MONICA BYRNE
DIE
BRÜCKE
ROMAN
Aus dem Amerikanischen übersetzt
von Irene Holicki
WILHELM HEYNE VERLAG
MÜNCHEN
Das Buch
Wir schreiben das Jahr 2068: Die USA und Europa sind in die Bedeutungslosigkeit gefallen, Indien und Afrika dagegen die stärksten Wirtschaftsmächte der Welt, deren Mega-Cities ständig mit Energie versorgt werden müssen. Zu diesem Zweck wurde der »Trail« erfunden – eine gigantische, schwimmende Pontonbrücke, die über das Arabische Meer verläuft, Indien mit Äthiopien verbindet und Sonnenlicht in Strom umwandelt. Doch der Trail ist auch die letzte Hoffnung für die Gestrandeten und Heimatlosen, für die Menschen, die in den pulsierenden Riesenstädten Indiens keinen Platz mehr finden: Sie wandern über die fast viertausend Kilometer lange Brücke nach Afrika – einer vermeintlich besseren Zukunft entgegen. Eine von ihnen ist die junge Meena, die nach einem tragischen Schicksalsschlag beschließt, Indien zu verlassen. In der äthiopischen Hauptstadt Addis Abeba will sie das Rätsel um den Tod ihrer Eltern lösen – nur so glaubt sie, endlich Frieden finden zu können. Die andere ist Mariama, die mit den Geistern ihrer Vergangenheit abschließen möchte. Meena und Mariama kennen einander nicht, und doch ist ihr Schicksal auf vielfache Weise miteinander verknüpft …
Die Autorin
Monica Byrne wurde in Harrisburg, Pennsylvania, als das jüngste von fünf Kindern geboren. Sie studierte Biochemie am Wellesley College und Geochemie am MIT. Sie arbeitete in den verschiedensten Berufen, bevor sie ihre wahre Berufung im Schreiben fand. Für ihren Debütroman Die Brücke wurde sie von der Presse hoch gelobt. Monica Byrne lebt und arbeitet in Durham, North Carolina.
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Titel der amerikanischen Originalausgabe
THE GIRL IN THE ROAD
Deutsche Erstausgabe 09/2015
Redaktion: Rainer Michael Rahn
Copyright © 2014 by Monica Byrne
Copyright © 2015 der deutschsprachigen Ausgabe by
Wilhelm Heyne Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Umschlaggestaltung: Das Illustrat, München
Satz: Christine Roithner Verlagsservice, Breitenaich
ISBN 978-3-641-16260-3
www.diezukunft.de
Für meine Mutter und meinen Vater,
die beiden Menschen,
die ich auf dieser Welt am meisten liebe.
ERSTES BUCH – MEENA
DIE DRITTE FLUCHT
In diesem Moment fängt die Welt neu an.
Ich hebe meine Kurta vom Boden auf und schlüpfe wieder hinein. Der blutige Stoff klebt an meiner Haut. Ich bin in einer Seifenoper gelandet. Das kann nicht die Wirklichkeit sein. Ich gehe durch den Flur zurück zur Küche und betaste die Wunden, um zu sehen, wie tief sie sind. Ich bin in Panik. Auf der Suche nach einem Messer zerbreche ich noch mehr Glas. Dabei fällt mir ein, dass mir in Muthashis Klinik schon einmal eine solche Wunde begegnet ist. Damals kam ein kleines Mädchen zu uns, das an einer ungewöhnlichen Stelle, nämlich über dem Solarplexus, in der Vertiefung unter ihren noch unreifen Brüsten, von einer Schlange gebissen worden war. Ich half, Salbe aufzutragen und einen kreuzförmigen weißen Verband anzulegen. Danach sah sie aus wie eine kleine Kreuzritterin.
Ich werde ganz ruhig. Genau das Gleiche ist mir passiert.
