cover

Zum Buch

Thilo Bode, seit vielen Jahren politischer Anwalt der Verbraucher und der Umwelt, stellt die Argumente der Befürworter der Freihandelsabkommen CETA und TTIP auf den Prüfstand und legt klar und verständlich dar, dass beide Abkommen Verbraucherrechte, soziale und Umweltstandards gefährden. Er schildert die Intransparenz der Verhandlungen und enthüllt die falschen Annahmen positiver wirtschaftlicher Effekte. Vor allem untersucht er die rechtlichen und politischen Auswirkungen: Im Fall der Ratifizierung erhalten wir beide Male ein Regelwerk, das die Interessen vor allem globaler Konzerne bedient, eine Paralleljustiz zum Schutz von Investitionen einführt und letztlich die Parlamente in ihrer Kompetenz beschneidet. Daneben beleuchtet Thilo Bode anschaulich die Folgen für unseren Alltag: Weitere notwendige Verbesserung von Standards im Umweltschutz, bei gefährlichen Chemikalien, in der Lebensmittelindustrie, in der Landwirtschaft und in der Tierhaltung sowie bei den Arbeitnehmerrechten würden künftig massiv erschwert.

Zum Autor

Thilo Bode, geboren 1947, studierte Soziologie und Volkswirtschaft. 1989 wurde er Geschäftsführer von Greenpeace Deutschland, 1995 von Greenpeace International. 2002 gründete er die Verbraucherorganisation foodwatch.

THILO BODE

unter Mitarbeit von Stefan Scheytt

Die Freihandelslüge

Warum wir CETA und TTIP
stoppen müssen

Deutsche Verlags-Anstalt

Redaktionsschluss: Mai 2016

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

Aktualisierte und erweiterte Ausgabe 2016 auf der Grundlage der 6. Auflage 2015

Copyright © 2015 Deutsche Verlags-Anstalt, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Alle Rechte vorbehalten

Umschlag: BÜRO JORGE SCHMIDT, München

Typografie und Satz: DVA / Andrea Mogwitz

Gesetzt aus der Minion

Grafik im Anhang: © Peter Palm, Berlin

ISBN 978-3-641-15257-4
V002

www.dva.de

Inhalt

Vorwort

TEIL I

TTIP und CETA:
Die Politik unterwirft sich
Konzerninteressen

Schönredner und Angstmacher

Der geheime Deal

Das Märchen vom Wachstum

Wie Konzerninteressen zu Gesetzen werden oder Der Angriff auf die Demokratie

Eingefrorene Standards

Die offizielle Inthronisierung der Lobbyisten

Paralleljustiz für Investoren

Mogelpackung »Investitionsgerichtshof«

TEIL II

Wie TTIP
in unseren Alltag
eingreift

Die Demontage der Vorsorge

Ausgehöhlt: Der Schutz vor Giften

Bedroht: Der Kampf um gutes Essen

Gefangen im Status quo: Das Desaster in der Landwirtschaft

Brussels, USA

Brüssel, Europa

Der Stall als Hospital

Freihandelsvieh

Der Sog nach unten: Die neue Arbeitswelt

Fazit:
TTIP und CETA stoppen

Dank

Anhang

Chronologie: Der lange Weg der TTIP- und CETA-Verhandlungen

TTIP-Verhandlungen und TTIP / CETA-Entscheidungsprozesse

Quellenverzeichnis

Vorwort

Aufklärung statt Geheimnistuerei, Analyse statt plumper Argumente, das wollten wir mit diesem Buch erreichen, als es im Frühjahr 2015 erstmals erschien. Auf diesem Weg sind wir seitdem ein gutes Stück vorangekommen. Die Befürworter von TTIP und CETA, die mit getürkten Wachstumsprognosen und dem Verschweigen der Gefahren dieser Abkommen für unsere Demokratie operieren, sind zunehmend in der Defensive. Eine viertel Million Menschen gehen in Berlin auf die Straße! Welch ein Erfolg! Und im Nachhinein hat sich der Titel des Buches »Die Freihandelslüge« gleich mehrfach als berechtigt gezeigt. Bei TTIP und CETA ist das Prädikat »Freihandel« lediglich ein Vorwand, um Wirtschaftsinteressen durchzusetzen.

Mit Freihandel in seiner praktischen Form bin ich zum ersten Mal Ende der 1970er Jahre im Maghreb in Berührung gekommen. Als junger Mann arbeitete ich an Entwicklungshilfeprojekten in Tunesien mit und verteidigte den Freihandel gegen Kritiker, die es auch damals reichlich gab. Für sie war internationaler Handel gleichbedeutend mit »Ausbeutung durch Imperialisten«. Als Volkswirt habe ich mich im Studium vor allem mit internationalem Handel und Entwicklungspolitik beschäftigt. Solche Pauschalurteile haben mich daher schon vor vierzig Jahren geärgert. Sie ärgern mich auch heute noch: Als müsse jedes Land sämtliche Produkte und Dienstleistungen selbst herstellen, als wäre es nicht sinnvoll, wenn Länder ihre Stärken und besonderen Bedingungen, die sie von anderen Staaten unterscheiden, in einer arbeitsteiligen Weltwirtschaft zu ihrem Vorteil nutzten. Ohne internationalen Handel ließe sich die Ernährung der Weltbevölkerung nicht bewerkstelligen.

In Tunesien gedeihen trotz des wenigen Regens hervorragende Oliven, sie könnten als Olivenöl nach Europa exportiert werden und dem Land Devisen einbringen für den Import von bewässerungsintensivem Weizen – das wäre ein guter, auch ökologisch sinnvoller Austausch für die Handelspartner. So war die Theorie, als ich mithelfen wollte, die wirtschaftliche Entwicklung der armen Länder Nordafrikas voranzubringen.

