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DAS BUCH

Lucy Brennan ist die härteste Fitnesstrainerin von Miami Beach – und ein Star: Seit sie dabei gefilmt wurde, wie sie per Frontkick einen Amokläufer zur Strecke brachte, kann sie sich vor Aufträgen kaum noch retten. Auch die Planungen für ihre eigene Reality-TV-Show machen Fortschritte. Doch dann meldet sich die unsichere und stark übergewichtige Künstlerin Lena Sorenson zum Personal Training an; eine Frau, die all das verkörpert, was Lucy hasst. Langsam, aber unaufhaltsam gerät ihr erbitterter Kampf gegen die Fettleibigkeit außer Kontrolle …

DER AUTOR

Irvine Welsh, geboren 1958 in Leith bei Edinburgh, schreibt Romane, Kurzgeschichten, Drehbücher und Theaterstücke. Vier seiner Romane wurden verfilmt. Welsh lebt in Chicago.

LIEFERBARE TITEL

Trainspotting

Skagboys

IRVINE WELSH

DAS
SEXLEBEN
SIAMESISCHER
ZWILLINGE

Roman

Aus dem Englischen
von Stephan Glietsch

WILHELM HEYNE VERLAG
MÜNCHEN

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Die Originalausgabe

THE SEX LIVES OF SIAMESE TWINS

erschien 2014 bei Jonathan Cape, London

Unter www.heyne-hardcore.de finden Sie das
komplette Hardcore-Programm, den monatlichen Newsletter
sowie unser halbjährlich erscheinendes CORE-Magazin
mit Themen rund um das Hardcore-Universum.

Weitere News unter facebook.com/heyne.hardcore

Copyright © 2014 by Irvine Welsh

Copyright © 2015 der deutschsprachigen Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München.

Redaktion: Thomas Brill

Umschlaggestaltung: Johannes Wiebel | punchdesign, München,

unter Verwendung einer Abbildung von © shutterstock.com

(SINANIMACION; Studio London)

Satz: Schaber Datentechnik, Wels

ISBN 978-3-641-15460-8
V002

www.heyne-hardcore.de

Für Elizabeth (erneut)

Ich muss ein eigenes System erschaffen
oder werde von dem eines anderen versklavt.

William Blake

Inhalt

Erster Teil     TRANSPLANTATE

1     Leprakolonie

2     Lenas Morgenseiten 1

3     Heldin

4     Kontakt 1

5     Ganzkörpergeschwabbel

6     Kontakt 2

7     Schurkin

8     Kontakt 3

9     Niedlicher geht’s nicht

10  Kontakt 4

11  Dämon

12  Der Mensch der Zukunft – Einführung

13  Kontakt 5

14  Lummus Park

15  Kontakt 6

16  Art Walk

17  Kontakt 7

18  Lenas Morgenseiten 2

19  Arsch-Assassine

20  Der Mensch der Zukunft – Der Prozess

21  Kontakt 8

22  Eine kontrollierte Umgebung

23  Der Mensch der Zukunft – Kritische und kommerzielle Reaktionen auf Lena Sorensons Werk im Vergleich

24  Kontakt 9

25  Heat

26  Kontakt 10

27  Lenas Morgenseiten 3

28  Kontakt 11

Zweiter Teil     GEISELN

29  Kontakt 12

30  Der Barrakuda-Mann

31  Dringende Entscheidungen

32  Kontakt 13

33  Apartment

34  Kontakt 14

35  Ein Institut für Kunst

36  Hunde

37  Kontakt 15

38  Das Päckchen

39  Kontakt 16

40  West Loop Lena

41  Stockholm-Syndrom

42  Matt Flynn

43  Das Wahrheits-und-Versöhnungs-Komitee von Miami Beach

44  Kontakt 17

45  Florida vs. New York

46  Leere Handschellen

47  Kontakt 18

48  Auf die eine oder andere Weise

49  Fressen oder gefressen werden

Dritter Teil     ÜBERGÄNGE

50  Ein gemeinsamer Traum

51  Thanksgiving

52  Kontakt 19

53  Die Razzia

Danksagung

ERSTER TEIL

TRANSPLANTATE

1    Leprakolonie

5-6-7-8, wer wird von uns plattgemacht?

