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»Da glaubt man, in diesem Job könnte einen nichts mehr überraschen. Dann passiert so etwas, und man kann sich nur am Kopf kratzen.«
Vic Chivers nahm seinen Hut ab, als wolle er genau das tun, wischte sich dann aber über die Stirn. Es war fast Mittag, und die Sonne stand hoch am Himmel.
»Erst wird dieser Gibson aus heiterem Himmel am helllichten Tag ermordet, und dann löst sich der Kerl, der geschossen hat, auch noch in Luft auf.«
Vic hat sich nicht sehr verändert, dachte Billy Styles, als er ihn kurz von der Seite betrachtete. Stämmig, mit breitem Kinn und buschigen Augenbrauen hatte er sich seit damals, als sie gemeinsam als junge Detective Constables bei Scotland Yard ihr Handwerk erlernt hatten, kaum verändert. Vic, ein gutmütiger und ziemlich witziger Typ, der klüger war, als er aussah, war Ende der Zwanzigerjahre beim Yard ausgeschieden, weil er eine junge Frau aus Brighton geheiratet hatte und zur Polizei von Sussex wechselte. Nun war er wie Billy Inspector und Chef der Kriminalpolizei in Lewes.
»Und um dem Ganzen noch die Krone aufzusetzen, kriegen wir einen Anruf von eurem Verein und erfahren, dass der Yard seine Nase in die Sache stecken will.«
Vic hatte Billy, der am Morgen mit dem Zug aus London gekommen war, am Bahnhof abgeholt und war mit ihm zu einem Dorf namens Kingston in der Nähe von Lewes gefahren. Dort hatten sie ihr Auto stehen lassen und gingen nun zu Fuß eine schmale Straße entlang, die aus dem Weiler hinausführte.
»Jetzt steig mal von deinem hohen Ross herunter, alter Knabe, und erzähl mir, was los ist.«
Billy lachte. »Mach ich gleich, aber vorher muss ich erst noch was wissen. Ich hab in deinem Bericht gelesen, dass Gibson aus nächster Nähe erschossen wurde. Wie nah genau?«
»Nicht mehr als fünfzehn Zentimeter, nach Meinung des Pathologen. Man hat Schmauchspuren auf seinem Hemdkragen und in seinem Nacken gefunden. Und falls es dich interessiert, es handelt sich um eine 9-mm-Kugel. Heute Morgen haben wir den Ballistik-Bericht bekommen.«
»Dann nur noch eine Frage.« Billy versuchte, mit seinem Kollegen Schritt zu halten. »In dem Bericht stand, dass Gibson gekniet hat, als er erschossen wurde. Bist du dir da sicher?«
»Ja. Ich hab es ja schließlich in den Bericht geschrieben.« Vic zwinkerte ihm zu. »Aber jetzt will ich endlich wissen, warum sich der Yard so sehr für die Sache interessiert.«
Offenbar hielt er es nicht für nötig, darauf hinzuweisen, dass sich Scotland Yard bei Fällen außerhalb von London normalerweise nur auf ausdrückliches Ersuchen eines Chief Constable einschaltete. Doch nun war die Initiative vom Yard ausgegangen.
»Nun komm schon, Billy – was weißt du, was wir nicht wissen?«
»Nicht allzu viel. Bloß dass im letzten Monat oben in Schottland ein ähnlicher Mord geschehen ist. Ein Mann wurde auf dieselbe Weise getötet, durch einen Schuss in den Hinterkopf, genau gesagt an der Schädelbasis. Sehr präzise. Es besteht zwar keine erkennbare Verbindung, doch da die schottische Polizei keinerlei Anhaltspunkte hat, hielt man es für sinnvoll, dass ich hierherfahre und mir die Sache ansehe. Ich würde vorschlagen, wir nehmen uns jetzt erst mal deinen Fall vor. Dann erzähle ich dir mehr darüber.«
»In Ordnung.«
Fürs Erste zufrieden, ging Vic mit großen Schritten voran, und Billy blieb dicht hinter ihm. Außerhalb des Dorfes gab es nur noch eine unbefestigte Straße, die sich schließlich zu einem Fußpfad verengte. Dieser folgte dem Lauf des Flüsschens durch das Tal. Lewes lag in den South Downs; die grünen Erhebungen rings um die Stadt, durchsetzt von weißen Kreidefelsen, gehörten zu der langen grasbewachsenen Hügelkette, die sich über einen großen Teil von Südengland erstreckte.