In der Praxis erlebte ich dann, wie diese überzeugende Theorie durch die machtvolle Wahrung von Interessen beschädigt wurde. Tunesien durfte kaum Olivenöl nach Europa exportieren und wird auch heute noch an dessen freiem Export mit Handelsschikanen und Zöllen gehindert, weil die tunesischen Oliven mit der subventionierten Olivenproduktion in den Mittelmeerstaaten der EU konkurrieren. Anstatt den afrikanischen Olivenproduzenten die Chance zu geben, mit guten Produkten Geld zu verdienen und damit die Wirtschaft in armen, ländlichen Regionen zu fördern, finanzierte die Entwicklungshilfe teure Bewässerungsprojekte, um dort Weizen anzubauen. Das ist Verrat an der Freihandelsidee, begangen von Politikern, die vom Freihandel sprechen und Protektionismus praktizieren – um dann gönnerhaft Entwicklungshilfe zu gewähren.

Von der Idee des fairen Freihandels, der allen Beteiligten Vorteile bietet, bin ich dennoch bis heute überzeugt. Als das geplante Freihandelsabkommen TTIP (Transatlantic Trade and Investment Partnership) zwischen den USA und der Europäischen Union und auch das CETA-Abkommen mit Kanada (Comprehensive Economic and Trade Agreement) immer häufiger in den Medien auftauchte, war ich deshalb zunächst nicht grundsätzlich dagegen. Schließlich geht es nicht um Handelsbeziehungen zwischen einem Industrie- und einem Dritte-Welt-Land, sondern um ein Abkommen zwischen zwei wirtschaftlich hoch entwickelten und bereits eng verflochtenen Wirtschaftsblöcken. Doch dann begann ich, mich näher damit zu beschäftigen, auch angeregt durch viele Förderer und Unterstützer von foodwatch, die uns Fragen stellten und uns ermunterten, genauer hinzusehen.

Das haben wir getan, und das Ergebnis ist dieses Buch. Im ersten Teil versuchen wir, TTIP und CETA zu erklären – die volkswirtschaftlichen Grundlagen und die zu erwartenden ökonomischen Effekte. Eingeordnet werden dort die kontroverse Debatte, der Stand der Verhandlungen sowie die Auswirkungen von TTIP und CETA auf unsere Demokratie. Im zweiten Teil geht es um die Auswirkungen, die diese Abkommen auf unseren Alltag haben werden. Dabei muss man sich vor Augen halten, dass die Dimensionen von TTIP und CETA gigantisch sind, da sie fast alle Wirtschafts- und Industriebereiche berühren. Deshalb musste ich mich hier auf einige beispielhafte Bereiche beschränken. Es sind dies Felder, die einerseits erhebliche politische Bedeutung haben, andererseits uns auch im Alltag unmittelbar betreffen: Chemikalien, Lebensmittel, Landwirtschaft, Tierschutz und Arbeitnehmerrechte.

Die Entwicklungen in den vergangenen Monaten haben meine Grundannahmen und Befürchtungen bestätigt. Der nunmehr vorliegende Text des CETA-Abkommens beweist: Das in der europäischen Verfassung garantierte Vorsorgeprinzip droht durch das Freihandelsabkommen irreversibel beschädigt zu werden. Die in der Debatte behaupteten Zuwächse bei Wachstum und Jobs als Folge der Abkommen haben sich als politisch motivierte, nicht haltbare Versprechen erwiesen; die Drohung, wenn Europa diese Abkommen nicht schließe, würden andere (»die Asiaten«) die technischen und sozioökonomischen Standards bestimmen und Europa von den Weltmärkten abkoppeln, erweist sich als reine Panikmache. Und trotz intensiver Kritik soll nicht nur an der demokratiefeindlichen Paralleljustiz für ausländische Investoren festgehalten werden. Darüber hinaus hat sich die Erkenntnis verstärkt, dass das wichtigste Recht der Bürger Europas, nämlich mit ihrer Stimme bei Wahlen ihre eigenen Geschicke zu bestimmen, in mehrfacher Hinsicht und in einem ungeahnten Ausmaß geschwächt wird.

Die monatelange Recherche mit meinem Team hat mir jene Erfahrung in Tunesien vor vierzig Jahren ins Gedächtnis gerufen: Noch viel krasser als damals besteht bei TTIP und CETA eine Kluft zwischen Theorie und Praxis der Freihandelsidee. Die Abkommen dienen nicht den beteiligten Ländern, der Mehrheit ihrer Bürger und der Mehrheit ihrer Unternehmen, und schon gar nicht dienten sie ärmeren Ländern. Sie dienen fast ausschließlich den großen, weltweit agierenden Konzernen, die ihre Marktanteile und ihren Einfluss absichern und ausbauen wollen. Ein Baustein dafür, wie ich zu diesem Urteil komme, ist ein Satz aus dem TTIP-Verhandlungsmandat, das die EU-Mitgliedsstaaten der EU-Kommission erteilt haben. Dort steht, dass Investoren durch TTIP »das höchstmögliche Maß an Rechtsschutz und Rechtssicherheit« gewährt werden soll. Ein derart ehrgeiziges Ziel – »das höchstmögliche Maß« – gibt das Mandat für kein anderes Thema und für keine andere Gruppe aus.

Diese Formulierung bringt TTIP auf den Punkt. Lassen Sie sich nicht ablenken vom TTIP-Dauerthema »Chlorhühnchen« oder von der Frage, ob wegen des Abkommens bald Nürnberger Rostbratwürstchen aus Kentucky auf Grills in Europa landen könnten. Darum geht es bei TTIP nur ganz am Rande. Im Kern geht es darum, Konzerninteressen in Gesetze zu gießen, mit der Konsequenz, dass auf Dauer unsere demokratischen Rechte und die Demokratie in Europa diesen Konzerninteressen unterworfen werden. Das weit verbreitete Gefühl der Ohnmacht gegenüber dem Regierungshandeln wird sich verstärken und verfestigen ebenso wie die Entfremdung zwischen Bürgern und ihren gewählten Vertretern. Kein Freihandelsabkommen dieser Welt ist es wert, eine unserer größten zivilisatorischen Errungenschaften, die Demokratie, derart zu beschädigen.

