SUSAN JUBY
Aus dem Englischen von
Eva Hierteis
Kinder- und Jugendbuchverlag
in der Verlagsgruppe Random House
Für meine Mutter, Wendy
S. J.
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1. Auflage 2015
© 2015 der deutschsprachigen Ausgabe cbj Kinder- und Jugendbuchverlag
in der Verlagsgruppe Random House, Neumarkter Str. 28, 81673 München.
Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten
© 2015 Susan Juby
Die amerikanische Originalausgabe erschien 2015 unter dem Titel:
»The Truth Commission«
bei Viking Children’s Books, einem Imprint der Verlagsgruppe Penguin LLC, USA
Übersetzung: Eva Hierteis
Covergestaltung: Frauke Schneider,
unter Verwendung eines Bildes von: Elena Terletskaya © shutterstock
MP · Herstellung: AJ
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN 978-3-641-15099-0
V002
www.cbj-verlag.de
Oder: Ein Blick hinter die Kulissen (Wer schnell angeödet ist, kann diesen Teil überspringen.)
Als Erstes möchte ich sagen, dass es mir nicht leichtfällt, diese Geschichte zu erzählen. Deshalb fange ich mit einer Vorbemerkung der Autorin an, so zum Aufwärmen. Das ist das Tolle an Essays. Man kann Einführungen und Vorbemerkungen und Prologe und Vorreden schreiben, bevor man mit der eigentlichen Geschichte beginnt. Das ist wie eine Runde schriftliches Schattenboxen. Romanautoren dagegen müssen direkt von Anfang an in den Ring steigen, und bildende Künstler haben es sogar noch schlechter – die können getrost davon ausgehen, dass kein Mensch erst ihre Theorien und Ausführungen liest, ehe er ihre Werke betrachtet. Michelangelo konnte keine Einführung darüber verfassen, wo er den Stein für seinen David herhatte, und auch keine Vorbemerkung des Künstlers darüber, was er sich dabei gedacht hat, Davids Hände so groß zu machen und seinen … Na ja, ist auch egal.
Aber von verantwortungsvollen Essay-Lesern erwarten Schriftsteller, dass diese kein Wort auslassen. Sie dürfen dem Leser lang und breit erklären, was er da vorgesetzt bekommt, und auch warum und wie es entstanden ist. Na, dann mal los:
Dies ist mein Essay-Projekt für die elfte Klasse.
Die folgende Geschichte umfasst den Zeitraum von September bis November dieses Schuljahres.1
Und so soll dieses Projekt ablaufen: Jede Woche werde ich ein oder mehrere Kapitel schreiben und meiner hervorragenden Lehrerin für Kreatives Schreiben vorlegen2 und sie wird mir dann in der Woche darauf Feedback geben. Ich werde alles so aufschreiben, als wüsste ich nicht, was als Nächstes passiert – als wäre ich eine Reporterin des Geschehens, was übrigens eine häufig verwendete Erzähltechnik bei klassischen Essay-Werken ist.3 Sobald das Manuskript komplett fertig ist, wird meine Lehrerin es an den Zweitkorrektor des Projekts weiterreichen, nämlich Mr Wells, den Prinzen unter den Literaturlehrern. Wenn diese beiden Gebieter über Geschmack, Stil und Inhalt das absegnen, was ich zu Papier gebracht habe, bekomme ich meine Note für mein Projekt. Et voilà, wie man uns zu sagen im Französischunterricht beigebracht hat!
Was muss ich sonst noch loswerden, bevor ich loslegen kann? Vielleicht sollte ich ein paar Worte zu meiner Verwendung von Fußnoten verlieren. Ich weiß, dass sie sich nicht überall uneingeschränkter Beliebtheit erfreuen.
Als wir dieses mit Fußnoten geradezu gespickte Essay von David Foster Wallace über eine Kreuzfahrt gelesen haben4, waren meine Mitschüler geteilter Meinung.
Manche liebten die Fußnoten, weil sie witzig und informativ sind und DFWs virtuoses Vokabular demonstrieren, andere fanden, dass sie nerven und einen vom Haupttext ablenken. Wiederum andere lesen sowieso nie die Lektüre und sollten sich wirklich keine Meinung anmaßen.5 Doch ich will die Geduld der Leser nicht zu sehr strapazieren, deshalb hier mein Vorschlag:
Ich werde die Fußnoten verwenden, um mit meiner Lehrerin zu kommunizieren, und dann vielleicht noch, um Dinge aufzunehmen, die a) interessant sind und b) nicht so richtig was im Haupttext verloren haben, mir aber dennoch irgendwie wichtig erscheinen.
Vielleicht entschließe ich mich dazu, es über weite Teile der Geschichte auch gut sein zu lassen mit den Fußnoten. Wer weiß, was kommt? Mein willkürlicher Umgang mit Fußnoten könnte sogar dazu beitragen, Spannung aufzubauen, worum ja in jedweder Art Literatur eine Menge Wind gemacht wird. (Leser, die weder Feedback noch Noten auf dieses Projekt geben, können die Fußnoten auslassen, aber denen wird die ganze Vielfalt an Interessantem und Kunstvollem entgehen – und so was sollte eigentlich keiner versäumen.)
Abschließend und obwohl dies eine Autorenvorbemerkung ist und keine Danksagung6, würde ich gerne die Gelegenheit nutzen, all den guten Mächten an der Green-Pastures-Akademie für Kunst und angewandtes Design (die da möglicherweise umherschwirren) dafür zu danken, dass sie mir als Schulprojekt erlaubt haben, ein Essay zu schreiben. Mir ist bewusst, dass andere Schüler hier so Sachen machen wie lebensgroße Nachbildungen des NASA Opportunity Rovers aus Leiterplatten, alten Waschmaschinenteilen und museumsreifen Aquarien oder riesige Wandteppiche weben, die unseren Premierminister zeigen, wie er sich in einem Pullunder am Peace Tower unseres Parlamentsgebäudes festkrallt wie King Kong persönlich. Vor diesem Hintergrund kann einem eine ganz normale, herkömmlich geschriebene Geschichte – und dann auch noch eine wahre – schon ein bisschen trocken und uninspiriert erscheinen.
Meine beste Freundin Dusk macht eine Klein-Installation mit einer präparierten Spitzmaus in einem spitzmausgroßen Wohnwagen und mein bester Freund Neil malt tolle, eigenartige Bilder von wunderschönen Frauen. Wenn man meint, man hätte gecheckt, wie Attraktivität funktioniert, dann bringen einen Neils Ölgemälde wieder ins Grübeln.
