Buch
Portugal, 1745: Auf der kleinen, von Armut geplagten Insel Porto Santo wächst die junge Diamantina auf. Trost findet sie in den Geschichten ihres Vaters Arie, eines Seefahrers, der ihr oft von fernen, faszinierenden Ländern erzählt. Als Arie die Familie verlässt, um in Südamerika sein Glück zu suchen, träumt auch seine Tochter davon, der kargen Insel den Rücken zu kehren und in die Neue Welt zu segeln – als alleinstehende Frau ein schier unmögliches Unterfangen. In der Hoffnung auf ein besseres Leben willigt sie schließlich ein, den Weinbauern Bonifacio zu heiraten, mit ihm nach Madeira zu gehen und sich um seinen kleinen Pflegesohn zu kümmern. Doch schon bald wird die Ehe mit Bonifacio zum Gefängnis. Der lieblose Bonifacio vernachlässigt seine Familie, Entbehrungen und bittere Enttäuschungen bestimmen den Alltag. Den einzigen Ausweg sieht die junge Frau in der Flucht. Nur bei Bonifacios Bruder Espirito, einem erfolgreichen Weinhändler, fühlt sie sich verstanden. Und bald muss Diamantina sich fragen, wo ihr Herz sie hinzieht – ans andere Ende der Welt oder zu dem Mann, den sie liebt …
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Linda Holeman
Die Tochter
des Seefahrers
Historischer Roman
Aus dem Englischen
von Claudia Franz
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Die Originalausgabe erschien 2014
unter dem Titel »The Devil On Her Tongue«
bei Random House Canada, a division
of Random House of Canada Limited, Toronto.
1. Auflage
Deutsche Erstveröffentlichung Mai 2015
Copyright © der Originalausgabe 2014 by Linda Holeman
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2015
by Wilhelm Goldmann Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Umschlagkonzeption: UNO Werbeagentur, München
Umschlagmotive: Getty images/Erika Craddock,
Marko Stavric Photography; FinePic®, München
Redaktion: Eva Wagner
KS · Herstellung: Str.
Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling
ISBN: 978-3-641-15320-5
V002
www.goldmann-verlag.de
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Für Martin
PROLOG
Archipel Madeira, Portugal
1730
Estra ging jeden Morgen bei Sonnenaufgang über das einsame Ende des Strands von Calheta und suchte nach Meeresschnecken und kleinen Kostbarkeiten. Der schmale Strand mit dem feinen goldgelben Sand lag im Schutz der Felseninsel Ilhéu de Baixo und bildete eine natürliche Bucht, in der sich alles sammelte, was nachts angeschwemmt wurde. Der Atlantik zwischen dem Archipel Madeira und Nordafrika spülte fortwährend das Treibgut der Schiffe heran. In verheerenden Unwettern sanken die Karavellen und Galeonen, die Brigantinen, Dogger und Korvetten, die gen Westen in die Kolonie Brasilien segelten oder ums Kap der Guten Hoffnung herum gen Osten. Die Überreste landeten hier, am Strand der kleinen Insel Porto Santo.
Unter dem rosa gestreiften Himmel stocherte Estra mit ihrem Stock im harten, nassen Sand zwischen den algenbedeckten Felsen herum, die bei Ebbe trockenfielen. Hinter den windgepeitschten Klippen jenseits der Dünen war sie schon gewesen, um Pflanzen für ihre Trünke zu sammeln. Das Tuch vor ihrer Brust, das sie zurechtrückte, war prall gefüllt mit Seetang, Meersenf, Knöterich, Purgiernuss und Mariendisteln.
Den Mann sah sie erst, als sie direkt vor ihm stand. Er lag mit dem Bauch nach unten und wurde von den schäumenden Wellen umspült, den Kopf auf den angewinkelten Arm gebettet. Sein sandverkrustetes Haar war fast weiß, aber nicht von dem Weiß der Haare alter Männer, sondern von einem fast goldenen Weiß. Um seinen Hals hing ein verknoteter Lederriemen. Estra schob ihren Kranz zurück – den selbst gebastelten Haarkranz aus zähem Seegras mit eingeflochtenen Glasteilchen und Bleikugeln – und stupste den Mann mit ihrem Stock an. Keine Reaktion.
Sie beugte sich über ihn. Vielleicht war es ja ein toter Pirat. Es wäre nicht das erste Mal, dass sie eine Leiche gefunden hätte. Normalerweise waren sie allerdings aufgequollen und krümmten die Finger zu Klauen, während ihnen die Kleidung in Fetzen am Leib hing. Estra ließ die Toten einfach liegen, bis einer der Fischer vom Strand sie mit Steinen beschwerte und weit draußen auf dem Meer über Bord warf.
Eine kleine Krabbe huschte durch das Haar mit der sonderbaren Farbe und purzelte in den Sand. Der Mann war mit einer Kette, die um seine schmale Hüfte geschlungen war, an ein aufgequollenes Holzfass mit den Buchstaben VOC gebunden. Um seine Handgelenke wanden sich zerrissene Seile. Die Füße waren nackt, und auch sonst verbarg der Körper nicht viele seiner Geheimnisse, in dieser weiten schwarzen Hose und dem zerschlissenen Hemd aus grober, ausgebleichter Baumwolle. Treibgut fand sich nicht in der Nähe, nur langer, knotiger Tang und stinkende Algen; der Mann konnte also nicht von einer gesunkenen Karavelle stammen. Er war wohl über Bord gegangen, was gelegentlich passierte, wie Estra wusste. Junge Matrosen, die sich an den Rhythmus der rollenden, schlingernden Schiffe noch nicht gewöhnt hatten, fielen manchmal aus dem Krähennest oder aus der Takelage. Sie stupste mit dem Fuß gegen das Fass, das ein Stück wegrollte. Offenbar war es leer und wasserdicht. Warum war der Mann an ein leeres Fass gekettet?
Sie kniete sich hin und beugte sich vor, um einen Blick auf sein Gesicht zu erhaschen. An dem Lederriemen um seinen Hals hing ein schmales, längliches Silberteil. Sie nahm es und versuchte, den Riemen abzureißen. Im nächsten Moment schnellte die Hand des Mannes vor und packte sie am Handgelenk. Sie schrie auf, riss sich los und sprang zurück, den Stock vor sich ausgestreckt.
Langsam wälzte sich der Mann herum. Seine strohfarbenen Wimpern flatterten, als er sie anschaute und gegen den Sand anblinzelte. Sein salzverkrustetes Gesicht war sonnenverbrannt, und die Haut schälte sich, seine Lippen waren geschwollen und aufgesprungen. Er krächzte einen Satz – es klang wie eine Frage –, aber sie verstand ihn nicht. Als er sich unter Schmerzen aufsetzte, zog sich Estra noch ein Stück zurück.
