenn er mich unvorbereitet mit seiner Anwesenheit überrascht. Ein paar seiner typisch weißen Winterianer Haarsträhnen fallen ihm ins Gesicht, der Rest seines schulterlangen Haars wird durch ein Band im Nacken zusammengehalten. Der lederne Harnisch, der sich über seine Brust spannt, verrät, dass er den größten Teil seines Lebens damit verbracht hat, seine Muskeln beim Kampftraining zu stählen. Seine Arme sind schlank, lediglich umwickelt von Armbinden. Sein blasses Gesicht ist von Sommersprossen übersät und sein Hals und seine Arme sind unnatürlich gebräunt von der sengenden Sonne der Rania-Ebene.
»Best-of-Eleven?« Beim fragenden Ton seiner Stimme – als würde er allen Ernstes glauben, ich hätte eine Chance, ihn zu schlagen – runzle ich die Stirn.
Ich stöhne. »Nur wenn die nächsten sechs Kämpfe erfolgreich für mich ausfallen.«
Mather kichert. »Ich habe den strikten Befehl, bis zur Rückkehr von William und den anderen dafür zu sorgen, dass du mindestens einen Schwertkampf gewinnst.«
Ich kneife die Augen zusammen und versuche, die Sehnsucht, die mich erfasst, zu verdrängen. Sir ist mit Greer, Henn und Dendera auf einer Mission nach Frühling unterwegs. Wir anderen sind hier im Lager geblieben: Mather, der künftige König (er wird nur auf die gefährlicheren Missionen geschickt, da er von Geburt an in der Kampfkunst ausgebildet wurde); Alysson, Sirs Gattin (die noch nie die geringste Eignung für den Kampf gezeigt hat); Finn, ein weiterer wehrhafter Soldat (Sirs Regel lautet: Es muss immer ein guter Kämpfer in Mathers Nähe sein, der ihm Rückendeckung gibt), und ich, das Waisenmädchen im Dauertraining (das trotz sechs Jahren Kampfausbildung noch immer »nicht gut genug« ist, um ihm wichtige Aufträge anzuvertrauen).
Na gut, ich durfte einige meiner Fertigkeiten beim Auskundschaften von Nahrungsmitteln unter Beweis stellen oder um vereinzelte Soldaten oder verärgerte Bürger aus einem der vier Rhythmus-Königreiche abzuwehren. Aber wann immer Sir Missionen nach Frühling in die Wege leitet, Missionen, in denen es um die Rettung von Winter geht und die nicht nur dazu dienen, Vorräte für uns Flüchtlinge herbeizuschaffen, findet er einen Vorwand, mich nicht daran teilnehmen zu lassen. Das Königreich Frühling sei zu gefährlich, die Mission zu wichtig, um ein junges Mädchen damit zu betrauen.
Offenbar hat Mather an der Art, wie ich an meiner Unterlippe kaue, meine Gedanken erraten, denn er gibt einen tiefen Seufzer von sich.
»Meira, du wirst immer besser, ehrlich. William will lediglich sichergehen, dass du sowohl auf kurze als auch auf größere Entfernung kämpfen kannst, genau wie alle anderen. Das ist doch nachvollziehbar.«
Ich blicke zu ihm hoch. »So schlecht bin ich im Nahkampf überhaupt nicht, nur eben nicht auf deinem hohen Niveau. Kannst du Sir nicht einfach anlügen und sagen, dass ich dich endlich geschlagen habe? Du bist unser künftiger König – er vertraut dir.«
Mather schüttelt den Kopf. »Tut mir leid, ich kann meine Kräfte nur für das Gute einsetzen.«
In seinem Gesicht zuckt es. Ich brauche einen Moment, bis der Sarkasmus hinter seinen Worten zu mir durchdringt. Er besitzt keinerlei Kräfte, keine magischen jedenfalls, und genau das macht uns schon unser Leben lang zu schaffen.
Ich richte mich auf, zerpflücke Grashalme und rolle sie zwischen den Fingern, bloß damit ich in der plötzlich entstandenen angespannten Stille etwas zu tun habe. »Wofür würdest du die Magie denn einsetzen?«, frage ich so leise, dass meine Worte kaum zu verstehen sind.
»Du meinst, außer Sir deinetwegen anzulügen?« Mathers Ton klingt unverkrampft, aber als ich mich hochrapple und mich ihm zuwende, versetzt es mir einen Stich ins Herz, als ich die Anspannung in seinem Gesicht erkenne.