Ich weiß nicht, wer mir die Schlange ins Bett gelegt hat. Ich weiß nur, dass ich auf der Stelle von zu Hause fort muss, weil mir hier jemand nach dem Leben trachtet. Es könnte Semena Werk sein. Die Organisation behauptet zwar, lediglich humanitäre und keine terroristischen Ziele zu verfolgen, ich habe jedoch gehört, dass sie auf dem Weg nach Süden ist und in Keralam aktiv werden will. So viel Fantasie entwickelt man dort allerdings für gewöhnlich nicht; eine Schlange im Bett, das ist neu. Und schon ertönt Mohinis Stimme in meinem Kopf. Sie hält mir vor, ich würde bloß wegen meiner Familiengeschichte den Äthiopiern die Schuld geben, obwohl ich noch keinerlei Informationen hätte. Ihre Stimme ist nicht zu überhören. Ich muss mich alle paar Sekunden wieder daran erinnern, dass wir nicht mehr zusammen sind. Wir hatten eine Heldenfahrt als Liebespaar geplant, nach dem Vorbild von Sita und Rama, Beren und Lúthien oder Alexander und Hephaistion. Nun muss ich wohl alleine reisen.
Ehe ich michs versehe, stehe ich an der Küchentheke und greife nach meiner großen Tasche, in der sich mein Sichter, der Mitter und etwas Bargeld befinden. Dann trete ich aus der Tür und gehe um das Pookalam herum, das wir eigenhändig angelegt hatten. Für jeden hohen Festtag pflanzten wir einen neuen Blütenring. Am Ende der Treppe erreiche ich das Eisentor, öffne es und stehe schließlich an der Straße, die vom Monsunregen dampft.
In der Ferne krachen Schüsse.
Mohini sagt: Beruhige dich. Das sind bloß Knallkörper. Irgendwelche Kinder feiern vorzeitig Onam.
Du hast recht, antworte ich. Ich bin außer mir, ich weiß es selbst. Durch meine Adern fließt kein Blut, sondern pures Adrenalin. Ich marschiere los und beobachte die Schwaden, die vom Asphalt aufsteigen; ihre greifbare Realität lässt mich ruhiger werden. Doch als es erneut zu regnen beginnt, flüchte ich in meinen Kopf zurück. Wenn ich allein auf diese Reise gehen will, muss ich mich wieder daran gewöhnen, solo zu sein. Ich habe gern andere Menschen um mich, allerdings nur solche, vor denen ich mich nicht zu rechtfertigen brauche. Ich bin ein schlichtes Gemüt. Tu Gutes, sei gut, und du fühlst dich gut.
Ich lasse die Kathedrale hinter mir zurück, nun ragen zu beiden Seiten der Straße die steinernen Mauern der Altstadt auf. Ich falle in Laufschritt. Meine Tasche hüpft auf meinem Hintern auf und ab. Ich bin völlig durchnässt. Nasser kann ich nicht mehr werden. Zweige von gelber und pinkfarbener Bougainvillea schlagen mir ins Gesicht, und ich hebe den Arm, um mich zu schützen. Noch ein guter Grund, meine Heimat zu verlassen: Hier ist einem ständig irgendwas im Weg. Zum Beispiel die Kletterpflanzen. Und selbst wenn es nicht regnet, ist die Luft im Süden so dick, als würde man Kokosmilch atmen.
Die erste Etappe liegt klar vor mir. Ich muss nach Norden, nach Mumbai, um mich umzuhören, denn dort gibt es eine größere Gemeinde von äthiopischen Migranten. Ich habe vom College her noch Freunde in der Stadt – Mohan aus der Campus Alliance for Women, Ashok aus dem Seminar für indische Literaturen, Deepti vom Rugby. Ich glaube, sie wohnt in einem der noblen Hochhäuser unweit vom Taj, wo man zum Duschen Regenwasser sammelt. Während ich mir vorzustellen versuche, wie Deepti mit ihrem muskulösen Körper nackt unter der Dusche steht, wird mir bewusst, dass ich mich bereits dem Vaddukanatha-Tempel im Stadtzentrum nähere. Die letzten zehn Minuten sind mir einfach abhandengekommen. Ich schweife oft ab, besonders wenn ich in einer Krise stecke.
Als ich die Round East erreiche, die um die Tempelanlage im Zentrum der Stadt führt, werde ich langsamer. Ich umrunde das Herz der Welt. Über mir hängen bunte Tücher zur Feier von Onam, dem Ende des Monsuns. Heute ist Uthradam, ein Tag, an dem man Gemüse kaufen sollte. Ich sehe eine Händlerin, mit der ich erst vor einer Stunde gesprochen habe, und biege ab, bevor sie mich bemerkt. Im Moment sollte ich besser nicht mit anderen Menschen sprechen. Ich weiß, dass ich in einem manischen Zustand bin, doch dieser Zustand hat auch etwas Weihevolles.
