Buch
Tess Brookes ist die Art von Person, die morgens immer ein bisschen früher als alle anderen im Büro ankommt, um noch ein paar Extrastunden Arbeit unterzubringen, und die am Abend als Letzte geht. Doch dann wird sie, anstatt endlich die Beförderung zu erhalten, auf die sie so lange hingearbeitet hat, völlig unerwartet entlassen. Ist es da ein Wunder, dass Tess ein kleines bisschen durchdreht? Als sie sich kurz nach der Hiobsbotschaft im Büro auch noch mit einem ihrer besten Freunde zerstreitet, tut sie zum ersten Mal in ihrem Leben etwas total Impulsives und Verrücktes: Sie geht an das Telefon ihrer fiesen Mitbewohnerin Vanessa, nimmt in deren Namen einen Job als Fotografin auf Hawaii an und setzt sich mit einem Koffer voller »geliehener« Klamotten in den nächsten Flieger. Wie schwer kann es schon sein, auf einer paradiesischen Insel ein paar Fotos zu schießen? Doch auf Hawaii angekommen, muss Tess feststellen, dass sie mit dem unerträglichsten Reporter der Welt zusammenarbeiten soll: Nick, einem arroganten, egoistischen Casanova. Und bald schon herrscht in Tess’ Leben ein noch größeres Chaos, als sie sich je hätte vorstellen können …
Autorin
Lindsey Kelk begann mit dem Schreiben, als sie sechs Jahre alt war und alle Bücher in ihrem Kinderzimmer durchgelesen hatte. Tragischerweise wurde ihr erster Roman nie veröffentlicht. So entschied sie sich 22 Jahre später, Lektorin für Kinderbücher zu werden, damit niemanden ein ähnlich schweres Schicksal trifft. Lindsey Kelk lebt in London und liebt New York und das Kaufen von Schuhen.
Von Lindsey Kelk außerdem bei Blanvalet erschienen:
Verliebt, verlobt, Versace – Mit Chic, Charme und Chanel – Gucci, Glamour und Champagner – Einmal Happy ohne End, bitte!
Lindsey Kelk
Sag einfach
mal Aloha
Roman
Aus dem Englischen
von Uta Hege
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Die Originalausgabe erschien 2013
unter dem Titel About a Girl bei HarperCollins, London
1. Auflage
Deutsche Erstausgabe September 2015
bei Blanvalet, einem Unternehmen der
Verlagsgruppe Random House GmbH, München
Copyright © Lindsey Kelk 2013
Lindsey Kelk asserts the moral right to be identified as
the author of this work.
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2015
by Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München
Umschlaggestaltung und -motiv: www.buerosued.de
Redaktion: Judith Weißschnur
AF · Herstellung: sam
Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling
ISBN: 978-3-641-15915-3
V002
www.blanvalet.de
Für meine Mädels
Della, Beth, Emma und Terri
Prolog
Die Dinge hätten nie derart außer Kontrolle geraten sollen.
Okay, ich hatte meinen Job verloren. Und die Liebe meines Lebens. Meine Mutter sprach nicht mehr mit mir. Meine beste Freundin war total sauer, meine Mitbewohnerin hatte inzwischen bestimmt einen Killer auf mich angesetzt, und spätestens in vierundzwanzig Stunden würde ich wahrscheinlich obdachlos sein.
Aber, na, ihr wisst schon, irgendwie kommt’s immer anders, als man denkt.
Dafür, dass in meinem Leben gerade einfach alles schieflief, war ich überraschend gut gelaunt. Ich streckte mich, klappte meine Fingerspitzen um das Kopfteil des bequemen Betts und vergrub die Zehen in dem frisch gestärkten weißen Baumwolllaken, das aus irgendeinem Grund bis ans Fußende geglitten war. Es herrschte eine wunderbare Ruhe, und ich lächelte versonnen vor mich hin. Irgendwo im Zimmer hörte ich das Schrillen eines Handys. Doch statt aufzuspringen, um zu hören, wer mal wieder etwas wollte und wie schnell ich es besorgen konnte, konzentrierte ich mich auf das Wasser, das im Badezimmer rauschte, und presste so fest wie möglich meine Lippen aufeinander, um das wunderbare Kribbeln aufzufrischen, ehe es nicht mehr zu spüren war. Das von frischen Bartstoppeln hervorgerufene Brennen meiner Wangen würde sich bestimmt nicht so schnell legen. Womit ich durchaus zufrieden war.
Meine beste Freundin hatte sich geirrt. Es würde alles gut. Wahrscheinlich. Auch wenn in der letzten Woche manche Dinge nicht ganz glattgelaufen waren. Und ich mich täglich hundertmal gefragt hatte, ob ich vielleicht ein Fall für den Psychiater war. Aber jetzt war es vorbei. Ich hatte überlebt. Heute Nachmittag flöge ich wieder heim. Ich würde mich nicht mehr benehmen wie die jämmerliche Hülle eines Menschen, sondern alle Leute kontaktieren, die ich kontaktieren musste. Kühl, gefasst und ruhig mit ihnen sprechen und die Dinge klären, die zu klären waren. Denn wenn ich die letzte Woche überstanden hatte, würde ich auch alles andere überstehen.
Hätte mir vor sieben Tagen irgendjemand angedeutet, was alles passieren würde, hätte ich mich auf der Stelle unter irgendeinem Tisch verkrochen und mich rundheraus geweigert, jemals wieder rauszukommen. Aber wie ich aus diversen Sendungen im Fernsehen und aus unzähligen Büchern wusste, fand man erst heraus, wie stark man war, wenn einem das Leben keine andere Wahl mehr ließ. Und ich war auf alle Fälle deutlich stärker, als ich jemals angenommen hatte. Oder vielleicht auch ganz einfach völlig durchgeknallt. Wobei die Grenze sicher fließend war.
Wieder drang das Piepsen eines Handys an mein Ohr.
Es würde alles gut. Die Fotos waren gemacht und sahen fantastisch aus. Paige würde damit sehr glücklich sein. Und Mr. Bennett war es schon. Kekipi waren die Aufnahmen anscheinend völlig schnurz, aber schließlich konnte man nicht alles haben, und wenn zwei von drei Leuten zufrieden waren, war das ein ziemlich guter Schnitt. Alles, was ich jetzt noch machen musste, war, den Rest des Morgens hier in diesem Bett zu liegen und gedanklich all die schlimmen Dinge durchzugehen, die ich mit einem schlimmen Mann getrieben hatte. Denn in vierundzwanzig Stunden würde ich wieder zu Hause sein.