Ihre Arbeiten sind so greifbar und konkret, so klassisch »künstlerisch«, und das lässt mich schon manchmal an mir zweifeln, wenn ich hier so an einem Computer sitze und Worte auf dem Bildschirm erscheinen lasse. Natürlich bin ich auch keine Null in bildender Kunst, sonst wäre ich nicht an dieser Schule angenommen worden – ganz egal, wer meine Schwester ist.7 Ich zeichne, bastle so ein bisschen rum, und ich bin Stick-Fanatikerin (derzeitige Obsession: sogenannte Nadelmalerei, die aussieht wie ein Gemälde), aber ich glaube, dass Schreiben ebenso Kunst ist wie alles andere. Schon möglich, dass manche das anders sehen, und sie würden in einer Diskussion mit mir wahrscheinlich den Sieg davontragen, weil ich nicht sonderlich zäh bin – auch rein körperlich könnte ich ein bisschen mehr Sport gut vertragen –, und trotzdem bleibe ich bei meiner Meinung.
Diese Geschichte, die laut meiner Lehrerin für Kreatives Schreiben in die »viel geschmähte Kategorie Essay«8 fällt, ist kompliziert, will aber unbedingt raus. Sie muss raus.
Achtung: Manchmal verfalle ich beim Schreiben in einen »überkandidelten Tonfall«, wie Mr Wells es nennt. Das passiert vor allem dann, wenn ich mich noch nicht richtig aufgewärmt habe. Ich hoffe jedenfalls, dass ich, je tiefer ich in diese Geschichte eintauche, immer mehr zu einem klaren, schnörkellosen Stil finde, oder, um mit Mr Wells zu sprechen, zu einem »effektiven Schreiben«. Diesen ganzen Kram zu erzählen, macht mich extremst nervös. Das ist schlicht und ergreifend die Wahrheit. Vielleicht sollte ich als Nächstes eine Einführung oder irgendein anderes Titelei-Zeugs schreiben.9
1 Ich kann gar nicht glauben, dass das alles noch gar nicht so lange zurückliegt. Es fühlt sich an, als wäre es schon tausend Jahre her.
2 Das sind dann wohl Sie, Ms Fowler!
3 Zum Beispiel Fear and Loathing in Las Vegas von Hunter S. Thompson und Der Electric Kool-Aid Acid Test von Tom Wolfe.
4 »Schrecklich amüsant – aber in Zukunft ohne mich«, erstmals 1996 im Harper’s Magazine unter dem Titel »Shipping Out« veröffentlicht. Interessant zu wissen: Anfangs denkt man, in dem Essay ginge es darum, wie wunderbar es ist, auf eine Luxuskreuzfahrt zu gehen, aber dann stellt sich raus, dass es vom Tod handelt. Dringend empfohlen für depressive Leser und solche, die tiefschwarzen Humor, Listen und Fußnoten mögen.
5 Ms Fowler, darf ich Ihnen ein Kompliment dafür machen, wie viel Geduld Sie mit den Lesemuffeln in unserer Klasse haben?
6 Ich kann es kaum erwarten, meine Danksagung für dieses Projekt zu schreiben! Das ist bestimmt, als würde ich eine Oscar-Rede für eine von mir an mich selbst verliehene Auszeichnung verfassen!
7 Später mehr zu ihr.
8 Nur um zu beweisen, dass ich im Unterricht aufgepasst habe: Als Essays bezeichnet man Geschichten, die Merkmale der Erzählliteratur aufweisen, wie zum Beispiel interessant zu sein und Spaß beim Lesen zu machen, im Gegensatz zu Erzählliteratur, die ein paar wahre Brocken enthält. Namhafte zeitgenössische Essayisten sind unter anderem Jon Krakauer, Annie Dillard und John Vaillant. Problematischer wird es da schon mit James Frey und Greg Mortenson.
9 Mit Titelei-Zeugs meine ich Dinge wie Inhaltsverzeichnisse, Autorenvorbemerkungen, Prologe, Vorworte und das Impressum.
Sag die ganze Wahrheit, aber biege sie zurecht.
Emily Dickinson
Alles, was ich weiß, ist das, was ich mit Worten fassen kann.
»Philosophische Untersuchungen«, Ludwig Wittgenstein
Sag die Wahrheit oder jemand anders wird es für dich tun.
»Straight up and dirty: a memoir«
Stephanie Klein
Am Anfang hatte ich eine Mutter, einen Vater, eine Schwester und zwei gute Freunde namens Neil und Dusk. (Eigentlich heißt sie ja Dawn, aber aufgrund ihrer Persönlichkeitsstruktur und Veranlagung, die eher der Abenddämmerung als der Morgenröte entsprechen, bevorzugt sie Dusk.) Zusammen haben meine Freunde und ich die Wahrheitskommission gebildet. Wir zogen aus, die Wahrheit zu suchen, und wir sind – zu unserem Erstaunen und meinem Leidwesen – fündig geworden.
Zu Beginn hatten wir drei keine hochgesteckten Ambitionen. Und ganz bestimmt hatten wir nicht vor, das Leben von irgendjemandem auf den Kopf zu stellen. Ihr habt vielleicht bemerkt, dass im Namen unserer Kommission der Aspekt »Versöhnung« fehlt, anders als bei anderen, berühmteren und wichtigeren Wahrheitskommissionen.10 Wenn ihr am Ende dieser Geschichte angelangt seid, werdet ihr mir zustimmen, dass es durchaus ein kluger Schachzug ist, dem Streben nach Wahrheit ein wenig Anspruch auf Versöhnung hinzuzufügen. Diesen Aspekt außer Acht zu lassen, war ein Versehen unsererseits. Ein schmähliches.
Wie ihr wisst, gibt es diverse Kategorien von Wahrheit. Da sind Wahrheiten, die in beichteähnlichen Blogs und YouTube-Videos aus Leuten herausbrechen. Dann gibt es die angeblichen Wahrheiten, die in Klatschmagazinen und im Reality TV enthüllt werden, die – wie allgemein bekannt ist – nichts als Lügen unter dem Deckmäntelchen der Wahrheit sind. Und da wären natürlich noch jene Wahrheiten, die nur unter idealen Voraussetzungen ans Tageslicht kommen: wenn man sich zum Beispiel bis tief in die Nacht mit einem Freund unterhält und sich gegenseitig Dinge anvertraut, die man nie rauslassen würde, wäre nicht der eigene Schutzmechanismus durch salzige Knabbereien, zuckrige Getränke, die Finsternis und eine Flut von Worten außer Kraft gesetzt. Nicht zu vergessen: Wahrheiten aus Büchern und Filmen – wenn irgendein Autor genau die richtigen Worte findet und es sich anfühlt, als hätte sich sein Stift in ein Schwert verwandelt und einen mitten ins Herz getroffen. Solche Wahrheiten sind ein rares Gut und vom Aussterben bedroht. Doch es gibt auch noch ganz andere Wahrheiten, die halb nackt an jeder Straßenecke herumlungern wie betrunkene Cheerleader, die versuchen, einem was mitzuteilen. Aus irgendeinem unerfindlichen Grund beugt sich fast nie einer zu ihnen runter, um ihnen zuzuhören. Na ja, bis auf Neil, Dusk und mich. Und es hat sich herausgestellt, dass diese betrunkenen Cheerleader ein paar echt schockierende Dinge zu sagen hatten.