Erst langsam und noch unzureichend beginnt sich diese Erkenntnis auch bei unseren Abgeordneten in den nationalen Parlamenten und im Europäischen Parlament durchzusetzen. Neben denen, die Wirtschaftsinteressen schlichtweg höher bewerten als Risiken für die Demokratie, gibt es noch zu viele Volksvertreter, die sich der tatsächlichen Gefahren durch TTIP und CETA gar nicht bewusst sind. Denn mit allen Mitteln versuchen die Befürworter der Freihandelsverträge, Politiker und Konzern-Lobbyisten, eine intensive Debatte über »TTIP und Demokratie« unter der Decke zu halten. Mit der aktualisierten Ausgabe der »Freihandelslüge« will ich genau diese Absicht bekämpfen und den Lesern entsprechende Argumente an die Hand geben, auch damit sie ihren Abgeordneten klarmachen können, was auf dem Spiel steht.

Der Einsatz lohnt sich. Mehr als zu Beginn unserer Kampagne gegen die Freihandelsverträge bin ich überzeugt: Wir haben die besseren Argumente. Wir können es schaffen, TTIP und CETA zu stoppen.

Ihr Thilo Bode

TEIL I

TTIP und CETA:
Die Politik unterwirft sich
Konzerninteressen

1

Schönredner und Angstmacher

Die Arroganz der Macht, sie zeigt sich an diesem Tag im Mai 2014 gleich mehrfach. In Berlin wollen Aktivisten der Organisation Campact 470 000 Unterschriften gegen das transatlantische Freihandelsabkommen TTIP zwischen der Europäischen Union und den USA an Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel übergeben. Sie haben dafür eine öffentliche Veranstaltung Gabriels mit dem damaligen EU-Handelskommissar Karel De Gucht gewählt, auf der die beiden Stellung beziehen wollen zur Kritik an TTIP. Doch der Auftritt der Politiker bleibt vielen als ziemlich arrogant in Erinnerung. Karel De Gucht, Europas Handelsminister und TTIP-Chefverhandler, hält den 470 000 Unterzeichnern des Anti-TTIP-Appells den Satz entgegen: »Ich vertrete 500 Millionen.« Und Sigmar Gabriel hat für die Entgegennahme der Unterschriften keine Zeit. Das darf ein Vizekanzler und SPD-Chef: keine Zeit haben. Was er nicht darf: 470 000 Menschen für dumm verkaufen. Aber Sigmar Gabriel tut es, er sagt: »470 000 Unterschriften zu sammeln gegen etwas, das es noch gar nicht gibt, das muss man erst mal machen.« TTIP ein Phantom – darauf muss man erst mal kommen.

Für »etwas, das es noch gar nicht gibt«, ist TTIP zu diesem Zeitpunkt schon ziemlich weit gediehen, freilich weitgehend im Geheimen. Bereits seit 2011 reden die EU und die USA über ein mögliches Freihandelsabkommen. Ein Sonderteam aus Experten der US-Regierung und der EU-Kommission, die »High Level Working Group on Jobs and Growth«, sondierte zunächst die Möglichkeiten einer tieferen transatlantischen Zusammenarbeit. Mitte 2013 erteilte dann der Rat der europäischen Handelsminister (in Deutschland ist das der Wirtschaftsminister) der EU-Kommission das zunächst geheim gehaltene Mandat, über ein Freihandelsabkommen mit den USA zu verhandeln, Titel: Transatlantic Trade and Investment Partnership, kurz TTIP. Einen förmlichen Beschluss des Bundestags oder des EU-Parlaments gab es dazu allerdings nie – vielleicht ist es diese Tatsache, aus der Sigmar Gabriel den Schluss zieht, TTIP gebe es noch gar nicht.

Nur wenige Wochen nach Gabriels Satz veröffentlicht sein Koalitionspartner CDU eine Broschüre über dieses »Etwas, das es noch gar nicht gibt«. Dem angeblichen Phantom TTIP werden darin nun schon ganz reale Vorteile zugeschrieben: »So kann TTIP der deutschen Wirtschaft nutzen«, lautet der Titel. Daneben prangt ein Logo, es besteht aus einem orangefarbenen Kreis, darin die Silhouette einer Brücke, die an die Golden Gate Bridge in San Francisco erinnert, sowie der Slogan »TTIP – Brücke in die Zukunft«. Möglicherweise hofften die Macher der Broschüre, dass sich der Leser – dank TTIP – über die Golden Gate Bridge in eine in Gold-Orange getauchte Zukunft fahren sieht.

Als wäre sie der oberste Controller der deutschen Exportindustrie, gräbt sich die CDU in ihrer Broschüre tief in technische Details: »Airbags müssen für den EU- und den US-Markt völlig unterschiedlich kalibriert werden, weil die EU-Vorschriften von einem angeschnallten Fahrer ausgehen, die US-Vorschriften von einem nicht angeschnallten«, heißt es in dem Papier. »Rote Rückblinker (in den USA) und gelbe Rückblinker (in der EU) verteuern die Herstellungsprozesse ebenso wie nicht-einklappbare Seitenspiegel (USA) und einklappbare Seitenspiegel (in der EU) oder unterschiedliche Vorschriften zum Einsatz von Crash-Test-Dummys.«

Auch im Maschinenbau sieht die Partei großes Sparpotenzial: Wegen unterschiedlicher Vorschriften könnten technische Produkte wie Gasarmaturen, Gasrohre, Kabelbäume oder Sicherheitsventile aus Deutschland nur mit zusätzlichen Sonderbauteilen in die USA verkauft werden, trotz eines vergleichbaren Schutzniveaus. »Dies verteuert die Herstellungskosten und damit den Preis für den Endverbraucher unnötigerweise.« So wie man in der Vergangenheit innerhalb der Europäischen Union für einheitliche Standards gesorgt habe, »von der Telefonbuchse bis zur Netzspannung, von der Sicherheit unserer PKW bis zur Qualität unserer Lebensmittel«, so ließe sich in Zukunft durch TTIP auch der Austausch von Waren und Dienstleistungen mit den USA erleichtern. Geringere Zölle, weniger Bürokratie, gleiche Standards jeweils für Autos, Maschinen, Kosmetika, Textilien, Lebensmittel und vieles mehr – das sei die Formel für neue Absatzmärkte und neue Jobs, für eine größere Produktauswahl und niedrigere Preise, letztlich für mehr Geld im Geldbeutel jedes Einzelnen. »Von TTIP haben wir alle etwas: ob als Verbraucher oder Arbeitnehmer, ob als Verkäufer oder Arbeitgeber, ob als Leistungsträger oder Leistungsempfänger.« So steht es neben der Silhouette der Golden Gate Bridge im warmen Abendlicht, der »Brücke in die Zukunft«.

