DONNA GRANT
DUNKLE FLAMMEN
Roman
WILHELM HEYNE VERLAG
MÜNCHEN
Das Buch
Verborgen im üppigen Grün der schottischen Highlands leben die letzten Drachenkönige: mächtige Krieger, die in der Lage sind ihre Gestalt zu wechseln. Ihre Aufgabe ist es, die Menschen vor den Feen und ihren dunklen Kräften zu beschützen. Doch inzwischen glauben die Menschen nicht mehr an Magie, und die Drachenkönige haben sich von ihnen abgewandt. Einer von ihnen ist Kellan, der die letzten 1200 Jahre in seiner Höhle geschlafen hat – bis er eines Tages von der schönsten Frau, die er in seinem unsterblichen Leben je gesehen hat, geweckt wird …
Denae Lacroix ist die beste Agentin des britischen Geheimdienstes, und sie hat einen Auftrag: das Gelände der offensichtlich gefährlichen Firma Draegan Industries in den schottischen Highlands auszuspionieren. Doch Denaes Mission läuft schief, und plötzlich findet sie sich in der Gewalt des atemberaubend attraktiven Kellan wieder. Obwohl Kellan und Denae wissen, dass sie einander nicht trauen sollten, können sie der unwiderstehlichen Anziehungskraft, die sie aufeinander ausüben, nicht widerstehen. Die Stunden des Glücks und der Leidenschaft sind allerdings nur von kurzer Dauer, denn schon bald fallen sie den Feinden der Drachenkönige in die Hände: den Dunklen Feen …
Die Autorin
Donna Grant wurde in Texas geboren und ist dort auch aufgewachsen. Ihre Leidenschaft fürs Reisen führte sie jedoch auch nach Mexico, Jamaika und Schottland. Ihre zweite große Leidenschaft ist das Schreiben übernatürlicher Liebesgeschichten, mit denen sie regelmäßig eine Platzierung auf den amerikanischen Bestsellerlisten schafft. Die Autorin lebt mit ihrer Familie in Texas.
Mehr über Autorin und Werk erfahren Sie auf:
www.donnagrant.com
Titel der amerikanischen Originalausgabe
DARKEST FLAME
Deutsche Übersetzung von Ingrid Klein
Deutsche Erstausgabe 08/2015
Redaktion: Uta Dahnke
Copyright © 2014 by Donna Grant
Copyright © 2015 der deutschsprachigen Ausgabe by
Wilhelm Heyne Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München, unter Verwendung von shutterstock/Rynio Productions
Satz: Christine Roithner Verlagsservice, Breitenaich
ISBN: 978-3-641-15683-1
www.heyne.de
Für Mom.
Weil es eine Freude ist,
Deine Tochter zu sein!
1
Dreagan Land
20. April
Die Nacht war dunkel und still, als Denae zu einer Eiche schlich und darauf wartete, dass ihr Kollege Matt zu ihr aufschloss. Vor zwei Nächten waren sie im Schutz der Dunkelheit von einem langsam fahrenden Lieferwagen gesprungen.
Während sie nur ihr Messer hatte – und zwei weitere, von denen keiner etwas ahnte –, war Matt mit einer Glock ausgestattet worden. Er hatte versucht, sie vor ihr zu verbergen, aber Denae hatte sie trotzdem bemerkt.
Eine Eule rief in der Nähe, und Grillen zirpten laut in der Stille. Der Wind, der durch die Zweige der Bäume fuhr, brachte die Blätter zum Rascheln. Der Mond spielte Haschmich mit dichten Wolken, die wie dunkle Riesen rasch über den Himmel zogen.
Eine perfekte Nacht zum Spionieren.
»Worauf wartest du?«, flüsterte Matt gereizt, als er sie überholte und die Führung übernahm.
Denae rückte ihren Rucksack zurecht und musterte Matt durch ihre Nachtsichtbrille. Er war ein wirklich unglaubliches Arschloch. Nicht ein einziges Mal während ihrer Zeit beim MI5 hatte sie Befehle in Frage gestellt. Aber genau das tat sie in diesem Augenblick.
Der MI5 hatte die Aufgabe, Großbritannien, seine Bürger und Interessen zu schützen, sowohl innerhalb des Landes als auch in Übersee, wenn die nationale Sicherheit bedroht war. Denae hatte Erkundigungen eingezogen über Dreagan Industries, wie sie es gewohnheitsmäßig bei jedem Auftrag machte, den sie erhielt. Dreagan stellte Whisky her, seit Aufzeichnungen darüber existierten, und außer der Tatsache, dass die Akte äußerst dünn war, gab es absolut nichts über Dreagan, was den MI5 hätte veranlassen müssen, das Unternehmen unter die Lupe zu nehmen.
Dennoch war sie hier.
Aufgrund ihres fotografischen Gedächtnisses machte es Sinn, dass man sie zusammen mit Matt schickte, aber … da steckte noch mehr dahinter. Spione vertrauten selten irgendjemandem – schon gar nicht anderen Spionen.
Es gab Lager innerhalb einiger Abteilungen des MI5, geheime Unterabteilungen, jedenfalls so geheim, wie es eben möglich war in einem Gebäude voller Schnüffler. Aber das war nicht das Beunruhigende. Das Beunruhigende war die Tatsache, dass es darüber hinaus noch eine mysteriöse Abteilung für Geheimoperationen gab, von der sie bisher nur gerüchteweise gehört hatte, nachdem ihr diese Mission übertragen worden war. Und dieses Gerücht bereitete ihr Kopfzerbrechen.
Denae war misstrauisch geworden, sobald sie erfahren hatte, dass genau diese streng geheime Unterabteilung den Befehl erteilt hatte, Dreagan zu infiltrieren. Und sie war noch misstrauischer geworden, als sie zwei Wanzen in ihrer Wohnung und einen Peilsender an ihrem Auto entdeckt hatte.
Doch es war unmöglich gewesen, den Auftrag abzulehnen. Also war sie hier, mitten in der Nacht, mit einem Kollegen, den sie nicht ausstehen konnte.
Geduckt folgte Denae Matt durch das dichte Farngestrüpp. Seit sie die Grenze zum Gelände von Dreagan überschritten hatten, spürte sie ein merkwürdiges Kribbeln im Nacken. Beinahe so, als hätten sie mehr als nur das Gesetz gebrochen, indem sie hier eingedrungen waren.
Und das war der Grund dafür, dass sie nervös und angespannt war.
Keine gute Kombination in Verbindung mit ihrem Misstrauen Matt dem Arschloch gegenüber – und ihrer Abneigung gegen ihn.
Es hatte Folgen, wenn man Gesetze brach. Was würde es sie kosten, wenn man sie schnappte? Allerdings waren sie MI5-Agenten. Sie ließen sich nicht schnappen.
Ihr und Matt blieben ein paar Stunden, um zu dem markierten Punkt auf dem GPS, mit dem sie ausgestattet waren, zu gelangen. In zwei Tagen hatten sie knapp über zwanzigtausend Morgen Land durchquert. Sie bewegten sich schnell und leise und rasteten selten.