Dies ist eine Geschichte über simple Wahrheiten, unbequeme Wahrheiten und auch über so manche Wahrheit, die besser unausgesprochen geblieben wäre.
10 Für all jene Leser, die auf diesem Gebiet über keinerlei Kenntnisse verfügen: Eine Wahrheitskommission (auch Wahrheits- und Versöhnungskommission genannt) setzt man ein, um die Einwohner eines Landes bei der Untersuchung von Menschenrechtsverletzungen (wie zum Beispiel Völkermord, Folter oder Freiheitsberaubung) zu unterstützen und um Empfehlungen darüber abzugeben – da kommt jetzt die »Versöhnung« ins Spiel –, wie man solche Gräueltaten verwinden kann. Man denke nur an die Apartheid. Dusk, Neil und ich bewegten uns natürlich in einem komplett anderen Umfeld und machten uns kaum darüber Gedanken, wie wir oder andere mit den Wahrheiten klarkommen sollten, die wir herausfanden. Warum das ein Problem darstellt? Man denke nur an die Definition von Versöhnung im Wörterbuch: 1. Die Wiederherstellung eines freundschaftlichen Verhältnisses. 2. Der Akt, eine Einstellung oder Meinung mit einer anderen zu vereinbaren. Ich glaube, wir sind uns darin einig, dass es wenig umsichtig von uns war, das außer Acht zu lassen.
Eine durch eine Weste ausgelöste optische Täuschung
Am ersten Tag der elften Klasse saßen Neil, Dusk und ich auf den Bänken draußen vor unserem reizenden Tempel moderater Gelehrsamkeit, der Green-Pastures-Akademie für Kunst und angewandtes Design11, taten so, als würden wir Schokoladenzigaretten rauchen, und verglichen unsere Laufschuhe. Wir haben es zu unserem Hobby erklärt, zu gucken, wie lange unsere Schuhe es machen. Das ist unsere Art, in einer Kultur, in der neues Schuhwerk völlig überschätzt wird, passiven Widerstand zu leisten. Dusk trägt seit zwei Jahren tapfer – oder bis zum Erbrechen – die New Balances von ihrem Opa (Größe 9, extraweit). Sie sind echt widerlich, und Neil und ich sind voll eifersüchtig und wünschten, unsere Großväter wären noch am Leben, damit sie uns auch solche Altmännerlatschen vermachen könnten.
»Heilige Scheiße!«, flüsterte Neil.
»Ich weiß. Ich habe sie den ganzen Sommer über angehabt. Sogar beim Schwimmen. Ich fürchte, sie sind richtig an meine Füße drangerottet. Wahrscheinlich wird eine OP fällig, um sie wieder abzukriegen«, meinte Dusk und hob stolz einen vergammelten Schuh von der Farbe und Konsistenz einer misshandelten Auster. Dusk gehört zu den wenigen Menschen auf diesem Planeten, die es sich leisten können, mit ekligen Schuhen rumzulaufen, weil sie chronisch attraktiv ist. Hat sie mal einen Pickel und vergessen, sich die Haare zu kämmen oder die Zähne zu putzen, dann kriegt sie von zehn möglichen Punkten fünfzehn. An einem guten Tag liegt sie aussehenstechnisch im Zwanzigerbereich.
»Pssst«, sagte Neil. »Schau mal.« Er klang wie ein Vogelbeobachter, der gerade einen Blaumückenfänger entdeckt hatte. Schöne Frauen sind Neils Lieblingsthema, was sich immer gleich ein bisschen pervers anhört. Ist er aber nicht. Er ist einfach nur sehr interessiert. In seinen Zeichnungen und Gemälden scheint es, als versuche er zu ergründen, wie es kommt, dass bestimmte Frauen alle Blicke auf sich ziehen und andere eben nicht. Die meisten seiner Bilder zeigen eine einsame, wunderschöne Frau, die einer gaffenden Menge ausweicht. Manchmal rutscht sie dabei über die Kante der Leinwand, manchmal starrt sie gereizt in die Ferne, während alles andere auf dem Bild auf sie zuzustreben scheint. Letzten Sommer hat Neil mit einer Gemäldeserie von Dusk angefangen. Er hat Polaroids von ihr in verschiedenen Situationen gemacht und dann seine ganz eigenen, befremdlichen Szenerien um sie herum erschaffen. Dusk eignet sich perfekt für Neils Bilder, weil es nur wenigen Menschen gegeben ist, so genervt zu schauen und dabei zugleich umwerfend attraktiv zu wirken. Dusk ist Neils Muse. Unsere Lehrer sind sich einig, dass Neil eine extrem reife Perspektive und ein »ungewöhnlich einfühlsames Auge«12 hat.
Aber ich kann euch noch was über Neil berichten: Er hat eine hinreißend locker-lässige Gammel-Aura, die von seinem Kleidungsstil herrührt, der sich an den fertigen Typen aus den eher düsteren Filmen der späten 1960er- und frühen 1970er-Jahre orientiert, und nicht zuletzt auch dank seines Vaters, der mehr oder minder mit Dauer-Relaxen beschäftigt ist. An unserem ersten Schultag trug Neil über einem V-Ausschnitt-T-Shirt und einer braunen Anzughose aus Polyester ein ehemals weißes, extraweites Businesshemd mit großem Kragen. Dieses Outfit war eine Hommage an Al Pacinos Rolle in dem Film Hundstage, der Neil zufolge von einem stümperhaften Bankräuber mit massig Geheimnissen handelt. Natürlich checkt keiner die Anspielung. Die anderen denken einfach, Neil hätte einen saumiesen Klamottengeschmack, was wiederum irgendwie saucool ist.
Über unsere Schokoladenzigaretten hinweg folgten Dusk und ich seinem Blick und entdeckten Aimee Danes, die gerade aus ihrem weinroten BMW ausgestiegen war.
Vor unseren Augen reckte Aimee die Nase hoch in die Luft, um irgendwelche Düfte zu erschnuppern, und streckte die Arme aus, als wolle sie die Sonnenstrahlen mit ihrer Brust einfangen. Aber was für eine Nase! Und was für eine Brust!
Aimee hatte den Sommer über ein paar Renovierungsarbeiten an sich vornehmen lassen.