In den Aussagen deutscher Regierungsvertreter und anderer TTIP-Befürworter steckt oft ein irritierendes Pathos, ein krasses Missverhältnis zwischen der Behauptung – geringere Zölle, Angleichung technischer Standards – und ihrer angeblichen Bedeutung. Die rhetorisch sonst so unambitionierte Bundeskanzlerin mahnte in martialischem Ton, ihre Partei werde TTIP »gegen alle Widerstände durchkämpfen«, die EU müsse das Abkommen »mit Haut und Haaren« verhandeln; Angela Merkel verglich die Debatte um das Freihandelsabkommen sogar mit jener um den Nato-Doppelbeschluss in den 1980er Jahren, die die Gesellschaft in zwei Lager spaltete. Merkels Vize, SPD-Chef Sigmar Gabriel, lud die Debatte im Bundestag moralisch auf: »Wenn wir das hier falsch machen, werden unsere Kinder uns verfluchen.« Scheiterten TTIP und das zwischen der EU und Kanada damals noch nicht restlos ausverhandelte Freihandelsabkommen CETA, könnten »viele hunderttausend Menschen in Deutschland« ihren Job verlieren, der Exportnation Deutschland drohe »eine mittlere Katastrophe«. Daimler-Chef Dieter Zetsche sorgte sich, Deutschland und die EU würden ohne TTIP eine »historische Chance« verpassen, der wirtschaftspolitische Sprecher der CDU-Bundestagsfraktion, Joachim Pfeiffer, sprach von einer »Jahrhundert-Chance«. Kann man das ernst nehmen: dass uns unsere Kinder verfluchen werden, wenn wir die Farben von Rückblinkern nicht vereinheitlichen? TTIP – eine »Jahrhundert-Chance«? Geht es noch größer? Wird als Nächstes von »Sünde« gesprochen, wenn Menschen trotzdem Fragen stellen?

Merkel, Gabriel & Co. appellieren an diffuse Ängste, wenn sie behaupten, ohne das Abkommen würden Deutschland und Europa »den Anschluss an asiatische Länder verlieren«, sich sogar »von den Weltmärkten abkoppeln«. Jenseits von Wachstum und neuen Jobs sprechen für den US-Botschafter bei der Europäischen Union, Anthony Gardner, »geostrategische Gründe« für TTIP: Der Blick auf den Mittleren Osten oder auf Russlands Ukrainepolitik mache deutlich, dass TTIP die transatlantische Allianz wirtschaftlich festigen könne, so wie die Nato das in militärischer Hinsicht leiste: »Wir müssen die Regeln im Welthandel setzen, bevor es andere tun«, so Anthony Gardner, »TTIP ist aus vielerlei Gründen nicht nur wichtig, sondern unverzichtbar.« In solchen Sätzen schwingt Angela Merkels berühmtes Wort von der Alternativlosigkeit mit: TTIP – wir haben keine Wahl. Und sollten wir dennoch die falsche treffen, bezahlen wir dafür bitter.

Berlin, im Juli 2014: Auf der Bühne eines Konferenzsaals der Friedrich-Ebert-Stiftung sitzt George Miller aus San Francisco, er nimmt an einer Podiumsdiskussion über Freihandelsabkommen teil. Miller ist nicht irgendein US-Politiker. Mit vierzig Jahren als Kongressabgeordneter gehört er zu den Dienstältesten in Washington, Miller gilt in den USA als ein politisches Schlachtross. Der Demokrat aus Kalifornien ist kein Gegner des Freihandels. Es käme ihm wohl nie in den Sinn, gegen ein Abkommen wie TTIP zu argumentieren, würde es nur Doppeltests überflüssig machen, technische Standards einander angleichen, sinnlose Zölle aus grauer Vorzeit abschaffen.

Dennoch hat George Miller Ende 2013 einen Brief an seinen Präsidenten und Parteifreund Barack Obama initiiert, den mehr als ein Drittel der 435 Kongressabgeordneten unterschrieben haben. Der Brief richtete sich gegen das inzwischen durchgepaukte sogenannte »Fast-Track«-Gesetz, eine Art Schnellverfahren, das die Befugnisse der US-Regierung beim Aushandeln von Freihandelsverträgen massiv ausdehnt und jene des US-Kongresses entsprechend einschränkt. Die Abgeordneten können bei der Abstimmung über TTIP und andere Freihandelsabkommen nun nicht mehr einzelne Inhalte des Vertragsentwurfs verändern, sondern nur noch mit »Ja« oder »Nein« über den Vertrag als Gesamtpaket abstimmen. Sie haben nicht mehr die Möglichkeit, die Idee mit den gleichfarbigen Rückblinkern gutzuheißen und gleichzeitig gegen laxere Regeln bei der transatlantischen Bankenregulierung zu stimmen.