Glücklich, weil ich mich in meinem momentanen Zustand selbst nicht sehen konnte, rollte ich mich auf den Bauch. Mein viel zu langes Haar war hoffnungslos zerzaust, mein sorgsam aufgetragenes Make-up war auf den Kissenhüllen verteilt, und – seien wir ehrlich – postkoitale Selbstzufriedenheit steht keinem Menschen wirklich gut. Hätte ich mich selbst in diesem Augenblick gesehen, hätte ich mir vielleicht selber eine reingehauen. Dabei war mir dieses Aussehen nicht sonderlich vertraut. Vielleicht die wild zerzausten Haare und das schreckliche Make-up, aber dieses selbstzufriedene Lächeln, dem man überdeutlich ansah, dass ich eben erst von einem superattraktiven Mann durch Sonne und Mond gevögelt worden war? Das hatte ich bisher noch nie gehabt. Dabei gab es sicher eine Art von eleganter postkoitaler Selbstzufriedenheit. Warum brachte man uns diese Dinge nicht ganz einfach in der Schule bei? Zusammen mit dem Einblick in die wunderbare Welt der Tampons durch die Schulschwester. Denn wenn es eine Sache gab, die Frauen wissen mussten, dann war es, wie sie es sich eingehend von einem Mann besorgen lassen konnten, ohne dass die obersten drei Schichten ihrer Haut dem allzu innigen Kontakt mit seinen Bartstoppeln zum Opfer fielen.
Das Handy klingelte erneut.
Egal wie sehr ich mich bemühte, das Geläut zu ignorieren, das Ding gab einfach nicht auf. Ich schniefte traurig, denn mir wurde klar, ich würde rangehen müssen. Nur dass das verflixte Handy nicht wie sonst auf meinem Nachttisch lag. Weil dies nicht mein Nachttisch war. Aber wo zum Teufel hatte sich das blöde Teil versteckt? Mein wunderschönes rotes Valentino-Seidenkleid lag in einer Zimmerecke, mein BH in einer anderen, und irgendwo dazwischen lag ein weißes Hemd auf einem bunten Badetuch. Aus dem Haufen achtlos fortgeworfener Männerkleidung ein Stückchen weiter drang das Klingeln eines zweiten iPhones an mein Ohr. Ein regelrechter Chor der Kommunikation, der mich an einen Song von One Direction denken ließ.
Seufzend gab ich auf. Zur Hölle mit dir, Vodafone.
»Vanessa?«
Ich betrachtete den riesengroßen Bambusventilator, der im Rhythmus des Geklingels unter der Decke seine Runden drehte, ohne auf die Anrufe oder die Männerstimme aus dem Bad zu reagieren.
»Vanessa?«
Ach ja, richtig. Das war ich. Zumindest ungefähr.
»Ja?«, rief ich zurück und sah mich in dem Raum nach meiner Unterhose um. Die größte Schwierigkeit bei wildem Sex, bei dem man sich die Kleider gegenseitig von den Leibern riss, war das möglichst würdevolle Wiederauffinden besagter Kleider nach dem wilden Sex. Denn man fühlte sich unweigerlich wie eine Schlampe, wenn man auf der Suche nach der eigenen Unterhose nackt über den Boden kroch. Das wäre sicher gut und schön, wenn ich eines dieser Mädchen wäre, die auch nach dem Sex noch keine Lust hatten, sich wieder anzuziehen, aber so ein Mädchen war ich ganz eindeutig nicht. Ich war eher der Typ, der für den Fall, dass es anfing zu brennen, immer vorsorglich in einem Nachthemd schlief. Ich meine, Himmel, bereits das Wort Sex kommt mir so schwer über die Lippen, dass es sicher besser wäre, ließe ich in Zukunft gänzlich davon ab.
»Ist das meins? Kannst du mal drangehen?«
»Ja.«
Denn theoretisch könnte ich natürlich an sein Handy gehen. Obwohl es mir zuwider war, in meinem Zustand aufzustehen. Deshalb schob ich mich ans Fußende des Betts, bemühte mich, die Wimperntusche auf meinem Handrücken zu ignorieren, klemmte meine Haare hinter meinen Ohren fest und beugte mich mit dem Kopf voran über den Matratzenrand, um die dort aufgetürmten Kleider zu durchwühlen.
Als ich sah, dass mein BH vibrierte, schob ich mich vom Bett und machte einen eleganten Kopfsprung in den Kleiderberg. »Dies ist das Handy von Nick Miller«, sprach ich in das schicke schwarze iPhone, während ich mich abermals auf die Matratze schwang. »Aber natürlich ist er selber gerade nicht am Apparat.«
»Und wer ist am Apparat?«, erkundigte sich eine unbekannte, vorwurfsvolle Frauenstimme.
Sicher war Hawaii die schönste Insel, die ich je gesehen hatte, aber der Empfang war einfach grauenhaft.
»Hier spricht Tess. Das heißt, Vanessa. Ja, genau, Vanessa.«
Oh, verdammt, ich konnte, wenn ich müde war, einfach nicht richtig denken, und für eine gute Lüge fehlte mir erst recht die Kraft.
»Ich versuche schon die ganze Zeit, Nick Miller zu erreichen.«
»Wie gesagt, dies ist sein Handy«, klärte ich sie nochmals gähnend auf. »Darf ich vielleicht fragen, wer dort spricht?«
»Tut mir leid, aber wer sind Sie überhaupt? Und warum haben Sie Nicks Handy?«
»Weil er im Augenblick unter der Dusche steht.« Ich konnte deutlich spüren, dass ich mich im nächsten Augenblick um Kopf und Kragen reden würde. Trotzdem fuhr ich tapfer fort: »Ich bin Tess. Das heißt, Vanessa. Ja, verdammt, Vanessa.«
»Holen Sie Nick ans Telefon«, verlangte die mir unbekannte Frau. »Und zwar sofort.«
Statt zu tun wie mir geheißen, drückte ich sie einfach weg und warf das teure Handy in das volle Wasserglas, das auf dem Nachttisch stand. Denn vielleicht machte ich den Anruf auf die Art ja ungeschehen.
Danach schwang ich mich vom Bett und suchte auf dem Fußboden nach meinem eigenen Handy. Vielleicht hatte ich ja noch genügend Zeit, um dranzugehen. Vielleicht gäbe es für mich ja doch noch irgendwas zu tun. Vielleicht …
»He, wer war denn dran?«
Ein äußerst attraktiver, splitternackter Mann trat durch die Tür des Badezimmers und fuhr sich mit einem blütenweißen Handtuch durch das blonde Haar. Ich betete, dass er sich gleich nach seiner Hose bücken würde, um sie anzuziehen. Weil es mir schwerfiel, mich auf eine neuerliche Notlüge zu konzentrieren, während ich auf einen nackten Penis blickte.
»Niemand«, zirpte ich. »Anscheinend hat sich irgendwer verwählt.«
»So was gab’s zum letzten Mal vor zwanzig Jahren.« Nick marschierte durch den Raum und ließ das Handtuch fallen. »Und wo hast du mein iPhone hingelegt?«
»Oh, das ist mir aus der Hand gefallen.« Ich sah von meinem Platz am Boden auf und hoffte, Nick würde durch meine nackten Reize vielleicht von dem Akt roher Gewalt, den ich »versehentlich« begangen hatte, abgelenkt.
Doch meine Hoffnung trog.