Solche Haare hatte sie noch nie gesehen, und auch nicht so helle blaue Augen. Sie holte tief Luft.
Er war es. Er war gekommen.
Arie ten Brink hielt Estra für eine Erscheinung, vielleicht für die Schwarze Madonna, von deren Abbild im Kloster Montserrat bei Barcelona man so viel hörte. Vielleicht war es auch ein dunkelhäutiger Engel, mit diesem verrutschten Heiligenschein, in dem sich die Sonne fing, um Prismen in sein Antlitz zu werfen.
Das letzte Gesicht, in das er geschaut hatte, war das von Broos gewesen, dem Vollstrecker seines Todesurteils. Broos hatte Arie, dessen Hände mit dickem, teerverschmiertem Tau vor seinem Bauch gefesselt waren, zum Bug des Indienfahrers Slot ter Hooge geführt. Broos hatte die Anweisung, Arie mit dem Schwert zu durchbohren – in keinem Fall durfte Munition verschwendet werden – und dann über Bord zu werfen. Nun stammte Broos aber aus Aries Heimatstadt Middelburg in Zeeland. Sie waren schon als Kinder befreundet gewesen, und auch zur Niederländischen Ostindien-Kompanie waren sie zur selben Zeit gegangen. Sie waren bereits einmal auf demselben Schiff gefahren, und auf der gegenwärtigen Reise zu den Niederlassungen der Kompanie in Batavia schlief Broos in der Koje unter Arie. In den dunklen Stunden vor der Schlafenszeit tauschten sie oft Erinnerungen an ihr Leben in Middelburg aus. Während sie auf hoher See nichts als madiges Pökelfleisch und von Käfern angefressenen Schiffszwieback bekamen, dazu modriges Wasser und warmes, saures Bier, fantasierten sie von der Frühlingssuppe mit Fleischbällchen, die ihre Mütter gekocht hatten, und von dem Topf mit Apfelrotkohl, der immer auf dem Herd gestanden hatte. Zum Sonntagsfrühstück hatte es stroopwafels gegeben, Sirupwaffeln, die so süß waren, dass sie an den Zähnen schmerzten. Sie verglichen die Mädchen, an die sie sich erinnerten, und sehnten sich nach der kühlen, frischen Herbstluft, die von der Zuider Zee herüberwehte.
Noch vor Ende des ersten Monats der achtmonatigen Reise brachte Arie dann den Bootsmann Falco um, einen herzlosen Mann mit groben Pranken, der sich gerne auf bestialische Weise mit den jüngsten Besatzungsmitgliedern verlustierte. Irgendwann kam Arie dazu, als Falco sich an Jansie verging, einem zehnjährigen Knaben, der zum ersten Mal zur See fuhr. Arie wollte Falco wegziehen, aber Falco lachte nur und dachte gar nicht daran, von dem Jungen abzulassen. Jansies Gesicht war verzerrt vor Angst und Schmerz, und plötzlich fühlte sich Arie in die Zeit zurückversetzt, in der er selbst ein solcher Junge gewesen war. Er nahm den nächstbesten Gegenstand – den Verschluss einer defekten Kanone – und schlug zu. Eigentlich hatte er nur die Folterqualen des Jungen beenden wollen, aber tatsächlich brach er Falco das Genick.
Obwohl der Kapitän derartige derbe Freizeitspäße bei seinen Matrosen keineswegs billigte, konnte er bei seiner Mannschaft nicht den Eindruck erwecken, er würde Mord und Totschlag dulden. Falco hatte man bereits in ein Laken gewickelt und ohne großes Brimborium über die Reling geworfen. Jetzt war Arie an der Reihe.
Während Falco bei allen verhasst gewesen war, hatte Arie viele Freunde. Da der Kapitän eine Meuterei befürchtete, wenn er Arie verurteilte, versammelte er die Mannschaft unter Deck und ließ eine Extraration kill-devil verteilen, ein faulig schmeckendes, fermentiertes Zuckerrohrgebräu, das als Rum herhalten musste. Niemand durfte Broos folgen, als er Arie fortführte.
Als sie alleine an Deck waren, fragte Broos seinen Freund, wie er so verrückt sein konnte, Jansie beschützen zu wollen. Jansie hätte das schon überlebt. »Wir haben es doch auch überlebt, Arie«, sagte Broos.
Arie sagte nichts. In dem Moment, in dem er zu dem Geschützverschluss gegriffen hatte, war ihm durch den Kopf gegangen, dass Jansie als Mann dieselben Erinnerungen haben würde, die ihn selbst immer noch aus dem Schlaf hochfahren ließen, schweißgebadet, den Geschmack der Angst auf der Zunge. Einen Mann wie ihn. Das wollte er diesem Kind ersparen.
Bevor Broos das Schwert hob, entschuldigte er sich. Arie schloss die Augen und atmete tief durch, als er die Klinge durch die Luft schwirren hörte. Broos kappte aber nur die Taue an Aries Handgelenken und sagte: »Ich kann dich nicht töten, alter Freund. Aber … was habe ich für eine Wahl?«
»Sag meinen Eltern, dass ich eines ehrenvollen Todes gestorben bin«, sagte Arie, kletterte über die Reling und sprang ins Meer. Als er wieder auftauchte, warf ihm Broos ein leeres, mit einer Kette umwickeltes Wasserfass hinab. Arie hielt sich an dem Fass fest und schaute dem Schiff hinterher, bis es zwischen den Wellenbergen verschwunden war.
Er schaffte es, die Kette um seine Hüfte zu schlingen und sich an das Fass zu binden. Als er den Zapfen aus dem Spundloch zog, drang allerdings nur der Gestank der Algen heraus, die so viele Wasservorräte verdarben. Schnell rammte er den Spund wieder hinein, hielt sich am Fass fest und trieb mit ihm durch die Dunkelheit, dann durchs Licht, dann wieder durch die Dunkelheit. Als er den dumpfen Schlag des Sandes unter sich spürte, konnte er schon keinen klaren Gedanken mehr fassen. Mit jeder Welle wurde sein Körper an Land geschwemmt und wieder fortgerissen, aber er fühlte sich wie eine Scherbe, deren Kanten mit jeder Bewegung von Sand, Salz und Wasser stumpfer wurden.
Danach spürte er gar nichts mehr, bis er von einem Ruck an dem Riemen um seinen Hals geweckt wurde.
Und nun sah er in reglose grüne Augen unter kräftigen, gebogenen Brauen. »Bin ich im Himmel?«, fragte er auf Niederländisch.