»Ein Stück weiter unten am Bach wurde er umgebracht«, sagte Chivers über die Schulter hinweg. Billy betrachtete den schmalen Wasserlauf, der sich durch das Tal schlängelte, hier und da von einem Baum und niedrigem Gestrüpp gesäumt. Zu beiden Seiten des Flüsschens erhoben sich steile grasbewachsene Hänge. Er war schon häufiger durch die South Downs gekommen, wenn er mit Elsie und den Kindern für einen Tag nach Brighton ans Meer fuhr. Doch nun nahm er die hügelige grüne Landschaft zum ersten Mal bewusst wahr.
»Und der Vollständigkeit halber: Gibson war zweiundsechzig. Bis zu seiner Pensionierung war er stellvertretender Direktor einer Bank in Lewes. Er und seine inzwischen verstorbene Frau stammten beide ursprünglich aus London. Doch als er seine Stelle aufgab, beschlossen sie hierzubleiben. Sie ist vor einem Jahr gestorben, aber selbst dann ist er nicht weggezogen. Und bevor du fragst, er war ein vorbildlicher Bürger: keine Vorstrafen, kein fragwürdiger Umgang, keine Feinde. Er scheint sich sein Leben lang bemüht zu haben, niemandem auf die Zehen zu treten. Doch das hat ihm offenbar nichts genützt.«
Vic zuckte mit den Schultern.
»Wir wissen, dass er ein paar Tage vor dem Mord ein verlängertes Wochenende bei einem alten Kollegen von der Bank verbracht hat, der seit seiner Pensionierung in Hastings lebt. Der Mann hat uns angerufen, als er von dem Mord erfahren hat. Nachdem Gibson wieder zurück war, ist er am nächsten Tag – das heißt diese Woche Dienstag – angeln gegangen. Das war sein Hauptzeitvertreib. Er hat sein Cottage gegen zwei Uhr verlassen, wie seine Putzfrau bestätigt. Sie sagt, das habe zu seinen festen Gewohnheiten gehört. Er angelte immer an derselben Stelle, und wir wissen, dass er kurz nach fünf ermordet wurde, weil zwei Männer, die ein kleines Stück unterhalb von ihm angelten, den Schuss gehört haben.«
Vic hielt inne und schien seine nächsten Worte sorgfältig abzuwägen.
»Was mir aber schwer im Magen liegt, Billy, und mich wirklich fertigmacht, ist, dass der Mörder gesehen wurde. Wir haben eine Beschreibung von ihm. Außerdem wusste der Mörder, dass man ihn bemerkt hat. Du hast das sicher in meinem Bericht gelesen. Trotzdem ist es ihm irgendwie gelungen zu verschwinden.«
»Ja, und darüber möchte ich mit dir reden.«
»Gut«, sagte Vic. »Denn ich habe dir eine Menge zu erzählen. Aber warten wir ab, bis wir dort sind.«
Sie gingen weiter und erreichten nach wenigen Minuten ein Stück Grasland, das zum Bach hin abfiel. Hier gab es keinerlei Gestrüpp, nur die Äste einer riesigen Eiche ragten über das Wasser. Der Bereich war mit einem Band abgesperrt, an dem zwei Schilder der Polizei hingen, die Unbefugten das Betreten verboten.
»Hier ist es.«
In dem Moment trat ein uniformierter Polizist aus dem Schatten der Eiche und tippte an seinen Helm.
Vic erwiderte den Gruß mit einem Nicken. »Morgen, Boon. Das ist Inspector Styles aus London.« Und zu Billy gewandt sagte er: »Boon war der erste Beamte am Tatort. Ich dachte, du möchtest ihm vielleicht ein paar Fragen stellen.«
Billy begrüßte den jungen Mann ebenfalls mit einem Nicken. »Zunächst einmal könnten Sie mir zeigen, wo die Leiche gelegen hat«, sagte er.
»Dort drüben, Sir.«
Boon ging ein Stück auf das Wasser zu und zeigte auf den Boden.
»Er lag mit dem Gesicht nach unten da. Seine Angel und ein alter Küchenkorb, den er für die Fische benutzt hat, lagen neben ihm im Gras.«
»Wieso glaubst du, dass er kniete, als er erschossen wurde?«, fragte Billy Chivers.