Am Ende seiner langen politischen Karriere ist George Miller an diesem Tag im Sommer 2014 noch einmal nach Berlin gekommen, um seine deutschen Zuhörer in ihrem Widerstand gegen TTIP zu bestärken. Hunderttausende, gar Millionen neuer Jobs durch TTIP? »Ein Märchen«, antwortet Miller. Mehr Wachstum und Wohlstand für alle durch die Integration der Wirtschaftsräume USA und EU zur größten Freihandelszone der Welt? »Es muss um die Interessen der Bürger gehen, nicht um die der Konzerne«, entgegnet der Mann aus San Francisco, »bei TTIP wäre es wie bei einer Lotterie: wenige Gewinner, viele Verlierer.« Vor allem aber empfinden George Miller und die übrigen Unterzeichner seines Briefs an Präsident Obama eine »tiefe Besorgnis« angesichts der Reichweite heutiger Freihandelsabkommen – eine Tatsache, die das Lager der Befürworter meist völlig ausblendet. Denn: Heutige Freihandelsabkommen beschränken sich nicht auf die Angleichung technischer Standards für Autos und Maschinen, sie zielen nicht nur darauf ab, Zölle auf Importe zu senken oder abzuschaffen. Verträge wie das geplante TTIP berühren fast sämtliche Politikfelder vom Umweltschutz und der Landwirtschaft über das Arbeitsrecht bis zum Gesundheitswesen; sie greifen ein in den Patent- und Datenschutz, in die Standards für Lebensmittel und Chemikalien, sie betreffen Fragen der Energiegewinnung wie im Fall des Frackings, sie können die Regulierung der Banken verschlechtern und den Schutz ausländischer Investoren verbessern. Was daran am meisten beunruhigt: TTIP greift auch in die Gesetzgebung auf nationaler und europäischer Ebene ein, das Abkommen beschneidet die Rechte nationaler und europäischer Parlamente, ja, TTIP birgt das Risiko, die nationale und europäische Justiz durch eine Paralleljustiz zu schwächen.

Der Franzose Pascal Lamy, bis 2004 jahrelanger Außenhandelskommissar der EU und bis 2013 Generaldirektor der Welthandelsorganisation WTO, also ein intimer Kenner der Materie, hat in einer öffentlichen Vorlesung Anfang 2015 von einer »alten« und einer »neuen Welt« in den internationalen Handelsbeziehungen gesprochen. In der »alten« Handelswelt sei es vor allem darum gegangen, Schutzzölle auf unterschiedliche Produkte gegeneinander zu »verrechnen« und sie auf diese Weise zum Vorteil beider Seiten zu senken, das Ziel war im besten Fall die Null. Doch in der »neuen« Handelswelt, wie TTIP und CETA sie repräsentieren, gehe es nicht mehr um ideologisch wertfreie Zollfragen, sondern um Standards in sensiblen Bereichen wie Verbraucherschutz, Gesundheit, Tierschutz, Datensicherheit oder Umweltverträglichkeit, also um kulturell, historisch oder religiös geprägte Eigenheiten von Ländern. Es gehe demnach um ein »völlig anderes politisches Spiel«, argumentiert Lamy: »Sicherheitsanforderungen für Feuerzeuge lassen sich nicht mit Sicherheitsstandards für Spielzeug verrechnen.«

Diese zutreffende Analyse Pascal Lamys begründet den Anspruch der betroffenen Gesellschaften, über diese »neue« Handelswelt gründlich, ehrlich und in völliger Transparenz zu debattieren, um damit die notwendige demokratische Legitimation der Entscheidungen sicherzustellen. Doch das Pro-TTIP-Lager bagatellisiert jeden Einwand oder es überhöht TTIP zum »geostrategischen« Instrument, zur »Wirtschafts-Nato«, als herrsche kalter Krieg. Die wahre Bedeutung des Freihandelsabkommens in der »neuen« Handelswelt wird einfach verschwiegen.

Das muss jeden Bürger, der die Konsequenzen von TTIP zu tragen hätte, besorgt und wütend machen. Und noch mehr macht es Parlamentarier wie George Miller wütend, der seinen Standpunkt sonst sehr gelassen darlegt. Das Publikum der Veranstaltung in Berlin kann seine Erregung spüren, als er sagt: »Bei dieser enormen Bedeutung heutiger Handelsabkommen ist es schlicht unwürdig, wie wir Kongressabgeordneten behandelt werden. Man speist uns mit lückenhaften Dokumenten ab, andere Dokumente bekommen wir überhaupt nicht zu sehen. Unter solchen Umständen können wir unseren Verfassungsauftrag nicht ausüben und verantwortliche Politik für unsere Bürger machen. Wir sind gewählt worden und nicht diejenigen, die jetzt solche Abkommen in unserem Namen aushandeln. Es ist eine Beleidigung für ein gewähltes Parlament, für die Demokratie.«

Was George Miller über die Missachtung des US-Kongresses sagt, gilt genauso für Europa und Deutschland: Weder das Europaparlament noch der Bundestag waren durch förmliche Beschlüsse beteiligt, als die Regierungen Europas der EU-Kommission die lange Zeit geheim gehaltenen Mandate erteilten, mit Kanada über CETA und mit den USA über TTIP zu verhandeln. Und so wie sich Miller als Parlamentarier missachtet fühlt, so fühlen sich Europa- und Bundestagsabgeordnete in ihren Rechten missachtet und marginalisiert durch die unsägliche Geheimhaltungspolitik bei den laufenden TTIP-Verhandlungen. Anstatt Abgeordnete und Bürger mit belastbaren Informationen zu versorgen, schüren verantwortliche TTIP-Befürworter Angst oder sie kontern Kritik mit dem Argument, die sei erst legitim, wenn das Abkommen fertig verhandelt sei. Dabei ist Fakt: Ist der Vertrag erst einmal zu Ende verhandelt, wird das Mitwirkungsrecht der Parlamente auf ein einfaches »Ja« oder »Nein« reduziert. Schlimmer noch: Anders als Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel suggeriert, ist noch nicht einmal sicher, ob die nationalen Parlamente das Abkommen am Ende überhaupt ratifizieren müssen.