Die Erscheinung hob die Hand und kratzte sich an der Wange. Er sah den Schmutz unter ihren abgebrochenen Fingernägeln und begriff, dass sie kein Engel sein konnte. Sein Blick glitt von ihrem Gesicht zu ihrer weißen Bluse hinab, die geflickt war und gelblich, dann zu ihrem zerschlissenen braunen Rock und den schmalen, aber kräftigen Fußgelenken. Aus der Stoffschlinge vor ihrer Brust schauten Tang und andere Pflanzen heraus. Er hatte keine Vorstellung, wie lange er im Wasser gewesen war und wie weit ihn die Strömung getragen hatte. Er wusste nur, dass er lebte. Stillschweigend dankte er seinem calvinistischen Gott, der die Menschen willkürlich verdammte, um anderen ebenso willkürlich das Leben zu schenken.
Er küsste das silberne Amulett mit dem Stück der Fruchtblase, in der er geboren worden war. Seine Mutter hatte recht daran getan, seine Glückshaube aufzubewahren und ihm diesen Talisman vor seiner ersten Seereise zu geben. Mit Gottes Hilfe hatte er ihn vor dem Ertrinken bewahrt.
»Azoren?«, fragte er.
»Porto Santo«, antwortete die junge Frau.
Noch ein Wunder. Wäre er weiter südlich angetrieben worden, wäre er womöglich an der felsigen Küste der Nachbarinsel Madeira zerschmettert worden. Und noch glücklicher konnte er sich schätzen, dass ihn die Strömung nicht zur Inselkette der Ilhas Desertas getragen hatte, wo es weder Süßwasser noch Pflanzen gab, sondern nur Mönchsrobben und Vogelkolonien. Dort wäre er elendig zugrunde gegangen.
Er stützte sich auf das Fass und wollte aufstehen, aber seine Beine schienen sich mit Meerwasser vollgesogen zu haben, sodass er gleich wieder hinfiel. Das Mädchen, das jetzt nicht mehr misstrauisch wirkte, sondern sich fast über seine Gegenwart zu freuen schien, reichte ihm ihren Stock. Dankbar nahm er ihn entgegen und schaffte es, sich aus eigener Kraft aufzurichten. Das Zittern in seinen Beinen legte sich ein wenig, und er tat einen zögerlichen Schritt. Mit einer Kopfbewegung bedeutete sie ihm mitzukommen. Schwer auf den Stock gestützt und das Fass hinter sich herschleppend folgte ihr Arie über Tangknäuel und flache Kakteen hinweg zu einer Art Unterschlupf in einem Felsenloch. Auf einem Haufen glühender Kohlen stand ein ramponierter, rußgeschwärzter Kessel im Sand.
Sie zeigte auf einen flachen, breiten Stein. Er ließ sich darauf nieder. Das Mädchen reichte ihm eine Holzschale mit einer warmen Brühe, in der Fischbrocken und kräftige Kräuter schwammen.
»Obrigado«, sagte er und kämpfte gegen die Tränen der Erschöpfung und der Dankbarkeit an. Dann hielt er die Schale mit zitternden Händen an den Mund und stürzte die Brühe hinunter. »Entschuldigung«, sagte er, als die Schale leer war. Obwohl er Seemann war und schon seit sieben Jahren unter rauesten Bedingungen lebte, verfügte er immer noch über Manieren, wie es ihm seine Mutter beigebracht hatte. Die junge Frau nahm die Schale und füllte sie noch einmal auf. Dieses Mal waren seine Hände schon ruhiger und sein Magen etwas besänftigt, sodass er die Brühe in kleinen Schlucken trinken konnte.
Als die zweite Schale leer war, holte das Mädchen einen kleinen Tontiegel mit einer kühlen, muffig riechenden Salbe hervor. Sanft und mit fast unmerklichen Bewegungen wischte sie den Sand und das Salz von seiner verbrannten Haut und strich die Salbe auf die Stellen und auf seine Lippen.
Nachdem sie von ihm abgelassen hatte, sagte der Mann in stockendem, aber klarem Portugiesisch: »Ich bin Niederländer. Ich arbeite auf einem Handelsschiff der Vereenigde Oostindische Compagnie.«
Das Mädchen nahm die Kette und zog an zwei Kettengliedern, als wolle sie testen, wie stabil sie war.
Er deutete eine Verbeugung an. »Mein Name, Senhorita«, sagte er und zog sein zerfetztes Hemd glatt, »lautet Arie ten Brink.« Er betrachtete ihre Hände an der Kette. »Wenn Sie mir helfen, mich von diesem Fass zu befreien, und mir den Weg in die nächste Stadt zeigen könnten, werde ich Sie nie wieder behelligen.«
TEIL I
Strand von Calheta, Porto Santo
Fünfzehn Jahre später
1745
EINS
Mein Vater weckte mich bei Sonnenaufgang. Er sagte kein Wort, aber irgendetwas an der Weise, wie er mich im Dämmerlicht in unserer Hütte anschaute, erfüllte mich mit einer merkwürdigen Vorahnung. Er nahm meine Hand, zog mich aus dem Bett und führte mich hinaus in die Morgenluft, die sich bereits rosa einfärbte. In der anderen Hand hielt er einen Seesack.
Meine Mutter rief unsere Namen. Ihre Stimme war atemlos und hatte eine schrille Färbung. Wir schauten zur Hütte zurück. Die dicken schwarzen Haare noch offen, kam sie hinter uns hergerannt. Sie weinte, was an sich schon beunruhigend war. Ich hatte sie noch nie weinen sehen.
»Du nimmst sie nicht mit, das tust du nicht, Arie. Sie gehört mir. Du kannst sie nicht mitnehmen!«, rief sie.
»Sei still, Estra, sei still. Hör mir zu.« Mein Vater hatte die Stimme erhoben, um meine Mutter zu übertönen. Er ließ den Seesack fallen.
Meine Mutter blieb wie angewurzelt stehen. Tränen rannen ihr aus den Augen. Nun regten sich auch die Kanarenpieper, die im langen Dünengras nisteten, und klagten und tschilpten.
»Vader«, sagte ich. »Was soll das heißen? Wohin gehst du?« Die Worte meiner Mutter, so giftig ausgestoßen, verwirrten und beunruhigten mich. Dass er fortgehen wollte, konnte nicht sein. Das würde er niemals tun, mein großer Vater mit den gelben, von der Sonne ausgebleichten Haaren und diesen Augen von der Farbe blassblauen Porzellans. Er würde nur über den goldenen Strand nach Vila Baleira laufen, wie immer.
»Er geht zurück zur See«, schimpfte meine Mutter unter Tränen. »Ich habe es immer gewusst. Ich habe es schon gesehen, als er damals an den Strand gespült wurde. Er würde mich verraten und gehen. Ich habe es gesehen und habe mich trotzdem nicht vor ihm in Acht genommen.«
Ich schaute meine Mutter an, dann ihn. Ich war schon dreizehn, und in den letzten Jahren hatte ich die beiden oft einander anschreien hören. In diesem Moment begriff ich, dass mein Vater tatsächlich gehen würde, und zwar weiter als bis in die Stadt. Trotzdem brachte ich nichts hervor als: »Geh nicht, Vader.«
Er legte seine Hand auf meinen Arm, aber Mama drängte mich beiseite, um ihm ein paar Ohrfeigen zu verpassen. »Dann geh doch, geh zu deinen wundervollen Diamanten, Holländer«, rief sie. »Geh und lass uns hier verhungern.«
Mein Vater ließ die Schläge über sich ergehen, bis sie schließlich aufhörte und erschöpft die Hände sinken ließ.