Am Ende der zehnten Klasse vor gerade mal drei Monaten hatte sie eine durchaus markante Nase gehabt: groß und anmutig gekrümmt. Eine Nase, die über Selbstsicherheit und einen starken Willen verfügte. Sie war ein bisschen Meryl-Streep-mäßig und ich war ein großer Bewunderer ihres Selbstvertrauens. Aimees Brust war mir nie weiter aufgefallen, was darauf schließen lässt, dass sie nicht so beeindruckend war wie ihre Nase. Inexistent war sie aber sicherlich auch nicht gewesen, denn sonst wäre mir das vermutlich ebenfalls nicht entgangen, da ich eine recht gute Beobachterin bin. Dusk ist zum Beispiel nicht gut ausgestattet. Neil meint, das wäre das Einzige, was er an ihr vermissen würde. Sie kontert dann immer, dass er ja rasch eine Vermisstenanzeige bei der Polizei aufgeben könne.
Und da war er also, der erste Tag der elften Klasse, und Aimee tauchte hier auf, mit wundersam geschrumpfter Nase und magisch aufgepumptem Busen, der in eine weiße Lederweste gezwängt war. Ihr denkt, das mit der Weste ist bloß ein Scherz? Nein, leider nicht. Sie sah voll weich aus, als wäre sie aus dem exquisitesten Leder. Einhornfohlen vielleicht.
Die Weste stand in einem merkwürdigen Kontrast zu der neuen Nase, die sich in Aimees Gesicht zusammenzukauern schien, als hoffe sie, nicht bemerkt zu werden. Das war keine Nase, die die Hand heben und es wagen würde, eine Vermutung abzugeben. Es war keine Nase, die auch nur in die Nähe einer Einhornweste gehörte.
Ihr müsst wissen, dass die G.-P.-Akademie nicht die Art Schule ist, an der man erwarten würde, mit plastischer Chirurgie konfrontiert zu werden. Vielleicht haben ein paar Schüler, die auf den neuen Primitivismus abfahren, drastische, einschneidende – oder eher einstechende – Veränderungen wie Stirnpiercings und so an sich vornehmen lassen. Aber doch keine Schönheits-OPs! Klar, uns hier geht es um Selbstdarstellung, aber doch nicht diese Art Selbstdarstellung.
»Letztes Jahr war alles, was sie hatte, dieses Auto«, meinte Dusk, während wir zusahen, wie Aimee weiterhin mit ihrem winzigen Näschen in der Luft rumschnüffelte und den Marianengraben ihres Dekolletés in die wärmenden Sonnenstrahlen reckte.
»Ist das alles neu?«, flüsterte ich, wedelte mit der Hand wie ein Scheibenwischer hin und her und fragte mich wie so oft, ob ich die Situation richtig deutete.
»Nase oder Brüste?«, fragte Neil.
»Beides, wie es aussieht. Ich meine, dass die Nase neu ist, darauf verwette ich meinen Hintern. Das ist echt ein Jammer. Ich habe ihre alte Nase geliebt.«
»Die zwei Mädels«, sagte Neil und vollführte mit beiden Händen eine unmissverständliche Geste auf Höhe seiner Brust, »sind definitiv neu.«
»Vielleicht sehen sie auch nur so riesengroß aus, weil die Nase so klein ist«, schlug ich vor. »Und weil diese Weste so … weiß ist.«
»Du meinst also, es könnte sich um eine durch die Weste hervorgerufene optische Täuschung handeln?«, fragte Dusk.
»Warum nicht? Wir sollten nichts unterstellen.«
»Ich bin mir ziemlich sicher, dass solche Veränderungen durchaus bemerkt werden sollen«, sagte Neil. »Sie gehören zu Aimees Selbstdarstellung. Wenn ihr mich fragt, dann wäre sie am Boden zerstört, wenn keiner den Unterschied checkt. Das wäre doch, als würdest du zwei Tage damit zubringen, dein Facebook-Profilbild mit Photoshop zu bearbeiten, und keiner würde es liken oder einen Kommentar abgeben, wie gut du aussiehst.«
»Dann sollen wir es also registrieren, aber schön die Klappe halten?«, meinte Dusk.
Inzwischen hatte Aimee damit begonnen, eine Reihe von Dehnübungen durchzuführen, um auf sich aufmerksam zu machen. Sie tat, als hätte sie acht harte Stunden lang im Garten geschuftet oder eine Mauer hochgezogen und sich dabei den Rücken verrenkt.
Einen Großteil dieser Show schien sie für uns abzuziehen, was durchaus Sinn ergab, da wir die Einzigen weit und breit waren. Wir lungerten schon dreißig Minuten hier rum, weil wir mit meinem Pickup gefahren waren, der gerne mal absoff und stehen blieb, weshalb wir bei jeder Fahrt einen Puffer einrechneten.
»Wir sollten was sagen«, flüsterte Dusk.
»Und was?«, fragte ich.
»Dass sie gut aussieht. Sie ist bestimmt nervös. Sie hat sich zweimal unters Messer gelegt und wir sind die Ersten vor Ort zur Inspektion.«
»Wir sind hier nicht beim Körper-TÜV«, sagte ich, »sondern in der Schule.«
»Das bleibt sich gleich«, erwiderte Dusk.
»Wir müssen konkreter sein«, ignorierte Neil meinen Einwand. »Wir sollten ihr sagen, wir finden, dass es hervorragende Arbeit ist. Eins a. Erstklassig. Madonna wäre neidisch.«
Ich schüttelte den Kopf. »Die Leute mögen es nicht, wenn man ihre Schummeleien offen zur Sprache bringt.«
»Ich glaube, oft schon«, widersprach Neil.
»Wir leben in einer Zeit nie da gewesener Unaufrichtigkeit.« Dusks Stimme war hart geworden, wie immer, wenn sie sich bei einem Thema auf einen Standpunkt versteift. »Und ich für meinen Teil hab genug davon. Ich sag jetzt was.« Sie stand auf und ihre verwesten Schuhe gaben ein schmatzendes Geräusch von sich.
»Ich halte das für keine gute Idee«, sagte ich.
Dusk schob die Schokozigarette in den Mundwinkel.
»Dusk, du bist nicht die Richtige für den Job. Du bist zu perfekt.« Mein Blick wanderte hinüber zu Neil.
»Willst du damit andeuten, dass ich nicht der volle Adonis bin, oder wie?«, fragte Neil. Dann schmunzelte er in sich hinein. Neil hat etwas längere Haare, die er mit ein klein bisschen zu viel Stylingprodukten zurückgelt. Er hatte sein Hemd aufgeknöpft, und das T-Shirt war so tief ausgeschnitten, dass es einen Hauch zu viel Brust sehen ließ. An manchen Tagen trägt Neil sogar ein Seidentuch. Neil macht mich fertig – aber im positiven Sinn. Er benimmt sich, als hätte er ein Selbstbewusstsein so unangreifbar wie Teflon, dabei ist er einer der sensibelsten Menschen, die ich kenne. Sein Vater ist ein hier ansässiger Bauunternehmer mit zweifelhaftem Ruf und nimmt alles total locker – inklusive der Erziehung seines einzigen Kindes.