»Wie zum Teufel konnte das passieren?« Mit einem unterdrückten Schluchzen schnappte er das Glas und starrte es mit großen Augen an, als wäre es ein Exponat von Damian Hirst. IPhone im Wasser. Dafür gäbe es auf jeden Fall den angesehenen Turner-Preis. »Mein verdammtes Telefon ist kaputt. Was soll ich ohne iPhone tun?«
Egal wie heiß er war, sein Gejammer war alles andere als attraktiv. Ich zog meinen Slip aus einem seiner Schuhe, denn ich hoffte, wenn ich halbwegs angezogen wäre, käme mein Gehirn vielleicht wieder in Gang.
»Es ist mir aus der Hand gerutscht.« Zum Zeichen meiner Unschuld reckte ich die Arme in die Luft und drückte gleichzeitig mit beiden Oberarmen seitlich gegen meine Brust. Weil Ablenkung die beste Waffe eines Magiers war und ich auf jeden Fall die Fähigkeiten eines Magiers bräuchte, um mich irgendwie aus dem Schlamassel herauszuziehen. Oder besser noch ein Wunder. Wo in aller Welt war Jesus, wenn man ihn mal brauchte? Oder der berühmte David Copperfield? Aber Jesus hätte mir in diesem Fall wahrscheinlich eher gedient. »Es tut mir leid.«
Nick betrachtete noch immer traurig die durchnässte kleine Kiste, die ihn mit der Welt verbunden hatte, und stieß eine Reihe herzerweichender Geräusche aus. Ich selber suchte immer noch nach meinem eigenen Handy, das mir trotz des tausendfach gesprungenen Bildschirms immer noch mit seinem lauten Piepsen auf die Nerven ging. Vielleicht steckte es ja in der schicken, hübschen, kleinen Seiden-Clutch, die ich zusammen mit dem Kleid verloren hatte, als wir gestern Abend knutschend durch die Tür getaumelt waren. MAC-Make-up, Chanel-Parfüm, Reservebatterien und Dutzende von Kugelschreibern waren auf dem Fußboden verstreut. Manchmal war ich wirklich seltsam. Der Gedanke, einmal ohne Kugelschreiber dazustehen, rief nackte Panik in mir hervor.
Schließlich zerrte ich das Handy aus Nicks Boxershorts. Igitt. Am liebsten hätte ich mich gar nicht erst gemeldet, sondern das Gerät erst mal mit einem feuchten Lappen abgewischt. Doch dies war nicht der rechte Augenblick für eine meiner Zwangsneurosen, dachte ich und meldete mich tapfer mit »Hallo?«.
»Tess, ich bin es, Paige. Wo steckst du? Ich habe es schon mindestens zehnmal bei dir probiert und dich schon überall gesucht.«
Na super. Konnte ich nicht einmal fünf Minuten postkoitalen Frieden haben?
»Wo soll ich denn schon sein? Ich bin in meiner Hütte. Was ist los?«
»Nein, da bist du nicht. Da habe ich schon nachgesehen.« Nach einer kurzen Pause fragte sie: »Bist du etwa bei Nick?«
»Gott, ja, genau das habe ich gemeint. Dass ich in seiner Hütte bin.« Ich lenkte meinen Blick auf ihn. Anscheinend tröstete der Anblick meiner Titten ihn inzwischen doch über den vorzeitigen Tod seines Telefons hinweg. »Wir wollten gerade schnell die Bilder durchgehen.«
Nick zog eine Braue hoch und warf sein iPhone achtlos fort. Es war geradezu erstaunlich, wie schnell sich ein Mann von einem schmerzlichen Verlust erholen konnte, wenn er auch nur die geringste Chance zum Beischlaf sah.
»Okay, ich komme rüber. Du musst etwas unternehmen. Stephanie hat angerufen und ist mega angepisst. Sie will mich feuern. Verdammt, Tess, was sollen wir jetzt tun?«
»Okay, brich bitte nicht in Panik aus, aber komm jetzt bitte auch nicht her.« Entschlossen klemmte ich mein Handy zwischen mein Gesicht und meine Schulter und versuchte, Nick daran zu hindern, mir die Unterhose, die ich erst vor zwei Minuten angezogen hatte, wieder auszuziehen. »Ich habe dir schon eine Reihe Nachrichten aufs Band gesprochen, weil ich dir noch jede Menge Zeug von gestern zeigen muss. Und jetzt beruhig dich erst einmal. Ich komme rüber. Nick ist momentan beschäftigt, aber …«
»Nick ist allerdings beschäftigt«, raunte er mir leise zu und schob die Daumen unter die hauchdünne Seide, die um meinen Hintern lag. »Genau wie du.«
Er schnappte sich mein Handy, schleuderte es fort, und ich musste mit ansehen, wie es quer über den blank polierten Teakholzboden rutschte und unter dem Bett verschwand. Wo Paiges panische Stimme nur noch undeutlich zu hören war.
»Du bist eine Frau mit einem wahnsinnigen Sexappeal«, erklärte er und schmiegte sein Gesicht an meinen Hals. »Und du hast keine Ahnung, wie unglaublich heiß ich gerade auf dich bin.«
»Ich würde wirklich gerne mitspielen«, stieß ich heiser hervor und klappte meine Augen zu. Ich war es wirklich nicht gewohnt, dass irgendjemand mich für sexy hielt. Oder auch nur für eine Frau. Die meisten Männer nahmen mein Geschlecht höchstens am Rande wahr, und solche Dinge aus dem Mund eines derart attraktiven Mannes zu hören, machte mich natürlich schwach. »Nur ist dies der denkbar ungünstigste Augenblick für so etwas.«
»Vanessa.« Seine großen Hände packten meine winzig kleinen Fäuste, und er sah mich reglos an. »Du hast mein Handy in ein Wasserglas geworfen. Dafür bist du mir was schuldig. Also halt den Mund und tu, was man dir sagt.«
Seit ich ihn zum ersten Mal gesehen hatte, gingen alle Worte, die er sprach, direkt in Richtung meiner Vagina, doch dieses eine Mal musste ich ihm einfach widerstehen. Und ich konnte stark sein. Mindestens solange ich noch meine Unterhose trug.
»Tut mir leid, aber ich muss jetzt wirklich gehen.« Ich entwand mich seinem Griff und hob mit einer überraschend flüssigen Bewegung meinen Büstenhalter auf. »Wie gesagt, es tut mir leid.«
»Das braucht es nicht.« Er packte abermals mein Handgelenk. »Bleib einfach hier.«
Ehe ich ihm widersprechen konnte, klopfte es vernehmlich an der Tür.
»Tut mir leid, aber ich muss jetzt wirklich los.« Ich entwand mich seinem Griff und versuchte zu ergründen, welcher Teil des auf dem Fußboden verstreuten Stoffs am Vorabend von mir getragen worden war. »Das ist Paige. Mach bloß nicht auf.«
So dämlich konnte man doch gar nicht sein. Denn wenn man Nick etwas verbot, tat er es garantiert erst recht.