»Wir haben schon so oft darüber gesprochen, Estra. Ich habe versucht, dir zu erklären, dass …«
»Verstehe«, sagte meine Mutter. »Ein wankelmütiger Bastard bist du. Erst verlässt du das Schiff, und jetzt deine Familie. So möchtest du also in den Augen deiner Tochter dastehen?« Mamas Stimme brach, als sie mit den Händen in meine Richtung fuchtelte.
Dann waren nur noch die Schreie der Möwen zu hören. Meine Hände ballten sich zu Fäusten, und ich presste sie an den Mund. Mein Vater packte mich an den Schultern und schaute mich an. Sein Gesicht war nah und viel zu groß, dann wieder klein und so weit weg wie das weiße Gesicht des Mondes. Mein Magen schmerzte.
»Meijn klein vos«, sagte er. »Mein kleiner Fuchs. Wenn du mitkommen möchtest, nehme ich dich mit. Ich habe extra gewartet, bis du alt genug bist. Ich gehe in die Neue Welt, in die Stadt São Paulo in der Kolonie Brasilien. Du kannst mitkommen oder bei deiner Mutter bleiben. Es ist deine Entscheidung.«
Ich kniff die Augen zusammen. Dann öffnete ich sie wieder und schaute meiner Mutter in das tränenüberströmte Gesicht.
»Verlass mich nicht, Diamantina. Geh nicht fort«, sagte sie. »Du bist alles, was ich habe.« Ihre ungewohnten Tränen bedeuteten vermutlich, dass sie mich liebte. Sie hatte mir das noch nie gesagt, anders als mein Vater, der es mir jeden Abend ins Ohr flüsterte, wenn er die Kerze neben meiner Pritsche ausblies. Jetzt fiel meine Mutter auf die Knie. »Verlass mich nicht, Diamantina«, sagte sie noch einmal. »Es steht nicht im Rauch geschrieben, dass du schon gehst. Und du weißt, dass der Rauch die Wahrheit erzählt.«
Die Möwen waren nun näher gekommen und schrien wie meine Mutter kurz zuvor.
»Was möchtest du, Tochter?«, fragte mein Vater leise, während die winzigen Wellen sanft und stetig ans Ufer schwappten. »Wirst du mitkommen, oder wirst du bei deiner Mutter bleiben?«
Plötzlich hatte ich einen üblen Geschmack in der Kehle, den Geschmack von Fisch, der zu lange im Bratfett gelegen hatte. »Ich weiß nicht, was ich tun soll«, flüsterte ich schließlich.
»Du weißt, was du willst, Diamantina. Wankelmut ist etwas für Faule.«
Ich hob das Kinn. »Ich möchte mit dir mitgehen, aber wie könnte ich Mama alleine lassen?«
Er starrte mich an und presste die Lippen zusammen. Dann sagte er: »Ja, sie braucht dich mehr als ich. Das stimmt. Das stimmt, Diamantina.«
Hatte ich mit meiner Frage eine Entscheidung getroffen? Ich konnte nicht mehr klar denken und schluckte verzweifelt. Als ich endlich wieder reden konnte, sagte ich: »Du wirst aber zurückkommen, nicht wahr? Du wirst zurückkommen.«
Man sah, wie sich die Kehle meines Vaters bewegte. »Ich werde dich wiedersehen, Diamantina«, sagte er schließlich mit einer fremden Stimme. »Ich verspreche dir, dass wir uns wiedersehen. Ich werde dir schreiben, wenn ich in São Paulo ankomme.« Er schaute meine Mutter an. »Geh zur Kirche, wenn du etwas brauchst«, sagte er. »Pater da Chagos wird dir helfen. Ich habe mit ihm gesprochen. Über ihn werde ich euch Nachrichten und Geld zukommen lassen.«
Meine Mutter stieß ein Geräusch aus, als würde sie ertrinken. Hinter ihr ging die Sonne auf, und ich konnte ihr Gesicht nicht mehr erkennen.
Dann nahm mein Vater mich in den Arm. Ich schlang meine Arme um ihn und weinte an seiner Brust. Es klang wie das Klagegeschrei der Möwen in der Luft. Er verströmte den vertrauten Geruch von Salz und Tabak. Dann löste er sich von mir, nahm sein Amulett ab und hängte es mir um den Hals.
Ich schloss die Hand um das gelötete Silber. »Nein, Vader. Wenn du wieder zur See fährst, brauchst du es selbst.«
Er lächelte verhalten. »Die Glückshaube hat mich gerettet, aber das tut sie nur einmal für den Menschen, der sie trägt. Jetzt wird sie dich vor dem Meer beschützen.«
Er warf sich den Seesack über die Schulter, drehte sich um und eilte über den harten, feuchten Morgensand davon.
Als ich ihm hinterherlief, bohrte sich irgendetwas in meine Fußsohle. »Vader«, rief ich, und er drehte sich um. »Doch. Doch, ich möchte mitkommen. Es war falsch, was ich gesagt habe. Nimm mich mit.«
»Du hast deine Entscheidung getroffen, Diamantina. Wenn man erst einmal eine Entscheidung getroffen hat, gibt es kein Zurück mehr. Bleib bei deiner Mutter.«
Ich weinte. Auf einem Bein stand ich da und bohrte den großen Zeh des verletzten Fußes in den Sand, um das Gleichgewicht zu halten. »Bitte, Vader. Bitte.«
Aber er wandte mir wieder den Rücken zu und ging fort, immer weiter und weiter, bis er aussah wie eines dieser Strichmännchen, die ich als kleines Kind in den Sand gemalt hatte: zwei lange dünne Beine, zwei lange dünne Arme, in der Mitte ein Kreis und darüber ein kleineres Oval.
Dreh dich um und winke, dachte ich. Dreh dich um und winke, dann weiß ich, dass du wiederkommst.
Das Bein, das mein Gewicht hielt, zitterte heftig. Irgendwann trug es mich nicht mehr, und als ich hinfiel, war es, als habe der Strand sein großes sandiges Maul aufgerissen und meinen Vater verschluckt.
Er war fort. Er hatte nicht gewinkt.
ZWEI
Ich konnte mich nicht erinnern, wie ich zur Hütte zurückgekommen war, aber irgendwann lagen meine Mutter und ich in ihrem Bett und weinten. Das flirrende Morgenlicht drang durch die Ritzen in den Fensterläden und tat mir in den Augen weh.