Verfolgt man die zunehmend aggressiver werdenden Äußerungen derer, die das geplante Abkommen begrüßen, könnte man den Eindruck gewinnen, es wären nur ein paar ideologisch verbohrte Umweltschützer, Sozialstaatsträumer und ewige Globalisierungsgegner, die mit ihren Nichtregierungsorganisationen gegen TTIP opponieren, getrieben von einer Mischung aus Antiamerikanismus und Verschwörungstheorien. Aber das ist falsch. Es sind Millionen Menschen, Amerikaner und Europäer, Prominente und Nichtprominente, US-Parlamentarier und deutsche Oberbürgermeister, Gewerkschafter aus Philadelphia und Verbraucherschützer aus Marseille, spanische Unternehmer und österreichische Wissenschaftler, die TTIP für gefährlich halten.

Der Multimilliardär und frühere Bürgermeister von New York Michael Bloomberg ist ein glühender Verfechter des ökonomischen Prinzips; aber er kritisiert scharf, wie »die Tabakindustrie Freihandels- und Investitionsabkommen dazu benutzt, nationale Gesetze anzugreifen, die den Tabakkonsum eindämmen sollen«. Dies sei ein Ausverkauf nationaler Souveränität, der Millionen von Toten zur Folge haben könne. Vehemente Unterstützung erhält Bloomberg von Margaret Chan, der Generaldirektorin der Weltgesundheitsorganisation WHO: »Internationaler Handel hat gute und schlechte Konsequenzen für die Gesundheit der Menschen. Verstörend ist, wenn Investitionsabkommen dazu missbraucht werden, Regierungen die Handschellen anzulegen, die vor einem Produkt schützen wollen, das tötet. Wenn diese Handelsabkommen auch noch den Zugang zu bezahlbaren Medikamenten einschränken, müssen wir uns fragen: Ist das der Fortschritt, den wir wollen?«

Alain Caparros, Chef der zweitgrößten deutschen Supermarktkette Rewe, irritiert an TTIP nicht nur, dass es »hinter verschlossenen Türen« verhandelt wird. In einem Brief an die deutschen Mitglieder des Europaparlaments äußerte Caparros seine »große Sorge vor einer Kehrtwende in der Verbraucherschutzpolitik zugunsten US-amerikanischer Importprodukte«. Gemeint sind damit zum Beispiel die in den USA erlaubte Hormonbehandlung von Rindern und Schweinen, Chlorbäder für geschlachtete Hühner und die Genmanipulation von Nahrungspflanzen. Alain Caparros forderte die Abgeordneten auf, »als vehemente Hüter« europäischer und deutscher Lebensmittel- und Sozialstandards aufzutreten.

In der New York Times argumentierte der Wirtschafts-Nobelpreisträger Joseph Stiglitz, Freihandelsabkommen seien Ausdruck für das »krasse Missmanagement der Globalisierung«: »Die Freihandelstheorie besagt, dass es zwar immer Gewinner und Verlierer gibt, aber auch, dass die Gewinner die Verlierer kompensieren und am Ende alle einen Vorteil haben. Aber leider beruht diese Behauptung auf vielen falschen Annahmen. Es besteht die reale Gefahr, dass allein die Reichsten der amerikanischen und globalen Elite profitieren und dass die Ungleichverteilung weiter zunimmt. Auch das Risiko wachsender Arbeitslosigkeit ist nicht von der Hand zu weisen. Handelsminister auf der ganzen Welt sind gefangen von Wirtschaftsinteressen. Umso gefährlicher ist es, sie im Geheimen verhandeln zu lassen, weil dann keine demokratischen Kontrollmechanismen mehr greifen, um die negativen Folgen solcher Verträge einzuhegen.«

Christoph Scherrer, Leiter des Fachgebietes »Globalisierung und Politik« an der Universität Kassel und Direktor des International Center for Development and Decent Work (ICDD), sagte in einem Interview mit der Deutschen Welle: »Mir scheint, dass TTIP vor allem Konzerninteressen bedient. Der Forderungskatalog ist im Wesentlichen ein Abbild der Forderungen der großen Wirtschaftsverbände. Mir ist kein Abkommen bekannt, bei dem Standards nach oben gingen. Abkommen zielen immer darauf ab, Standards eher zu senken, damit die internationale Konkurrenz Zugang zu Märkten erhält.«

Die vier Hauptgeschäftsführer des Deutschen Städtetages, des Deutschen Landkreistages, des Deutschen Städte- und Gemeindebundes sowie des Verbands kommunaler Unternehmen verwiesen in einem gemeinsamen Positionspapier auf die »erheblichen Risiken« durch TTIP: »Das Freihandelsabkommen darf die … wichtigen Dienstleistungen der Kommunen nicht beeinträchtigen«; durch Marktzugangsverpflichtungen in TTIP »könnte die kommunale Selbstverwaltung ausgehöhlt werden«, kommunale Dienstleistungen wie die Wasserversorgung, der Öffentliche Personennahverkehr, Sozialdienstleistungen oder Krankenhäuser dürften nicht durch das Abkommen tangiert werden.

Nach dem Regierungswechsel in Kanada im Herbst 2015 forderten der Vorsitzende des Kanadischen Gewerkschaftsverbands CLC, Hassan Yussuf, und der Chef des Deutschen Gewerkschaftsbundes DGB, Reiner Hoffmann, in einer gemeinsamen Erklärung, das Freihandelsabkommen CETA zwischen Kanada und der EU in der vorliegenden Form nicht zu ratifizieren und die Verhandlungen wieder aufzunehmen. In seiner jetzigen Fassung erfülle CETA, das auch als Blaupause für TTIP diene, nicht den Anforderungen an ein faires Handelsabkommen. Insbesondere kritisieren die Gewerkschafter, CETA enthalte keine effektiven und einklagbaren Regeln, um die Rechte von Arbeitnehmern zu schützen und auszubauen; ebenso fehlten Regeln, die eine grenzüberschreitende öffentliche Auftragsvergabe an die Einhaltung von Tarifverträgen binde.