»Wie nahe, Lacroix?«, fragte Matt, sobald sie zu ihm aufgeschlossen hatte.
Er wartete nicht auf ihre Antwort, ehe er zum nächsten Baum eilte. Denae folgte ihm. Matt hatte sich nie sonderlich erwärmen können für sie, und obgleich sie früher schon mit ihm zusammengearbeitet hatte, ohne dass es Zwischenfälle gegeben hatte, war er nicht glücklich gewesen, dass sie für diese Mission ausgewählt worden war.
Matt hatte sein Missfallen laut und deutlich geäußert vor der gesamten Abteilung. Denae hatte nach außen hin so getan, als hätte es ihr nichts ausgemacht. Was ihr jedoch etwas ausgemacht hatte, war die Tatsache, dass nur sie beide losgeschickt wurden. Weitere Teams hätten zu verschiedenen Punkten von Dreagan geschickt werden müssen, um sicherzustellen, dass nichts übersehen wurde. Es waren so viele Fehler gemacht worden, dass sie sich einfach fragen musste, warum Dreagan ein Ziel für den MI5 war.
Ihre Besorgnis war zunehmend größer geworden. Vage Bemerkungen wie »Du wirst wissen, wonach wir suchen, sobald du es siehst«, in Verbindung mit der mysteriösen Abteilung, die den Befehl erteilt hatte, plus den mangelnden Beweisen, dass irgendjemand bei Dreagan irgendetwas Verbotenes tat, führten dazu, dass sie besorgt und angespannt war.
Denae unterdrückte ein Knurren, als Matt sie unsanft anstieß. Sie sah ihn finster an. »Drei Meilen«, fauchte sie ihn an.
Matt war der Goldjunge des MI5. Sie hatte sich ihre Position durch jahrelange harte Arbeit verdient, aber Matt war in der Hierarchie mühelos aufgestiegen – zu mühelos. Ihre Verärgerung hatte auch mit der Tatsache zu tun, dass Matt noch zusätzliche Befehle bekommen hatte außer denen, die ihnen beiden erteilt worden waren. Und das alles bedrückte sie sehr.
Wenn der MI5 Geheimniskrämerei betrieb gegenüber seinen Agenten, starben in der Regel Menschen. Ging es in diesem Fall darum? War Matt ausgesandt worden, um jemanden zu ermorden? Denae hatte einen derartigen Befehl nicht erhalten, und obgleich sie ihre Arbeit liebte, hatte es sich bei dem einzigen Mal, dass sie jemanden getötet hatte, um Selbstverteidigung gehandelt.
Sie blieb am Rand des dichten, schützenden Waldes stehen. Vor ihr lag jetzt ein Meer aus Gras, das sich endlos von einem Ende des Tals bis zum anderen erstreckte, umringt von einem majestätischen Gebirge.
Denae übernahm die Führung, weil sie das GPS hatte. Sie hielt sich so dicht wie möglich an den Bergen, wobei ihre Blicke hin und her schossen und sie jeden Moment erwartete, dass ein Angriff auf sie erfolgen würde.
Frank, ihr Vorgesetzter, hatte geäußert, dass die Menschen von Dreagan gefährlich waren, aber nähere Angaben, in welcher Hinsicht genau, hatte er nicht gemacht. Genauso wenig, wie ihr ein Blick in die Akte Dreagan weitere Aufschlüsse verschafft hatte.
Laut Frank lebten die Bewohner von Dreagan deswegen so abgeschieden, weil sie etwas verbargen. Was genau das war, hatte ihr ebenfalls keiner gesagt. – Sie würde es erkennen, wenn sie es sähe.
Denae warf im Laufen einen Blick über ihre Schulter zurück. Hatte man Matt darüber aufgeklärt? Wusste er, was an den Bewohnern von Dreagan – an allen – so wichtig war, dass der MI5 in Aktion trat?
Ihre Überlegungen wurden dadurch unterbrochen, dass sie den Zielpunkt erreichten. Denae verlangsamte ihr Tempo und wies auf einen Teich, dessen Oberfläche sich kräuselte, als ein Windstoß über das Wasser fuhr. »Das ist er.«
»Gut«, sagte Matt und riss sich die Nachtsichtbrille herunter, bevor er seinen Rucksack abstreifte.
Denae tat es ihm nach und zog ihre schwarze Sporthose und -jacke aus. Darunter trug sie einen schwarzen Tauchanzug. Als Nächstes packte sie die Tauchflasche aus, die Maske und die Schwimmflossen, während Matt sie mit undurchdringlicher Miene anstarrte.
Sie spürte seinen musternden Blick und zählte langsam bis zehn. »Ich weiß, dass du mich nicht leiden kannst. Finde dich einfach damit ab. Und vergiss nicht, dass das Gefühl mehr als gegenseitig ist.«
»Ich sehe ja ein, dass du nützlich warst, als du verdeckt an den Universitäten gearbeitet hast, aber es ist mir schlicht unbegreiflich, dass sie dich auf diese wichtige Mission geschickt haben.«
»Warum? Bin ich nicht gut genug?«, fragte sie, während sie ihre Schwimmflossen anzog.
Er schwieg sekundenlang. »Ich schätze schon, dass du gut genug bist.«
Denae blickte ihn finster an. »Wow. Und ich schätze, dass es das Äußerste an Kompliment ist, was ich jemals von dir bekommen werde.«
»Du hättest in Amerika bleiben und zum CIA oder FBI gehen sollen, statt dich vom MI5 anheuern zu lassen. Es gibt auch noch andere, die ein fotografisches Gedächtnis haben.«
»Aha, es geht also darum, dass ich Amerikanerin bin.«
»Du wirst es noch bereuen, jemals zum MI5 gekommen zu sein«, sagte er kryptisch und sprang ins Wasser.
Es war nicht das erste Mal, dass ein Kollege darauf hinwies, dass sie Amerikanerin war, aber keiner hatte jemals derartige Drohungen ausgestoßen, wie Matt es gerade getan hatte. Sie würde beweisen, dass sie auf diese Mission geschickt worden war, weil sie es verdiente.
Denae schnallte sich die Tauchflasche auf den Rücken, setzte die Maske auf und schob sich den Atemregler in den Mund, bevor sie in den tiefen Teich sprang. Dank der Gewichte an ihrem Gürtel sank sie schnell.
Schwimmen konnte sie schon immer gut, und sie setzte ihr Können ein, sodass sie nur so durchs Wasser schoss. Kleine Lämpchen an beiden Seiten ihrer Maske leuchteten den Weg durch das pechschwarze Wasser aus.
Riesige Felsen ragten vom Grund auf. Je näher sie dem Gebirge kamen, desto dichter wurden die Felsbrocken, bis sie sich nur noch hindurchschlängeln konnten.