»Nein«, sage ich. »Ich meine, wenn Winter wieder über eine intakte Magsignie verfügen würde, eine, die nicht an die weibliche Abstammungslinie gebunden ist, sondern die jeder Monarch, ob König oder Königin, einsetzen könnte, wofür würdest du dann die Macht nutzen?«
Die Frage purzelt aus mir heraus wie ein glatter Flussstein, dessen Ecken durch die vielen Male, die ich mich damit beschäftigt habe, bereits abgerundet sind. Wir sprechen nie über Winters einstige Magsignie, das Medaillon, das der König von Frühling, Angra Manu, vor sechzehn Jahren zerbrochen hat, als er unser Königreich zerstörte, es sei denn, es geht um eine Mission. Es heißt immer bloß: »Wir haben erfahren, dass eine der Hälften zu diesem und jenem Zeitpunkt an diesem und jenem Ort sein wird«, aber nie: »Selbst wenn es uns gelingen sollte, die Magsignie zurückzubekommen, wie können wir dann wissen, ob die Magie wirkt, wenn unser einziger Erbe männlich ist?«
Mather wendet sich ab, schlägt mit dem Schwert aufs Gras, als trage er einen persönlichen Krieg gegen die Ebene aus. »Es spielt keine Rolle, was ich damit machen würde – ich könnte sie ja doch nicht nutzen.«
»Natürlich spielt es eine Rolle«, erwidere ich stirnrunzelnd. »Wenn man gute Absichten hat …«
Doch noch bevor ich meinen Satz zu Ende bringen kann, wirft er mir einen verärgerten Blick zu. »Nein, tut es nicht«, kontert er. Dann fährt er fort und die Worte sprudeln nur so aus ihm heraus, was mir zeigt, dass auch er darüber sprechen muss. »Egal, was ich tun würde, egal, wie gut ich führe oder wie hart ich trainiere, ich werde trotzdem niemals die gefrorenen Felder wieder zum Leben erwecken oder Seuchen heilen oder die Soldaten mit Kraft erfüllen können, wie ich es tun würde, wenn ich die Magsignie nutzen könnte. Die Winterianer würden jederzeit eine grausame Königin einem König mit guten Absichten vorziehen, denn mit einer Königin hätten sie zumindest die Chance, dass die Magie zu ihrem Wohl genutzt werden könnte. Es spielt keine Rolle, wozu ich die Magie einsetzen würde, denn die Herrscher eines Reichs werden aufgrund der falschen Dinge beurteilt.«
Mather ringt nach Luft, sein Gesicht ist angespannt, jetzt, wo er all seine Sorgen und Schwächen offengelegt hat. Ich nage an der Innenseite meiner Wange und versuche, nicht darauf zu achten, wie er zusammenzuckt und erneut auf das Gras einschlägt. Ich hätte ihm nicht so zusetzen sollen, aber etwas in meinem tiefsten Innern drängt mich stets, immer weiter zu fragen, um so viel wie möglich über das Königreich zu erfahren, das ich noch nie mit eigenen Augen gesehen habe.
»Tut mir leid«, murmele ich und reibe mir den Nacken. »Es war nicht gerade klug von mir, ein so heikles Thema anzusprechen, während du in voller Rüstung bist.«
Er zuckt die Schultern, wirkt aber nicht überzeugt. »Schon gut. Es ist wichtig, dass wir darüber reden.«
»Das solltest du mal den anderen sagen«, grummele ich. »Ständig brechen sie zu irgendwelchen Missionen auf, kehren verwundet zurück und behaupten: ›Nächstes Mal schaffen wir es, und dann kriegen wir die zweite Hälfte, suchen uns Verbündete, ringen Frühling nieder und retten unsere Landsleute.‹ Als ob das alles so einfach wäre. Wenn es so einfach ist, warum reden wir dann nicht öfter darüber?«
»Weil es zu wehtut«, erwidert Mather. Ganz einfach.
Das lässt mich verstummen. Ich suche seinen Blick, sehe ihm tief in die Augen. »Eines Tages wird es nicht mehr wehtun.«
Dieses Versprechen geben wir Flüchtlinge uns jedes Mal, bevor wir uns auf eine Mission begeben oder wenn unsere Leute verletzt und blutend zurückkehren, wenn alles schiefläuft und die Angst uns dicht zusammenrücken lässt. Eines Tages … wird es uns besser gehen.
Mather steckt das Schwert in die Scheide zurück, hält kurz inne, geht dann ein paar Schritte auf mich zu und legt mir die Hand auf die Schulter. Als ich zusammenzucke und zu ihm hochblicke, wird ihm bewusst, was er getan hat, und er zieht schnell die Hand zurück.