»Und was ist dabei, wenn sie es ist?« Er blickte mich mit hochgezogenen Brauen an. »Wir sind schließlich erwachsen, oder nicht?«
»Bitte fang nicht davon an.« Ich hatte einfach keine Zeit für diese Diskussion. Manchmal war er wirklich ein Idiot. Das hieß, im Grunde war er immer ein Idiot, wenn er nicht gerade etwas tat, woran sein bestes Stück beteiligt war. »Und bitte, bitte mach nicht auf!«
So nackt, wie er einst auf die Welt gekommen war, marschierte Nick zur Tür und riss sie auf.
Das blonde Mädchen auf der Schwelle starrte ihn mit großen Augen an.
»Paige.« Er nickte knapp. »Vanessa und ich waren gerade dabei, die Pläne für morgen durchzugehen.«
Um nicht Nick in seiner nackten Pracht noch länger anzustarren, lenkte sie den Blick auf meine Unterhose. Was wahrscheinlich auch nicht besser war.
Schließlich aber überwand sie ihren ersten Schrecken, zählte zwei und zwei zusammen und verzog unglücklich das Gesicht. Ohne nachzudenken, trat ich auf sie zu, verfing mich dabei allerdings in Nicks verfluchten Boxershorts.
Ich sah sie flehend an.
Sie lenkte ihren Blick auf ihn.
Und er sah wieder einmal furchtbar selbstzufrieden aus.
»Oh, Tess.« Sie stieß ein unfreundliches Lachen aus. »Tess, Tess, Tess.«
Ich flehte: »Lass es, Paige«, obwohl mir klar war, dass es wenig nützte, Frauen anzuflehen, die einen nur in Unterwäsche an der Seite eines Mannes überraschten, den sie selbst sich hätten angeln wollen. Vor allem, wenn dieser Mann vollkommen unbekleidet war. »Bitte.«
»Tess?« Nick war nicht unbedingt immer die hellste Kerze auf der Torte, auch wenn er das selbstverständlich anders sah. »Wer in aller Welt ist Tess?«
»Sie«, erklärte Paige und wies auf mich. »Nicht wahr?«
»Vanessa?« Nick bedeckte seine Männlichkeit mit einer Hand, und auch sein selbstgefälliger Gesichtsausdruck verflog. Hätte ich nicht unbedingt vor lauter Scham im Erdboden versinken wollen, hätte ich wahrscheinlich laut gelacht.
»Was hat das alles zu bedeuten?«, fragte er, und unsicher, wie ich ihm die Geschichte auseinandersetzen sollte, fing ich an.
»Ich kann es dir erklären, Nick. Das ist eine lange, ziemlich witzige Geschichte, hmm. Auch wenn ich keine Ahnung habe, wo ich anfangen soll.«
»Ich schon«, mischte sich wieder Paige in das Gespräch. »Dies ist Tess. Eine hundsgemeine, egoistische, verlogene Kuh, die allen etwas vormacht und die ich nur deshalb nicht verraten habe, weil ich selbst eine Idiotin bin.«
Das war ein bisschen harsch. Ein bisschen harsch, aber durchaus korrekt. Plötzlich wurden meine Knie weich. Der noch immer nackte Nick war hoffnungslos verwirrt, und unglücklicherweise reichte seine Männlichkeit nicht aus, um Paige daran zu hindern fortzufahren.
»Um es kurz zu machen: Sie heißt nicht Vanessa, sondern Tess«, klärte meine bisherige Freundin und Vertraute ihn entschlossen auf. »Sie heißt Tess Brookes, und nichts an ihr ist echt.«
Tja, nun.
Sie hatte das, was ich mit vielen Worten hatte sagen wollen, auf den Punkt gebracht.
1
Zwei Wochen vorher
Im Grunde fing der Tag, an dem für mich alles den Bach hinuntergehen sollte, wie alle anderen Tage an.
Beim Läuten meines Weckers stand ich auf, duschte und sah eine Viertelstunde Frühstücksfernsehen ohne Ton, weil meine Mitbewohnerin noch schlief. Danach zog ich mich an, überprüfte meine Tasche, ob die Tampons reichten, obwohl meine nächste Periode garantiert noch vierzehn Tage auf sich warten lassen würde, vergewisserte mich doppelt, ob ich mein Glätteisen auch ausgeschaltet hatte, und fuhr ins Büro. Wo ich wie stets die Erste war. Keiner von den anderen lief montags dort vor zehn Uhr ein, aber ich war einer dieser nervtötenden Menschen, die am meisten schaffen, wurden sie nicht vom lauten Klappern Dutzender anderer Tastaturen abgelenkt. Weshalb die frühen Vormittage und die späten Nachmittage meine Freunde waren. Und so häufig, wie ich früher oder länger als die anderen an meinem Schreibtisch saß, waren sie auch fast die einzigen. Doch an diesem ganz besonderen Montag tauchte ich aus gutem Grund frisch wie der junge Frühling im Büro auf. Denn nach sieben Jahren Schufterei würde sich mein Traum von der Beförderung erfüllen.
Ich, Tess Brookes, stand im Begriff, die jüngste künstlerische Leiterin zu werden, die bei Donovan & Dunning je gesichtet worden war.
Selbstverständlich fanden das die anderen nicht so aufregend wie ich, deshalb war es für mich nicht wirklich überraschend, dass ich schon vor dem Büro der Personalleiterin saß, bevor sie auch nur aus der U-Bahn ausgestiegen war. Doch ich selbst war richtiggehend schwindelig vor Glück.
»Morgen, Raquel«, grüßte ich die Frau mit einem derart breiten Lächeln, dass mir regelrecht die Backen schmerzten, als sie endlich auf der Bildfläche erschien. Das konnte sicherlich nicht schaden, dachte ich, denn schließlich war dies mein großer Tag. Manche Mädels traten vor den Traualter, andere bekamen Babys. Und ich selbst wurde befördert.
»Tess.« Raquel, eine kleine Frau mit viel zu stark gebleichtem Haar, kalt wie Hundeschnauze, bedeutete mir, ihr zu folgen. Offenbar war sie nicht überrascht, mich vor der Tür sitzen zu sehen. Aber weshalb hätte sie auch überrascht sein sollen? Wir hatten schon seit einem halben Jahr über die Beförderung gesprochen, und wahrscheinlich war sie jetzt einfach froh, wenn ich nicht mehr jede Woche bei ihr auftauchen würde. Ich brauchte nur meinen Vertrag zu unterschreiben, und dann wäre sie mich los. Zumindest für das nächste halbe Jahr. Denn schließlich war ich ehrgeizig.
»In Ordnung, lassen Sie uns gleich zur Sache kommen.« Sie nahm hinter einem viel zu großen Schreibtisch Platz und sah mich lächelnd an. »Ich habe schlechte Nachrichten.«
»Okay.« Ich richtete mich kerzengerade auf und sah sie fragend an. Schlechte Nachrichten? Schied sie womöglich aus der Firma aus? Vielleicht schied sie ja aus der Firma aus. Ich hoffte inständig, sie würde aus der Firma ausscheiden.