Denae holte Matt mühelos ein. Aber als sie an ihm vorbeischwamm, streckte er den Arm aus und riss ihr den Atemregler aus dem Mund. Sie vollzog eine rasche Wende, um zu sehen, was er im Schilde führte, als sie das Messer in seiner Hand erspähte.
Im selben Augenblick durchtrennte er die Riemen ihrer Tauchflasche. Diese versank schnell außer Sichtweite im tiefen Wasser unter ihr, bevor sie sie zu fassen kriegen konnte. Denae ging sofort in Verteidigungsmodus und verpasste Matt einen Fußtritt gegen das Kinn.
Matt wich zurück, was ihr genügend Zeit verschaffte, eine Körperdrehung zu vollziehen und durch den schmalen Spalt zu schießen, durch den das Wasser aus dem Berg drang, das den Teich füllte.
Ihre Lungen brannten. Sie konzentrierte sich darauf, schnell und gewandt wie ein Fisch zu schwimmen, genau wie ihr Vater es ihr beigebracht hatte. Laut hallte ein Pistolenschuss durchs Wasser. Denae wandte den Kopf und sah, dass Matt seine Glock abfeuerte, aber die Kugeln verfehlten sie knapp. Sie musste unbedingt an die Wasseroberfläche gelangen, um die Oberhand zu gewinnen.
Zweimal wäre sie beinahe gegen Felsen geprallt. Sie nahm sich die kostbaren wenigen Sekunden Zeit und zog ihr Bein an, um einen Leuchtstab zu fassen zu kriegen, der in der dortigen Tasche steckte, und ihn einzuschalten.
Helles grünes Licht flammte auf. Denae stieß ein paar Luftblasen aus und schwamm weiter. Es konnte kein Zweifel bestehen, dass Matt vorhatte, sie zu töten. Da sie nicht wusste, wie lang der Tunnel war, bevor er sich im Inneren des Berges nach oben hin öffnete, konnte es sehr gut sein, dass sein Wunsch in Erfüllung ging.
Tod durch Ertrinken. Sie hätte es sich denken können, schließlich war ihre Schwester so gestorben.
Denae weigerte sich, an Renee und an diesen Tag, der ihr Leben verändert hatte, zu denken, während sie kräftiger mit den Beinen paddelte. Matt war immer noch hinter ihr, und wenn sie auch nur die geringste Chance haben wollte, hier lebend herauszukommen, musste sie vor ihm an die Oberfläche gelangen.
Da das Wasser so dunkel war, würde sie die Tunnelöffnung nicht erkennen, sondern sie ertasten müssen. Denae bewegte sich so nah sie konnte an der Decke des Tunnels. Da das Wasser in die Gegenrichtung floss, verlangsamte es ihr Vorankommen, und ihr Körper begann zu zittern vor Atemnot.
Denae schloss ihre Augen für eine Sekunde ganz fest, um sich zu konzentrieren, ehe sie die Lider wieder öffnete und sich weiter vorwärtsbewegte, wobei sie einen flüchtigen Blick auf Matts Taucherbrille erhaschte, deren Licht das Wasser durchdrang.
Sie stieß weitere Luftblasen aus und überlegte, ob sich Renee so gefühlt hatte, als sie ertrank. Seit Jahren hatte Denae nicht zurückgedacht an diesen schicksalsträchtigen Tag, der das Leben ihrer Familie für immer verändert und ein Schuldgefühl zu ihrem ständigen Begleiter gemacht hatte.
Bei diesen aufwühlenden Gedanken brauchte sie einen Moment, um zu registrieren, dass die Decke des Tunnels sich nicht länger über ihr befand. Denae richtete den Leuchtstab nach oben und sah nichts weiter als Wasser.
Sie paddelte kräftig mit den Beinen und schoss hinauf. Als sie die Oberfläche durchbrach, schnappte sie keuchend nach Luft, bevor sie wieder unter Wasser sank, um ans Ufer zu schwimmen. Dort angekommen, warf sie den Leuchtstab auf den Boden der Höhle und stieg schnell aus dem Wasser.
Matt war bereits hinter ihr, bevor sie die Zeit gehabt hatte, beide Schwimmflossen abzustreifen. Seine hatte er, wie sie bemerkte, da er dastand und sie anstarrte, schon im Wasser ausgezogen. Während sie einander um den Leuchtstab herum umkreisten, schaffte sie es, die zweite Flosse wegzukicken.
Matt grinste bedrohlich, als er seine Tauchflasche abstreifte. »Hätte mir ja denken können, dass du eine schnelle Schwimmerin bist.«
»War es von Anfang an dein Plan, mich im Wasser zu töten?«
»Nicht dich zu töten, Denae, nur zu verwunden.«
Sie runzelte die Stirn. »Mich zu verwunden. Warum? Damit du den ganzen Erfolg dieses Auftrags allein einheimsen kannst?«
»Du bist eine dumme Gans.«
»Dann klär mich auf, oder kämpf weiter.«
Matt sprang vor, zielte mit dem Messer in seiner Hand auf ihr Bein. Denae wehrte den Angriff mit ihrem Arm ab und versetzte ihm einen Kinnhaken mit der anderen Faust.
Er wirbelte herum und streckte seinen Fuß vor, versuchte, sie zu Fall zu bringen, aber sie sprang beiseite und trat ihrerseits zu, verpasste ihm einen Tritt direkt vor die Brust.
»Du dienst hier als Lockvogel«, sagte er höhnisch, während er einige Schritte zurücktaumelte.
Vor Schreck setzte ihr Herzschlag für eine Sekunde aus. Lockvogel. Es gab nur einen Grund, Lockvögel einzusetzen, und es nahm nie ein gutes Ende. »Da ich ja so eine Idiotin bin, erklär es mir.«
Die Erregung in Matts Augen sagte alles. »Deine Aufgabe bei dieser Mission besteht darin zu sterben, damit wir aufdecken können, wer die in Dreagan wirklich sind.«
Genau wie sie erwartet hatte. »Du willst mich verwunden, weil du annimmst, dass die hier in Dreagan mich töten werden, sobald sie mich entdeckt haben.«
»Etwas in der Art«, sagte Matt prustend. »Wir müssen sie schnappen. Dein Tod wird uns die Möglichkeit dazu verschaffen. Die Leute hier werden nie erfahren, dass sie eine MI5-Agentin getötet haben.«
»Doch mein Tod wird dem MI5 den Vorwand liefern, Untersuchungen über Dreagan anzustellen«, vollendete sie den Gedankengang.
Denae war entsetzt. Nicht nur, weil man sie sterben lassen wollte – wobei »man« bedeutete, dass alle aus ihrer Abteilung es geplant hatten –, sondern auch, weil den Leuten von Dreagan eine Falle gestellt wurde.
Es bestand kein Grund für sie, darauf zu antworten. Matt hatte seine Befehle, aber Denae würde es ihm nicht leicht machen. Sie täuschte einen linken Haken an und trat Matt mit ihrem rechten Fuß gegen den Kopf.