Als Dusk und ich ihn zum ersten Mal zu Hause besucht haben, kurz nachdem er letzten September hergezogen war, begrüßte uns Neil an der Haustür in einem weißen Bademantel über der Badehose. Er hatte ein Tablett mit eingelegten Zwiebeln und pimentgefüllten Oliven vorbereitet, die auf Zahnstochern steckten, und bot uns einen Gin Tonic an. Wir sagten, wir wären mit den Rädern da, also servierte er uns stattdessen Gurkenwasser. Seitdem sind Neil, Dusk und ich unzertrennlich. Das ist zwar erst seit einem Jahr, doch ich habe dabei ein wunderbar beruhigendes Für-immer-und-ewig-Gefühl. Aber egal – zurück zu dem Tag, als wir begannen, die Wahrheit zu sagen.
»Vergesst nicht, dass das Ganze durchaus eine gewisse Eigendynamik entwickeln könnte«, gab ich zu bedenken.
Das ist meine Rolle in unserem Dreiergespann. Bedenken äußern. Sich einen Kopf über die Konsequenzen machen. Diplomatisch sein. Dusk fungiert als unser moralischer Kompass. Sie fällt im Eilverfahren Urteile, übt einen gewissen sozialen Druck aus und macht gewagte Ansagen. Neil hat bedingungslose Akzeptanz und Wertschätzung für jeden im Angebot, ebenso wie Kompetenzen auf den erstaunlichsten Gebieten und Witze – die meist auf seine eigene Kappe gehen.
»Okay«, sagte Neil ruhig. »Ich mach’s.«
An diesem Punkt war ich mir nicht mehr sicher, was wir da taten oder warum, doch Aimee brüstete sich so sehr, dass ich schon Angst hatte, die Weste, für die wahrscheinlich ein Einhornbaby das Leben gelassen hatte, würde ernsthaft Schaden nehmen.
»Los!«, flüsterte Dusk.
Also stand Neil auf, rückte den riesigen Kragen seines Anzughemds zurecht und schob sich die komplette Schokozigarette auf einmal in den Mund. Wir sahen zu, wie er mit großen Schritten zu Aimee hinüberging und sie ansprach. Er war zu weit weg, als dass wir hätten verstehen können, was er sagte.
Aimees Kopf zuckte zurück. Sie versteifte sich.
Neil, dessen Hände tief in den Taschen seiner Polyesterhose vergraben waren, sagte noch etwas. Er war unheimlich braun gebrannt, da er diesen Sommer neben der Gemäldeserie von Dusk das Motto ausgerufen hatte, die – wie er sich ausdrückte – »verloren gegangene Kunst des Sonnenbadens« wiederzubeleben. Außerdem arbeitete er an einem – wie er es nannte – »verstörenden Oberlippenbartschatten«. Verstörend an jedem anderen, an ihm jedoch liebenswert.
Dann sahen wir, wie sich Aimees Schultern entspannten. Sie beugte sich zu Neil, berührte seine Schulter, lachte und begann zu sprechen, ja es ergoss sich ein regelrechter Redeschwall aus ihrem Mund, von dem wir beide kein Wort verstanden. Am Ende des Gesprächs legte sie ihm die Hand auf die Schulter und küsste ihn. Ich schwöre, das ist die Wahrheit. Neil hatte ein Mädchen auf ihre nagelneue Nase und ihre frisch verlegten Brustimplantate angesprochen und im Gegenzug bekam er einen Kuss.
Er schlenderte zurück und hielt ehrfürchtig eine Hand an die Wange, auf die Aimee ihn geküsst hatte.
»Sie hat sich im Juli operieren lassen, weil sie davon träumt, Fernsehjournalistin bei einem der großen Sender zu werden. Sie hat sich schon immer eine Nasenkorrektur gewünscht, obwohl ihre Mutter ihr erzählt hat, dass genau das die Karriere von irgendeiner Jennifer Grey ruiniert hätte. Und bis ihre Eltern den Implantaten zugestimmt haben, musste sie auch eine Menge Überzeugungsarbeit leisten, weil sie meinten, ihre Brüste seien vielleicht noch im Wachstum. Aber schließlich hat sie sie doch bequatscht, und jetzt fühlt sie sich großartig und ist total froh, dass wir in einer Zeit leben, in der man Gottes Fehler korrigieren lassen kann.«
»Du bist eine One-Man-Wahrheitskommission«, sagte Dusk bewundernd.
»Die Wahrheit ist wie eine Befreiung«, sagte Neil.
»Meinst du?«, fragte ich, doch keiner hörte mir zu.
»Zuerst hat meine erfrischende Direktheit sie aus dem Konzept gebracht, aber dadurch hatte sie auch die Möglichkeit, über die zurzeit wichtigste Neuerung in ihrem Leben zu reden. Wir gehen nachher zusammen auf einen Kaffee und da will sie mir dann ausführlicher davon berichten.« Neil war ungeheuer zufrieden mit sich selbst. »Aimee und ich sind jetzt beziehungstechnisch auf einer neuen Ebene.«
»Ihr habt jedenfalls keine Geheimnisse voreinander«, sagte ich und ignorierte den Stich, den mir ein leichter Anflug von Eifersucht versetzte. Vermutlich würde Aimee seine nächste Muse werden. Nicht dass ich scharf darauf wäre, in der Kunst von irgendjemandem dargestellt zu werden. Davon habe ich echt die Nase voll.
»Ich will andere nach der Wahrheit fragen«, sagte Dusk. »Ich glaube, die Wahrheit ist das, was mir in meinem Leben bisher gefehlt hat. Na ja, zumindest eines der Dinge, die mir fehlen – also mal abgesehen von Zielstrebigkeit und einer guten Portion Selbstvertrauen.«
Neil sah uns an.
»Ich glaube, das könnte unser neues spirituelles Projekt werden«, sagte er. »Jede Woche fragt einer von uns jemand anderen nach der Wahrheit.«
»Genau.« Dusk nickte. »Es ist unsere Bestimmung, in dieser Welt voller Lügen für ein bisschen mehr so bitter nötige Wahrheit zu sorgen.«
Und das war sie, die Geburtsstunde der Wahrheitskommission.
11 Wo sich seit ein paar Jahren Spinner der Klassen zehn bis zwölf austoben können.
12 Ein wortwörtliches Zitat von Ms Dubinsky, die den Kurs »Frauen und Kunst: eine stürmische Geschichte« bei uns gibt.
Ein paar Takte zu meiner Schwester
13Nicht dass ich sonderlich scharf darauf wäre, in das Thema einzusteigen, aber ohne diese wichtige Hintergrundinformation wäre die Geschichte unvollständig. Wie viele ja bereits wissen, habe ich eine Schwester. Sie ist mit ihren Graphic Novels berühmt geworden und hat, um es kurz zu machen, mir und meinen Eltern ohne unsere Einwilligung ebenfalls zu Berühmtheit verholfen. ENDE.