»Ja, eines Tages«, stimmt er mir abrupt zu. Die Art und Weise, wie er die Hand, mit der er mich berührt hat, zusammenballt und wieder öffnet, verursacht mir Unbehagen. »Aber im Augenblick sollten wir uns erst einmal darauf konzentrieren, unser Medaillon zurückzubekommen, damit wir als Königreich wieder Ansehen und Verbündete gewinnen können, die bereit sind, mit uns zusammen gegen Frühling zu kämpfen. Oh, und davor müssen wir noch dafür sorgen, dass du mehr zustande bringst, als während des Schwertkampfs in die Knie zu gehen.«
Ich täusche ein Lachen vor. »Wirklich sehr lustig, Eure Hoheit.«
Mather zuckt zusammen, und ich weiß, es ist wegen des Titels, den ich benutzt habe, den ich benutzen muss. Die beiden Worte Eure Hoheit schaffen die nötige Distanz zwischen mir – einer Waise und Kämpferin in Ausbildung – und ihm – unserem künftigen König.
Ungeachtet unserer mehr als schwierigen Lebensumstände, unserer gemeinsamen Erziehung, der prickelnden Wirkung, die sein Lächeln auf mich hat, ist er immer noch er, und ich bin immer noch ich. Natürlich braucht er irgendwann eine weibliche Erbin, aber mit einer echten Dame, einer Herzogin oder einer Prinzessin – nicht mit dem Mädchen, mit dem er trainiert.
Mather zieht erneut sein Schwert, während ich im Gras nach meinem suche, mich auf das Hier und Jetzt konzentriere und nicht auf seinen Blick, der mich durch die hohen gelben Halme verfolgt. Unser Lager befindet sich nur ein paar Schritte von uns entfernt und in der endlosen Steppe fallen unsere hellen, gelbbraunen Zelte kaum auf. Dies und die Tatsache, dass die Rania-Ebene für Reisende nicht gerade einladend ist, haben uns in den letzten fünf Jahren in dieser erbärmlichen Heimat Sicherheit und Schutz geboten.
Ich halte inne, betrachte das Lager und mache mir zunehmend Sorgen. Es liegt weit genug entfernt von Frühling, um nicht entdeckt zu werden, und doch nah genug, um kurze Erkundungstouren unternehmen zu können. Es besteht lediglich aus fünf Zelten sowie einem Pferch für Pferde und einem weiteren für unsere beiden Kühe. Ansonsten gibt es hier nichts, die Rania-Ebene ist öde, trocken und heiß, selbst gemessen an der Gluthitze des Sommer-Königreichs. Deshalb will keines der acht Königreiche von Primoria sie für sich beanspruchen. Wir haben drei Jahre gebraucht, um eine Handvoll dürres Gemüse zum Gedeihen zu bringen. Um auf dem kargen Boden genügend Ertrag für ein ganzes Königreich hervorzubringen, wäre so viel Magie nötig, dass es sich kaum lohnen würde.
Doch all dies reicht aus, um uns acht am Leben zu halten. Ursprünglich waren wir fünfundzwanzig, die bei Winters Untergang entkommen sind. Wenn ich an diese Zahl denke, krampft sich mir der Magen zusammen. Unser Königreich war einst die Heimat von mehr als hunderttausend Winterianern; die meisten von ihnen wurden bei dem Angriff von Frühling niedergemetzelt. Und diejenigen, die überlebten, sitzen jetzt gefangen in Arbeitslagern in Frühling. Doch egal, wie wenige nur überlebt haben mögen und in der Sklaverei darben, sie sind es wert, dass wir dieses Nomadenleben ertragen. Diese Menschen verkörpern Winter, jeder von ihnen ein kleiner Teil davon. Sie alle – wir alle – verdienen ein anständiges Leben und ein richtiges Königreich.
Und egal, wie lange Sir mir nur unwichtige Aufgaben überträgt, egal, wie häufig ich darüber nachdenke, ob es reichen wird, die beiden Medaillonhälften zurückzubekommen, um Verbündete zu gewinnen und unser Königreich zu befreien, ich werde allzeit bereit sein zu helfen. Ich weiß, dass Sir sich meines Engagements bewusst ist und dass ihm klar ist, wie sehr ich seinen Wunsch, Winter zurückzugewinnen, teile. Und eines Tages wird er mich nicht mehr übergehen können.
Einmal, mit zwölf, durfte ich mit auf eine Reise nach Yakim, eines der Rhythmus-Königreiche. Eine Gruppe von Männern bedrängte Sir und mich in einer Gasse und schimpfte über die barbarischen, kriegshetzerischen Jahreszeiten-Königreiche.
Wenn es nach ihnen ginge, sollten wir uns am besten gegenseitig abschlachten, damit ihre Königin kommen und in den Trümmern unseres Königreichs nach dem suchen könnte, was die Rhythmus-Königreiche ihrer Meinung nach durch die Schuld der Jahreszeiten eingebüßt hatten: Primorias Magiequelle, den Schlund, auf dem unsere vier Königreiche ruhen.
»Sie wollen wirklich, dass wir uns gegenseitig töten?«, habe ich Sir gefragt, nachdem uns die Flucht gelungen war. Einen von ihnen hatte ich selbst abgewehrt, aber als wir eine Mauer hochgeklettert waren, um ihnen zu entkommen, verwandelte sich mein Stolz in ein konfuses Schamgefühl.