Als ich auf die Round South abbiege, kommt mir eine Kinderprozession entgegen, die wie ich dem Regen trotzt. Die Kinder tragen weiße und goldene Gewänder. Mit der Disziplin ist es nicht allzu weit her. Vorneweg gehen ein paar Jungen mit einem Transparent, auf dem steht: Die Grundschule Thrissur grüßt König Mahabali und erbittet seinen Segen, aber ein paar wilde Mädchen tanzen ständig aus der Reihe, laufen nach vorne, berühren mit der Hand den Boden und flitzen wieder zurück, ein Spiel mit unverständlichen Regeln. Ich muss einen Bogen machen, um ihnen auszuweichen. Eines der Mädchen grüßt mich, und als ich nicht antworte, ruft es mir ein gehässiges »Blackie« hinterher. Reizend. Noch ein Grund, von hier fortzugehen.
Ich komme am Melody Corner vorbei, wo Mohini Gesangs- und Tanzunterricht gibt, und biege nach links in die Kuruppam Road ein. Mein Abstand zum Herzen der Welt wächst. Der Aufmarsch von religiösen Statuen zieht sich bis zur Station Road. Shiva und Jesus verabschieden mich in goldener Pracht.
Ich biege auf den Platz vor dem Bahnhof ein. In meinen Adern scheint immer noch Zitronensaft zu fließen. Die Robo-Rikschas drängen sich mit aufdringlichem Piepsen an mich heran, aber ich winke ab und verlange stattdessen am Schalter eine Fahrkarte nach Mumbai. Da ich jeden Blickkontakt vermeide, fällt es den Leuten seltsamerweise immer schwer, mich zu verstehen. Der Beamte muss nachfragen. Dann hält er mir einen Scanner hin. Ich strecke meinen Mitter aus und ziehe ihn wieder zurück, als hätte ich mir die Finger verbrannt. Wenn ich mit dem Mitter bezahle, könnten mich Semena Werk oder die Polizei oder alle beide aufspüren. Jedenfalls ist das nicht auszuschließen. Und dass ich in einen Zug nach Mumbai gestiegen bin, geht niemanden etwas an.
Der Beamte ist überrascht.
Ich sage: »Verzeihung, ich habe vergessen zu erwähnen, dass ich bar bezahlen möchte.«
Er verdreht die Augen und fächelt sich Luft zu, während ich in meiner Tasche nach den Rupien krame. Ich reiche ihm die Scheine. Sie sind feucht. Er fordert mich auf, in den Retinascanner zu schauen. Auch das hatte ich vergessen – es gibt so viele neue Sicherheitsmaßnahmen. Ich werde nervös, schütze ein Augenleiden vor und entschuldige mich, weil ich so viele Umstände mache. Er holt unter der Theke ein Stempelset hervor und stempelt mir einen Balkencode auf die Hand. Dann schickt er mich weiter. In vierzehn Minuten fährt ein Hochgeschwindigkeitszug ab, eine Magnetschwebebahn. Eine Flucht mit Stil.
Der Bahnsteig ist überdacht, hier bin ich endlich vor dem Regen geschützt. Erst jetzt fällt mir auf, dass ich seit dem Frühstück nichts mehr gegessen habe. Ich gehe zu einer der kleinen Imbissbuden. Über der Öffnung hängen viele Metalllöffel. Ein Mann schaut zu mir heraus. Ich bestelle Idli und Sambar und reiche ihm einen Fünfhundert-Rupien-Schein. Er nimmt ihn mit zwei Fingern wie eine verdorbene Sardine. Dann ruft er einen Jungen und weist ihn an, den Schein in einen besonderen Kasten für Papiergeld zu legen. Ich kann von Glück reden, dass ich überhaupt Bargeld bei mir habe. Gewöhnlich nehme ich nur welches mit, wenn ich bei Sunny, dem Gewürz-Waala, an der Ecke Palace Road und Round East Gewürze kaufen will. Er hat die frischesten Kardamomschoten, denn er pflückt sie selbst im Garten seiner Mutter. Heute war er jedoch nicht da, und deshalb musste ich mich bei einem anderen Händler eindecken. Die sechs Plastiktütchen mit den Gewürzen für das Onam-Essen, das ich nicht mehr kochen werde, liegen immer noch in meiner Tasche.