Hah. War nur ’n Witz.
Meine Schwester gehört zu den Menschen, die in anderen Sphären schweben. Vielleicht ist das so ein Künstler-Genie-Ding. Unsere Schule ist voll von Leuten wie Keira, die ganz tief in sich versunken sind – vor allem wenn sie an etwas arbeiten –, sodass sie einem wie Schlafwandler vorkommen, wenn sie wieder aus ihrer Versenkung auftauchen. Spuren von Besinnungslosigkeit scheinen an ihnen zu haften, die ihnen einen Glanz wie aus einer anderen Welt verleihen.
Ich kann gar nicht zählen, wie oft ich losgeschickt wurde, um Keira zu suchen, wenn es Zeit war, zu essen/ins Bett zu gehen/den Highschoolabschluss zu machen, nur um sie völlig in ein Gespräch mit dem Dosensammler unseres Viertels vertieft zu finden oder draußen im Hinterhof, wie sie um 3 Uhr 30 nachts konzentriert den Mond anstarrte oder wie sie zwanzig Minuten nach Unterrichtsbeginn kämpfende Ameisen beobachtete, zwischen denen sich auf dem Schulparkplatz wahre Dramen abspielten. Der Fachterminus dafür lautet, glaube ich, »verpeilt«.
Aber sie ist auf eine Art verpeilt, wie viele Leute es auch gern wären. Meine Schwester ist in jedem Moment und bei jeder Beobachtung hundert Prozent da.
Als ich klein war, war es mit Keira, als würde ich mit einem Wesen irgendwo zwischen Fee und Kobold zusammenleben. Es war nie ihre Absicht, jemandem wehzutun oder destruktiv zu sein. Sie hat einfach gemacht, was ihr gerade in den Sinn kam. Wie beispielsweise Geschichten erzählen und das Leben der Menschen um sie herum in fantastische Kreationen verwandeln. Das war nicht böse gemeint – zumindest habe ich mir das eingeredet, selbst dann noch, als meine Schwester angefangen hat, ihre Bücher zu veröffentlichen.
Hintergrundgeschichten-Alarm!14
Meine Schwester ist kompliziert – deshalb glaube ich, die einzige Möglichkeit, anderen verständlich zu machen, wie sie tickt, ist Infodumping. Wie wir im Unterricht gelernt haben, bedeutet das, die Infos einfach völlig ungefiltert über jemandem auszukippen. Also, liebe Leser: Macht euch gefasst auf eine Nahtoderfahrung durch Exposition.15
Meine Schwester war eine der Ersten, die an unserer Schule ihren Abschluss gemacht haben. Schon in der zehnten Klasse hatte sie begonnen zu schreiben, zu illustrieren und Teile ihrer Graphic-Novel-Serie, die Diana-Chroniken, im Selbstverlag herauszubringen.
Der erste Band heißt Diana: Königin zweier Welten.
Die Protagonistin Diana ist ein Mädchen, das in einem Vorort bei ihrer »quälend durchschnittlichen« Familie aufwächst, bestehend aus ihrer hochgradig nervösen, schnell überforderten Mutter, ihrem nichtsnutzigen Vater und ihrem begriffsstutzigen, blöd glotzenden Trampel von einer Schwester. Wie es der Zufall will, ist Diana, die meiner Schwester verdammt ähnlich sieht, zugleich die Königin von Vermeer, einem schöneren oder zumindest melodramatischeren Paralleluniversum, das nach dem Lieblingsmaler meiner Schwester benannt ist und nur durch einen begehbaren Wandschrank betreten werden kann.16
In Vermeer ist alles genauso wie auf der Erde, aber hundertmal krasser. Die Mutter dort ist politisch und emotional manipulativ, und ständig läuft in der Glotze Game of Thrones, wodurch die Mutter die Familie fest im Griff halten will. Dianas Vater kriegt noch immer nichts gebacken, doch er ist zugleich skrupellos, hat ein Faible für exotisches Essen sowie unangemessene Affären mit der Hälfte des Hausgesindes (Männer, Frauen und diverse Cousins und Cousinen ersten Grades). Wie auf der Erde hat Diana in Vermeer auch noch ihre schlaffe, saft- und kraftlose, fette Schwabbel von einer Schwester an der Hacke, die die Zielscheibe eines jeden Bösewichts ist, der in die Stadt kommt. Die Schwester (Flandern) ist der erklärte Liebling aller Schurken und Wüstlinge, die sich mit dem Hause der Vermeer verbinden wollen.
In Vermeer muss Diana ihre Familie davor retten, an ihrer eigenen Dummheit, Habgier und Faulheit zugrunde zu gehen – eine Mission von multiversaler Wichtigkeit, denn sollte das Haus der Vermeer fallen, so würde ganz Vermeer im Krieg versinken (immer gern genommen). Vermeer ist irgendwie der Zwilling der Erde, was zur Folge hat, dass das Schicksal Vermeers unabdingbar mit dem der Erde verknüpft ist. Wenn es also auf Vermeer mies läuft, dann auch auf der Erde. Ungefähr so. Über diesen Zusammenhang stolpere ich jedes Mal.
Die Diana-Chroniken sind witzig und komplex und ironisch. Diana ist in beiden Universen ein bisschen zickig, verhält sich der Familie gegenüber alles andere als nett und ist immer nur so halb anwesend – nicht zuletzt, weil sie von ihren Aufgaben in Vermeer, wo sie die Hälfte ihrer Zeit verbringt, so in Anspruch genommen wird. Im irdischen Reich braucht sie ihre Ruhe, um wieder zu Kräften zu kommen, doch ihre banale Erden-Familie stört sie in einer Tour. Die spüren, dass sie etwas Besonderes ist, und wollen eine Scheibe davon abhaben.
Die ersten Kapitel der Diana-Chroniken wurden noch als fotokopierte Exemplare im Internet verkauft und lagen nur in einer Handvoll sehr spezialisierter Läden aus. Doch bald nahm die Sache Fahrt auf und gewann eine treue Anhängerschaft. Die Kombination aus sehr persönlichen Einsichten in Dianas Leben auf der Erde und auf der anderen Seite übertriebener Gewalt und dem politischen Intrigenspiel in Vermeer sprach viele Leute an. Ihre Agentin, Sylvia Kalfas, entdeckte sie und verschaffte ihr einen Vertrag mit Viceroy, die die einzelnen Kapitel zu Band 1 zusammenschnürten. Das Geld aus diesem ersten Vertragsabschluss – ein ganz schönes Sümmchen – ging in einen Treuhandfonds, der bis zu Keiras zwanzigstem Geburtstag von Sylvia und meinen Eltern verwaltet wurde.