Irgendwo unterhalb der Jahreszeiten-Königreiche liegt ein riesiger pulsierender Magieball und irgendwo in unseren Klaryns-Bergen gab es einst einen Zugang dazu. Was die Beschaffenheit des Landes und der Natur angeht, war seine Wirkung auf die vier Jahreszeiten-Königreiche begrenzt, doch jeder König und jede Königin in Primoria, in den Rhythmus- und den Jahreszeiten-Königreichen, besitzt einen Anteil an dieser Magie durch seine oder ihre Magsignie und kann sie zum Wohle seines oder ihres Königreichs nutzen. Die vier Rhythmus-Königreiche hassen uns wegen der Tatsache, dass dies alles ist, was sie besitzen, dass ihre Magie an Gegenstände wie einen Dolch, eine Kette oder einen Ring gebunden ist. Sie hassen uns, weil wir den Zugang der Witterung und dem Vergessen haben anheimfallen lassen, dafür, dass wir direkt über der Magie leben und unsere Königreiche nicht aufreißen, um in der Tiefe zu graben und mehr davon zu erhalten.
Damals hielt Sir inne und beugte sich zu mir herunter. Dann nahm er eine Handvoll schmelzenden Schnees vom Straßenrand. »Die Rhythmus-Königreiche beneiden uns«, sagte er an den Schneematsch gewandt. »In unserem Königreich herrscht das ganze Jahr Winter, überall Schnee und Eis, während ihre Königreiche alle vier Jahreszeiten durchmachen. Sie müssen den schmelzenden Schnee und die erdrückende Hitze ertragen.« Er zwinkerte mir zu und schenkte mir sein strahlendstes Lächeln, ein seltenes Ereignis, das mich mit Glück erfüllte. »Wir sollten Mitleid mit ihnen haben.«
Ich rümpfte die Nase über den braunen Matsch, erwiderte aber sein Lächeln, genoss die Verbundenheit zwischen uns. In diesem Augenblick fühlte ich mich mehr denn je als Winterianerin, als Teil dieses Kreuzzugs zur Rettung unseres Königreichs.
»Ich hätte lieber die ganze Zeit Winter«, erklärte ich.
Sein Lächeln schwand dahin. »Ich auch.«
Das war das erste Mal, dass ich spürte – wusste –, dass Sir meinen eisernen Willen erkannte. Doch egal, wie oft ich mich auch bewähre, nie lässt er mich mit auf eine Mission. Trotzdem werde ich es weiterhin versuchen. Wir alle tun das: Wir versuchen, weiterzuleben, zu überleben und unser Königreich um jeden Preis zurückzubekommen.
Ich finde mein Übungsschwert in einem zertretenen Grasbüschel. Als ich danach greife, verkrampfen sich meine Muskeln vor Anstrengung. Ich werfe Mather, der an mir vorbei über die Ebene schaut, einen finsteren Blick zu. Sein Gesicht ist ausdruckslos, seine Miene hinter dem Schleier verborgen, der ihn zu einem perfekten Monarchen macht und zu einem Freund, der einen zur Weißglut treibt.
»Was ist?« Ich folge seinem Blick. Vier Gestalten wanken auf uns zu. Im Flimmern der Hitze scheinen sie sich wellenförmig zu bewegen. Aber selbst auf die Entfernung sind sie deutlich zu erkennen und ich atme erleichtert auf.
Eins, zwei, drei, vier.
Sie sind zurück. Alle. Sie haben überlebt.
Kapitel 2
Mather stürmt an mir vorbei durchs Gras. »Sie sind zurück!«
Alysson, Sirs Gattin, rafft ihre Röcke, lässt das Essen, das sie gerade zubereitet, im Stich und hastet los. Finn rennt mit einem Bündel Verbandsmaterial aus dem Zelt.
Ich lasse das Schwert fallen und folge Mather, den Blick auf die Gestalten vor uns gerichtet. Ist das dort Sir? Sitzt er ein wenig zu vorgebeugt im Sattel? Wurde er verwundet? Natürlich wurde er das. Zwei unserer Leute waren in Richtung April, der Hauptstadt von Frühling, aufgebrochen, die beiden anderen in Lynia eingedrungen, einen von Frühlings Seehäfen. Keines der beiden Ziele liegt besonders weit im Inneren des Landes, aber nichtsdestotrotz befinden sie sich doch in Angras Herrschaftsbereich, und jede Mission dorthin endet mit Blutvergießen.
Mather und ich sind als Erste bei ihnen. Trotz seiner Leibesfülle überholt Finn Alysson. Wenige Meter hinter uns hält er stolpernd an, holt Verbände und Salben aus dem Bündel.