Zahlen sind die große amerikanische Obsession. An welchen Zahlen lassen wir uns messen? Unsere bröckelnde Wirtschaft: an Wachstumsraten, Konsumausgaben, Industrieproduktion, BIP, BSP, dem Dow Jones. Unsere Gesellschaft: an Morden, Vergewaltigungen, Teenagerschwangerschaften, Kinderarmut, illegalen Einwanderern, Drogenabhängigen, registriert oder nicht. Wir als Individuen: an Größe, Gewicht, Hüft-, Taillen-, Brustumfang, BMI.

Doch am meisten Probleme verursacht die Zahl, die mir gerade im Kopf herumspukt: 2.

Der Streit mit Miles (1,86 m, 95 kg) war banal, schon klar. Dennoch besaß er genügend Zündstoff, um mich davon abzuhalten, die Nacht in seiner Wohnung in Midtown (= Geisterstadt) zu verbringen. Der Idiot hatte den ganzen Abend über seine Rückenschmerzen gejammert und sich mit dieser Heulsusen-Nummer um sein eigenes Vergnügen gebracht. Je feuchter seine Augen wurden, desto trockener wurde meine Möse. Während der letzten paar Minuten einer Episode von The Big Bang Theory zischte er mir dann ein »Psssst!« zu – echt jetzt, Alter, im Ernst? Und als Chico, sein Chihuahua, wieder mit diesem nervigen Gekläffe anfing, wollte er ihn partout nicht in ein anderes Zimmer stecken, sondern behauptete steif und fest, das glotzäugige kleine Mistviech würde sich gleich wieder beruhigen.

Tja, leck mich doch.

Als ich mich entschied, ihn zu verlassen, nahm er das nicht so gut auf: machte einen auf schmollendes Kleinkind, mit Schnuteziehen und Pflänzchen-rühr-mich-nicht-an-Pose. Mann, werd gefälligst mal erwachsen! Manche Typen sind einfach nicht cool genug, um angepisst zu sein. Selbst Chico, der dazu überging, mir aufs Knie zu springen, obwohl ich ihn jedes Mal wieder auf den Boden setzte, hat größere Eier.

Also mache ich mich wenige Minuten vor halb vier auf den Rückweg nach South Beach. Bis vor ein paar Stunden war es noch eine laue Nacht, ein tief hängender Mond und Unmengen von Sternen hatten den violetten Himmel mit Lichtsplittern übersät. Doch kaum lasse ich meinen röchelnden 1998er Cadillac DeVille an, den ich von meiner Mom übernommen habe, merke ich, wie das Wetter umschlägt. Ich mache mir keinen Kopf darüber, bis auf Höhe des Julia Tuttle Causeway – aus meinen Boxen scheppert Joan Jetts »I Hate Myself For Loving You« – plötzlich kräftige Windböen frontal gegen den Wagen drücken. Ich drossle das Tempo, weil der Regen auf die Windschutzscheibe prasselt und mich zwingt, durch die hektisch arbeitenden Scheibenwischer zu blinzeln.