Ich habe niemanden mehr, für den ich sorgen müsste, und niemanden, der für mich sorgt.
Das Leben geht auch nach einem traumatischen Erlebnis weiter, so viel ist mir klar. Nicht ganz so klar ist, ob sich das Weiterleben auch lohnt.
Von ferne ist ein schriller Pfiff zu hören. Ich schaue nach Süden. Der Zug fährt ein, safrangelb mit einem silbernen Emblem, dem Löwen von Sarnath. Die Scheinwerfer sind im Dreieck angeordnet, und der oberste strahlt mich an wie ein drittes Auge.
Mir bleiben dreißig Sekunden, um diese Geschichte zu beenden.
Alle drängen auf den Bahnsteig, ohne auf den Sicherheitsabstand zu achten. Alle schauen dem Tod ins Auge. Ich schiebe mich nach vorne auf das Gleis zu. Manche sind dem Tod besonders nahe. Ich setze erst den rechten, dann den linken Fuß vor. Dann wiederhole ich die Bewegung. Nun bin ich ihm näher als alle anderen. Ich wiederhole. Ich wiederhole noch einmal. Jetzt stehe ich auf dem Gleisbett. Ich wiederhole. Ich wiederhole noch einmal.
Der Zug wächst auf das Dreifache seiner Größe an.
Mir werden die Knie weich.
Ein Aufschrei aus der Menge. Der Schrei schwillt an, kommt nun aus vielen Kehlen. Ein Wald von Händen packt mich und reißt mich zurück.
Ich schließe die Augen und spüre einen starken Wind. Der Zug ist so nahe, dass er mich fast streift.
Der Traum geht also weiter.
Als ich die Augen öffne, stehe ich einer Schar von Menschen gegenüber, die mich mit großen Augen vorwurfsvoll ansehen. Sie warten auf eine Erklärung von mir. Also sondere ich Lügen ab und hoffe, dass sich meine Retter davon beschwichtigen lassen. »Danke. Ich wollte das Gleis überqueren, aber ich hatte mich verschätzt. Vielen Dank. Ich habe im rechten Auge eine blinde Stelle. Vielen Dank.«
Jetzt bin ich auf dem Bahnsteig so bekannt wie ein bunter Hund. Genau das wollte ich vermeiden. Dummkopf, Chutiya, Dummkopf. Ich darf doch nicht auffallen.
Ich steige in den Zug und setze mich auf meinen Platz. Zurück in den Traum, zurück zur Tagesordnung. Ich beobachte den Parkplatz, um zu sehen, ob Semena Werk vielleicht eine Bombe gelegt oder einen Killer auf mich angesetzt hat; oder ob plötzlich die Polizei angestürmt kommt und ruft: Halt, der Zug darf nicht abfahren! Wir müssen eine gewisse R. G. Meenakshi befragen, die sich auch Meena, Meerama, Mimi, Nini, Kashi oder M. nennt.
Ich sehe keine Polizei. Dafür steht ein Mädchen auf dem Bahnsteig und starrt mich an.
Sie ist keine Inderin, selbst für eine Malayali ist ihre Haut zu dunkel, wahrscheinlich eine afrikanische Migrantin, die sich mit Lumpensammeln oder Rattenfangen durchbringt. Ihr ursprünglich pinkfarbenes Kleid ist zerknittert und voller senfgelber Flecken. Sie trägt ein Kopftuch wie eine Muslima, aber das Kleid reicht ihr bloß bis zur Mitte der Wade, und sie ist barfuß. Ohne Schuhe wird man sie nicht in den Zug lassen. Sie passt in kein bekanntes religiöses oder kulturelles Schema. Vielleicht gehört sie einer neuen Religion an, einer Einwandererreligion. So etwas ist in Indien durchaus keine Seltenheit.
Warum starrt sie mich eigentlich so an? Ich nehme ohnehin nur ungern Blickkontakt auf, also schlage ich die Augen nieder. Doch ich spüre ihren Blick noch immer. Was ist verdammt noch mal bloß los mit ihr? Wobei ich natürlich auch fragen könnte, was verdammt noch mal mit mir los ist, immerhin wollte ich eben noch vor einen Zug laufen.