»Unser Zeuge hat ihn knien gesehen. Und das war kurz bevor er getötet wurde.«
»Was kannst du mir über diesen Zeugen sagen? Ich hab gelesen, es ist ein Schäfer.«
»Das stimmt. Sein Name ist Hammond.« Vic drehte sich um. »Er war da oben bei dem Wäldchen und hütete seine Schafe.« Er zeigte auf den Hang hinter ihnen, und Billy konnte die Gruppe von Bäumen unterhalb der Kuppe erkennen. »Er hat gesagt, er hätte Gibson beim Angeln gesehen – er kannte ihn flüchtig –, und kurz bevor Gibson getötet wurde, hat Hammond bemerkt, wie ein Mann den Pfad entlang auf ihn zukam.«
Er deutete flussabwärts.
»Hammond hatte genügend Zeit, um den Mann genauer zu betrachten. Er meint, der Mann sei durchschnittlich groß, auch wenn er das von da oben am Hang nicht so genau abschätzen konnte. Und nach der Art zu urteilen, wie er sich bewegte, muss er noch ziemlich jung gewesen sein. Er trug eine hellbraune Hose und einen kirschroten Pullover, hatte einen Hut auf und einen Rucksack auf dem Rücken.« Chivers stockte. »Und nun pass auf: Als Hammond seine Schafe zu seiner Farm etwas weiter unten im Tal zurücktreiben wollte und seinem Hund pfiff, hat der Mann auf dem Pfad, also der Mörder, das gehört. Er blickte zu ihm hinauf und zögerte sogar einen Moment, bevor er weiterging. Mir kam der Gedanke, ob er vielleicht nicht ganz richtig im Kopf ist.«
Er wartete auf Billys Reaktion.
»War sonst noch jemand in der Nähe?«
Chivers schüttelte den Kopf. »Nach Aussage von Hammond nicht. Früher am Nachmittag sind einige Wanderer vorbeigekommen, auf dem Weg in die Downs. Aber die waren alle in Gruppen unterwegs.«
»Er hat also niemanden gesehen, der allein wanderte?«
»Ja, und unser Kerl war ganz gewiss nicht unter diesen Wanderern. Hammond meint, an den Pullover hätte er sich bestimmt erinnert. Er war leuchtend rot. Etwas später hat er dann die beiden Angler gesehen, die den Schuss gehört haben. Sie kamen über den Hügelkamm und sind zwischen den Büschen verschwunden. Als ich am nächsten Tag mit ihnen gesprochen habe, wurde mir klar, dass sie ungefähr hundert Meter abwärts von hier gestanden haben müssen.«
»Dann muss ja der Mann, den Hammond auf dem Pfad gesehen hat, an ihnen vorbeigekommen sein.«
»Ja, das muss er. Aber sie haben ihn nicht gesehen. Das Gebüsch ist an dieser Stelle ziemlich dicht, und höchstwahrscheinlich hat er sie auch nicht wahrgenommen. Wie dem auch sei, Hammond hat diesen Kerl jedenfalls beobachtet, wie er zum Ufer hinunterging, um mit Gibson zu reden.«
»Er hat tatsächlich gesehen, dass sie miteinander gesprochen haben?«, unterbrach Billy ihn.
»Da ist sich Hammond nicht so ganz sicher«, antwortete Chivers. »Gibson sammelte seine Sachen ein. Er wollte offenbar gerade gehen. Da tauchte dieser Mann auf, und sie standen sich gegenüber, ungefähr so wie wir beide jetzt, und Gibson ging vor dem Mann auf die Knie. Doch dann hat Hammond sich umgedreht …«
»Er hat sich umgedreht?« Billy machte ein entrüstetes Gesicht. »Aber warum?«
»Wegen seiner Schafe. Sie hatten sich gerade in Bewegung gesetzt, und während der nächsten paar Minuten war er mit ihnen beschäftigt. Als er wieder zum Bach hinunterblickte, bemerkte er, dass jemand am Ufer lag.«
»Moment mal«, fiel Billy ihm ins Wort. »Hat er denn den Schuss nicht gehört?«
»Ja und nein«, antwortete Vic. »Er hat etwas gehört, aber ihm wurde erst, als er die Leiche fand, klar, dass ein Schuss abgegeben worden war. Du darfst nicht vergessen, dass er da oben auf dem Hang gestanden hat, ein gutes Stück weit weg, und seinem Hund gepfiffen hat. Außerdem ist er ein alter Knabe und schwerhörig.«
»Aber er hat den Toten gesehen. Da muss er doch gewusst haben, dass etwas nicht stimmt.«
»Nun ja, er war sich zunächst nicht sicher, ob es sich um einen Toten handelte. Es lag eben jemand da. Außerdem hat er mitbekommen, wie der Mann in dem roten Pullover in die gleiche Richtung zurückging, aus der er gekommen war. Und zwar ganz gemächlich; er lief nicht, hatte es offenbar überhaupt nicht eilig. Er spazierte völlig gelassen den Pfad entlang.«
Er schüttelte den Kopf.