Er knurrte und stürzte sich erneut auf sie. Dieses Mal konnte sie den Stoß nicht abblocken und spürte den schmerzhaften Stich, als die Klinge durch ihren Tauchanzug fuhr und in ihre linke Seite drang.
Denae trat gegen Matts Arm, der die Klinge hielt, sodass er die Waffe fallen ließ. Dann vollführte sie eine Drehung und rammte ihm ihren Ellbogen gegen die Kehle. Er trat ihr in die Kniekehle und schickte sie zu Boden.
Sie rollte sich zusammen und beiseite, und als sie wieder auf die Füße kam, hielt sie ihr Messer in der Hand. Niemand legte Wert darauf, sich mit ihr anzulegen, wenn Messer im Spiel waren, weil sie so gut war. Jetzt, da sie die Waffe gezückt hatte, bestand eine reale Chance.
»Weißt du, dein Tod wird die Welt befreien«, sagte Matt, während er sie erneut angriff.
2
Kellan lag regungslos in seiner Ecke. Das Geräusch von Wasser, das gegen die Steine schwappte, weckte ihn augenblicklich. Er öffnete ein Auge und sah, dass sich die normalerweise spiegelglatte Oberfläche des Höhlensees heftig kräuselte, da ein Mensch aus dem Wasser auftauchte.
Er hatte kaum Zeit zu erkennen, dass es ein schwer atmendes weibliches Wesen war, bevor sich ein zweites Wesen zu ihm gesellte – ein Mann.
Kellan bewegte seinen Kopf, um bessere Sicht zu haben. Es war viele Jahrhunderte her, dass er einen Menschen gesehen hatte, und ehrlich gesagt konnte es von ihm aus wieder eine Ewigkeit dauern, bis er einen weiteren zu sehen bekam. Wie unglaublich er sie alle verabscheute.
Er schätzte es auch ganz und gar nicht, dass sein Schlaf gestört wurde, doch war ihm klar, dass Constantine nicht glücklich wäre, wenn er sich in Drachengestalt sehen ließe und die zwei Eindringlinge vertilgte – so verführerisch die Vorstellung auch sein mochte.
Seine einzige andere Möglichkeit wäre, menschliche Gestalt anzunehmen und sich ihnen entgegenzustellen. Aber das war einfach zu scheußlich, um es auch nur in Betracht zu ziehen.
Kellan blieb, wo er war, und beobachtete, wie die beiden sich gegenseitig umkreisten. Nichts hat sich geändert. Menschen müssen sich immer bekämpfen.
Egal wie viele Jahrhunderte verstrichen, egal welches Land er besuchte, sie waren alle gleich. Egoistische, streitlustige, arrogante, gierige Bastarde.
Ihm war es gleichgültig, wie viele Menschen sich gegenseitig umbrachten. Je mehr tot waren, desto näher rückte der Zeitpunkt, da die Drachen heimkehrten. Es waren die Menschen, die dafür verantwortlich waren, dass die Drachen nicht mehr über die Welt herrschten.
Es waren die Menschen, die den Krieg begonnen hatten.
Aber es waren die Drachen gewesen, die ihn beendet hatten.
Die Menschen redeten miteinander.
Aufmerksam lauschte Kellan ihrem Gespräch. Er führte sich die vielen Male vor Augen, die Con ihn während seines Schlafs besucht hatte, und ihm wurde bewusst, dass viele, viele, viele Jahrhunderte vergangen waren, seit er das letzte Mal wach gewesen war.
Con versorgte alle paar Jahrzehnte die Drachen, die es vorzogen, Jahrhunderte – oder Jahrtausende – zu verschlafen, mit Informationen über das Weltgeschehen, sodass sie, wenn sie aufwachten, mehr oder weniger auf dem Laufenden waren. Sodass es Kellan nicht schwerfiel, dem Gespräch zu folgen.
Das Männchen mochte das Weibchen nicht, dem Abscheu nach zu urteilen, der in seiner Stimme lag. Überraschenderweise duckte sich das Weibchen nicht. Es wehrte sich, bewegte sich schnell – für eine Sterbliche – und versetzte dem Mann heftige und präzise Tritte. Keiner dieser Schläge oder Tritte ging fehl.
Kellan roch Blut. Es war lange her, dass dieser Geruch ihm begegnet war. Er erinnerte ihn an das letzte Mal, als er sich unter Menschen bewegt hatte – und warum er beschlossen hatte zu schlafen.
Er hörte das Paar knurren. Der Mann hatte eine gebrochene Nase und eine aufgesprungene Lippe, aber der Geruch, den Kellan wahrnahm, war stark, zu stark für derartig belanglose Verletzungen.
Seine Drachenaugen blickten auf das weibliche Wesen, und er sah, dass es seinen linken Arm schützend an seine Seite presste. Blut strömte an seinem Bein hinunter auf den Felsboden.
Wirbelnd richtete sich das Weibchen mit einer eigenen Waffe in der Hand auf.
Kellans Interesse wuchs, als das Männchen davon redete, das Weibchen verwunden zu wollen. Es war nicht schwer zu erraten, dass Letzteres die Drachen anlocken sollte.
Er schnaubte in Gedanken. Wie dumm die Menschen doch waren. Sie alle hielten Drachen für niedere Wesen, die alles in ihrer Sichtweite fressen oder versengen wollten. Wie hatte es nur geschehen können, dass er und die anderen Drachenkönige so tief gesunken waren?
Sie hatten einst den Himmel, die Meere und die Erde beherrscht. Drachen in allen Farben hatten die Erde ihr Zuhause genannt. Sie hatten uneingeschränkt geherrscht.
Und es war das Recht Kellans und der anderen Drachenkönige gewesen, ihre Drachen zu regieren, dafür zu sorgen, dass niemand aus der Reihe tanzte. Was nicht heißen sollte, dass es keine Kämpfe gab, aber ein einziges Wort von einem Drachenkönig, und jeder Kampf wurde eingestellt.
Wie Kellan sich nach dieser Zeit zurücksehnte! Er vermisste seine Drachen, und er vermisste es, sich in den Himmel zu erheben und zu fliegen, wann immer er wollte. Das war einer der vielen Gründe, warum er beschlossen hatte, die Zeit einfach zu verschlafen. Es war ihm unmöglich, auf die Welt und die Menschen zu blicken, ohne sich zu wünschen, sie alle zu töten.
Kellan war beeindruckt von dem weiblichen Wesen, obgleich er es wirklich nicht gern zugab. Die Frau war eine heldenhafte Kämpferin, und trotz ihrer Verwundung gewann sie nach und nach die Oberhand.
Sie vollführte eine blitzschnelle Drehung, ließ ihren Gegner mit einem Tritt zu Boden gehen. Dann warf sie sich auf ihn und stieß ihm ihre Klinge ins Herz.
Und damit war der Kampf vorüber.