Gerade als der Wolkenbruch überraschend nachlässt und die Tachonadel wieder Richtung fünfzig klettert, tauchen zwei Männer aus der jetzt sternenlosen, tiefschwarzen Dunkelheit auf, rennen mitten auf dem fast verlassenen Causeway auf mich zu und wedeln dabei mit den Armen. Die irren Augen des vorderen blitzen im weißen Schein der Straßenlaternen. Zuerst halte ich es für einen Scherz: besoffene Verbindungsstudenten oder durchgeknallte Drogenfreaks bei einer kranken Mutprobe. Doch dann, mit einem lautlosen Fluch auf den Lippen, kommt mir die Erkenntnis, dass es sich dabei um einen ausgeklügelten Raubüberfall handeln könnte, und ich sage mir: Halt jetzt nicht an, Lucy, sollen diese Arschlöcher doch zur Seite springen. Aber sie tun einen Teufel, und ich steige voll in die Eisen. Der Wagen gerät quietschend ins Schleudern, und ich klammere mich am Lenkrad fest. Es fühlt sich an, als würde ein Riese versuchen, es meinem Griff zu entreißen. Ein dumpfer Knall ertönt, gefolgt von einem rumpelnden Geräusch, und ich sehe, wie einer der Männer über meine Motorhaube stürzt. Weil der Motor aussetzt, kommt der Wagen abrupt zum Stehen. Ich werde zurück in den Sitz geworfen und die CD wird exakt in dem Moment abgewürgt, als Joan gerade loslegt, im Refrain alles in Grund und Boden zu rocken. Ich schaue mich um und versuche, aus der Situation schlau zu werden. Auf der Spur neben mir kann ein anderer Fahrer nicht so schnell reagieren: Der zweite Mann wird in die Luft katapultiert, dreht sich dort wie eine verrückte Ballerina und überschlägt sich mehrfach auf dem Highway. Der Fahrer macht keinerlei Anstalten zu halten, sondern rast unbeirrt weiter in die Nacht.

Dem seligen Arschloch unseres lieben Jesuskindes sei Dank, dass sonst niemand hinter uns ist.

Diese Typen sind keine Autodiebe, die haben weder genug Mumm noch genug Schiss für so ’ne Nummer. Der Kerl, den der andere Wagen angefahren hat, ein kleiner, bulliger Latino, kommt wie durch ein Wunder wieder auf die Beine. Die nackte Angst sickert ihm aus jeder Pore und scheint jeglichen Schmerz zu überlagern, den er empfinden müsste. Er vergeudet keinen Blick an den Arsch, der über mein Auto geflogen ist, sondern starrt panisch über seine Schulter in die trübe Nacht, während er sich weiterschleppt. Im Rückspiegel sehe ich den Kerl, den ich umgenietet habe. Auch er ist wieder auf den Beinen: Das blonde Haar in langen Strähnen mit Gel zurückgekämmt, hoppelt er wie eine halb verkrüppelte Spinne eilig auf die Büsche des Mittelstreifens zu, der die Fahrspuren Richtung Downtown von denen Richtung Küste trennt. Dann sehe ich, dass der Latino kehrtgemacht hat und auf mich zugehumpelt kommt. Er hämmert gegen mein Fenster, schreit: — Hilf mir!

Ich bin in meinem Sitz erstarrt, den verbrannten Geruch von Bremsklötzen und Gummi in der Nase, und habe keine Ahnung, was ich machen soll. Plötzlich kommt ein dritter Mann aus der Dunkelheit und mit zügigen Schritten über den Highway auf uns zu. Der Schock des Latinos hat offenbar nachgelassen, denn er stößt einen jähen Schmerzensschrei aus, bevor er weiter am Auto entlanghumpelt und sich neben das hintere Seitenfenster kauert.

Ich öffne die Tür und steige aus, stehe mit wackeligen Beinen auf der Fahrbahn, mein Magen dumpf und leer, als ein Knall ertönt und etwas an meinem linken Ohr vorbeipfeift. Seltsam entrückt, als wäre ich gar nicht selbst betroffen, wird mir klar, dass es ein Schuss ist. Darauf komme ich, weil der dritte Mann, der sich aus dem scheckigen Dunkel schält, mit einem Gegenstand in seiner Hand auf mein Auto zeigt. Es muss eine Pistole sein. Er ist jetzt fast neben mir, alles um mich herum gefriert zum Standbild, ich kann die Waffe nun deutlich erkennen. So endet es also, denke ich, während ich spüre, wie sich in einem urtümlichen Flehen um Gnade meine Augenlider heben. Doch der Schütze geht an mir vorbei, als wäre ich unsichtbar, dabei bin ich ihm nah genug, um ihn zu berühren, um sein glasiges kleines Frettchen-Auge im Profil zu sehen und sogar einen Hauch seines muffigen Körpergeruchs wahrzunehmen. Aber der Mann hat bloß sein kauerndes Opfer im Sinn. — BITTE! BITTE!NICHT …, bettelt der Latino neben meinem Auto hockend, die Augen geschlossen, den Kopf gesenkt, eine Handfläche zur Abwehr ausgestreckt.