Ich werde abgelenkt. Zwei Frauen, Mutter und Tochter, nehmen mir gegenüber Platz. Sie tragen die gleichen violetten Saris und sind vollkommen trocken. Die Tochter richtet die Augen auf meinen Kopf und lässt den Blick verschwimmen. Sie will mein Aadhaar auslesen, mein individuelles, in der Cloud gespeichertes Identitätsprofil, um zu sehen, was für ein Mensch ich bin, und mich dementsprechend zu behandeln. Doch mein Aadhaar bleibt gesperrt. In dieser Hinsicht bin ich altmodisch. Ich gebe nicht mehr preis als das, was jeder sehen kann. Dieses Mädchen denkt da ganz anders. Ihr Leben umschwebt ihren Kopf wie ein Armband mit Freundschaftsanhängern: die besten Schulen, Reisen ins Ausland, ein brahmanischer Familienname. Von mir ist sie nicht sonderlich beeindruckt. Nicht nur, weil ich mein Aadhaar nicht zeige, ich bin auch klatschnass, trage Männerkleidung, und Mohini hat mir mit der scherzhaften Warnung, ich hätte mir die Folgen selbst zuzuschreiben, »afrikanische« Zöpfchen geflochten. Für einen Moment bin ich versucht, nur um ihr eins auszuwischen, mein Aadhaar doch anzuschalten und »versehentlich« zu verraten, dass auch ich Brahmanin bin. Aber ich verkneife es mir. Mohini hat mir auch erklärt, von oben herab behandelt zu werden sei gut für die Seele, es fördere die Empathie und die Charakterbildung.
Die Zugtüren schließen sich zischend, und eine Frauenstimme bittet uns, die Plätze einzunehmen. Ich schalte mein Glotti aus, um mir die gleiche Ansage nicht noch auf Hindi, Tamil, Kannada, Englisch und Mandarin anhören zu müssen. Da ich jetzt weiß, dass der Zug gleich abfährt, wage ich es, aus dem Fenster zu schauen. Doch das bereue ich sofort.
Das barfüßige Mädchen hat sich nicht von der Stelle gerührt. Sie starrt mich immer noch an. Sie ist vielleicht zwölf Jahre alt, hat kindliche Pausbacken und eine Knubbelnase. Das Kleid ist ihr von der Schulter gerutscht. Und sie macht ein so gekränktes Gesicht, als hätte ich sie verraten.
Ich wende mich ab. Ich habe andere Sorgen, als mich um ein psychisch labiles afrikanisches Mädchen zu kümmern.
Ich spüre ein sanftes, elektrisches Summen unter den Füßen und summe leise mit, bis ich den Ton genau treffe und die beiden Laute nicht mehr auseinanderhalten kann. Nach einer Weile schraubt sich das Summen höher, und der Zug hebt sich. Wir schweben auf seidig weichen Schienen aus Luft dahin.
Das barfüßige Mädchen bleibt zurück.
Thrissur, meine Heimatstadt, das Zentrum des Herzens der Welt, zieht an mir vorbei. Die Innenstadt geht über in die Vororte, Reisfelder und Getreideäcker schließen sich an, und schließlich sind wir im Dschungel. Der Zug nimmt Fahrt auf. Ich vergesse, dass ich mich in Acht nehmen muss. Der Alltag kehrt zurück. Vor den Fenstern schwanken die Bananenbäume so gleichmäßig im Wind wie ein Metronom. In Bewegung zu sein empfinde ich stets als beruhigend. Ich bin wie ein Tsunami. Ich muss immer weiter und kann erst anhalten, wenn ich auf eine Küste treffe, wo immer sie auch sein mag.
Gegenüber von mir haben Mutter und Tochter die Köpfe aneinandergelegt und sind eingeschlafen. Das Adrenalin macht Feierabend und lässt mich auf dem Trockenen sitzen. Meine Augenlider werden schwer.
Ich träume von einer Zeit der Wunder, in der die Reise von Keralam nach Mumbai nicht mehr als zwei Stunden dauert. Und als ich erwache, stelle ich fest, dass diese Zeit der Wunder bereits angebrochen ist.
MUMBAI LIVE
Abend in Mumbai. Für dreißig Millionen Menschen gibt es einen Stern am Himmel.