Im Magazin Focus schrieb mahnend Kardinal Reinhard Marx, Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz, das Abkommen dürfe nicht allein wirtschaftlichen Interessen dienen: »Während die Vorteile im technischen Bereich auf der Hand liegen, stellt sich dies im Hinblick auf bestehende Standards etwa in der Sozialpolitik oder im Umweltschutz kritisch dar. TTIP kann nur dann ethisch akzeptiert werden, wenn es auch den Armen und Schwachen Perspektiven eröffnet.« Aus Sicht der katholischen Soziallehre frage er sich daher: »Hält das geplante Abkommen dem Anspruch stand, dem Gemeinwohl, ja dem Weltgemeinwohl zu dienen?«

Für derlei sachlich vorgetragene, fundierte Einwände hat EU-Kommissar Günther Oettinger (CDU) nur noch Spott übrig: »Die Aufregung von Bischöfen, Nichtregierungsorganisationen und Ami-Go-Home-Altgruppen ist fatal«, sagte der Deutsche. Er verhöhnt damit Millionen von Menschen, die in ganz Europa auf die Straße gingen, und die mehr als drei Millionen Europäer, die ihre Unterschrift gegen die geplanten Verträge abgegeben haben. Auch der wirtschaftspolitische Sprecher der CDU / CSU-Bundestagsfraktion, Joachim Pfeiffer, entschied sich – offensichtlich mangels guter Argumente – in einer Bundestagsdebatte für die Verbalattacke, indem er TTIP-Kritikern eine »Angstkampagne« unterstellte und foodwatch und anderen Organisationen »dieser Empörungsindustrie« grundsätzlich die demokratische Legitimation absprach, sich überhaupt zu TTIP zu äußern. Die Wochenzeitung Die Zeit gab dem US-amerikanischen Autor Eric T. Hansen die Plattform für die Aussage, ohne TTIP schaffe sich Europa, das noch in der Wirtschaftsmentalität des 19. Jahrhunderts stecke, schlichtweg ab. Und Zeit-Herausgeber Josef Joffe pöbelte ganz unhanseatisch gegen die »TTIPhoben« Kritiker in der Kulturindustrie, die in TTIP Gefahren für die Buchpreisbindung und für die deutsche Kulturlandschaft sehen: Diese »ebenso gefräßigen wie behäbigen Teile des Kulturkartells« bräuchten »TTIP als Peitsche«, schrieb Joffe, er wünsche ihnen »die gnadenlose Auslese auf einem globalen Markt« und schrieb in verächtlichem Ton über die »bescheidenen Talente in den Kleinkunst-Ensembles am Tropf des Staates«. Sein entlarvendes Statement: »Die wahren Feinde des Freihandels sind die Verfügungen und Gesetze, die im Namen von Gesundheit, Umwelt oder heiligen nationalen Bräuchen den Nahrungsmittel- oder Buchhandel vor der globalen Konkurrenz schützen.«

Solche Ausbrüche können kaum überzeugen und nähren den Verdacht, dass vielen TTIP-Befürwortern angesichts des stetig wachsenden Unbehagens in der Bevölkerung schlicht die Argumente ausgehen. Denn der Widerstand wächst: Nach der Großdemonstration gegen TTIP im Oktober 2015 in Berlin sank die Zustimmung in der Bevölkerung zu TTIP auf einen Tiefststand. 46 Prozent der Befragten hielten TTIP für »eine schlechte Sache«, wie eine repräsentative Befragung von TNS Emnid im Auftrag von foodwatch und Campact ergab; nur noch 34 Prozent hielten TTIP für »eine gute Sache« – das war bis zu diesem Zeitpunkt der niedrigste Wert in einer Serie von Umfragen, bei der seit Anfang 2014 sechs Mal mit identischer Fragestellung die Haltung der Bevölkerung in Deutschland gegenüber dem Abkommen abgefragt wurde. Noch weiter bergab ging es mit der öffentlichen Unterstützung für TTIP im Frühjahr 2016 nach einer Großdemonstration in Hannover und der Veröffentlichung vertraulicher Verhandlungsdokumente durch Greenpeace. Nur noch 17 Prozent der Deutschen sehen seitdem durch TTIP »eher Vorteile«.

Die Erklärung für solche Umfrageergebnisse liegt auf der Hand: Die Menschen sind misstrauisch geworden angesichts des hohen Maßes an Intransparenz und einer Geheimnistuerei, die eher an Abrüstungsverhandlungen erinnert – dabei soll TTIP angeblich doch allen nur Vorteile bringen. Sie sind empört darüber, dass die TTIP-Verhandler einseitigen Kontakt zu Wirtschaftslobbyisten pflegen, während sie die Zivilgesellschaft mit Info-Häppchen abspeisen oder sie sogar bewusst täuschen. Es ist schlicht unredlich, dass Regierungschefs und EU-Politiker immer nur über das angebliche Wirtschaftswachstum und mögliche neue Jobs durch TTIP reden, aber nie über die Risiken. Auch ist der Aussage zu widersprechen, dass die bestehenden Umwelt-, Verbraucher- und Sozialstandards bereits einem unübertreffbaren »Goldstandard« entsprechen. Man muss sich fragen, was mit diesen angeblichen »Goldstandards« passieren wird, wenn sie durch TTIP unter den Druck eines weiter verschärften Wettbewerbs geraten. US- und EU-Bürger wollen nicht akzeptieren, dass das Handelsabkommen etwa französischen Investoren in den USA und US-Investoren in Dänemark durch eine Paralleljustiz einen höheren Rechtsschutz einräumen soll als den Unternehmen im eigenen Land. Sie ahnen, dass das Abkommen zwar freien, aber nicht fairen Handel fördert, dass es die Armen ärmer und die Reichen reicher machen wird. Und es steht zu befürchten, dass die Parlamentarier in den betroffenen Ländern – wenn sie denn überhaupt gefragt werden – unter höchstem Druck einem Vertragsabschluss zustimmen, dessen tatsächlichen Preis sie noch gar nicht kennen können, weil sich der erst im Lauf der Jahre Stück für Stück zeigen wird.