Dann muss ich eingeschlafen sein, denn als ich die Augen wieder öffnete, war ich zwar noch leicht verschwitzt, weil der Körper meiner Mutter eine solche Hitze ausstrahlte, aber sie hielt mich nicht mehr umschlungen. Ich setzte mich auf. Sie stöhnte und murmelte etwas in ihrer fremden Sprache, dann drehte sie sich wieder um und starrte an die Wand.
Ich humpelte hinaus, setzte mich auf den flachen Felsen vor unserer Hütte und begutachtete meine Fußsohle. Als ich die klebrige Schicht angetrockneten Bluts direkt unter den Zehen sah, watete ich in die warmen, schwappenden Wellen. Das Salz brannte in der Wunde. Ich beschirmte die Augen und schaute nach Vila Baleira hinüber. Dort musste ich hin und meinen Vater finden, bevor er in die Ferne segelte. Ich hatte einen Fehler gemacht: Ich wollte nicht bei meiner Mutter bleiben.
Mit den pochenden Schmerzen im Fuß konnte ich nicht nach Vila Baleira laufen, also ging ich zu meinem Boot. An Deck lagen zwei Päckchen: fleckiges Leinen, das mit faseriger Schnur umwickelt war. Auf einem stand mit Kohle mein Name geschrieben, auf dem anderen der Name meiner Mutter. Ich schob mein Boot ins Wasser und kletterte hinein.
Wir hatten ein Fischerboot mit einem geflochtenen Fangkorb, der bei der Fahrt hinterhergezogen wurde, aber dies war mein eigenes Boot, das mein Vater für mich gebaut hatte, als ich sechs Jahre alt gewesen war. Es war kleiner und schmaler und hatte Ruder, die auch ein Kind bedienen konnte.
Nachdem er spät an einem Sommerabend die letzten Ritzen geteert hatte, hatten wir im Sand gelegen und in den Himmel hochgeschaut. Damals erzählte er mir, dass er in das Land segeln wolle, das man Brasilien nannte, um dort nach Diamanten zu suchen. »Ein Diamant ist wie ein Stern, hart und glänzend, funkelnd und wunderschön, aber gleichzeitig ist er so klein, dass man ihn in die Hand nehmen kann. Und anders als die Sterne, deren Element die Luft ist, stammen Diamanten aus der Erde. Sie wachsen im Dunkeln, unter dem Erdboden, und warten darauf, dass jemand sie entdeckt, damit sie sich in all ihrer Pracht zeigen können. Deshalb habe ich dir auch deinen Namen gegeben. Du bist mein Diamant. Meine Diamantina.«
Er bog seine schwarzen, klebrigen Hände durch und zeigte mir die Sternbilder. Dabei erzählte er, wie er mit einem Astrolabium die Sonne angepeilt hatte. Ein andermal hatte er eine Karavelle durch die Nacht gesteuert, indem er mit einem Jakobsstab die Sternenhöhe errechnet und seinen Quadranten auf den Polarstern und den Großen Hund ausgerichtet hatte.
»Mein Boot soll Hundsstern heißen«, sagte ich.
»Boote sind weiblich, Diamantina. Du solltest einen Frauennamen für dein Boot suchen.«
»Nein, es soll Hundsstern heißen«, beharrte ich.
Er lachte und sagte: »In Ordnung, mein Schatz.«
Als er am nächsten Tag aus schwerem Stoff, den er zeildoek nannte, ein Segel nähte, erklärte er mir, dass die Hundsstern damit bedeutend schneller und weiter aufs Meer hinausfahren könne. Als würde man mit dem Wind fliegen, so sei das. Bei der Schilderung, wie das Segel flatterte und sich blähte und wie frei man sich auf dem Meer fühlte, bekam sein Gesicht einen wehmütigen Ausdruck. »Das Meer hält Wunder und Schrecken bereit«, sagte er. »Ich liebe das Meer, und ich weiß, dass du es auch liebst, Diamantina«, fügte er hinzu und hielt sein Messer hoch, damit ich mich in der Klinge betrachten konnte. »Aber du liebst auch das Land – schau dir deine Augen an, die beides widerspiegeln. Sie sind nicht grün wie die deiner Mutter und nicht blau wie die meinen. Deine Augen sind mal schiefergrau wie der Basalt der Insel, mal silbrig wie die Fische.«
Ich betrachtete das verzerrte Bild in der großen, glänzenden Klinge: meine Augen, die von dunklen Wimpern eingerahmt wurden, den Schopf der weißblonden Haare, die Haut, die von Sonne und Wind noch dunkler gefärbt wurde. »Mit dem Segel können Mama und du und ich nach Brasilien segeln und wunderschöne Diamanten finden.«
Er senkte das Messer und lächelte. Dann stieß er wieder die Nadel in den dicken Stoff. »Ich werde ein vornehmer Herr mit Weste und Uhrkette sein, Diamantina. Und deine Mutter und du, ihr werdet Schuhe tragen, die auf den Pflastersteinen der Stadt laut klappern. Außerdem werdet ihr Hüte mit Federn aufsetzen und euch Diamantketten um den Hals hängen.«
Ich war zu jung, um zu verstehen, dass Welten zwischen dem Archipel von Madeira und dem neuen Kontinent lagen. Für mich war das einfach eine schöne Geschichte über mein kleines Boot auf dem offenen Meer. Es war unsere Geschichte, und ich liebte sie.
Das Segel war längst zerschlissen, und offenbar hatte es niemand der Mühe für wert befunden, ein neues zu nähen. Als ich älter wurde, fertigte mein Vater längere Ruder für mich an. Die versuchte ich jetzt mühsam durch die Wellen zu ziehen, da ein scharfer Wind aufgekommen war. Die Möwen und Seeschwalben schienen in der Luft zu stehen und kämpften mit ausgebreiteten Flügeln darum, ihren Platz zu behaupten. Mir ging es nicht anders: So kräftig ich auch ruderte, ich kam nicht vom Fleck. Der Wind teilte mir mit, dass ich meinem Vater nicht folgen konnte. Schließlich zog ich die Ruder ein und ließ die Hundsstern auf den Wellen schaukeln. Sicher würde bald eine Karavelle oder eine Brigantine passieren. Vor der Küste von Porto Santo sah man sie regelmäßig, wenn sie aus fernen Ländern wie den Niederlanden oder England kamen, zwischen unseren Inseln hindurchsegelten und Kurs auf die Kanaren nahmen. Von dort fuhren sie zu den Kapverden und dann weiter in südöstlicher Richtung um das Kap der Guten Hoffnung herum nach Macao, Goa oder gleich nach Batavia. Oder in südwestlicher Richtung nach Brasilien. Mein Vater hatte mir von seinen vielen Seereisen gen Osten erzählt. Brasilien hingegen wartete noch auf ihn.