Ganz langsam senkt der Schütze den Arm mit der Waffe, bis sie auf sein Opfer gerichtet ist. Von irgendeinem Instinkt getrieben, mache ich einen Satz, ziehe das Knie hoch und ramme dem Arschloch meinen Fuß direkt zwischen die Schulterblätter. Der dürre, schäbig aussehende Kerl stürzt mit dem Gesicht voran auf den Asphalt und verliert seine Waffe. Der Latino glotzt perplex und krabbelt dann auf die Pistole zu. Ich bin vor ihm da und befördere sie mit einem Tritt unter den Caddy. Den Mund zu einem O geöffnet, schaut er mich eine Sekunde lang an, bevor er aufsteht und eilig davonhumpelt. Ich werfe mich mit meinem ganzen Gewicht auf den Schützen, schürfe mit den nackten Knien über die Fahrbahndecke des verlassenen Highways, hocke mich rittlings auf ihn und lege beide Hände um seinen dürren Nacken. Er ist nicht kräftig (weiß, 1,65 m, 55 kg), aber er versucht noch nicht einmal, sich zu wehren, als ich ihn anbrülle: — DU DÄMLICHES ARSCHLOCH, WAS SOLL DER SCHEISS?

Ein paar heisere Baby-Schluchzer und dazwischen wehleidiges Gestammel: — Du verstehst das nicht … niemand versteht das … Ein weiteres Auto kommt herangeschlichen, beschleunigt und rast davon. Ich habe so eine Ahnung, dass der nächste Haufen Scheiße bereits auf mich herabsegelt. Ich blicke kurz auf und sehe, wie der Latino in Richtung der Büsche auf dem Mittelstreifen flieht, seinem weißen Compadre hinterher. Was für ein Glück, dass ich Turnschuhe anhabe, schießt es mir durch den Kopf, da ich eigentlich die Gladiator-Pumps favorisiert hatte, passend zu dem kurzen Jeansrock und der Bluse, mit denen ich Miles’ Schwanz in Stimmung bringen und ihn seinen Rücken vergessen machen wollte. Angesichts des hochgerutschten Rocks bin ich verdammt froh, an ein Höschen gedacht zu haben.

Wie aus dem Nichts quiekt mir eine hysterische Stimme ins Ohr: — Ich hab alles mit angesehen. Du bist eine Heldin! Ich habe den Notruf gewählt! Ich habe die Polizei informiert! Ich habe alles mit meinem iPhone gefilmt! Als Beweis!

Ich hebe den Blick und sehe eine kleine, dicke Tussi. Ein dichter, schwarzer Pony hängt ihr bis über die Augen. Sie ist 1,59 m, vielleicht 1,60 m groß und um die 100 kg schwer. Wie bei allen Übergewichtigen lässt sich ihr Alter nur schätzen, aber ich würde auf Ende zwanzig tippen.

— Ich hab die Polizei gerufen, wiederholt sie und wedelt mit ihrem Handy vor meiner Nase herum. — Hier ist alles drauf! Ich parke da drüben.

Ich drehe den Kopf in die Richtung, in die sie zeigt, und sehe ihr Auto im Licht der Straßenlaternen am äußersten Rand der Standspur stehen, schon fast im dichten Gestrüpp des Grünstreifens, dessen Büsche und Bäume Brücke und Bucht voneinander trennen. Sie mustert die zerschundene, bäuchlings unter mir ausgestreckte Gestalt und meine Schenkel, die den Hänfling in die Zange nehmen. Seine schmächtigen Schultern beben jetzt unter krampfartigen Schluchzern. — Weint der etwa? Weinen Sie, Mister?