Je mehr über TTIP und CETA an die Öffentlichkeit dringt, umso weniger glauben die Bürger der Bundesregierung die Märchen über Wachstum, Wohlstand und den Schutz ihrer Rechte. Und umso mehr begreifen sie, dass es bei diesen Freihandelsabkommen nur ganz am Rande um normierte Kabelbäume geht. Es geht um die Verrechtlichung von Konzerninteressen, um die reale Gefahr, dass gesellschaftspolitische Errungenschaften Stück für Stück ausgehöhlt, Umwelt-, Verbraucherschutz- und Arbeitnehmerstandards eingefroren werden. TTIP würde das Recht der Europäischen Union und ihrer Mitgliedsstaaten einschränken, weiterhin autonom Gesetze zu beschließen, die mehr am Gemeinwohl orientiert sind als an Konzerninteressen. Die notwendige, demokratisch legitimierte Weiterentwicklung von Schutzrechten in den USA und in Europa wäre in Zukunft abhängig von der Zustimmung des Handelspartners. TTIP und CETA in der geplanten Form sind eine Bedrohung für unsere Demokratie.

Auch von Gegnern eines Freihandelsabkommens, das ist einzuräumen, werden manche übertriebenen Befürchtungen und unzulässigen Vereinfachungen in die Debatte geworfen. Das gibt den TTIP-Befürwortern jedoch nicht die Lizenz, Einwände, Fragen und Kritik zu ignorieren, zu bagatellisieren und selbst Angst zu schüren vor einer Zukunft ohne TTIP. Beispielhaft zeigt das der Blog-Beitrag des Bundestagsabgeordneten und CDU-Präsidiumsmitglieds Jens Spahn, der sich – inzwischen zum Staatssekretär im Finanzministerium aufgestiegen – am Symbol der TTIP-Debatte, dem Chlorhuhn, abarbeitet. »Chlorhuhnangstsuppe« – so betitelt er sein »Plädoyer für TTIP«, in dem er Warner und Kritiker quasi zu Angsthasen, Nörglern und Antiamerikanern stempelt: »Chlorhuhn, Intransparenz, scheinbar niedrige Standards in den USA – ein wildes Zusammenspiel aus Ängsten und Befürchtungen bestimmt die Auseinandersetzung mit den TTIP-Verhandlungen. Gewürzt wird diese neue Dagegen-Suppe mit einer kräftigen Prise Amerika-Skepsis « Auch Jens Spahn kommt in seiner Argumentation für TTIP nicht ohne den unsinnigen Vergleich mit der Nato aus (»Gemeinsam bleiben wir stark«), so als stünden Europa und Amerika im Wirtschaftskrieg mit feindlichen Ländern, und er trifft die für einen Parlamentarier bemerkenswerte Aussage, die Forderung nach transparenten Verhandlungen sei »absurd«. Absurd ist eher, dass ein Volksvertreter offenbar ungerührt hinnimmt, wie EU-Beamte und Lobbyisten einen völkerrechtlichen Vertrag mit weitreichenden Konsequenzen aushandeln, ohne dass Abgeordnete wie er irgendein Mitspracherecht haben.

Spahn, dessen politischer Gestaltungswille komplett erlahmt scheint, fragt seine Leser: »Was würdet ihr lieber essen? Ein ›Antibiotika-Huhn‹ oder ein Chlorhuhn?« Er spielt damit an auf Hühnerfleisch, das in US-amerikanischen Schlachthöfen zur Desinfektion mit Chlordioxid gereinigt wird, während Hühner in Europa oft vorsorglich mit Antibiotika gefüttert werden, damit sich Krankheiten in der Intensivtierhaltung erst gar nicht ausbreiten. »Was würdet ihr lieber essen? Ein ›Antibiotika-Huhn‹ oder ein Chlorhuhn?« Abgesehen davon, dass nicht nur in Europa, sondern auch in den USA Antibiotika in der Tiermast exzessiv eingesetzt werden (vgl. Kapitel 8), ist Spahns Antwort entlarvend: »Eine Kennzeichnungspflicht wäre das Einfachste und Beste. Der mündige Verbraucher könnte selbst entscheiden, welches Fleisch er kaufen möchte. Das würde auch dem Transparenzbedürfnis aller sehr viel näher kommen als ein plumpes Verbot, das aus Angst vor Neuem und Unbekanntem erlassen wird. Dabei wird bei einem Schwimmbadbesuch weitaus mehr Chlor aufgenommen als beim Verzehr von US-Hühnchen. Übrigens: Fleisch und andere Produkte aus Rumänien oder Bulgarien können in der EU frei zirkulieren.« Nicht nur, dass Spahn mit seinem raunenden Hinweis auf die »hygienischen Bedingungen« in Osteuropa selbst Ressentiments schürt, gibt er hier eine politische Bankrotterklärung ab, denn übersetzt bedeutet das: Pech, liebe Verbraucher, ihr habt nur die Wahl zwischen Antibiotikahühnchen und Chlorhühnchen, und mit einer Kennzeichnungspflicht wisst ihr zumindest, welches von den zwei schlechten Hühnchen ihr esst. Seid nicht so anspruchsvoll, aus Rumänien und Bulgarien kommt Fleisch, das vielleicht noch viel bedenklicher ist.

Jens Spahns TTIP-Blogeintrag ist 1200 Wörter lang, aber kein einziges verwendet der frühere Gesundheitspolitiker auf die Frage, ob die Menschen nicht Anspruch hätten auf mehr als die Wahl zwischen zwei schlechten Alternativen. Das ist ein Plädoyer für klassischen Unterbietungswettbewerb und gibt eine Vorahnung davon, was uns mit TTIP blüht. Sein Kommentar markiert das Ende von gestaltender Politik für die Bürger. Es ist Zeit für die Zivilgesellschaft, in Europa wie in den USA, sich zu wehren und Besseres einzufordern.