Dendera gleitet vom Pferd und ringt nach Luft. Sie ist Ende vierzig, genau wie Alysson, und ihre weißen Winterianer Haare hängen ihr ins Gesicht. Um ihre Augen und um ihren Mund zeigen sich leichte Falten.
Sie stützt ihre Taille mit einem Arm und dreht sich zu Greer um, als der sich aus dem Sattel hievt. »Sein Bein«, murmelt sie und zeigt Finn die klaffende Wunde in Greers Schenkel.
Greer winkt ab und deutet auf Dendera. »Sie hat’s schlimmer erwischt«, sagt er, presst die Stirn gegen den Sattel und holt tief und gleichmäßig Luft. Sein kurzes elfenbeinfarbenes, von Schweiß und Blut verfilztes Haar klebt ihm am Kopf. Meistens vergisst man, dass er der Älteste unserer Gruppe ist. Seine unerschütterliche Entschlossenheit, jede Aufgabe, jede Mission zu übernehmen, lässt sein Alter vergessen.
Henn lässt sich neben Dendera vom Pferd gleiten und legt sich ihren Arm um die Schulter, um sie zu stützen. Die liebevolle Art, wie er sie umfasst, erweckt in mir den Wunsch, wegzuschauen, so als würde ich etwas sehr Intimes beobachten. Dabei sollte es sich nicht anders anfühlen als die Art, wie wir alle miteinander umgehen – eine willkürlich zusammengewürfelte Truppe mit Sir als Anführer statt einer Familie. Trotzdem frage ich mich, ob Dendera und Henn sich in einer anderen Situation wohl wünschen würden, eine richtige Familie zu sein.
Alle vier bluten aus Wunden an verschiedenen Körperstellen, ihre Hemden, aus denen sie notdürftige Verbände gemacht haben, sind übersät mit braunroten Flecken – einer Mischung aus getrocknetem und frischem Blut. Sir ist der Einzige, der sich mühelos vom Pferd schwingt, aufrecht stehen bleibt, hoch aufgerichtet und unbeweglich, und uns scheinbar unbeteiligt beobachtet. Nach all der Zeit, die ich in Mathers Nähe verbracht habe, sollte ich ausdruckslose Blicke besser deuten können. Aber ich stehe einfach nur da, wie erstarrt vor Angst, unfähig, mich zu bewegen und Finn und Mather dabei zu helfen, die Wunden zu versorgen.
Ich lasse meinen Blick über jedes der Pferde, jede Tasche gleiten. Haben sie die Medaillonhälfte gefunden?
»William!« Alyssons spitzer Schrei eilt ihr ein paar Herzschläge voraus, als sie, ohne auf seine Verletzungen zu achten, auf ihren Mann zustürzt. Sir schlingt die Arme um sie, hebt ihre winzige Gestalt vom Boden hoch. Es sieht aus, als würde ein Bär eine Stoffpuppe umklammern – Kraft und Macht gegenüber Zerbrechlichkeit und Sanftmut.
Sir lässt Alysson wieder zu Boden. »An dem Tag, als wir aufgebrochen sind, ist es dorthin gebracht worden.«
Finn lässt die Kompresse, die er auf Greers Bein gedrückt hat, sinken. Mather, der Dendera einen kleinen Wassersack zum Trinken hinhält, blickt hoch. Ich ziehe scharf die heiße, schwere Luft ein und in meinem Kopf dreht sich alles.
Seit Winters Zusammenbruch haben wir ganz Primoria nach dem Medaillon durchsucht, aber nur selten Hinweise erhalten, wo die Hälften sein könnten. Angra sorgt dafür, dass eine stets in Bewegung ist und immer wieder von Städten in Frühling in entlegene Gebiete in den herrenlosen Gegenden von Primoria gebracht wird – etwa die Ausläufer der Paisel-Berge, Seehäfen –, um es uns so schwer wie möglich zu machen, beide Hälften zurückzubekommen.
Aber jetzt sind wir so nah dran wie noch nie. Ich verspüre dieselbe Aufregung, die alle anderen empfinden – oder zumindest empfunden haben müssen, bevor sie hier ankamen, verletzt und erschöpft. Sir wird jemanden danach ausschicken. Und natürlich sind frische, ausgeruhte Kämpfer die besten Soldaten, also wird er niemanden von denen losschicken, die gerade zurückgekehrt sind. Was bedeutet …
Ich eile auf Sir zu, der Mather von oben bis unten mustert und dann Finn derselben Musterung unterzieht. »Ihr beide macht euch sofort auf den Weg«, befiehlt er. »Sobald sie merken, dass wir entkommen sind, werden sie das Medaillon sofort wieder woandershin bringen.«
Ich bleibe stehen. »Sie brauchen jede Unterstützung. Ich gehe mit ihnen.«
Sir schaut mich an, als hätte er vergessen, dass es mich überhaupt gibt. Er runzelt die Stirn und schüttelt den Kopf. »Diesmal nicht. Mather, Finn, macht euch in fünf Minuten zum Aufbruch bereit. Los.«
Finn entfernt sich hastig. Sein massiger Körper wogt auf und ab, als er zum Lager zurückeilt. Er ist bedingungslos gehorsam, so wie wir alle es sind.