Wenn ich nur lang genug wartete, würde mein Vater auf einem dieser Schiffe vorbeisegeln. Sobald es in Sicht käme, würde ich in der Hundsstern stehen und die Arme über dem Kopf schwenken. Mein Vater würde mich sehen und begreifen, dass er mich nicht verlassen wollte. Er würde über die Reling springen, würde mit ausladenden Bewegungen seiner langen Arme durchs Wasser pflügen und zu mir zurückschwimmen. Ich werde dich wiedersehen, hatte er gesagt. Genau, und zwar jetzt.
Ich saß lange in der Hundsstern, hielt das Amulett meines Vaters umklammert und betrachtete die Päckchen, die er uns hinterlassen hatte. Das schaukelnde Boot trieb derweil zum Strand zurück, Wind und Wasser wurden ruhiger. Kein Schiff segelte vorbei, weder in weiter Ferne noch in der Nähe des Ufers. Mein Fuß tat weh, und ich hatte Hunger, also ruderte ich irgendwann ganz zurück und band das Boot an den Felsen. Ich nahm die Pakete und ging in die Hütte.
Meine Mutter saß am Tisch mitten im Raum und wurde von dem Lichtkegel, der durch die Tür hereinfiel, direkt erfasst. Vor ihr stand ihre Tonschale. Wirbelnder Dampf quoll daraus hervor und sammelte sich dann zu einer dünnen Rauchfahne, die direkt zur niedrigen, rußgeschwärzten Decke aufstieg. Der Geruch von Beifuß war angenehm und tröstlich, aber da war ein dunkler Unterton, den ich nicht zuordnen konnte. Eigentlich hatte ich gedacht, alle Kräuter und Wurzeln zu kennen, die meine Mutter verbrannte.
Trotz des fremdartigen Geruchs war ich froh, sie zu sehen. »Braust du einen Trunk, um ihn zurückzuholen?«, erkundigte ich mich. Sie schaute auf und bleckte die Zähne, und die Sonne schnitt ihr Gesicht in zwei Hälften. Plötzlich war die Frau am Tisch nicht mehr meine Mutter, sondern die Hexe, die alle in ihr sahen. Ihr dickes schwarzes Haar wallte wie Schlangen um ihren Kopf herum, und ihre verengten grünen Augen sprühten Funken. Erschrocken schnappte ich nach Luft, aber das war, als hätte ich den geheimnisvollen schwarzen Qualm in mein Inneres gelassen. Ich legte die Päckchen hin, hielt mir Nase und Mund zu, trat einen Schritt zurück und stellte mich in die Sonne. Sofort veränderte sich das Licht in ihrem Gesicht, und sie war wieder meine Mutter.
»Nein«, sagte sie. »Einen solchen Zaubertrunk gibt es nicht.«
Das Bild von der Hexe war noch zu frisch. Ohne sie anzuschauen, nahm ich die Päckchen und ging zu meiner Pritsche. Meines schnürte ich auf. »Vader hat uns etwas dagelassen.«
Meine Mutter kam und nahm mir das geöffnete Päckchen aus der Hand. »Das ist ja wohl das Mindeste. Hoffentlich sind es genug réis, damit wir eine Weile davon leben können.«
Bücher und Landkarten fielen zu Boden. Ich kniete mich hin und betrachtete sie: Bücher auf Portugiesisch und Niederländisch, ein Atlas der Iberischen Halbinsel, eine Portugal-Karte, eine gebundene Sammlung von Seekarten, Pergamente mit Küstendiagrammen, handschriftliche Navigationshinweise und Beschreibungen der Lage von Häfen.
»Bücher? Bücher und Karten?«, fragte meine Mutter matt.
»Das da ist für dich.« Ich zeigte auf das zweite Päckchen.
Sie öffnete es, und da waren sie, die réis, auf die sie gehofft hatte. Das ganze Geld der Welt schien es zu sein, ein gewaltiger Haufen Silber- und Kupfermünzen. Außerdem enthielt das Päckchen ein Paar Schuhe, wie sie die Damen von Vila Baleira zur Sonntagsmesse trugen: schwarzes Leder mit Silberschnalle und flachem, robustem Absatz. Weder meine Mutter noch ich besaßen Schuhe. Und wir gingen auch nicht zur Nossa Senhora da Piedade, der Kirche am Hauptplatz der Stadt.
In einem der Schuhe steckte ein Zettel. Ich zog ihn heraus. Da meine Mutter nicht lesen konnte, las ich laut vor.
Du hast mir einmal erzählt, Estra, dass du noch nie Schuhe getragen hast.
»Schuhe«, sagte sie schließlich, »Schuhe«, um sie dann in die kalte Feuerstelle zu schleudern. Asche wirbelte auf, als die Schuhe gegen die Steine knallten. Ich hatte noch die Stimme meines Vaters im Ohr, der verkündete, dass meine Mutter und ich einst feine Damen sein würden, die mit ihren Absätzen über das Straßenpflaster klapperten. Nun raffte sie meine Bücher und Karten zusammen, drückte sie an die Brust und trat zur Tür hinaus.
»Mama, bitte. Die gehören mir.« Ich lief hinterher und zog an ihrer Bluse.
Sie hielt die Sachen fest umklammert, ging zum Meer, auf dem die Nachmittagssonne glänzte, und watete bis zu den Waden ins Wasser. »Das ist es, was ich von seinen Hinterlassenschaften halte«, sagte sie und warf ein Buch in die sanften Wellen. »Das und das und das«, wiederholte sie, und bevor ich sie davon abhalten konnte, schwammen sie alle im Meer.
Wütend watete ich hinterher. Ich griff nach einem Buch, das in meiner Nähe trieb, dann nach einer Karte, die sich bereits aufrollte, und drang schließlich weiter ins Meer vor, um noch ein Buch zu erwischen. Drei Bücher konnte ich aus den Fluten retten, ebenso das größte Pergament, während andere einfach davontrieben. Ich watete zurück, warf die Bücher, die Karten und das Küstendiagramm in die Hundsstern und schob das Boot heraus. Meine Mutter kehrte indes zur Hütte zurück.
Ich ruderte zu einer Karte, die aufgerollt dahintrieb, und angelte mit dem Ruder danach. Als sie in Reichweite war, lehnte ich mich so weit wie möglich über den Bootsrand und schloss meine Finger darum. Auf dieselbe Weise konnte ich auch noch zwei Bücher retten. Ein weiteres kleines Buch konnte ich mit meinem Ruder nicht erreichen, also kletterte ich über den Bootsrand, schwamm hin und nahm es zwischen die Zähne. Ich musste daran denken, wie mich mein Vater als kleines Kind ins seichte, warme Wasser mitgenommen hatte. Er hatte mich festgehalten, und mein Rock war um mich herumgewallt, als ich mich mit den Beinen vorwärtsgestoßen, das Gesicht immer wieder ins Wasser getaucht und die Arme in den von meinem Vater verlangten Bögen bewegt hatte.