»Inzwischen war Hammond zu dem Schluss gelangt, dass er etwas tun musste, und ist zum Bach hinuntergegangen. Als er Gibson dort mit einem Loch im Hinterkopf fand, ist er wieder hinauf zum Pfad gelaufen und hat nach dem Burschen gesucht. Doch der war verschwunden. Also ist Hammond, so schnell er konnte, nach Kingston gerannt. Dort traf er auf Boon.«
Vic wandte sich an den jungen Polizisten.
»Jetzt sind Sie dran, Constable.«
Boon nahm Haltung an.
»Ich kam gerade vom Dienst, Sir«, sagte er zu Billy. »Ich wohne bei meinen Eltern in Kingston und wollte gerade ins Haus gehen, als Mr. Hammond auf mich zueilte. Er war außer Atem und konnte kaum sprechen. Nachdem er mir erzählt hat, dass Mr. Gibson tot ist, und den verdächtigen Mann beschrieben hat, habe ich sofort Mr. Chivers angerufen. Er hat gesagt, ich soll mit Mr. Hammond zurück zum Bach gehen und bei der Leiche warten. Doch als wir gerade losgehen wollten, kamen einige Wanderer zurück aus den Downs. Da ich wusste, dass sie denselben Pfad am Bach entlanggegangen sein mussten, habe ich sie gefragt, ob sie den Toten gesehen hätten. Sie verneinten, und als ich zum Bach kam, wusste ich auch warum. Die Leiche lag ganz dicht am Ufer und konnte deshalb leicht übersehen werden. Außerdem wurde es bereits dunkel.«
»Was ist denn mit dem Mörder?«, fragte Billy. »Der muss doch ebenfalls diesen Pfad benutzt haben.«
»Das hat er auch, als Mr. Hammond ihn gesehen hat.« Boon nickte. »Doch die Wanderer sind ihm nicht begegnet, also muss er sich irgendwo davongemacht haben.«
»Diese Wanderer … Waren die alle zusammen? Sind Sie sicher, dass er nicht unter ihnen war? Könnte er sich so an Ihnen vorbeigeschmuggelt haben?«
»Nein, Sir, das kann nicht sein«, antwortete Boon mit entschiedener Stimme. »Es waren insgesamt sieben Personen; zwei Ehepaare, die zusammen wanderten, und drei Damen, die allein unterwegs waren. Ein Paar kenne ich flüchtig. Sie sind Mitglied im Wanderverein von Brighton, und ich habe sie ab und zu hier gesehen. Das andere Paar ist mit ihnen befreundet. Im Übrigen hat Mr. Hammond gesagt, dass es keiner der beiden Männer war. Der Bursche, den er gesehen hat, war jünger und anders angezogen …«
»Wir haben mit allen gesprochen«, unterbrach Chivers ihn. »Die beiden Ehepaare sind direkt vom Bahnhof zurück nach Brighton gefahren, doch nachdem Boon mich alarmiert hatte, habe ich veranlasst, dass sie dort am Zug abgeholt und befragt wurden. Die drei Frauen haben im selben Hotel in Lewes übernachtet. Ich habe am nächsten Morgen selbst mit ihnen gesprochen. Sie sind den ganzen Nachmittag in den Downs gewesen, aber keine von ihnen erinnerte sich an den Mann.«
»Wo ist er also abgeblieben?« Billy blickte von einem zum anderen.