Die Frau hatte jedoch zu viel Blut verloren. Sie konnte nicht zurück ins Freie schwimmen, und sie kannte den Weg durch die Höhlen des Gebirges nicht, um nach Hilfe zu suchen.
Der Einzige, der helfen konnte, war Kellan. Doch das würde er nicht tun. Das würde zwar Con fuchsteufelswild machen, aber Kellan hatte schon lange aufgehört, sich deswegen Gedanken zu machen.
Allerdings würde er seinen Schlaf erst wieder fortsetzen, wenn sie ihren letzten Atemzug getan hatte. Kellan erwartete, dass sie zusammenbrach und starb oder versuchte, einen Weg hinaus zu finden.
Stattdessen stieß sie den Mann weg und lehnte sich an einen Felsen, bevor sie irgendwelche Stäbe aus einer Tasche am Bein ihres hautengen Anzugs zog. Sie richtete sie auf den Boden, und nach einem leisen Knacken umgab sie grünes Licht.
Sie legte diese Dinger beiseite und zog ein kleines Behältnis aus der Tasche an ihrem anderen Bein. Ihr Atem ging rau und stoßweise, und Schweiß bedeckte ihre Haut.
»Mist«, murmelte sie und schluckte vernehmlich.
Ihr Akzent war weder schottisch noch englisch. Kellan ging alle Sprachvarianten durch, mit denen Con sein Gedächtnis im Laufe der Jahrhunderte gefüttert hatte, bis er bei Amerikanisch angelangt war.
Könnte das der Grund sein, warum der Brite sie nicht gemocht hatte? Es war zwar ein dämlicher Grund, aber schließlich ergab menschliches Handeln selten Sinn.
Kellan hörte auf, über Akzente nachzudenken, als die Frau hinter sich griff und etwas packte. Er hörte eine Art Reißen, bevor ihr schwarzer Anzug sich lockerte.
Mit einem Ächzen zog sie ihren rechten Arm aus dem schwarzen Material, bevor sie vorsichtig auch den linken herauszog. Sie zerrte den festen Stoff herunter, und Kellan erblickte ein kleines Oberteil, das ihre Brüste hielt. Eine Art Bikini, wie er sich erinnerte.
Ihre Brust hob sich, da sie versuchte, trotz der Schmerzen zu atmen, und ihre Haut wurde bleich. Sie griff nach dem kleinen schwarzen Behältnis, das sie aus der Tasche an ihrem Bein geholt hatte, und öffnete es, entnahm ihm ein weißes Päckchen und riss es mithilfe ihrer Zähne auf. Sie konzentrierte sich, indem sie kurz die Augen schloss, bevor sie winzige Körnchen auf ihre Wunde streute.
Sie keuchte und zuckte bei dem Kontakt zusammen. Kellan hatte nie viel Gutes zu sagen gewusst über Menschen, aber er musste der Frau Anerkennung zollen. Ihre Hände waren blutverschmiert, ihre Arme zitterten, sie war schwach, es war dunkel, und dennoch gab sie keineswegs auf.
Sein Interesse steigerte sich noch, als er sah, wie sie eine gebogene Nadel und einen Faden hervorholte. Um die Wunde an ihrer linken Seite sehen zu können, musste sie sich drehen. Trotzdem schaffte sie es, einige Stiche zu machen, bevor sie ohnmächtig zusammensank.
Mehrere Minuten lang starrte Kellan sie an. Die Frau war seitlich zusammengesackt, sie atmete flach und unregelmäßig. Er wusste definitiv, dass sie schon bald heftiges Fieber bekommen würde.
Wenn es nach ihm ginge, würde er sie vergessen. Sie würde sterben – wie eben alle Sterblichen. Dann erinnerte sich Kellan wieder daran, warum er sich für den Schlaf entschieden hatte. Einst hatte er einen Schwur getan, ein Versprechen gegeben, das er dann aufgrund seines unbändigen Hasses auf die Menschen gebrochen hatte.
Con hätte ihm das Leben nehmen können, aber stattdessen hatte er Kellan erlaubt zu schlafen. Er bezweifelte ernsthaft, dass Con ihn ein zweites Mal damit durchkommen ließe. Constantine war der König der Drachenkönige. Er war das ultimative Gesetz – obgleich das alle anderen Drachenkönige nicht daran hinderte zu tun, was auch immer sie tun wollten.
Con nahm ihre Aufgabe, die Menschen zu beschützen, sehr ernst. Wäre es nach Kellan gegangen, hätten er und seinesgleichen schon vor langer Zeit alle Sterblichen auf der Welt ausgelöscht. Die Menschen waren wie eine Seuche, die alles zerstörte. Man musste sich nur ansehen, was sie den Drachen angetan hatten.
Alles, was man heutzutage über Drachen wusste, war nichts weiter als ein Mythos, eine beängstigende Fantasie, etwas, was nicht einmal andeutungsweise dem glich, was das Leben als Drache wirklich bedeutete.
Kellan erinnerte sich lebhaft daran, wie nach einem Kampf mit den Menschen die Erde mit seinen geliebten Bronzenen übersät war. Die Bronzedrachen waren die Überbringer des Rechts.
Während Kellan den Bronzenen befohlen hatte, die Menschen zu beschützen, hatten die Menschen die Drachen im Gegenzug getötet. Ein Verrat, den Kellan noch jetzt, viele Tausend Jahre später, nicht vergeben konnte.
Denn obgleich die Drachen die Menschheit verteidigen sollten, hatte diese ihren Schutz nie wirklich gewollt. Die Sterblichen hatten schon früh daran gedacht, die Lebewesen, die die Welt eigentlich beherrschten, zu betrügen.
Kellan war nicht der Einzige gewesen, der verraten wurde. Ulrik, der König der Silbernen, war von einem Menschenweibchen betrogen worden – und dann vom Rest der Drachenkönige.
Kellan kniff die Augen zu, als er an diesen Tag zurückdachte. Hätte er gewusst, was mit seinen Bronzenen geschehen würde, hätte er sich mit Ulrik verbündet.
Am Ende waren die Drachen diejenigen gewesen, die alles verloren. Con hatte sie in andere Gefilde geschickt.
Lediglich die Könige waren auf der Erde zurückgeblieben.
Wofür waren sie noch gut? Die wenigen Male, da Kellan aus seinem Schlaf erwacht war und die Welt betrachtet hatte, hatte er feststellen müssen, dass seine Brüder sich versteckt halten und darauf warten mussten, dass sie sich im Schutz der Dunkelheit oder eines Sturmes in den Himmel schwingen konnten.
Zu fliegen war ihr Recht, ihr Privileg, und sogar das war ihnen genommen worden. Durch die Menschen.
Stunden vergingen, während er über seinen Hass auf die Menschen nachgrübelte, und noch immer hatte sich die Frau nicht wieder geregt. Kellan blieb keine Wahl, als sie zu Con zu bringen, weil er sich nicht traute, den Versuch zu unternehmen, ihre Wunde ausreichend zu versorgen.