Die Los Angeles Times bezeichnete die erste Chronik als »bahnbrechend und umwerfend komisch«. Globe and Mail schrieb, »die Mischung aus Autobiografie und Fantasy mache es zu einer Unterhaltung mit Suchtpotenzial«. Der Guardian meinte, es sei »ein Werk von großer Originalität«. Die Leser konnten nicht genug davon bekommen. Es wurde in einem Atemzug mit Maus genannt, was immer irgendjemand fallen lässt, wenn von extrem populären Graphic Novels die Rede ist. (Dabei haben die Chroniken null Komma null mit Maus zu tun, nur um das mal klarzustellen.)
Ein Jahr bevor sie aufs College ging, veröffentlichte Keira eine weitere Chronik – also im selben Jahr, in dem ich an die Green Pastures kam –, und diese und jede folgende neue Chronik erfreuten sich noch größerer Beliebtheit als die vorangegangenen.
Jetzt ist es vielleicht an der Zeit, mal zu erwähnen, dass Dianas Familienmitglieder mir und meiner Mutter und meinem Vater verdammt ähnlich sehen. Sie sind zwar überzeichnete Versionen, aber durchaus identifizierbar, und von uns allen bin ich diejenige, die am übelsten verunstaltet wurde. Die Schwesterfigur heißt wie gesagt Flandern (eine nicht sonderlich subtile Anspielung auf die Tatsache, dass ich nach einem berühmt-berüchtigten Kriegsschauplatz des Zweiten Weltkrieges benannt wurde) und trägt den Spitznamen »die Flunder«, weil sie irgendwie an eine superbreite Flunder mit ausdruckslosem Gesicht erinnert. Ich war zwar ein pummeliges Kind, aber inzwischen habe ich meinen Babyspeck fast vollständig verloren und bin weder dick noch schwer von Begriff – außer vielleicht, wenn ich hundemüde bin. Mit anderen Worten: Wir sind ganz normale Leute, die aber so dargestellt werden, als wären sie außergewöhnlich, nur leider nicht im positiven Sinne.
Ihr könnt euch gar nicht vorstellen, wie peinlich es ist, sich in diesen Büchern wiederzufinden, vor allem weil die ganzen Handlungsstränge, die auf der Erde spielen, auf irgendwelchen popeligen und wenig glorreichen Vorkommnissen aus unserem Leben basieren. Diese superlangweiligen Ereignisse führen dann in die Welt von Vermeer und werden dort derart ad absurdum geführt und überzogen, dass sie kaum noch wiederzuerkennen sind.
Meine Fresse, dieses Kapitel wird aber lang. Und anstrengend. Vielleicht sogar langweilig. Aber ich bin noch nicht ganz fertig.
Eine weitere Hintergrundinformation: Noch nie zuvor habe ich mit jemandem außerhalb meiner Familie darüber gesprochen, wie es mir mit unserer Darstellung in den Büchern meiner Schwester geht. Um ehrlich zu sein, haben wir innerhalb der Familie auch nicht darüber geredet.
Meine Eltern haben Keira immer wie eine seltene und empfindliche Zimmerpflanze behandelt, von der man nicht genau weiß, wie man mit ihr umgehen soll. Und dafür gibt es auch einen guten Grund. Denn sie ist wie eine seltene und empfindliche Zimmerpflanze, und keiner weiß genau, wie man sie pflegt.
Ende der Vorgeschichte. Endlich!
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Zu der Zeit, über die ich hier schreibe, war zu Hause alles ziemlich merkwürdig geworden. Obwohl – merkwürdig ist das falsche Wort. Mies trifft es eher.
Nachdem sie ihren Abschluss an der Green Pastures gemacht hatte, nahm sich Keira eineinhalb Jahre frei, um die dritte Chronik zu schreiben und zu zeichnen – und um sich in ihrem ständig wachsenden Ruhm zu sonnen. Sie zog nach Kalifornien und ging auf das renommierteste Kunst-und-Trickfilm-College weit und breit.
Währenddessen begann ich, Keiras kleine Schwester Normandy Pale, mit der zehnten Klasse an der G. P., zum Teil durch ein Stipendium finanziert. Keira hatte zwar gesagt, sie wolle unseren Eltern unter die Arme greifen, indem sie die Hypothek für das Haus abbezahlte und einen Teil meines Schulgeldes übernahm, doch an dieser Front war nichts passiert.
Als ich zum ersten Mal an der Schule auflief, war ich dank der Bücher meiner Schwester semi-berühmt. Jeder hielt mich für den blöde glotzenden Brummer aus den Chroniken, die unglückselige Zielscheibe von Perverslingen und Blutsaugern, obwohl ich weder sonderlich fett war, noch irgendwie dümmer aus der Wäsche schaute als die anderen.
Bald schon merkten sie jedoch, dass ich furchtbar durchschnittlich war; ich lebte mich ein und freundete mich mit Dusk und Neil an – die zufällig meine ersten richtigen Freunde wurden. Während Keira fort war, wurde das Leben zu Hause leichter. Sie hatte immer sehr viel Ruhe gebraucht beim Arbeiten, sodass meine Eltern und ich auf Zehenspitzen umherschleichen mussten. Fremde Leute brachten sie aus dem Konzept, also luden wir eigentlich nie jemanden zu uns ein. Jetzt konnten wir auf einmal alles Mögliche tun, auch Sachen mit großem Peinlichkeitspotenzial – ohne dass es gleich in irgendeinem Buch verwurstet wurde. Es war eine ziemlich friedliche Phase.
Doch dann kehrte Keira ohne Vorwarnung Anfang April, nicht lang nach ihrem zwanzigsten Geburtstag, heim und fuhr in ihrem weißen Crown Victoria 1987 vor, der irritierenderweise voll wie ein Zivilfahrzeug der Polizei aussieht.
Sie wollte nicht damit herausrücken, was passiert war, und als meine Eltern sie fragten, ob alles in Ordnung sei, ist sie total ausgeflippt und hat gesagt, wenn sie das noch einmal fragen, dann haut sie ab. Also haben sie es lieber bleiben lassen. Meine Familie ist nicht so gut im Ausdiskutieren. Wer will schon Narbengewebe aufreißen, nur um den darunterliegenden Abszess freizulegen? Nicht dass ich meine Schwester mit einer Eiterbeule vergleichen möchte. Sie ist eher so was wie eine komplizierte Hinterlassenschaft.
Stellt euch vor, jemand vererbt euch einen unglaublich wertvollen und berühmten Edelstein. Verkaufen dürft ihr ihn aber nicht, ihr sollt ihn nur hüten. Und jetzt stellt euch vor, ihr könntet mit eurem Verhalten den Wert des Edelsteins schmälern. Wenn ihr zu laut sprecht oder fernguckt, kann ihn das stumpf werden lassen oder gar einen Riss verursachen. Und zu guter Letzt gehen wir noch einen Schritt weiter, und ihr stellt euch vor, dieser Edelstein, den ihr da geerbt habt, verbreitet gern Geschichten darüber, was bei euch zu Hause abläuft, und das, obwohl ihr euch doch so sehr bemüht, extravorsichtig zu sein, damit der Stein keine Macke bekommt. Okay. Das soll reichen. Den Edelstein-Vergleich hat es hiermit offiziell zerbröselt.