Ich steige mit siebenhundert Mitmenschen aus dem Zug und weiß nicht, wo ich heute Nacht schlafen werde. Dabei will ich mich in Mumbai nur so lange aufhalten, bis ich das Wie und Wohin meiner Reise geplant habe. Wieder kommen mir Mohan, Ashok und Deepti in den Sinn, aber sie würden mich fragen, warum ich in Mumbai bin, und dann müsste ich ihnen von der Schlange erzählen. Das würde zu weiteren Fragen führen, die ich noch nicht beantworten kann.
Im Moment bin ich hungrig, und meine Wunden brennen noch immer, ich muss also zunächst meinen Körper versorgen. Die weiße Box mit meinem Essen ist noch da. Ich setze mich abseits der Menge mit dem Rücken zur Wand auf den Bahnsteig. Mit einer Hand breche ich das Idli in Stücke, die andere stecke ich unter meine Jacke und betaste die Bisse in meiner Haut. Sie schmerzen. Es ist ein greller Schmerz, der prismatisch ausstrahlt und auf eine Infektion schließen lässt. Nach dem Essen muss ich jemanden finden, der mich medizinisch versorgt.
Gerade als ich den letzten Bissen hinunterschlucke, sehe ich das barfüßige Mädchen aus dem Zug steigen.
Zumindest ist das mein erster Eindruck. Sie sieht genauso aus wie jenes Mädchen in Thrissur. Sie trägt immer noch ein Kopftuch, ist immer noch barfuß, und ich kann sie noch immer nicht einordnen. Wie ist sie in den Zug gekommen? Wir hatten sie doch zurückgelassen. Sie kann unmöglich eingestiegen sein, es sei denn, sie wäre getrampt, und später hätte ein Schaffner sie ohne Fahrkarte mitgenommen. Mit diesem Zug können nur wohlhabende Leute fahren. Ist sie mir gefolgt? Ich lasse sie nicht aus den Augen, während ich die flache Hand auf den Betonboden presse, bis es schmerzt. Dann höre ich Mohinis beschwichtigende Stimme: Im manischen Zustand sieht man Verbindungen, wo keine sind. Du bist sonst nicht so. Gewiss, du bist mürrisch und verschlossen, aber nicht paranoid.
Ich setze mich hinter einen Pfeiler, damit mich das Mädchen nur sehen kann, wenn ich es zulasse. Sie mischt sich unter die Menge, geht aber bloß halb so schnell. Nun sieht sie sich um. Die Fäuste hat sie in den Stoff ihres Kleides gekrallt. Wenn ich sie zum ersten Mal sähe, würde ich sie womöglich ansprechen und ihr meine Hilfe anbieten. Mohini würde das auf der Stelle tun. Sie hatte ein Herz für offensichtlich verlorene Seelen.
Das Mädchen verschwindet durch eines der Tore nach draußen. Ich stecke das letzte Stück Idli in den Mund, stehe auf und verlasse den Bahnhof in der entgegengesetzten Richtung.
Vor dem Victoria Terminal herrscht das blanke Chaos. Die D. N. Road ist ein einziger Menschenstrom, der durch Autos, Lastwagen, Busse, Fahrräder, Rikschas und Robo-Rikschas aufgestaut wird. Über mir gleitet eine Stadtbahn auf dem Weg in die Vororte vorbei. Es stinkt nach Öl, nach Rauch und nach Kloake, eine ganz eigene Mischung, die ich in meiner Hippie-Enklave in Keralam vergessen hatte. Die Fußgänger schlängeln sich zwischen den Fahrzeugen und die Tiere zwischen den Fußgängern hindurch. Auch Kühe sind zu sehen. Ich habe gelesen, dass das Fremdenverkehrsamt sie wegen des Lokalkolorits frei herumlaufen lässt.
Auf der anderen Straßenseite beginnt Azad Maidan, der öffentliche Park. An einem Ende findet ein Kricket-Match statt, am anderen Ende eine Demonstration. Soweit ich sehen kann, protestieren äthiopische Hausangestellte. Ich gehe schneller. Diese Äthiopier sind überall, in Keralam wie in Mumbai.
Nicht überall, sagt Mohini. Keineswegs. Da spricht die Angst aus dir. Deine Familiengeschichte.