Mit zusammengebissenen Zähnen blicke ich zu Sir hoch. »Ich kann das. Ich gehe mit.«
Sir greift nach seinen Zügeln und führt sein Pferd zum Lager. Alle folgen ihm – außer Mather, der stehen geblieben ist und uns schweigend betrachtet.
»Ich habe jetzt keine Zeit, darüber zu diskutieren«, blafft Sir. »Es ist zu gefährlich.«
»Zu gefährlich für mich, aber nicht für unseren künftigen König?«
Sir blickt mich an, während ich neben ihm gehe. »Hast du Mather beim Training geschlagen?«
Ich verziehe das Gesicht, was Sir als Antwort genügt.
»Deshalb ist es zu gefährlich für dich. Wir sind zu nah dran, um irgendwelche Risiken einzugehen.«
Das Steppengras streift meine Hüften, meine Stiefel versinken mit jedem Schritt tiefer im Staub. »Ihr täuscht Euch«, knurre ich. »Ich kann helfen. Ich kann …«
»Du hilfst jetzt schon.«
»Ja klar, dieser Beutel Reis, den ich letzten Monat in Herbst gekauft habe, hat unser Königreich gerettet.«
»Du bist hier vor Ort am hilfreichsten«, korrigiert er.
Ich fasse nach seinem Arm, damit er stehen bleibt. Er wendet sich mir zu, das Gesicht, auch sein weißer Bart, verschmiert mit Staub und Blut. Es ist eingerahmt von Strähnen elfenbeinfarbener Haare. Er wirkt erschöpft, als würde er beim nächsten Schritt zusammenbrechen.
»Ich kann mehr tun als das«, keuche ich. »William, ich bin bereit.«
Einmal habe ich ihn Vater genannt. Nach all den Geschichten über meine richtigen Eltern, die bei Frühlings Angriff in den Straßen von Winters Hauptstadt Jannuari starben, und darüber, wie er mich gerettet hat, erschien es mir, einer Achtjährigen, logisch, dass ich den Mann, der mich aufzog, Vater nannte. Aber er lief dermaßen puterrot an, dass ich befürchtete, er würde Blut spucken, und er herrschte mich an, wie er es noch nie getan hatte. Er war nicht mein Vater und ich dürfte ihn nie wieder so nennen. Ich durfte ihn nur bei seinem Namen, seinem Titel oder etwas Vergleichbarem nennen, um meinen Respekt zu beweisen. Aber nicht Vater. Niemals. Also nannte ich ihn von da an Sir. Ja, Sir. Nein, Sir. Ihr seid nicht mein Vater, und ich werde nie Eure Tochter sein, und ich hasse es, dass Ihr alles seid, was ich habe, Sir.
Im Moment beachtet er mich nicht weiter, zieht sein Pferd weiter hinter sich her. Sein Entschluss ist endgültig, und ich kann diskutieren, soviel ich will, nichts wird seine Meinung ändern.
Doch ich gebe nicht auf. »Das reicht nicht. Ich verstehe ja, dass Ihr die effizientesten Möglichkeiten sucht, um unser Königreich zu retten, aber ich weiß auch, dass ich ebenfalls etwas für Winter tun kann.«
Ein paar Schritte hinter mir stöhnt Dendera, die immer noch an Henns Schulter lehnt. »Meira«, sagt sie mit müder Stimme. »Schätzchen, du solltest dankbar sein, dass du nicht gebraucht wirst.«
Ich drehe mich zu ihr um. »Nur weil du lieber Kleider flicken würdest, bedeutet das noch lange nicht, dass alle Frauen sich das wünschen.« Sie starrt mich mit offenem Mund an und ich kneife die Augen zusammen. »Ich habe es nicht so gemeint«, seufze ich und zwinge mich, sie anzuschauen. Sie lehnt sich schwer auf Henn und in ihren Augen glitzert es. »Ich meine nur, du solltest nicht zum Kämpfen gezwungen werden, wenn du es nicht willst, und ich sollte nicht gezwungen werden, nicht zu kämpfen, obwohl ich es will. Wenn Sir mich gehen ließe, müsstest du vielleicht nicht mehr auf Missionen gehen. Alle hätten dabei gewonnen.«
Dendera sieht noch immer gekränkt aus, aber sie wirft Sir einen Blick zu, und hinter ihrem Schmerz flackert ein Funken Hoffnung auf. Früher war sie wie Alysson und hat sich um das Lager gekümmert, doch irgendwann brauchte Sir sie unbedingt für Missionen. Zur selben Zeit begann er, mich mit der Beschaffung von Lebensmitteln zu beauftragen. Dendera erhebt nie Einwände, egal, ob er ihr befiehlt zu trainieren oder sie auf Missionen wie diese schickt. Aber ein Blick in ihre Augen verrät, wie sehr sie dieses Leben verabscheut, wie gerne sie im Lager bleiben würde. Sie fühlt sich mit Waffen genauso unwohl wie ich mich mit einem Kleid.