Als ich wieder ins Boot kletterte, war das letzte Buch bereits davongeschwommen. Ich legte mich hin, zitternd in meinen nassen Sachen, und ließ mich aufs Meer hinaustreiben. Meine Bücher um mich herum verteilt, schloss ich die brennenden Augen und wärmte mich in der Sonne. Ich dachte daran, wie mein Vater mir Lesen und Schreiben beigebracht hatte, erst Niederländisch, dann Portugiesisch. Mit einem angespitzten Stock hatte er in den nassen Sand in der Nähe des Wassers geschrieben. Jeden Tag, wenn ich ihn begleitete, um die Netze einzuholen oder Seevogeleier zu suchen, verbrachte ich viel Zeit damit, mit dem spitzen Stock die Wörter aufzuschreiben, die ich tags zuvor gelernt hatte.
Um dann zuzuschauen, wie sie von einer ruhelosen See wieder fortgespült wurden.
DREI
Als ich meinen Namen hörte, blinzelte ich und setzte mich auf. Offenbar war ich eingeschlafen. Ich hatte geträumt, dass mein Vater zurückgekehrt sei, doch stattdessen war es die Stimme von Marco Perez, unserem Nachbarn, der ein Stück weiter am Strand wohnte. Er hielt sich am Rand der Hundsstern fest. Sein eigenes kleines Boot, in dem auch sein Sohn Abílio saß, schaukelte sanft daneben.
Marco hatte eine breite Brust und einen kräftigen Nacken und war für seine Brutalität bekannt. Seine Frau Lía war manchmal zu meiner Mutter gekommen, um ihre Wunden versorgen zu lassen. Im letzten Jahr war sie gestorben. Abílio war vier Jahr älter als ich. Er war so zart und schlank wie seine Mutter und bewegte sich mit selbstsicherer Anmut. Seine Hände waren flink und ruhelos, sein Lachen ungezwungen. Heute hatte er allerdings ein blutunterlaufenes Auge, und an seinem linken Wangenknochen sah man einen leicht geschwollenen blauen Fleck. Sein Vater hatte ihm als Kind die Nase gebrochen, daher hatte sie einen kleinen Rechtsdrall.
»Was tust du hier, Diamantina?«, fragte Abílio. »Wir haben dein Boot hier draußen treiben sehen und dachten, es habe sich vom Ufer losgerissen.«
Ich setzte mich auf die Bank und griff zu den Rudern. Meine Zähne klapperten, und ich spannte den Kiefer an, aber das machte es nur noch schlimmer.
»Lass uns abhauen«, sagte Marco zu seinem Sohn. »Die kommt schon alleine zum Strand zurück.« Er wollte sich von der Hundsstern abstoßen, aber plötzlich hatte Abílio nach meinem Boot gegriffen.
»Es kommt Wind auf«, sagte er und war schon geschickt in mein Boot gesprungen. Er setzte sich neben mich auf die Bank und nahm mir die Ruder aus der Hand. »Ich bringe dich zurück.«
Sein Vater stieß sich von uns ab. Mühelos wendete Abílio das Boot.
»Ich hätte alleine zurückrudern können«, sagte ich, setzte mich wieder auf den Boden und nahm die durchnässten Bücher und Karten.
Er ruderte weiter. Als wir am Strand waren, sprang er aus dem Boot, zog es auf den Sand und band die Leine der Hundsstern an einen Felsen.
Ich kletterte mit vollbepackten Armen hinaus.
»Was hast du da überhaupt?«, fragte er, trat näher und nahm eines der kleinen, nassen Bücher.
»Die hat mein Vater mir dagelassen«, sagte ich. »Er hat sie mir geschenkt«, korrigierte ich mich, weil ich nicht wollte, dass Abílio – oder sonst jemand – von der Abreise meines Vaters erfuhr.
Abílio wollte das Buch aufschlagen, aber die Seiten klebten zusammen.
Ich trat zu ihm. »Gib her.«
Er wich zurück, lächelte und hielt das Buch mit einer Hand über den Kopf, als sei ich ein kleines Kind.
»Gib mir das zurück, oder …«
»Oder was?«
Ich kniff die Augen zusammen und zischte etwas in der Sprache meiner Mutter – Worte, die für mich keinerlei Sinn ergaben, von denen ich aber wusste, dass sie bedeutsam waren.
Er lächelte immer noch. »Denkst du, ich habe Angst vor deinen Flüchen, kleine bruxa?« Vorsichtshalber bekreuzigte er sich aber.
»Nenn mich nicht Hexe«, sagte ich.
»Dann benimm dich nicht wie eine.« Er warf das Buch in den Sand und starrte mich an. Ich starrte zurück. Er hatte keinerlei Angst vor mir. Den anderen Inselbewohnern war ich eher unheimlich mit meinen hellen Haaren und den sonderbaren Augen, die zwischen Silber und Schiefergrau changierten, je nachdem, ob sich der Himmel oder das Meer darin spiegelte. Mein Vater hatte gesagt, dass in seiner Heimat meine Haarfarbe und meine Statur – ich war größer als sämtliche gleichaltrigen Mädchen auf der Insel – nichts Ungewöhnliches seien. Die Menschen hier hätten wenig von der Welt gesehen. Für sie seien wir einfach nur zwei komische Gestalten mit hellen Augen, ausgebleichten Haaren und dieser Haut, die nur in der Sonne dunkel wurde. Er hatte mir auch geraten, niemandem zu nahe zu treten, indem ich ihn ungebührlich anstarrte. Die Abergläubischen dachten ohnehin schon, dass ich, wie meine Mutter, aus einer anderen Welt kam.
Ich hob mein Buch auf und kehrte Abílio den Rücken. In der Hütte ging ich einfach an meiner Mutter vorbei, die schon wieder vor ihrer rauchenden Schale am Tisch saß. An einer Stelle, die von der Sonne beschienen wurde, breitete ich die Bücher und Karten auf dem Boden aus und beschwerte die geöffneten Seiten mit den schweren Schalen und Tongefäßen meiner Mutter. Die Einbände aus Kalbs- und Ziegenleder hatten sich verzogen, und an den gewellten Seiten würde für immer und ewig der Geruch von Salzwasser und Schimmel haften.
Ich ging zum Kaminsims, nahm die Pfeife und die Schachtel mit den Dominosteinen, die mein Vater selbst gemacht hatte, und trug sie zu meinem Lager. »Die Bücher und Karten und Vaders Sachen gehören jetzt mir«, verkündete ich. »Du kannst sie mir nicht wegnehmen.« Ich war ihr immer noch böse, weil ich mich dafür entschieden hatte, bei ihr zu bleiben.