— Das wird er gleich, knurre ich, als ein Polizeiwagen mit Sirenengeheul quietschend zum Stehen kommt und uns in flackerndes blaues und rotes Licht taucht. Mit einem Mal werde ich mir des widerlichen Uringestanks bewusst, der von dem Kerl unter mir ausgeht und die schwüle Luft verpestet.

— Igitt …, trötet die fette Schnepfe geistlos und rümpft die Nase. Es stinkt wie die abgestandene Säuferpisse eines Penners, der tagelang billigen Fusel gesoffen hat. Aber selbst als die warme Nässe über den Asphalt läuft und gegen meine aufgeschürften Knie schwappt, lockert sich der Griff meiner Schenkel um diesen winselnden Wichser keinen Millimeter. Der grelle Lichtstrahl einer Taschenlampe blendet mich, und eine herrische Stimme befiehlt mir, langsam aufzustehen. Ich blinzle und sehe, wie die fette Schnepfe von einem Cop weggezerrt wird. Ich versuche, dem Befehl Folge zu leisten, aber mein Körper fühlt sich an, als wäre er auf diesem pissenden Wicht eingerastet. Außerdem werde ich mir gerade der Tatsache bewusst, dass ich, umringt von Cops, im Minirock und mit gespreizten Beinen mitten auf dem Highway auf einem urinierenden Fremden knie und die Autos an mir vorbeizischen. Während noch immer das erstickte Heulen des Klappergestells am Boden zu hören ist, werde ich von zwei groben Händen gepackt. Ein zu kurz geratenes Latina-Mannweib in Uniform schiebt ihre fummelnden Griffel unter meine Achseln, zerrt an mir herum und keift mir barsch ins Gesicht: — Treten Sie jetzt gefälligst beiseite!

Als ich aufstehe, trample ich über den auf der Fahrbahn liegenden Typen hinweg. Das ist so verdammt peinlich. Meine Freundin Grace Carillo ist Cop in Miami. Ich könnte ja ihren Namen erwähnen, aber ich will nicht, dass sie oder sonst jemand, den ich kenne, mich so sieht. Mein knallenger, superkurzer Jeansrock ist so weit hochgerutscht, dass er nun wie ein dicker, zusammengerollter Gürtel um meine Taille liegt und meine Unterwäsche zu sehen ist. Jeansstoff rutscht nicht von allein wieder an seinen Platz, und weil die Bullenschlampe mich einfach nicht loslässt, kann ich meinen Rock nicht zurechtrücken. — Ich muss meinen Rock runterziehen, rufe ich.

— Treten Sie zur Seite!, brüllt die Schlampe mich abermals an. Ich blicke in die erstarrten, wächsernen Gesichter der Cops, die mich im Licht der Straßenlaternen inspizieren, als ich von dem hosenpissenden Wichser zurücktrete.

Endlich gelingt es mir, den Rock runterzuziehen und glatt zu streichen. Ich verspüre das Bedürfnis, der Schlampe ein zweites Arschloch zu verpassen, bevor ich mich an Grace’ Mahnung erinnere, dass es niemals klug ist, sich mit einem Cop des Miami-Dade Police Department anzulegen. Diese Typen werden geschult, davon auszugehen, dass jeder eine Schusswaffe bei sich trägt. Die beiden anderen Cops, zwei Männer, einer schwarz, einer weiß, legen dem schluchzenden Schützen Handschellen an und zerren ihn auf die Beine. Sein Gesicht ist blass, der Blick seiner tränennassen Augen zu Boden gerichtet. Ich erkenne, dass er noch ein halbes Kind ist, höchstens Anfang zwanzig. Was zum Teufel hat er sich dabei gedacht?

— Diese Frau ist eine Heldin, höre ich die aufgeschwemmte Tussi mit überdrehtem Quieken bekunden. — Sie hat den Kerl da entwaffnet. Anklagend zeigt sie auf den Jungen in Handschellen, der sich vom eiskalten Killer in ein bemitleidenswertes Würstchen mit einem großen feuchten Fleck im Schritt verwandelt hat. Ich fühle die eklige Nässe auf meinen zerschrammten Knien. — Er hat auf diese zwei Männer geschossen, fügt die Tussi hinzu und zeigt hinüber zum Rand der Brücke.