Mather bahnt sich durch das Gras einen Weg zu mir, und ich hoffe darauf, dass er vielleicht die richtigen Worte findet, um die Spannung zu lösen. Aber nach ein paar Schritten sackt er zusammen, als ob ihn die Erde heruntergezogen hätte und ihn nicht mehr freigeben wolle. Ich runzle die Stirn, als er nach seinem Knöchel greift.
»Aaaah«, jammert er.
Sir beugt sich voller Panik zu ihm hinunter. »Was ist passiert?«
Mather wiegt sich hin und her und stöhnt, während die anderen näher kommen. »Meira hat mich im letzten Kampf geschlagen, hat sie Euch das nicht berichtet? Hat mich einfach in die Knie gezwungen. Ich glaube nicht, dass ich nach Lynia reiten kann.«
Die Furchen in Sirs Gesicht glätten sich. »Aber du bist uns doch vorhin entgegengerannt …«
Mather wiegt sich nach wie vor hin und her und stöhnt. »Ja, das stimmt, trotz der Schmerzen.«
Ich atme tief ein. Sir blickt zu mir hoch und Mather zwinkert mir unbemerkt zu und grinst.
»Du hast ihn geschlagen?«, erkundigt sich Sir ungläubig.
Ich zucke die Schultern. Da ich eine miserable Lügnerin bin, belasse ich es dabei. Mather hilft mir! Röte überzieht meine Wangen.
Sir weiß mit Sicherheit, dass wir lügen, aber er wird es trotzdem nicht riskieren, Mather loszuschicken, denn er könnte sich ja tatsächlich eine Verletzung zugezogen haben. Er vertraut ihm mehr als sonst jemandem hier. Nach einer Weile reibt sich Sir die Schläfen und schnaubt. »Bring Mather zum Lager und hol dein chakram.«
Ich unterdrücke einen Triumphschrei, kann aber das seltsame blubbernde Geräusch nicht verhindern, das aus meinem immer noch missbilligend verzogenen Mund herausbricht. Sir steht da, nimmt sein Pferd und schlägt erneut entschlossen den Weg zum Lager ein, als ob er mich jetzt, wo er nachgegeben hat, nicht mehr sehen wolle. Alle folgen ihm und lassen mich zurück, damit ich mich um den verletzten Mather kümmere.
Als die anderen außer Hörweite sind, lasse ich mich zu Boden fallen und schlinge die Arme um ihn. »Von allen Monarchen in der Geschichte bist du mein Lieblingskönig«, brabbele ich an seiner Schulter.
Auch er legt die Arme um mich, und es durchfährt mich wie ein Blitz, als ich mir dessen bewusst werde … wir umarmen uns.
Sofort springe ich auf und strecke ihm die Hand hin, überzeugt, dass mein Gesicht für immer voller roter Flecken sein wird. »Wir sollten zurückgehen.«
Mather greift nach meiner Hand, aber statt aufzustehen, zieht er mich wieder zu sich herunter. »Warte.«
Er dreht sich um und kramt in seiner Tasche und ich knie mich neben ihn. Als er sich mir wieder zuwendet, wirkt sein Gesicht feierlich, und die Nervosität in meinem Magen nimmt zu. Auf seiner Handfläche liegt ein kleiner runder Lapislazuli, einer dieser selteneren Steine, die in Winter vor langer Zeit in den Klaryns-Bergen abgebaut wurden.
»Ich habe ihn gefunden, als wir damals in Herbst gelebt haben«, erklärt Mather mit sanftem Blick. »Nachdem uns Sir etwas über das Wirtschaftssystem in Winter beigebracht hatte. Über unsere Minen in den Klaryns-Bergen, wo Kohle, Mineralien und Steine geschürft wurden.« Er schweigt und ich sehe ihn wieder als Kind vor mir. Vor acht Jahren zogen wir nach Herbst, ein Kind-Prinz, der vorgab, ein Soldat zu sein, und ein Waisenmädchen, das sich nichts mehr wünschte, als es ihm gleichzutun.