»Wie Sie wissen, gab es in dem Unternehmen im vergangenen Jahr viele Veränderungen.« Raquel faltete die Hände auf der Schreibtischplatte, legte ihren Kopf ein wenig schräg und bedachte mich mit einem ernsten Blick. Wahrscheinlich weil sie ihren Lebensunterhalt damit verdiente, dass sie andere feuerte und deshalb die verhassteste Person in der gesamten Firma war. »Und deshalb müssen wir bestimmte Maßnahmen ergreifen, um eine erfolgreiche Umstrukturierung sicherzustellen.«
»Okay.« Ich nickte. Auch wenn ich es etwas seltsam fand, dass sie mir nicht einfach zu meinem neuen Posten gratulierte, während sie mir gleichzeitig den Schlüssel der Toilette auf der Chefetage überließ. Natürlich war mir klar, dass es Veränderungen geben würde. Ich bekäme ein erheblich größeres Büro und eine deutliche Gehaltserhöhung. Die auch dringend nötig war, denn meine todschicken Beförderungs-High-Heels, die meine Füße leise schluchzen ließen, waren noch nicht bezahlt.
»Wie Sie wissen«, fuhr sie fort, »war der ursprüngliche Plan, Sie zur künstlerischen Leiterin zu machen, der die Werbe- und Design-Leute direkt untergeordnet sind.«
»Der ursprüngliche Plan?« Ein Teil von meiner Euphorie verflog.
»Der ursprüngliche Plan«, bestätigte sie mir und sah mir weiter reglos ins Gesicht.
Das klang nicht wirklich toll. Warum juchzte sie nicht laut? Warum überreichte sie mir kein Präsent? Und warum lächelte sie nicht? Aber schließlich lächelte sie nie.
»Unglücklicherweise können wir den ursprünglichen Plan aufgrund der Maßnahmen, die wir ergreifen müssen, um das Unternehmen umzustrukturieren, nicht in die Tat umsetzen. Denn die Position der künstlerischen Leiterin wird bei der vorgesehenen Verschlankung unseres Unternehmens nicht noch einmal besetzt.«
Zum ersten Mal stieg leise Panik in mir auf.
»Das heißt, dass Ihre Position gestrichen worden ist.«
Jetzt bräuchte ich auf alle Fälle Juchzer und Präsent.
»Sie sagen, dass die Position der künstlerischen Leiterin gestrichen worden ist?«, hakte ich mit unsicherer Stimme nach.
Nach sieben Jahren voller Überstunden und zahllosen Wochenenden in der Firma brachte diese widerliche Personalerin mich mit ein paar blöden Floskeln und Klischees um den Lohn für alle meine Mühen.
»Ja.« Ihr Blick war der, mit dem man sonst ein kleines Kind bedachte, das beim Anblick eines Rindviechs voller Stolz erklärte, Kühe machten muh.
»Ich werde also nicht die neue künstlerische Leiterin?«
»Nein, werden Sie nicht.«
Puff. Das war’s. Leb wohl, Beförderung. Hallo, Gott weiß wie viele Jahre noch an meinem alten Arbeitsplatz. Hallo, ihr vielen Überstunden, die ich leisten werden muss, bis meine neuen Schuhe abgestottert sind. Ich starrte auf den Oxford-Uni-Becher, der am Rand des Schreibtischs stand, und musste das Verlangen unterdrücken, ihn so weit wie möglich von mir fortzuschieben, damit dieses Weib ihn nicht urplötzlich an den Kopf bekam. Wer ging schon nach Oxford und endete dann als Personalerin einer PR-Firma?
»Wie Sie sehen werden, haben wir ein wirklich faires Kündigungspaket für Sie zusammengestellt«, fuhr Raquel fort. Und noch während ich mir sagte, dass das sicherlich ein fürchterliches Missverständnis war, schob sie mir einen steifen Umschlag hin und klopfte zweimal kurz auf den Karton. »Unter den gegebenen Umständen verstehen wir natürlich, falls Sie sofort gehen wollen. Ihre persönlichen Dinge kann ich Ihnen schicken. Wenn Sie mir Ihr Handy und den Firmenausweis überlassen, kümmere ich mich um den Rest.«
Ich starrte auf den Umschlag und dann wieder auf die Satansbrut, die vor mir saß.
»Ich fürchte, ich kann Ihnen nicht ganz folgen«, sagte ich möglichst höflich. »Kündigungspaket?«
»Es gibt für Sie keine Position mehr im Unternehmen.« Raquel kratzte sich diskret am Nasenflügel, und ich musste das Verlangen unterdrücken, ihr genauso unauffällig eine reinzuhauen.
»Wenn Sie also sagen, dass die Position der künstlerischen Leiterin gestrichen worden ist …« Ich atmete tief durch, weil mir mit einem Mal speiübel war. »Wollen Sie damit in Wahrheit sagen, dass man mich gestrichen hat.«
»Die Position der künstlerischen Leiterin«, wiederholte sie mit einem Nicken, »ist im aktuellen Geschäftsplan nicht mehr vorgesehen. Und Sie sind die künstlerische Leiterin.«
»Aber ich habe den Job noch gar nicht angefangen. Wie kann es also sein, dass mit dem Job auch ich gestrichen worden bin?« Meine Stimme wurde schrill, und sicher würde ich im nächsten Augenblick auch noch in Tränen ausbrechen. Ich fing hektisch an zu blinzeln und starrte auf den Oxford-Becher, während ich um Fassung rang.
»Mir ist klar, dass Sie wahrscheinlich ein paar Fragen haben.« Raquels kalte Augen wurden glasig. »Vielleicht würden Sie ja gern einen Termin ausmachen, um die Dinge morgen telefonisch durchzugehen.«
»Oder vielleicht würde ich auch einfach wollen, dass Sie endlich Klartext reden und mir sagen, warum ich gefeuert worden bin?«, schrie ich sie an.
Jetzt brachen sich die Tränen Bahn. Ich konnte nichts dagegen tun, denn ich verspürte einen glühend heißen Zorn, und außerdem taten mir meine Füße mittlerweile einfach höllisch weh. Ich benahm mich weder damenhaft noch sonderlich professionell, aber nachdem ich plötzlich ohne Job war, spielte es sicher keine Rolle, ob ich mich damenhaft benahm.