Die zwei Krüppel stehen jetzt nebeneinander und beobachten das Geschehen. Der Latino will sich offenbar verkrümeln, während der weiße Kerl die Augen mit der Hand vor dem grellen Licht der Straßenlaterne abschirmt. Zwei Cops gehen zu ihnen hinüber. Die fette, kleine Trulla redet immer noch ohne Luft zu holen auf die Latina-Polizistin ein. — Sie hat ihm die Knarre weggenommen und sie unter das Auto getreten, ihr pummeliger Finger zeigt auf die Stelle. Sie streicht sich den verschwitzten Pony aus den Augen und schwenkt das Telefon in der anderen Hand. — Ist alles hier drauf!

— Was hat Sie denn veranlasst, da drüben zu halten?, fragt der schwarze Cop, während ich mitbekomme, wie der andere, ein Weißer, meinen Cadillac mustert und dann irritiert zu mir hinübersieht.

— Mir ist beim Fahren schlecht geworden, erklärt die Dicke, — ich musste rechts ranfahren. Schätze, ich hab was Falsches gegessen. Aber ich hab alles gesehen. Sie spielt den Cops das Video auf ihrem iPhone vor. — Ein anderes Auto hat einen der Männer da angefahren, aber der Fahrer hat nicht einmal gehalten!

Obwohl der Trommelschlag meines Herzens lauter hämmert als nach dem Cardio-Training, komme ich nicht umhin festzustellen, dass die Haut dieser Frau im pulsierenden roten Licht des Polizeiwagens beinahe exakt den Farbton des grauenhaften pinkfarbenen T-Shirts trifft, das sie zu ihrer sackartigen Jeans trägt.

— Ehrlich, er hat einfach auf uns gefeuert. Der weiße Kerl mit dem zerschmetterten Bein hat sich zurück über die Straße geschleppt. Flankiert von einem Cop und das faltige Ledergesicht vor Schmerz verzerrt, zeigt er auf diesen miesen Arsch von Killer, der gerade auf den Rücksitz eines Streifenwagens gestoßen wird. — Diese Lady hat mir das Leben gerettet!

Meine Hände zittern. Ich wünsche mir inständig, ich wäre bei Miles geblieben. Sogar dieser rückenkranke Schlappschwanz wäre besser gewesen, als in dieser Scheiße zu stecken. Die bullige Beamtin, die mich jetzt zu einem anderen Streifenwagen eskortiert, hat so einen starken Latino-Akzent, dass ich sie kaum verstehe, als sie beruhigend auf mich einredet. Offenbar wollen sie den Cadillac mitnehmen. Ich murmle, dass die Schlüssel vermutlich noch im Zündschloss stecken und meine Freundin Grace Carillo beim Miami-Dade Police Department in Hialeah arbeitet. Unser Wagen fährt los. Die fette Schnepfe quasselt wie ein Wasserfall, reckt ihren wabbeligen Hals hin und her und redet mit einem breiten Akzent, der verdammt nach Mittlerem Westen klingt, auf mich und die Kampflesbe in Uniform ein. — Das war das Mutigste, was ich je erlebt habe!