»Komm her«, sagte sie. Aus der Schale stieg jetzt kein Rauch mehr auf, sondern ein schweres, unbekanntes Aroma. Es war ein trauriger Geruch, der Geruch von Enttäuschung und Verfall, ähnlich dem der staubigen weißen Pilze, die unter der Erde wuchsen. Meine Mutter steckte zwei Finger in die dunkle, rötlich schwarze Mixtur und rieb sie sich auf Stirn, Nasenwurzel und Lippen.
»Dasselbe werde ich jetzt bei dir tun«, sagte sie und nahm die Schale. »Komm.«
»Nein«, sagte ich und stieß ihre Hand vehement beiseite. Die Schale fiel zu Boden und zerbrach.
Meine Mutter schrie auf. Ich dachte, sie ärgere sich wegen der Schale, ihrer Lieblingsschale, in der sie alle ihre Mischungen verbrannte. Aber sie starrte auf meine Füße, auf denen sich die dunkle Substanz verteilt hatte.
Dann fiel sie auf die Knie. »Diamantina«, flüsterte sie mit zitternder Stimme. »Nicht auf die Füße. Der Zauber ist für den Kopf gedacht.« Ihre Hände zitterten genauso wie ihre Stimme. »Du hast ihn verändert. Jetzt ist alles anders.«
Ich trat einen Schritt zurück, verängstigt durch ihre Reaktion. »Was ist anders?«
Langsam erhob sie sich wieder und setzte sich an den Tisch. »Deine Zukunft«, flüsterte sie. »Du hast deine Zukunft verändert.« Als sie aufschaute, war ihr Blick leer, als sei sie in tiefer Trauer. »Der Zauber sollte dich vom Einfluss deines Vaters befreien. Aber jetzt … auf den Füßen … Du wirst dich nie mehr von ihm lösen können. Er wird dich in seinen Klauen halten. Er wird dich auf immer und ewig verfolgen.«
Hölzern stand ich da. »Dein Zauber wäre ohnehin nicht stark genug, um mich von meinem Vater zu trennen. Ich werde immer die Tochter des Niederländers sein. Immer.« Ich ging zur Feuerstelle und nahm die Schuhe, die meine Mutter hineingeworfen hatte. Als ich sie anzog, verteilte ich die Paste weiter auf meinen Füßen. Die Schuhe waren zu weit, und der eine schmerzte an der Stelle, wo ich mich geschnitten hatte. Trotzdem polterte ich durch die Hütte und fixierte meine Mutter, bis sie aufstand und zu mir kam.
Sie verpasste mir eine Ohrfeige. Noch nie hatte sie mich geschlagen. Obwohl meine Wange brannte, rührte ich mich nicht und sagte keinen Ton. Ich schaute sie einfach schweigend an, bis sie sich umdrehte und hinausging.
Nach einer Weile zog ich die unbequemen Schuhe wieder aus. Durch die Reibung des Leders hatten sich bizarre Muster in meinen Fuß geprägt, ähnlich den Spuren der Regenpfeifer, wenn sie durch den Sand laufen. Ich nahm einen Lappen und wollte die Paste abwischen, aber sie haftete. Als ich an dem Lappen roch, wurde mir klar, dass meine Mutter in ihrer Mischung auch das klebrige rote Harz des Drachenbaums mitverbrannt hatte. Normalerweise machte sie einen großen Bogen um den Drachenbaum, weil er angeblich ganz eigene Kräfte besaß und mit größter Vorsicht und äußerstem Respekt zu behandeln war.
In dieser Nacht kam sie nicht wieder. Sie war schon oft tagelang weggeblieben, um auf der Insel nach Kräutern, Wurzeln und Beeren zu suchen. Mir war das immer egal gewesen, ich hatte ja meinen Vater.
Diese Nacht war ich zum ersten Mal allein. Unsere Hütte sah aus wie die anderen am Strand: Die Wände und sogar das Dach bestanden aus Lehm, Sand und der Erde von Porto Santo, und an einer Seite befanden sich ein winziges Waschhaus und die Latrine. Von Weitem verschmolz die Hütte mit der Insel und war in den Dünen gar nicht mehr zu erkennen. Sie stand am äußersten Ende des Südstrands von Porto Santo, an der Landspitze der Ponta da Calheta. Der Strand mündete dort jäh in einen Halbkreis zerklüfteter Felsen, an denen sich die Wellen brachen und weiße Gischt aufspritzen ließen. In dieser Gegend hatte meine Mutter meinen Vater gefunden. Und hier waren einst die Piraten aus Algier gelandet, um Einwohner von Porto Santo zu rauben und als Sklaven zu verkaufen. An einem klaren Tag konnte man von hier die dunstigen Umrisse von Madeira sehen, der größten Insel unseres Archipels.
Unsere Hütte war hell und heiß, wenn Tür und Fensterläden offen standen, und düster und kühl, wenn Licht und Hitze ausgesperrt blieben. Meine Mutter sammelte körbeweise Nadeln von den Kiefern und Tamarisken auf den Hügeln, streute sie auf den kahlen Erdboden und erneuerte sie alle paar Wochen, sodass immer ein frischer erdiger Geruch im Raum hing. Er vermischte sich mit dem bitteren, aber würzigen Aroma des Beifußes und dem Geruch der Gewürze, die an langen Schnüren von der Decke herabhingen. Auf einem langen Tisch an der Wand stand ihre Sammlung von Schalen, Gläsern und Flakons. Sie enthielten knotige braune Wurzeln, leuchtend bunte Hülsen und Blütenblätter und winzige Samen, die darauf warteten, im Steinmörser zerstoßen zu werden. Getrocknete Tangstränge schützten das gemahlene Pulver, das kein Licht vertrug. Immer aber gab es Rosmarin, süßlich-herben Rosmarin. Meine Mutter mischte ein Parfüm daraus und rieb sich Haare und Hals damit ein.
Wenn ich abends einschlief, hatte ich all diese Gerüche, die meine Mutter ins Haus brachte, immer in der Nase. Ich schlief in einem Wald, an einem Strand, auf einer Wiese. Für gewöhnlich flößte mir das ein Gefühl des Friedens ein. Heute Abend aber fand ich keinen Frieden. Ich weinte um meinen Vater, aber ich hatte meine Entscheidung getroffen. Eine einmal getroffene Entscheidung kann man nicht revidieren, hatte er gesagt. Just als die Flamme in der Talglampe erstarb, starrte ich wieder auf die Flecken an meinen Füßen.
Wenn du nicht zu mir zurückkommst, Vader, dann werde ich zu dir kommen. Ich werde dich finden. Ich hatte noch nie gebetet, aber diesen Satz sollte ich für eine lange, lange Zeit jeden Abend vor dem Einschlafen flüstern.