Eine Schar Kinder kommt auf mich zugelaufen, der Strom teilt sich und fließt hinter mir wieder zusammen. Ich werde ruhiger. Hier kenne ich mich aus. Der Stadtplan erscheint vor meinem inneren Auge, ich weiß, wo ich bin. Ich fühle mich wohl. Ich bin in der manischen Phase meiner Psychose, aber solange sie andauert, geht es mir gut, krank komme ich mir immer erst hinterher vor, und da ich daran ohnehin nichts ändern kann, nehme ich es einfach hin. Ich erinnere mich, dass ich mir in diesem Park mein erstes Exemplar von Schuld und Sühne gekauft und gelesen habe, während ich aus einer Tüte aus Zeitungspapier Bhelpuri aß. Ich saß gleich da drüben unter jenem Bodhi-Baum, dem mit der idealen Form. Erleuchtung durch Dostojewski.
In diesem Moment gibt es eine Explosion.
Ich werfe mich zu Boden und lege schützend die Arme über den Kopf.
Onam, sage ich mir, es sind wieder nur die Knallkörper für Onam, selbst hier in Mumbai feiert man das keralitische Fest, wie schön.
Doch dann sehe ich hinter der Grünfläche, wo die Demonstranten standen, einen Kreis aus reglosen Körpern liegen. Es waren also doch keine Knallkörper.
Ich drehe mich um und erblicke auf der anderen Seite das barfüßige Mädchen. Sie sieht mich unverwandt an.
Allmählich wird mir alles klar. Ich flüchte in die entgegengesetzte Richtung, weg von allen anderen, die entweder vor der Explosion davon- oder auf sie zulaufen. Es ist wie bei einem Ballspiel, und ich weiche den Wurfgeschossen aus. Als ich doch mit jemandem zusammenstoße, stürze ich so unglücklich, dass ich mit dem Kopf auf dem Boden aufschlage. Ich stehe wieder auf und laufe weiter.
Ich laufe bis zur Fashion Street und biege dann nach Süden ab. Ich gehe einfach davon aus, dass mich das barfüßige Mädchen auch weiterhin verfolgt. Wenn sie immer noch barfuß ist, riskiert sie verdammt viel, und in meinen Stiefeln bin ich besonders auf dem Steinpflaster schneller. Mit der Zeit verändern sich die Gesichter, an denen ich vorbeikomme. Anfangs sehe ich Leute, die auf die Explosion zulaufen. Dann kommen Leute, die nur den Knall gehört haben und erschrocken sind. Und schließlich Leute, die noch gar nichts von der Explosion wissen und an den Straßenständen prüfend die Mangos in die Hand nehmen, als wäre nichts geschehen.
Allmählich werde ich müde. Ich kann nicht ewig weiterlaufen. Ich komme mir vor wie in einem Film. Was macht eine Actionheldin in meiner Lage? Sie biegt in eine Seitenstraße ein, schlüpft in einen Laden und lässt die Verfolger vorbeilaufen. Genau das tue ich auch. Ich schicke einen stummen Dank an die Filmindustrie, biege scharf ab in eine schmale Gasse, zähle einen, zwei, drei Läden ab und schlüpfe schließlich in den vierten. Es ist eine Apotheke, und damit ist auch mein ursprüngliches Problem gelöst. Hier kann ich medizinische Hilfe bekommen.
Sobald ich von der Tür aus nicht mehr zu sehen bin, beuge ich mich keuchend vornüber. Die Frau hinter dem Ladentisch ruft mir etwas zu. Sie will wissen, ob alles in Ordnung ist. Ich hebe nur die Hand. Sprechen kann ich noch nicht.
»Sie bluten ja«, sagt sie.
Ich schaue an meiner Kurta hinab. Sie hat recht. Die Schlangenbisse sind, wahrscheinlich durch das Laufen, wieder aufgebrochen.
»Kommen Sie vom Azad Maidan? War das ein Terroranschlag?«
Die Nachricht hat also bereits Schlagzeilen in der Cloud gemacht. Ich sage: »Ja.«
»Legen Sie sich hin«, verlangt sie.
Ich gehorche, achte aber darauf, von der Tür her außer Sicht zu bleiben. Während ich zur Decke schaue, höre ich, wie Schubladen aufgezogen werden und Verpackungen rascheln. Ich zähle bis vierzig.
Das Gesicht der Angestellten erscheint über mir. »Diese verdammten Habshee«, sagt sie. »Jetzt wollen sie schon leben wie die Inder.«
Normalerweise würde ich darauf sagen, was Mohini von mir hören möchte: Erstens, dass ich gerne wüsste, von welchen Indern sie spricht. Zweitens, dass »Habshee« eine abfällige Bezeichnung für Menschen mit schwarzer Hautfarbe ist, die sie nicht verwenden sollte. Und drittens, dass Habshee nicht gleichbedeutend ist mit Äthiopier.