»Vielleicht könnten Sie mir ja erklären, warum man mich mit einem Mal entlässt, obwohl ich eigentlich hätte befördert werden sollen? Vielleicht könnten Sie mir ja erklären, wer die künstlerische Leitung jetzt an meiner Stelle übernimmt? Vielleicht könnten Sie mir ja erklären, wer in Zukunft all die Aufträge an Land ziehen, sämtliche Kampagnen leiten und sich sogar an Silvester seinen Arsch aufreißen soll, damit der Kunde, dessen dämlicher WC-Reiniger von uns beworben werden soll, nicht zu einem Konkurrenten geht?« Ich schnappte mir den Pappumschlag und schlug damit im Rhythmus meiner Worte auf den Tisch, bevor ich ihn quer durch das Zimmer fliegen ließ. »Wobei der Reiniger tatsächlich ätzend war.«
»Es zweifelt niemand daran, dass Sie immer engagiert gewesen sind«, gab Raquel ungerührt zurück. »Und wir stellen Ihnen gern ein gutes Zeugnis aus, mit dem sich sicher ganz problemlos woanders eine Anstellung finden lässt.«
»Eine Anstellung?«, fuhr ich das Weib mit schriller Stimme an. »Verdammt, wir sind doch nicht bei Downton Abbey. Und ich bin kein kleines Küchenmädchen, sondern der mit Abstand kreativste Kopf, den Sie hier haben, und das wissen Sie genau. Wo ist Michael? Wo, verdammt noch mal, ist Michael?«
Michael war mein Boss. Und ein eitler Gockel. Jedes Jahr, wenn er mir auf der Weihnachtsfeier Rotwein auf die Bluse kippte, tat ich das mit einem Lachen ab. Und als Michael mich und meine Brüste letzten Sommer vor den Ohren eines neuen Kunden als »seine drei Lieblingsangestellten« tituliert hatte, hatte ich es höflich ignoriert. Selbst wenn Michael mich in den vergangenen sieben Jahren jedes Mal, wenn ich Schluckauf hatte, begrabscht und so getan hatte, als ob das der ganz normale Heimlich-Handgriff wäre, hatte ich den Mund gehalten. Und wo war er jetzt?
»Mr. Donovan ist heute früh nicht im Büro«, klärte Raquel mich gelangweilt auf. »Ich kann verstehen, dass Sie erregt sind, aber das geht wirklich nicht persönlich gegen Sie. Es geht ganz einfach darum, dieses Unternehmen umzustrukturieren.«
»Warum fangen Sie dann nicht bei sich selbst an?«, brüllte ich. Auch wenn das keine allzu originelle Antwort war. »Das ist vollkommen lächerlich. Ich leite hier das künstlerische Team. Ich hatte die Ideen zu sämtlichen Kampagnen. Ich bin hier der kreative Kopf.«
»Das Gespräch hat keine Relevanz für die getroffene Entscheidung.« Sie stand auf und öffnete die Tür ihres Büros. Wahrscheinlich in der Hoffnung, dass ich endlich ging. »Ihre Position ist in dem Unternehmen nicht mehr existent. Ich werde Ihnen Ihre persönlichen Dinge und die Einzelheiten unseres wirklich großzügigen Abfindungspakets nach Hause schicken. Vielleicht denken Sie erst mal in Ruhe über alles nach. Für den Fall, dass Sie danach noch Fragen haben, rufen Sie mich einfach an. Ich bin sicher, dass ich Ihnen telefonisch Antwort darauf geben kann.«
Ich schnappte mir den Oxford-Becher, holte aus und schleuderte ihn kraftvoll auf den Boden. Doch statt zu zerspringen, rollte er nur kurz über den beigefarbenen Teppich, wobei sich ein dünnes Rinnsal schwarzen Kaffees über seinen Rand ergoss.
»Fühlen Sie sich jetzt besser?«, fragte Raquel und zog eine Braue hoch.
»Nicht wirklich.« Zornig streckte ich den Arm aus, fegte einen Stapel Akten von dem viel zu großen Tisch, stampfte trotz der Blasen unter meinen Füßen einmal zornig auf, riss einen Klebestift aus dem Regal und steckte ihn entschlossen ein.
»Den nehme ich mit«, erklärte ich ihr trotzig. »Ziehen Sie den meinetwegen von der großzügigen Abfindung, die ich bekomme, ab.«
Wenn man unter Schock steht, setzen die normalen Hirnfunktionen offenbar kurzfristig aus.
Sieben Jahre Arbeit, und mein Boss besaß noch nicht einmal den Anstand, pünktlich in der Firma zu erscheinen, um bei meiner Kündigung dabei zu sein. Ich hatte Hochzeiten, Geburtstage und Rendezvous verpasst, um Projekte abzuschließen, Präsentationen durchzuführen und Fristen einzuhalten, aber stets ein Lächeln im Gesicht gehabt. Während alle meine Freudinnen und Freunde sich die Seelen aus dem Leib gereihert oder irgendwelche Fremden abgeschleckt hatten, saß ich selbst vergangenes Silvester hinter meinem Schreibtisch und habe drei Stunden lang einen Massageigel an die Wand geworfen, bis mir die Idee zu einer neuen, aufregenden Werbung für die dämliche Toiletten-Ente kam. Die sich dann als echter Hit erwiesen hat. Überall in meiner Wohnung lagen irgendwelche Bücher, die ich zwar gekauft, doch nie gelesen hatte, Stapel ungesehener DVDs und Berge von CDs, von denen bisher nicht einmal die Plastikfolie abgezogen war. Großer Gott, ich hatte schon so lange keine Zeit mehr zum Musikhören gehabt, ich hatte wirklich noch CDs. Was mir bisher völlig egal gewesen war. Denn ich hatte einen Plan gehabt. Egal, wie häufig meine letzten beiden Freunde mich gebeten hatten, langsamer zu machen, weil der Job nicht alles sei, hatte ich nicht auf ihre Worte hören wollen. Denn da mein Job mein Leben war, hatte mir natürlich nichts gefehlt.
Doch ohne Job hatte ich auch kein Leben mehr.
Ich nahm zum letzten Mal den Lift, in dem es immer leicht nach Katzenfutter roch, und mir wurde bewusst, dass der Verlust meines Jobs noch viele andere grauenhafte Dinge nach sich zog. Jetzt könnte ich nicht mehr in eine eigene Wohnung ziehen und würde dadurch auch die Mitbewohnerin, die mir das Leben schwer machte, nicht los. Und ohne eigene Wohnung würde auch mein Leben niemals richtig anfangen. Ich bräuchte weder tolles Kochgeschirr noch hübsche Vorhänge für irgendwelche Fenster, bräuchte keinen Sushi-Kochkurs zu belegen und auch keinen Fernseher, der die gesamte Wand einnahm. Ich könnte Charlie nicht zum Abendessen einladen, ein bisschen zu viel trinken und ihn fragen, ob er Lust hätte, noch einen Film zu sehen, in dem wahrscheinlich Emma Stone mitspielen würde. Und ich könnte nicht genau in dem Moment, in dem die Frauen sie als besonders liebenswert empfanden, während die Männer vollends ihrem Sexappeal erlagen, meinen Kopf an seine Schulter lehnen und ihm so zeigen, dass ich seine Emma sein wollte. Ich würde ihn nicht küssen und danach auch nicht für alle Zeit mit ihm zusammen sein. Auch dieser Traum war ausgeträumt. Denn ohne Job gab es keine eigene Wohnung, keine Einladung zum Abendessen, keinen Filmabend mit Emma Stone, keinen Kuss und garantiert kein Happy End.