Hass löste sich nicht einfach in Luft auf, auch nicht im Lauf von Jahrhunderten.
Er war nicht bereit, seinen Schlaf zu beenden, aber dieser beiden Menschenwesen wegen, die in seinen Berg eingedrungen waren, würde Con Nachforschungen anstellen wollen. Kellan musste zugeben, dass ihn diese Sache selbst neugierig gemacht hatte.
Nachdem er mittels der telepathischen Fähigkeit, über die alle Drachenkönige verfügten, quasi über ihr Drachenhandy, Con gerufen hatte, wusste Kellan, dass sein Freund schnell kommen würde.
Mittels kaum mehr als eines Gedankens nahm Kellan Menschengestalt an. Er ließ seine Arme kreisen und schüttelte seine Beine aus. Es gab keine Kleidung für ihn, die er hätte anziehen können, weil er nicht vorgehabt hatte, binnen der nächsten Jahrtausende aufzuwachen.
Er ging nackt hinüber zu der Frau und hockte sich neben sie. Kellan besaß nicht Cons Heilkraft. Die Blutung hatte zwar etwas nachgelassen, aber sie hatte nicht aufgehört.
Kellan drehte die Frau auf den Rücken, wobei er registrierte, wie heiß sich ihre Haut anfühlte, und sein Körper reagierte spontan auf die Weichheit dieses weiblichen Wesens, und das machte ihn wütend. Sein Körper brauchte Erleichterung, aber die würde er nicht bei dieser Frau finden.
Also ignorierte Kellan schnell seinen anschwellenden Schwanz und die weichen Kurven der weiblichen Brust, nahm die Nadel, die sie benutzt hatte, zur Hand, und nähte die Schnittwunde weiter.
Der Mann hatte keines ihrer lebenswichtigen Organe getroffen, aber die Wunde war lang und tief. So zerbrechlich wie Menschenwesen waren, wusste Kellan, dass es Cons Hilfe bedurfte, wenn sie überleben sollte. Die Entscheidung, ob sie sterben sollte oder nicht, würde Con überlassen bleiben.
Sobald Kellan fertig war, zerbiss er den Faden mit seinen Zähnen und verknotete ihn, bevor er die Frau vom Boden aufhob. Ihre Rundungen in seinen Armen zu spüren machte ihm erneut das Verlangen nach Befriedigung bewusst, das an ihm zerrte. Er musste sich darum kümmern. Es hatte nichts mit dieser speziellen Frau in seinen Armen zu tun. Es war einfach nur zu lange her.
Kellan sagte sich das noch einmal sicherheitshalber, bevor er seine Höhle verließ.
Viele seiner Drachenkönig-Kumpels hatten sich Menschenfrauen als Geliebte genommen. Kellan hatte auch mehrere gehabt, bevor seine Bronzenen getötet worden waren. Danach nahm er nur noch ein weibliches Wesen, wenn er es einfach nicht länger aushielt.
Unglücklicherweise forderte sein Körper gerade jetzt unbedingt Erleichterung. Er spähte hinunter auf die Frau in seinen Armen. Sie war dünn, aber ihre Muskeln waren wohlgeformt. Ihr kupferbraunes Haar wurde durch einen Knoten aus dem Gesicht gehalten, sodass er nicht abschätzen konnte, wie lang es war.
Kellan musterte sie nicht genauer. Dazu bestand kein Anlass. Er hatte nicht vor, sie wiederzusehen, sobald er sie Con vor die Füße gelegt hatte, obgleich er ihren Mut und ihre Zähigkeit bewunderte. Mehr würde sie von ihm, Kellan, nicht bekommen.
Mehr konnte er ihr nicht geben.
Es war sehr viel mehr, als er jedem anderen menschlichen Lebewesen in Tausenden von Jahren hatte zukommen lassen.
Kellan steuerte mühelos durch die Tunnel seines Berges, bis er zu dem Eingang gelangte. Genau wie er erwartet hatte, wartete Con drinnen bereits auf ihn, zusammen mit Rhys und Kiril.
Cons Gesicht war grimmig, sein blondes Haar triefte vom Regen, der die Welt außerhalb des Berges durchnässte. »Mir war klar, dass es sich um etwas Wichtiges handeln musste, wenn du mich rufst. Wer ist sie?«
»Keine Ahnung, und es ist mir auch gleichgültig«, sagte Kellan und hielt sie Con hin.
Aber Con verschränkte seine Hände hinter dem Rücken, womit er deutlich zu erkennen gab, dass er sich weigerte, sie auch nur anzufassen, und holte tief Luft. »War sie schon verwundet, als du sie gefunden hast?«
Es war zu erwarten gewesen, dass Con annehmen würde, dass er sie verwundet hatte. Kellan konnte es ihm nicht verdenken, nicht nach dem, was ihn dazu gebracht hatte, den Schlaf zu wählen.
»Nein. Sie hat meine Höhle entdeckt«, presste Kellan hervor, während er versuchte, seinen Zorn zu beherrschen. Er wollte die Frau nicht länger halten, ihren Geruch nicht einatmen, ihre Rundungen nicht spüren. »Nun nimm sie schon, damit ich mich wieder schlafen legen kann.«
Rhys fuhr sich mit der Hand durch seine langen, dunklen Haare, bevor er sich den Regen aus dem Gesicht wischte. »Die meisten anderen Könige sind seit Monaten wach. Hast du nicht vor mehreren Monaten Cons Ruf zu den Waffen vernommen?«
»Wenn ich es hätte, hätte ich dann weitergeschlafen?«, fragte Kellan mit erhobenen Augenbrauen zurück und starrte Rhys ausdruckslos an.
»Dies ist nicht das erste Mal, dass es Grenzverletzungen bei uns gegeben hat«, sagte Con, bevor Rhys antworten konnte. »Du musst dir ein paar Tage Zeit nehmen und mich nach Dreagan Manor begleiten. Wenn wir uns um diese Frau gekümmert und ihr Gedächtnis gelöscht haben, kannst du weiterschlafen, alter Freund.«
Kellan sparte sich jegliches Gegenargument. Es gefiel ihm nicht zu hören, dass Dreagans Grenzen überschritten worden waren, und wenn Con zu den Waffen rief, musste es einen gewichtigen Grund geben. »Gut. Aber jemand soll sie mir abnehmen.«
Kirils grüne Augen funkelten erheitert, als er sich abwandte. »Wie es aussieht, hast du doch alles gut unter Kontrolle. Außerdem ist sie hübsch geformt. Bist du in Versuchung?«
Der Kopf der Frau bewegte sich, sodass ihre Wange jetzt an Kellans Schulter ruhte. Ihr Fieber wütete, erinnerte ihn daran, warum er Con überhaupt gerufen hatte.
»Sie hat Fieber«, sagte Kellan, ignorierte Kirils Frage und sah Con unverwandt an.