Jedenfalls war meine Schwester im September, zu der Zeit, als diese Geschichte beginnt, noch schlechter drauf als sonst. Manchmal verließ sie tagelang nicht das Haus. Und wenn doch, dann blieb sie wiederum tagelang weg und wir hatten keinen Schimmer, wo sie steckte. Meine Mutter wurde vor Sorge fast katatonisch, und mein Dad wurstelte unruhig herum, um sich irgendwie abzulenken. Ich versuchte, es nicht noch schlimmer zu machen – mit anderen Worten, ich machte mich super-unsichtbar. Ging zur Schule. Erledigte meine Arbeit. Machte keine Welle. Und wenn Keira daheim war, gaben wir uns alle Mühe, sie nicht aufzuregen.
Wir warteten nur darauf, dass sie uns erzählte, was mit ihr los war und was am College vorgefallen war.
Am Nachmittag unserer ersten Raus-mit-der-Wahrheit-Aktion kam ich nach Hause und fand Keira in unserem begehbaren Kleiderschrank. Für alle, die sich für Keiras Karriere interessieren: Ja, es stimmt, sie arbeitet tatsächlich in einer winzigen Ankleidekammer, die wir uns teilen. Von unseren beiden Zimmern aus führt je eine Tür hinein, aber sie ist die Einzige, die den Raum nutzt.
Vielleicht möchtet ihr euch ein Bild von ihr machen, um diese ganze staubtrockene Exposition besser verdauen zu können. Also gut:
Keira hat wildes, zweifarbiges Haar (dunkelbraun und silberblond) und dunkle Ringe unter den Augen. Es gibt Fotos von ihr als Kleinkind, die beweisen, dass sie sogar damals schon Augenringe hatte. Sie ist eine extrem zierliche Person, und nachdem sie zu Geld gekommen war und sich wegen ihrer Verlagsangelegenheiten öfter in New York aufhielt, fing sie an, all ihre Klamotten in einem Laden namens Drehzahl 45 in SoHo zu kaufen. Die sind da auf handgewebte Stoffe und schlichte Silhouetten spezialisiert, die jede Frau über fünfzig Kilo trutschig wirken lassen und jede unter fünfzig Kilo, als sei sie gerade eben an einem verwunschenen Strand einer aufgeklappten Muschel entstiegen. Insgesamt nennt Keira ungefähr fünfzehn Outfits ihr eigen. Ihre wichtigsten Basics sind weiße Baumwoll-Tunikas und Elfhundert-Dollar-Jeans aus zimbabwischer Baumwolle, die in Japan von Hand gefärbt wurden. Sie läuft fast immer barfuß oder trägt zierliche Ballettschuhe.
Diese Klamotten sind nicht besonders warm, weshalb ich sie oft, wenn ich meinen begehbaren Schrank öffne, in einem meiner Pullis antreffe. Manchmal auch mit zwei. Es ist komisch, dass sie sich meine Sachen borgt, weil ich nicht gerade für meine Edelgarderobe bekannt bin.
In einer anderen Geschichte wäre dieses Sich-im-Wandschrank-Rumdrücken der Wink mit dem Zaunpfahl, dass meine Schwester unterdrückte sexuelle Bedürfnisse hat. Hat sie aber nicht.17 Sie sagt, sie mag diesen Platz, direkt vor dem »Portal«. Deshalb hat sie dieses Portal, auch bekannt als unser gemeinsamer Kleiderschrank, wunderschön zu ihrem Kunstatelier umfunktioniert. Sie hat hervorragende Beleuchtung installieren lassen und thront dort im Schneidersitz auf einem speziellen Meditationsschemel an einem maßgefertigten Zeichentischlein in Schoßhöhe, das sie selbst entworfen und gebaut hat.
13 Ms Fowler, ich habe gerade Ihr Feedback auf meine erste Einreichung erhalten. Das Timing könnte nicht besser sein! Sie haben vorgeschlagen, ich solle damit aufhören, um den heißen Brei herumzureden, was meine Lebensgeschichte anbelangt, und siehe da: Wie es der Zufall will, geht es in dieser nächsten Charge um meine Lebensgeschichte, und zwar speziell um das Verhältnis zu meiner Schwester. Es ist, als würden wir gegenseitig unsere Gedanken lesen!
Außerdem ziehen Sie vermutlich einige Schlussfolgerungen über mich, Dusk und Neil – Schlussfolgerungen, die andere Leser möglicherweise teilen. Immerhin sind Sie nicht nur im Besitz einer umfangreichen Sammlung von »Wie man schreibt und sich dabei gut fühlt«-Büchern von Anne Lamott und Co., sondern auch ein hochqualifizierter Beratungsprofi in Sachen Psychologie und Lebenshilfe mit einem eigenen Exemplar des »Diagnostischen und statistischen Handbuchs psychischer Störungen«. Vermutlich haben Sie Dusk als wütende Depressive diagnostiziert, mich als neurotisch und Neil als jungen Mann, der sein mangelndes Selbstwertgefühl überkompensiert, indem er sich völlig übertrieben auf scharfe Mädels, Sonnenbräune sowie Filme und die Mode der frühen 1970er-Jahre fixiert, und der darüber hinaus Probleme hat, Grenzen zu akzeptieren. Damit liegen Sie nicht ganz falsch. Doch in uns steckt viel mehr, wie diese Geschichte, glaube ich, beweisen wird. Aber egal – machen Sie weiter so! (Was für ein Glück, dass Sie nur Teilzeit-Vertrauenslehrerin und psychologische Betreuerin sind, oder? Könnten Sie sich vorstellen, solches Zeugs den ganzen Tag lang zu hören?)
14 Nach allem, was wir in der Schule gelernt haben, sind Backgroundstorys, Rückblenden, Exkurse und »lautes« Nachdenken in Essays äußerst willkommen. Und diese Tatsache will ich weidlich ausnutzen.
15 Wer nicht weiß, was eine Exposition ist, hat in seinem Kurs für Kreatives Schreiben nicht aufgepasst! Für alle, die aus einem legitimen Grund wie Pfeiffersches Drüsenfieber oder Mumps gefehlt haben: Die Exposition gibt einem wichtige Hintergrundinformationen über die Personen, das Setting und das, was geschah, ehe die Geschichte richtig losgeht. Eine Exposition kann eine gute Sache sein. Oder aber sie würgt eine Geschichte voll ab – so wie ich manchmal meinen Pickup an längeren Anstiegen.
16 Ja, die Anspielung auf die Chroniken von Narnia ist beabsichtigt.
17 Glaube ich zumindest.