Aus der Traum, das war’s.
Nachdem ich bisher nie gefeuert worden war, wusste ich nicht genau, wie man sich in einem solchen Fall korrekt verhielt. Zum ersten Mal war ich tatsächlich dankbar, dass die anderen im Büro so faule Säcke waren. Denn dadurch bekam niemand mit, wie ich schniefend wahllos meine Sachen in eine Tesco-Plastiktüte stopfte. Abgesehen von einer Praktikantin, die völlig verängstigt guckte, und dem Grafiker, von dem wir alle wussten, dass er mehrmals täglich auf dem Klo verschwand und dort an einer Tube Kleber roch. Mit diesem Unternehmen ging es den Bach runter, deshalb wurde ich gefeuert, während dieser Klebstoff-Schnüffler seinen Job behielt. Na toll.
Ich starrte meinen Tacker an. Bisher hatte ich immer einen Plan gehabt. In der Schule hatte ich die Mädchen-Fußballmannschaft aufgebaut, weil unser Sportlehrer ein elender Sexist gewesen war, beim weihnachtlichen Krippenspiel in unserem Dorf hatte der Getränkestand dank meiner Mithilfe zum ersten Mal Gewinn gemacht, und im zehnten Schuljahr bei der Klassenfahrt nach Alton Towers hatte ich dafür gesorgt, dass ich auf der Hin- und Rückfahrt neben Jason Hutchins saß. Ich hatte immer einen Plan gehabt, und meine Pläne hatten immer funktioniert. Ich griff nach dem Tacker, ließ ihn in die Tüte fallen und marschierte aus dem Haus.
In einer Hand die Plastiktüte, in der anderen den Rest meiner Würde, wanderte ich los. Nach zehn Minuten landete ich am Bloomsbury Square und humpelte in Richtung einer leeren Bank. Auch wenn der Sommerschlamm das wunderbare helle Wildleder meiner neuen Schuhe sicher ruinieren würde, streifte ich sie ab und zog auch noch die Nadeln aus meinem erst zwei Stunden zuvor so sorgsam aufgesteckten Haar. Traurig starrte ich die beiden Hunde an, die ausgelassen auf der Wiese spielten. Irgendwie sahen Hunde immer glücklich aus. Wahrscheinlich, weil sie immer glücklich waren. Denn sie hatten keinen Plan. Sie hatten nicht seit sieben Jahren auf eine Beförderung gehofft. Waren nicht seit mindestens zehn Jahren hoffnungslos in ihren besten Freund verliebt. Nun, natürlich konnte ich nicht mit Bestimmtheit sagen, dass sie das nicht waren, doch es kam mir ziemlich unwahrscheinlich vor.
Ich wühlte in der Tesco-Tüte, um mich von dem Elend abzulenken, das mich plötzlich überkam. Aber außer dem gestohlenen Tacker, drei gerahmten Fotos, einer noch geschlossenen Packung Müsliriegel und zwei Dutzend Stiften (überwiegend Textmarker, weil ich Textmarker liebe) fand ich nichts. Das war’s. Nach sieben Jahren Schufterei hielt ich jetzt die Reste meiner Existenz bei Donovan & Dunning in einer halbvollen Tesco-Plastiktüte auf den Knien.
Ich zog die Fotos nacheinander aus der Tüte und legte sie vorsichtig auf einem meiner schwarz bestrumpften Knie ab. Das erste war von mir und Amy, als wir zwei noch kleine Mädchen waren, die sich als Prinzessinnen verkleidet strahlend in den Armen lagen. Anders als die Menschen auf dem nächsten Bild. Ich und meine Schwestern, meine Mum und meine Oma blickten ernst und förmlich in die Kamera. Weil die Familie Brookes immer eher zurückhaltend gewesen war. Erst wenn jemand starb, rang meine Mutter sich zu mehr als einem strengen Schulterklopfen durch. Nach dem Tod meines ersten Opas hatte sie mir das Haar zerzaust. Ein Augenblick, der unvergesslich für mich ist. Auf dem dritten Foto sah man wieder mich und Amy, diesmal als erwachsene Frauen und zusammen mit Charlie, der für mich Kollege, bester Freund und in den ich seit zehn Jahren verschossen war. Wir lungern auf dem Bild auf einer Couch vor einem riesengroßen Spiegel im Foyer eines Hotels, und gegenüber ist ein zweiter großer Spiegel aufgehängt. Wir hatten damals einen Kurztrip nach Paris gemacht. Mein Gesicht war auf dem Bild hinter der Kamera versteckt, die mich in jenem Sommer pausenlos begleitet hatte, doch meine abgeschnittenen Jeans und das gestreifte T-Shirt sind im Spiegel gut zu sehen. Und die Spiegelbilder der Gesichter meiner Freunde sehen mich lächelnd an. Links von mir sitzt Amy, die mit ihrem schwarzen Bubikopf wie Amélie aussieht, und hat lässig ihre Beine über unseren Beinen ausgestreckt, während rechts von mir die Liebe meines Lebens ihren Kopf auf meine Schulter legt und die Zigarette seitlich hält, damit ja keine Asche auf meine entblößten Arme fällt. Obwohl das auf dem Foto nicht zu sehen ist, weiß ich noch, dass ich gelächelt habe. Weil wir schließlich die drei Musketiere waren. Stein, Schere, Papier. Amy war die Schere, Charlie das Papier und ich der Stein. Denn ich war immer schon der Fels, auf den sich bauen ließ.
Langsam, aber sicher nahm die Spannung zwischen meinen Schultern etwas ab, und ich bekam wieder ein bisschen besser Luft. Gerade rechtzeitig, um festzustellen, dass inzwischen jemand dicht an meiner Seite saß.
»Morgen.« Ein unglaublich durchschnittlicher Mann mit kahl rasiertem Kopf und schwarzer Bomberjacke nickte mir knapp zu.
»Morgen«, antwortete ich, während ich vorsichtig die Fotos wieder in die Tüte schob. Denn schließlich gab es keinen Grund, nicht höflich auf den Gruß zu reagieren. Vor allem, weil dies ab jetzt mein Leben war. In Zukunft säße ich wahrscheinlich häufiger in irgendwelchen Parks und unterhielte mich mit anderen Arbeitslosen, während mich der Staat mit Teilen der Hundesteuer, die die anderen Leute zahlten, unterhielt. Ich überlegte, ob ich mir gleich im Supermarkt am Russell Square Schnaps kaufen sollte. In Zukunft würde eine Flasche Schnaps sicher häufiger nötig sein.
»Mach jetzt keinen Aufstand«, bat der Mann, ohne mich anzusehen. »Rück dein Bargeld und dein Handy raus.«
»Wie bitte?« Ich hatte mich sicher verhört. Denn dieser Kerl wollte mich doch bestimmt nicht wirklich überfallen. Während meiner sieben Jahre hier in London war mir nie etwas passiert. Und ausgerechnet heute Morgen wurde ich das Opfer eines Raubs? Das konnte doch nicht sein.