Ich fühle mich kein bisschen mutig. Ich zittere, denke: Was zum Teufel hat mich nur geritten, die Autotür zu öffnen?, und bin dann eine kleine Weile weggetreten, mit den Gedanken woanders oder was auch immer. Als mir bewusst wird, wo wir sind, biegen wir gerade in die Tiefgarage der Polizeistation von Miami Beach Ecke Washington und 11th Street ein. Ein Kamerateam der Lokalnachrichten ist bereits dort und macht uns Platz, während wir den Schlagbaum passieren. — Diese Arschlöcher werden auch immer schneller, sagt die lesbische Latina am Steuer, aber mehr so als bloße Beobachtung, nicht wirklich verärgert. Wie aufs Stichwort habe ich, kaum dass ich das Gesicht zum Seitenfenster drehe, ein Kameraobjektiv vor der Nase. Die fette Tussi in Pink – ihre glasigen Augen flitzen hektisch zwischen mir und dem Reporter hin und her – brüllt fast schon vorwurfsvoll: — Sie war’s! Sie war’s! Sie ist eine Heldin! Und mein Spiegelbild, das mir aus der Kameralinse entgegenblickt, sagt mir, dass ich gerade ziemlich baff aus der Wäsche glotze.

Mir wird klar, dass es allmählich Zeit ist, mich am Riemen zu reißen. Und als Schweinchen Pinkie zum x-ten Mal in diesem einfältigen, euphorischen Ton sagt: — Wahnsinn, du bist echt eine richtige Heldin, fühle ich, wie ein kleines Lächeln meine Lippen umspielt, und ich denke mir: Scheiße, Mann, vielleicht bin ich das ja wirklich.

2    Lenas Morgenseiten 1

Ich probiere alles mal aus, habe ich zu Kim gesagt, als sie mir erzählte, dass es ihr total viel bringen würde, diese sogenannten Morgenseiten zu schreiben. Dabei assoziiert man einfach frei und notiert, was einem so durch den Kopf schwirrt. Tja, letzte Nacht hab ich ausnahmsweise richtig was erlebt. Also lege ich doch einfach mal los:

Ich hatte auf dem Seitenstreifen des Causeway gehalten, bin raus aus dem Auto, in die stickige, regennasse Luft, stützte mich mit beiden Händen auf die Leitplanke, blickte hinaus über die Biscayne Bay und starrte auf das schwarze, aufgewühlte Wasser. Dann hörte der heftige Regen schlagartig auf, und im selben Augenblick durchschnitt wütendes Hupen die Nacht, gefolgt vom lauten Quietschen von Bremsen. Dann tauchten sie aus der Dunkelheit auf. Die Autos. Die Männer. Und sie. Gebrüll, Schreie, dann ein schrilles Pfeifen, das, wie ich von den Jagdausflügen mit meinem Vater wusste, ein Schuss war. Ich hätte sofort zurück ins Auto steigen und abhauen sollen, aber aus irgendeinem Grund, den ich mir selbst immer noch genauso wenig erklären kann wie diesen verdammt hartnäckigen Polizisten, tat ich es nicht. Stattdessen wagte ich mich ein paar Schritte auf die Straße hinaus und begann, mit meinem iPhone zu filmen. Ich bin nicht blöd. Das habe ich auch den Polizeibeamten gesagt. Denn so abschätzig, wie die mich ansahen, war klar, dass sie mich nicht ernst nahmen. War vermutlich meine eigene Schuld. Ich wollte die Situation erklären, war aber so aufgeregt, dass ich aus lauter Unsicherheit und Nervosität viel zu viel geredet habe. – Das ist sie, rief ich und zeigte auf das Mädchen, die Frau, die gerade den Schützen überwältigt hatte.

Dann zeigte ich ihnen das Handy. Zuerst, als sie den Schützen zu Boden trat, war das Bild sehr dunkel, aber es wurde besser, als ich näher heranging. Sie kniete auf ihm und hielt ihn fest.

Es war offensichtlich, dass selbst die Polizeibeamten voller Bewunderung für diese Lucy Brennan waren, nachdem sie meinen Film gesehen hatten. Sie machte aber auch eine super Figur: In ihr langes braunes Haar hatte die Sonne Floridas honigfarbene Strähnchen gemalt. Ihre dichten Augenbrauen betonten die großen, stechenden, mandelförmigen Augen, und sie hatte eine scharf definierte, trapezförmige Kieferpartie. Im Kontrast zu dieser amazonenhaften Härte stand ihre zierliche Stupsnase, die ihr eine verblüffende Niedlichkeit verlieh. Sie trug einen kurzen Jeansrock, eine weiße Bluse und weiße Ballerina-Sneakers. Eines ihrer Knie war aufgeschürft, was wahrscheinlich passiert ist, als sie den Schützen zwischen ihren wohlgeformten, muskulösen Schenkeln am Boden gehalten hatte.