»Mir gefiel die Vorstellung, es wäre ein magischer Stein«, fährt er mit ernster Miene fort. »Nachdem wir gelernt hatten, dass die Jahreszeiten-Königreiche sich über einem Magieschlund befinden und direkt unter dessen Einfluss stehen und dass Angra Winters Magsignie zerstört und uns unsere Macht im Handumdrehen genommen hat, wollte ich – musste ich – einfach glauben können, dass wir auf irgendeine andere Art Magie bekommen könnten. Auch wenn unsere Welt den Anschein erweckt, als befände sie sich im Gleichgewicht – vier Königreiche, in denen das ganze Jahr über dieselbe Jahreszeit herrscht, vier Königreiche, die alle Jahreszeiten durchlaufen; vier Königreiche, in denen die Magsignien durch die weibliche Abstammungslinie weitergegeben werden, und vier, in denen es die männliche Abstammungslinie ist. Doch sie ist nicht im Gleichgewicht. Immer werden nämlich die Monarchen, die Magie besitzen, gegenüber den normalen Menschen wie etwa ihren Bürgern im Vorteil sein … und gegenüber anderen Monarchen, deren Magsignien zerstört sind. Und ich habe die Vorstellung gehasst, so …«, ihm versagt die Stimme, »hilflos zu sein.«
Ich ziehe die Stirn in Falten. »Mather, du bist nicht hilflos.«
Er lächelt schwach und zuckt die Schultern. »Zumindest war dieser Lapislazuli für mich eine Verbindung zu Winter. Und ich glaube, ihn zu besitzen, hat mir geholfen, mich stärker zu fühlen.«
Ich kaue an meiner Unterlippe. Ich habe durchaus bemerkt, wie er meine Worte übergangen hat.
Er ergreift meine Hand und schließt sie um den Stein. »Ich möchte, dass du ihn nimmst.«
Ein Schwindelgefühl erfasst mich, als Mather meine Hand nicht mehr loslässt und den Blick nicht abwendet. In seinen Augen funkelt es – dies hier ist wichtig für ihn. Er schenkt mir gerade einen Teil seiner Kindheit.
Ich halte mir den Lapislazuli dicht vor die Augen, um ihn im schwindenden Sonnenlicht zu betrachten. Er ist unglaublich blau und nicht größer als eine Münze. Über seine Oberfläche ziehen sich feine dunkelblaue Adern.
Außerhalb des verlorenen Schlunds hat die Magie nur in den Königlichen Magsignien der acht Königreiche in Primoria überdauert, die die Herrscher zum Wohle ihrer Völker einsetzen konnten. Nicht aber in Gegenständen wie diesem kleinen blauen Stein, der so unauffällig in meiner Hand liegt. Aber ich verstehe, weshalb Mather glauben wollte, dass der Stein magische Kräfte besitzt: Manchmal hilft es uns, wenn wir an etwas glauben, das größer ist als wir selbst, damit wir uns selbst genügen können, ob nun Magie im Spiel ist oder nicht.
»Nicht dass ich mir Sorgen machen würde, dass irgendetwas schiefgeht«, fügt er hinzu. »Doch manchmal fand ich es immer beruhigend, ein Stück Winter bei mir zu haben.«
Ich drücke den Stein. Neben meinem langsamen Herzschlag spüre ich, wie sich eine ruhige Gelassenheit in mir breitmacht. »Danke.« Ich nicke in Richtung seines Knöchels. »Für alles. Du hättest das nicht …«
Er schüttelt den Kopf. »Doch. Du verdienst es genau wie wir alle, für unsere Heimat kämpfen zu dürfen.«
Ich schlucke schwer. Wir stehen immer noch allein außerhalb des Lagers. Nur eine leichte Brise streift über das Gras und ein paar karge Bäume. »Ich sollte jetzt packen.«
Mather nickt. Sein Gesicht wirkt erneut ausdruckslos, zeigt diese undurchdringliche Leere, die mich rasend macht. Er täuscht ein Humpeln vor, als er auf das Lager zugeht, und stützt sich auf mich. Ich habe die Hand um seine Taille gelegt, mit der anderen umklammere ich den Lapislazuli. Ich bin kaum mehr fähig, normal zu atmen, weil ich mir nur allzu sehr seiner körperlichen Nähe bewusst bin – genau wie der Tatsache, dass ich bei jedem Blick auf ihn das Leben sehe, um das wir Sirs Worten zufolge kämpfen. Ein ganz einfaches Leben, nur etwas Glück, Mather und ich in einer gemütlichen Hütte in Winter.
Aber er ist nicht nur Mather – er ist der Inbegriff von Winter. Und er wird immer vor allem und in erster Linie Winter sein. Ihn erwartet ein Palast, keine Hütte.
Ich helfe ihm zur Feuerstelle und eile dann davon, um alles Nötige für meine Mission einzupacken. Zum ersten Mal kann ich mich endlich auf den Weg machen und das tun, was ich schon immer tun wollte: meinem Königreich dienen.