»Geld und Handy. Jetzt.« Der Typ zückte ein kleines Schweizer Taschenmesser und bemühte sich um einen möglichst bösen Blick. »Zwing mich nicht, dir wehzutun.«
Ich legte meinen Kopf ein wenig schräg und starrte ihn mit großen Augen an. Ohne Haare sah der Kerl eher wie ein Riesenbaby und nicht wirklich furchteinflößend aus.
»Ich wäre froh, wenn ich ein Handy hätte«, gab ich ungerührt zurück. Anscheinend war es wirklich so: Ich wurde tatsächlich von einem Riesenbaby in Bomberjacke ausgeraubt. »Und meine Brieftasche ist leer und war vor allem ein Geschenk.«
Er riss überrascht die Augen auf. »Jeder hat ein Handy. Also rück dein Handy raus.«
»Nein, ich habe wirklich keins.« Ich klappte meine Tasche auf und kippte ihren Inhalt auf die Bank. Drei Lippenstifte, eine Puderdose, meine Schlüssel sowie Unmengen von Tampons und Stiften fielen klappernd auf das Holz. Ich griff nach meinem Geldbeutel und klemmte ihn entschlossen zwischen meinen Knien fest. Denn schließlich hatte ich bereits gesagt, dass er mein Portemonnaie nicht haben könnte, und auch gegenüber einem Kriminellen hielt ich auf alle Fälle Wort. »Sehen Sie? Kein Handy. Meine Firma hat mich eben an die Luft gesetzt. Und mein Handy einbehalten, weil es auf die Firma lief.«
»Du hast echt kein Handy?«, fragte mich der Räuber voller Mitgefühl. »Das ist natürlich ätzend.«
»Allerdings.«
Wir beide starrten schweigend vor uns hin, doch schließlich sammelte ich meine Sachen wieder ein. Anscheinend waren Textmarker ihm nicht so wichtig. Aber schließlich hatte er in seinem Job auch keinen wirklichen Bedarf daran. »Das mit dem Handy ist nicht weiter schlimm. Dass ich meinen Job los bin, schon eher.«
»Das kann ich gut verstehen.« Er schnappte sich ein paar der Tampons und ließ sie in meine Tasche fallen. »Ich hatte auch mal einen Job. Aber den habe ich verloren. Was allein die Schuld dieser verdammten Tories ist, nicht wahr?«
»Ich schätze, dass die Rezession für alle ziemlich hart ist«, stellte ich mitfühlend fest. »Die Zeiten sind im Augenblick nicht gerade gut.«
Plötzlich zog das Riesenbaby aus seiner Tasche ein brandneues iPhone und hielt es mir hin. »Hier, benutz ruhig mein Handy, falls du telefonieren musst.«
»Das wäre wirklich toll«, erklärte ich, obwohl das Muster auf der Hülle seines iPhones nicht gerade meinem Geschmack entsprach. Ich war mir ziemlich sicher, dass es in den Handyläden keine iPhone-Hüllen mit Hakenkreuzen gab. Diese Hülle war also eindeutig selbst gemacht. Trotzdem nickte ich ihm freundlich zu. »Vielen Dank, das ist echt nett.«
»Keine Angst, ich höre schon nicht mit.« Mit einem knappen Nicken stand er auf und wanderte ein paar Meter davon. Die mittelalte Frau mit Wachstuchjacke und Haarreifen, die ihm entgegenkam, bog eilig ab, und ich senkte den Blick, als ihr mein neuer Freund dicht auf den Fersen blieb.
»Hallo?« Ich selber ginge nie ans Telefon, wenn ich nicht wüsste, wer am anderen Leitungsende ist. Meine Freundin aber schon.
»Ich bin’s, Amy.«
»Und von wo aus rufst du an? Was ist los? Du hat doch wohl nicht etwa schon ein neues Handy? Sag mir nicht, dass du ein iPhone hast. Hast du auch Siri? Könntest du ihr eine Frage für mich stellen?«
»Dieses Ding gehört nicht mir«, unterbrach ich ihren Redefluss. »Bist du bei der Arbeit?«
»Ja.« Sie klang nicht überzeugt. »Bis fünf.«
»Oh. Sie haben mir gekündigt, und ich dachte, dass du vielleicht Lust hast, dich nach Kräften zu betrinken.«
»STELLA!« Ich riss meinen Kopf zurück, als Amy ihre Chefin anschrie, während ihre Lippen weiter dicht an ihrem Handy waren. »Ich habe Kopfschmerzen und fahre heim. Okay?«
»Ich glaube nicht, dass man mit Kopfschmerzen noch so laut schreien kann«, bemerkte ich.
»Ich bin in einer halben Stunde da«, gab Amy ungerührt zurück. »Mach bis dahin keine Dummheiten, okay?«
»Okay«, versprach ich. Der Gedanke war mir bisher nicht gekommen, aber nun, da sie davon gesprochen hatte, fiel mir auf, wie nah die Themse war. Ein kurzer Sprung, und ich bräuchte mich nicht mehr arbeitslos zu melden. Und noch nicht mal rauszufinden, wo das blöde Arbeitsamt überhaupt lag. Vielleicht könnte mir mein neuer Freund dabei ja weiterhelfen. Oder vielleicht brächte ich mich doch am besten einfach um.
Amy hatte aufgelegt, bevor ich sie nach ihrer Meinung fragen konnte, und ich merkte, dass der Besitzer meines Handys in der Zwischenzeit zurückgekommen war. Also hielt ich ihm das iPhone lächelnd wieder hin.
»Weißt du was?« Er winkte ab. »Behalt das Ding. Ich kann mir jederzeit ein neues holen.«
»Oh nein.« Ich drückte ihm das iPhone in die tätowierte Hand. »Das kann ich ganz unmöglich annehmen. Nein, wirklich nicht.«
»Nein, behalt’s!« Jetzt drückte er mir seinerseits das iPhone in die Hand. »Wie willst du ohne Handy eine neue Arbeit finden? Los, behalt das Ding.«
»Nun, vielen Dank.« Ich blickte ihn mit meinem schönsten Lächeln an. »Das ist unglaublich nett.«
»Schon gut.« Er reckte seinen Arm zu einem Gruß, der mir entfernt bekannt vorkam. »Und mach dir keine Sorgen. Schließlich bist du echt ein flotter Feger und kriegst sicher sofort einen neuen Job. Denk einfach dran, dass die dich alle mal sonst was können.«
»Ja, genau«, erklärte ich, auch wenn ich es verwerflich fand, mich über dieses Kompliment zu freuen, da es von einem Neonazi kam.
Ich sah dem trotzdem netten Straßenräuber hinterher, die harten Ränder des gestohlenen Hakenkreuz-iPhones schnitten mir in die Hand, und während es anfing zu regnen, brach ich abermals in Tränen aus.