Sie nahmen uns alle (mich im selben Wagen wie die Heldin, den Täter und sein Opfer in einem anderen) nach South Beach auf die Wache mit. Dann trennten sie mich von Lucy Brennan. Ich wurde in einen Verhörraum mit nackten grauen Wänden geführt, in dem es bloß einen Tisch, mehrere harte Stühle und eine schmerzhaft grelle Beleuchtung gab. Sie schalteten ein Aufnahmegerät ein und stellten mir alle möglichen Fragen. Immer wieder löcherten sie mich: Wohin ich unterwegs war? Wo ich zuvor gewesen bin?

Als hätte ich etwas verbrochen, nur weil ich auf der Brücke angehalten habe und aus dem Auto gestiegen bin, um frische Luft zu schnappen!

Was soll man da sagen? Ich habe ihnen die simple Wahrheit erzählt: dass ich schlecht drauf war wegen der E-Mail von meiner Mom, durch den Wind wegen der Sache mit Jerry, frustriert von meiner Arbeit, und dass ich ein schlechtes Gewissen wegen der Tiere hatte, weil ich ihre Knochen verarbeite. Dass es mir einfach richtig beschissen ging. Ich spürte eine Migräne kommen, also hielt ich an – bloß um Luft zu schnappen, sonst nichts. Sie hörten zu, dann fragte eine Polizistin, die Latina, die als Erste vor Ort gewesen war, mich erneut: – Was passierte als Nächstes, Ms. Sorenson?

– Das ist alles auf dem Handy zu sehen, sagte ich ihr. Ich hatte ihnen das Video bereits weitergeleitet.

– Wir müssen es auch in Ihren eigenen Worten hören, erklärte sie.

Also kaute ich alles noch einmal durch.

Lucy Brennan. Im Warteraum der Wache erzählte sie mir, dass sie Trainerin ist, also Fitnesstrainerin. Was Sinn ergibt: Sie strotzte vor Gesundheit, Kraft und Selbstbewusstsein. Ihre Haut schimmerte, ihr Haar glänzte, und ihre Augen strahlten.

Und so erschöpft ich auch war, versetzte mich ihre bloße Gegenwart in fiebrige Aufregung. Denn ich spürte, dass jemand wie Lucy mir helfen konnte. Als die Polizei mit mir fertig war und sie mir eine Pfandmarke für die Schlüssel meines Wagens in der Tiefgarage gegeben hatten (sie bestanden darauf, dass ich ihn nicht selbst nach Hause fahren konnte), blieb ich noch ein wenig und hielt nach ihr Ausschau, doch sie war schon weg. Ich fragte einen Polizisten am Empfang, ob ich wohl irgendwie mit ihr in Kontakt treten könnte. Er blickte mich bloß streng an und sagte: – Das ist keine gute Idee.

Ich fühlte mich wie ein getadeltes Kind. Als der Kerl von den Lokalnachrichten mich vor der Tür sehr nett und höflich ansprach, gab ich ihm also gerne ein Interview und schickte ihm mein Handy-Video.

Das sind also meine Morgenseiten. Ich schreibe eine E-Mail an Kim, in der ich ihr dasselbe berichte, aber nicht an Mom, denn sie und Dad machen sich schon genug Sorgen, weil ich in Miami bin. Als ich zu Hause ankam, war ich – obwohl fix und fertig – immer noch ganz aufgekratzt. Also ging ich ins Arbeitszimmer und machte eine Zeichnung. Ich bin kein Porträtzeichner, aber ich musste einfach versuchen, Lucys goldbraune Mähne festzuhalten. Ich kann an nichts anderes mehr denken, als zum Telefon zu greifen und sie anzurufen.

Aber wie zum Teufel stelle ich das an?