»Das ist die Frage.« Vic verzog kläglich das Gesicht. »Und ich wünschte, ich hätte darauf eine Antwort. Er ist wohl nicht nach Lewes gegangen. Hammond hat beobachtet, wie er die andere Richtung eingeschlagen hat, also zum South Downs Way. Der mündet in die Jugg’s Road, einen Wanderweg, der bis in die Außenbezirke von Brighton führt.«
»Hat Boon nicht gesagt, dass es bereits dunkel wurde?«
»Ja, aber mit einer Taschenlampe und einer guten Karte hätte er den Weg durchaus finden können. Und er musste die Downs vor Tagesanbruch verlassen, weil er bestimmt wusste, dass wir früh am nächsten Morgen Suchtrupps losschicken würden, was auch geschehen ist. Seine Beschreibung wurde an jede Polizeiwache und an jeden Dorf-Bobby in der Gegend weitergegeben. Wenn er noch irgendwo da draußen gewesen wäre, hätten wir ihn geschnappt. Da gibt es überhaupt keinen Zweifel, Billy.«
»Du nimmst also an, dass er nach Brighton wollte?«
»Das scheint mir das einzig Sinnvolle. Oder vielleicht auch nach Newhaven, aber dafür hätte er die ganze Nacht gebraucht, und wir haben dort Leute postiert. Falls er nicht hier in der Gegend wohnt, was uns von Anfang an unwahrscheinlich vorkam und nach den Erkundigungen, die wir eingezogen haben, praktisch auszuschließen ist, hätte er doch versucht, so schnell wie möglich von hier wegzukommen. Allerdings habe ich noch in der Nacht und an den nächsten Tagen von der Polizei in Brighton Züge und Busse überwachen lassen. Doch keine Spur von ihm.«
»Könnte er ein Auto gehabt haben?«, fragte Billy. »Hätte er es zur Flucht nutzen können?«
»Aus den Downs? Keine Chance.« Vic verwarf die Idee. »Da gibt es so gut wie keine Straßen. Abgesehen davon, dass Benzin rationiert ist.«
Er zuckte mit den Schultern.
»Ich kann mir absolut nicht erklären, wie es ihm gelungen ist zu verschwinden. Meiner Meinung nach haben wir es mit einem verdammten Houdini zu tun.«
»Und das ist nur das halbe Rätsel.«
Billy und Vic ließen Boon auf seinem Wachposten zurück und machten sich wieder auf den Weg nach Kingston. Vic war längst noch nicht fertig.
»Es ist ja schon schlimm genug, dass er uns so leicht durch die Lappen gehen konnte. Aber was hat ihn überhaupt hierhergeführt? Hatte er es speziell auf Gibson abgesehen, oder wollte er einfach irgendjemanden abknallen? Haben wir es mit einem Verrückten zu tun?«
Vic schwieg einen Augenblick, bevor er antwortete.
»Wir können wohl mit ziemlicher Sicherheit annehmen, dass Gibson nichts Böses ahnte, sonst wäre er nicht allein losgezogen. Sonst wäre er jetzt vermutlich genauso überrascht wie wir. Wenn er noch am Leben wäre natürlich.«
Er warf Billy einen Blick zu.
»Du hast für das alles also auch keine Erklärung?«
»Ich fürchte nein, Vic.«
»Dann erzähl mir mal, was da oben in Schottland passiert ist. Wer war denn da der Glückspilz?«
»Ein Arzt namens Wallace Drummond, hatte eine Hausarztpraxis in Ballater. Das ist in Aberdeenshire. Es ist vor einem Monat passiert.«
Am Rande des Dorfes blieb Billy stehen und wies auf eine Holzbank, die einladend unter einem Kastanienbaum stand.