Con sagte kein Wort, als er näher trat und eine Hand auf die Stirn der Frau legte. »Ja. Ich bin gespannt zu erfahren, was mit ihr geschehen ist.«
»Da ist noch einer in meiner Höhle. Sie haben gekämpft, und das Weibchen hat ihn getötet.«
»Keine guten Nachrichten«, sagte Con finster. »In dem Fall halte ich es für besser, dass unsere Besucherin erst dann ganz geheilt wird, wenn wir mehr Informationen aus ihr herausgequetscht haben.«
Es war ihm egal, was Con tat, solange er ihm die Frau abnahm. Kellan wollte nicht länger verantwortlich sein für sie. Er hatte seine Pflicht getan und sie zu Constantine gebracht. Das sollte genügen.
Es musste genügen.
Während Con seine Zauberkraft einsetzte und die Frau so weit heilte, dass das Fieber verschwand, betrachtete Kellan den König der Könige. Con trug eine schwarze lange Hose und dazu ein weißes Hemd, dessen Ärmel er bis zu den Ellbogen hochgekrempelt hatte. Cons blondes Haar war kürzer als letztes Mal, aber seine schwarzen Augen registrierten immer noch alles.
Dann nahm Kellan Rhys und Kiril in Augenschein, die am Eingang des Berges standen und ihnen den Rücken zukehrten. Beide waren mit Jeans und Stiefeln bekleidet. Während Rhys einen dünnen, olivgrünen Pullover trug, war Kiril mit einem schlichten weißen T-Shirt angetan.
»Das müsste genügen fürs Erste«, meinte Con und trat zurück. »Wie gut, dass ich Kiril gebeten habe, uns zu fahren bei diesem Sturm.«
Rhys schmunzelte. »Seine Fahrkünste haben sich in den sechs Monaten, die er wach ist, so weit verbessert, dass er keine Schafe mehr überfährt.«
»Ich habe nur das eine überfahren, verdammt noch mal«, sagte Kiril säuerlich und versetzte Rhys einen Stoß.
Con ging zwischen den beiden hindurch, und sobald er an ihnen vorbei war, holte Rhys weit aus und verpasste Kiril einen Kinnhaken, bevor er in den Sturm hinausrannte. Kiril fluchte heftig und folgte ihm.
Kellan betrachte die Außenwelt, an der er nicht teilhaben wollte, und dann die Frau in seinen Armen. Je eher er sie nach Draegan Manor brachte, desto schneller könnte er in seine Höhle zurückkehren und weiterschlafen.
Doch tief in seinem Inneren wusste er, dass sich, sobald er den Berg verließ, sein Leben für immer verändern würde.
Kellan ging zum Höhlenausgang, spähte durch den dichten Regen und sah, dass seine Freunde in einem schwarzen Wagen auf ihn warteten, auf dem, quer über die Front verlaufend, »Range Rover« stand.
Er begegnete Cons geduldigem Blick, bevor er aus seinem Berg trat.
3
Denae kam langsam zu sich, hielt aber die Lider geschlossen. Auch ohne einen Blick zu riskieren, wusste sie, dass sie nicht mehr in dem dunklen Berg war. Wegen des sauberen Geruchs und des Lichts, das ihr in die Augen stach. Wer hatte sie gefunden? Und wohin hatte man sie gebracht?
Aufgrund dessen, was Matt preisgegeben hatte, war ihr der Weg zurück zum MI5 verschlossen. Sie würden sie auf die eine oder andere Weise umbringen wegen der Informationen, die sie jetzt über das abgekartete Spiel hinsichtlich Dreagan Industries und die speziellen Interessen des MI5 hatte. Sie könnte die Verantwortlichen bei Dreagan ins Bild setzen, falls sie ihr Glauben schenkten. Doch wohin sollte sie danach gehen? Für den Geheimdienst wäre es ein Kinderspiel, sie aufzuspüren.
Um sie herum war Bewegung. Ein Stuhl knarrte, da jemand von ihm aufstand.
Als eine Sekunde später eine Tür geöffnet wurde, hörte sie eine männliche Stimme, die sich leise an jemanden im Raum wandte: »Wie geht es ihr?«
»Unverändert«, antwortete eine tiefe, raue Stimme. Es hörte sich an, als hätte dieser Mann sie seit einer Ewigkeit nicht mehr benutzt.
»Sie schläft jetzt seit zwölf Stunden.«
»Ich weiß.« Seine Stimme verriet außerordentliche Gereiztheit und Verärgerung.
Er wollte sie nicht hier haben, wer auch immer er war. Der andere Mann, der den Raum betreten hatte, schien jedoch aufrichtig besorgt zu sein um sie. Vielleicht hatte sie ja Glück, und er gehörte nicht zum MI5.
»Gib mir sofort Bescheid, sobald eine Veränderung eintritt«, sagte der erste Mann, bevor die Tür sich hinter ihm schloss.
Der Fußboden knarrte, als der genervte Mann um ihr Bett herumging. »Du kannst jetzt die Augen öffnen.«
Für den Bruchteil einer Sekunde spielte Denae mit dem Gedanken, in ihrem Zustand zu verharren, aber der Mann wusste, dass sie wach war. Was machte es also für einen Sinn, weiter so zu tun, als ob sie schliefe? Sie öffnete die Augen und blickte auf einen Stuhl, der mit einem blau-roten Plaid bedeckt war. Das war der Stuhl, auf dem der Mann gesessen hatte, dachte sie.
Er stand nah am Bett. Stand er so nah, damit er sie versorgen konnte? Oder um sie zu bewachen?
Wahrscheinlich Letzteres.
Denae drehte ihren Kopf, um sich im Raum umzusehen, und entdeckte ihn mit dem Rücken zu ihr, wie er aus dem großen Fenster starrte, das sich ihrem Bett gegenüber befand. Sein dickes Haar fiel ihm in lockeren karamellfarbenen Wellen über den Rücken.
Er rollte seine Schultern, so als ob das dunkelorangefarbene T-Shirt ihn irgendwie einschnürte, das sich perfekt an seine Schultern, die Arme und den Rücken schmiegte.
Seine Arme wirkten entspannt, hingen locker herunter, aber mit seinen Fingern hatte er die Fensterbank fest gepackt, was ihr sagte, dass dieser Raum der letzte Ort war, an dem er sein wollte.
Ihr Blick verharrte auf seinen breiten, kräftigen Schultern, wanderte zu seinen schmalen Hüften. Um diese Hüften trug er eine tief sitzende Denim-Jeans, die seinen Po schön eng umspannte.
So sehr sie den Anblick genoss, ihre Lage war höchst prekär. Sollte sie lange genug überleben, um Dreagan zu verlassen – weil es nicht den geringsten Zweifel daran gab, dass sie sich genau dort befand –, würde sie nicht lange genug am Leben bleiben, um ihre Koffer zu packen und den ersten Flug zurück nach Texas zu nehmen.
»Hast du Schmerzen?«, fragte er.