»Warum nicht?« sagte Vic. »Ich könnte eine Verschnaufpause vertragen.« Sie setzten sich, doch als Billy ihm eine Zigarette anbot, schüttelte Vic den Kopf. »Ich hab’s mir während des Krieges abgewöhnt. Da schmeckten sie immer mehr nach Sägemehl.«
»Das tun sie immer noch.« Billy machte einen Lungenzug. »Wie ich bereits sagte, wurde dieser Drummond auf dieselbe Weise getötet wie Gibson. Eine einzige Kugel in den Hinterkopf, 9 mm, genau wie in deinem Fall. Es ist in seiner Praxis passiert, und man hat ihn gezwungen, sich hinzuknien, genau wie Gibson.«
»Woher weiß man das?«
»Der arme Kerl hat sich nass gemacht, bevor er ermordet wurde. Er muss gewusst haben, was ihm bevorstand. Der Urin ist ihm an den Oberschenkeln hinuntergelaufen: Seine Hose war aber nur bis zu den Knien nass. Deshalb nahm die Polizei an, dass er gekniet hat, als ihn die Kugel traf, obwohl man ihn mit dem Gesicht nach unten liegend gefunden hat.«
»Irgendwelche Zeugen?«
Billy schüttelte den Kopf. »Drummonds Praxis befand sich über einem Laden. Er selbst wohnte außerhalb der Stadt. Es war später Nachmittag, der Laden hatte aber noch geöffnet, als der Besitzer über sich einen Knall hörte. Er wusste nicht, was es war, wurde aber unruhig und ist in die erste Etage hinaufgegangen und hat versucht, die Tür zu Drummonds Praxis zu öffnen. Sie war abgeschlossen. Nachdem er geklopft und mehrmals laut gerufen hat, nahm er an, dass niemand da war, und ist wieder hinuntergegangen. Die Leiche wurde erst am späteren Abend gefunden. Als ihr Mann nicht nach Hause kam, hat Mrs. Drummond die örtliche Polizeiwache angerufen. Die Polizisten sind dann zur Praxis gegangen.«
»Der Mörder wurde also zu keinem Zeitpunkt gesehen?« Vic hatte aufmerksam zugehört.
»Offensichtlich nicht. Der Ladenbesitzer hat den Schuss gegen Viertel nach fünf gehört. Kurz darauf hat er sein Geschäft geschlossen und ist nach Hause gegangen. Der Mörder muss eine Zeit lang gewartet haben, bis sich die Straße geleert hatte. Das nimmt die Polizei jedenfalls an.«
»Mit anderen Worten, ein eiskalter Kerl. Genau wie unser Bursche.« Chivers blickte finster drein.
»Also, die Kollegen da oben waren völlig ratlos. Weshalb hätte jemand diesen Arzt erschießen sollen? Soweit man weiß, hatte er keine Feinde. Aus seiner Praxis war nichts gestohlen worden. Die Ermittlungen hat die Polizei von Aberdeen durchgeführt. Die hat ihren Bericht nach Edinburgh geschickt, wo er an den Yard weitergeleitet wurde. Sie wollten uns nur auf die Sache aufmerksam machen.«
»Wie nett von ihnen.« Vic schnaubte.
»Nachdem wir von dem Mord hier bei euch erfahren haben, haben wir sie gebeten, uns ihre Kugel zu schicken. Sie ist jetzt auf dem Weg nach London. Ich muss auch die von euch mitnehmen, wenn ich zurückfahre. Wir haben das mit Brighton geklärt.«
»Ich hab nichts dagegen«, erwiderte Chivers. »Aber es fällt mir schwer, irgendeine Verbindung zwischen den beiden Fällen herzustellen – außer dass die beiden Männer als Zielscheibe benutzt worden sind. Ein schottischer Arzt und ein stellvertretender Bankdirektor? Du wirst mir doch jetzt nicht erzählen, dass die sich kannten.«
»Soweit wir wissen nicht.« Billy trat seine Zigarette aus. »Mehr kann ich dir im Moment nicht sagen. Wir müssen jetzt auf das Ergebnis der Ballistiker warten. Aber gibt es eigentlich jemanden, der Gibson gut gekannt hat und mit dem wir reden können?«
»Er hat einen Bruder namens Edward, der in London wohnt. Er ist hergekommen, als er von der Sache erfahren hat. Außerdem ist da Gibsons Putzfrau, eine Mrs. Gannet. Ich hab mit beiden gesprochen, allerdings nur kurz. Mrs. Gannet war an dem Tag, an dem Gibson ermordet wurde, in seinem Cottage, aber sie hat nicht auf ihn gewartet. Deshalb hat sie erst am nächsten Tag davon erfahren. Sein Bruder wohnt zurzeit in dem Cottage. Ich hab beiden gesagt, sie sollten mit uns rechnen.«
»Dann lass uns doch mit ihnen reden, was meinst du?«