Denae berührte probeweise ihre linke Seite, bevor sie sich vorsichtig hochzog und gegen das Kopfende lehnte. »Sie sind minimal.«
Das Schweigen zog sich in die Länge, bis sie schon glaubte, dass er im Stehen schlief.
Aber plötzlich wandte er sich um und sah sie an, und ihr stockte der Atem. Sie bekam einen trockenen Mund, und ihr Herz raste.
Der Mann, der da vor ihr stand, war so schön wie ein Gott und in seiner Wut so versengend wie die Sonne. Und sie konnte ihren Blick nicht von ihm abwenden.
Sein karamellbraunes Haar war seitlich geteilt und umrahmte wellenförmig ein Gesicht, das aus Granit gemeißelt schien. Er hatte hohe Wangenknochen, eine kräftige Kieferpartie und ein kantiges Kinn. Sein Mund war breit, seine Lippen verführerisch voll. Seine Augen, verblüffend seladongrün, nahmen sie gefangen mit ihrem intensiven, beinahe grausamen Starren.
Irgendwie schaffte sie es, ihren Blick von seinen Augen abzuwenden und auf seine Brust zu richten, die genauso beeindruckend war wie sein Rücken. Das T-Shirt saß wie angegossen über den kräftigen Muskeln seiner Arme und Brust.
Er war ein Mann der Tat, ein Mann, der sich nicht verarschen ließ. Ein Mann, der nicht nachgab, solange er nicht alle Antworten hatte, die er haben wollte.
»Wer bist du?«, wollte er wissen.
Sie wurde erneut von seinen blassgrünen Augen angezogen. »Mein Name ist Denae Lacroix.«
»Also, hallo Denae«, ließ sich eine Stimme von der Tür her vernehmen.
Ihr Kopf fuhr herum, und sie erblickte einen wirklich beeindruckenden Mann mit surferblondem Haar und pechschwarzen Augen. Er war groß und hatte ebenfalls breite Schultern, und sie hatte den deutlichen Eindruck, dass unter seiner Designerkleidung ein muskulöser Körper steckte.
Er stand absolut selbstsicher da. Es war offensichtlich, dass er hier das Sagen hatte. Er war der Anführer, er war derjenige, der darüber bestimmen würde, ob sie weiterlebte oder sterben musste.
Hinter ihm stand eine Frau mit einem Essenstablett.
Wieso hatte Denae nicht mitbekommen, dass dort jemand in der Tür stand? Die Angeln knackten schließlich, wenn man die Tür öffnete. Normalerweise registrierte sie ihre Umgebung sehr viel bewusster.
Sie spähte hinüber zu dem Mann am Fenster, aber der hatte sich bereits abgewandt. So als könnte er ihren Anblick nicht länger ertragen. Enttäuschung breitete sich aus in ihrem Bauch. Sie fühlte sich dermaßen angezogen von ihm, dass die restliche Welt schlicht ausgeblendet war. Das war noch nie zuvor geschehen, und in ihrem Metier könnte es sie das Leben kosten.
Doch offensichtlich war die Anziehung einseitig.
»Weißt du, wo du bist?«, fragte der Mann an der Tür, während er ins Zimmer trat.
Die Frau beschwichtigte ihn mit einem »Schhhhh« und eilte zu Denae, stellte ihr das Tablett auf den Schoß. »Con, ich bitte dich. Sie ist verletzt und höchstwahrscheinlich kurz davor zu verhungern.«
»Sie ist hier eingedrungen.«
Das kam von dem Mann am Fenster. Denae hätte zu gern seinen Namen gewusst. Sogar wenn sie die anderen anblickte, schaffte sie es nicht, sich vollständig von ihm loszureißen und ihm keine Aufmerksamkeit mehr zu schenken.
»Hi«, sagte die Frau mit einem strahlenden Lächeln. Sie hatte freundliche, dunkelbraune Augen. »Ich bin Cassie. Ich wusste nicht, was du magst, also habe ich ein bisschen von allem mitgebracht.«
Denae konnte nicht anders, als das Lächeln zu erwidern. »Du bist Amerikanerin.«
»Stimmt. Genau genommen aus Arizona. Und du?«
»Südtexas.«
Cassies Augen weiteten sich, als sie ihr brünettes Haar über die Schulter zurückwarf. »Das müssen wir später unbedingt vertiefen.«
»Das würde ich gern«, erwiderte Denae und meinte es tatsächlich. Sie hatte nicht gedacht, dass sie die Staaten vermissen würde, aber nachdem sie so lange weg war, tat sie es. Sie räusperte sich, um sich zu sammeln, und blickte den Mann an, den Cassie Con genannt hatte. »Ja, ich weiß, wo ich bin. Ich bin in Dreagan.«
»Zu dem Warum werden wir gleich kommen«, sagte er und nahm Platz auf einem schmalen Stuhl neben dem Fenster, der viel zu zerbrechlich wirkte für jemanden seiner Größe.
Er saß da, als wäre er ganz entspannt, aber er erinnerte Denae an einen Löwen im Käfig, der nur auf eine Gelegenheit wartete, um anzugreifen. Und wenn der Angriff käme, würde er schnell kommen. Und tödlich sein.
»Mein Name ist Constantine. Hast du von mir gehört?«
Sie spähte schon wieder zu dem anderen Mann hinüber. »Er ist in einigen Berichten aufgetaucht. Darüber hinaus weiß ich nichts.«
»Berichten?«, fragte der Namenlose, dessen Blick sie kurz streifte.
Con beugte sich auf seinem Stuhl vor und wies auf ihn. »Dies ist Kellan, Denae. Er ist derjenige … der dich gefunden hat.«
Con machte absichtlich eine Pause, aber sie verstand nicht warum. Ihr Blick kehrte zu Kellan zurück, und sie stellte fest, dass er schon wieder aus dem Fenster schaute, sie dadurch als unbedeutend abstempelte.
Verdammt, aber er war umwerfend. Selbst wenn ihn der Umstand, sich im selben Raum wie sie aufhalten zu müssen, unglaublich nervte.
»Wer hat dich geschickt?«, fragte Con.
Denae griff zum Wasserglas auf dem Tablett und leerte es vollständig, bevor sie ein Stück Toast abbiss, kaute und schluckte. Der kleine Bissen half, ihren nagenden Hunger zu lindern. »Ich wünschte, dass es so einfach zu erklären wäre.«
»Du bist hier in Sicherheit«, sagte Cassie.
Denae lächelte traurig und starrte auf das Essenstablett; der Appetit war ihr plötzlich vergangen. »Ich bin hintergangen worden.«
»Von wem?«, drängte Cassie sie.
Was für einen Unterschied machte es, wenn sie es wussten? Sie hätten sie sterben lassen können. Stattdessen hatten sie sie hierhergebracht und ihre Wunde versorgt. War es vielleicht eine List? Sie war nach Strich und Faden vom MI5 betrogen worden. Denae wusste einfach nicht länger, wem sie vertrauen konnte. Aber für den Moment würde sie auf die Leute hier in Dreagan setzen.