Doch im Moment ist es mir egal.
Die Angestellte will meine Kurta hochziehen. Da fällt mir wieder ein, welcher Art die Verletzungen sind, und ich ziehe das Hemd mit einer heftigen Bewegung herunter. Sie sieht mich überrascht an.
»Sie müssen entschuldigen«, sage ich, »aber es sind keine Splitterwunden. Es ist etwas anderes. Ich verbinde mich lieber selbst.«
Sie scheint gekränkt, dennoch überlässt sie mir alles, was sie zusammengetragen hat. Ich will die Schutzfolie von einem Transparentpflaster abziehen, aber meine Hände zittern. Sie beobachtet mich. Dann schnippt sie mit den Fingern.
»Sie sind das! Sie waren doch auf dem IIT-Bombay?«
Ich sehe mir ihr Gesicht noch einmal an. Jetzt erkenne ich sie. Es ist dieselbe Angestellte, die vor neun Jahren hier arbeitete, als ich an der Universität war und Ajanthas wegen in einen Zustand geriet, der sich von meinem jetzigen nicht allzu sehr unterscheidet. Und mir wird klar, dass ich mit jedem Wort, das ich mit dieser Frau spreche, und mit jeder Minute, die ich noch länger hier verweile, mein Risiko noch vergrößere.
»Ich muss gehen«, sage ich. »Ich kann für die Sachen bezahlen.«
Sie winkt ab. »Wie geht es Ihnen denn inzwischen?«, fragt sie. »Sie waren damals so traurig. Ich konnte Sie nicht vergessen.«
»Mir geht es gut«, antworte ich. Dann fange ich an zu fabulieren, für den Fall, dass hinterher jemand kommt und sich nach mir erkundigt. »Ich wohne in Gandhinagar. Bin nur in die Stadt gekommen, um Verwandte zu besuchen.«
»Zu Onam? Sind Sie denn keine Malayali?«
»Nein«, lüge ich. »Ich bin bloß eine dunkelhäutige Gujarati.«
Das stopft ihr den Mund.
Ich bedanke mich für das Verbandszeug und trete wieder auf die Straße hinaus. Keine Spur von dem barfüßigen Mädchen, ich habe es also abgeschüttelt. Aber wieso habe ich gesagt, dass ich in Gandhinagar wohne? Meine Mutter stammt von dort. Inzwischen ist es ziemlich dunkel geworden. Der Himmel ist violett, und alle Gesichter scheinen zu leuchten.
Ich muss mir einen Platz suchen, wo ich mich verbinden kann, je weiter von der Explosion entfernt, desto besser. Wenn ich in einem Fahrzeug unterwegs bin, kann mich das barfüßige Mädchen nicht verfolgen. Ich stelle mich dem Verkehr entgegen und hebe den Arm, um eine Robo-Rikscha anzuhalten, aber eine mit Fahrer sieht mich zuerst und hält neben mir. Das Kabel schleift auf der Straße, und bevor ich einsteige, hebe ich es auf und stecke es wieder ein. Der Fahrerin nenne ich den ersten Ort, der mir einfällt: das Butterfly, ein singapurischer Club am nördlichen Ende des Marine Drive. Mohini hat mich dorthin mitgenommen, als wir beim letzten Monsun in der Stadt waren. Sie passte perfekt in die Szene, ich dagegen überhaupt nicht, aber das ist jetzt von Vorteil. Selbst wenn mich das barfüßige Mädchen dort aufspürte, würde man es nicht einlassen.
Die Fahrerin lässt den Motor an. Ich sehe ihr Lächeln im Rückspiegel. Sie hat zwei Grübchen in den Wangen, so tief, dass man Kardamomschoten hineinlegen könnte. Sie ist vielleicht fünfzehn.
Als wir beschleunigen, beginnt sie so laut zu reden, dass ich sie trotz des Fahrtwinds verstehen kann. Ich spitze die Ohren, um ihr antworten zu können, bis ich merke, dass sie mit jemandem spricht, der in ihrem Ohr sitzt. Ihre Schwester. Es geht um Hochzeitsvorbereitungen. Der Partyservice kann nicht liefern, sie kennt allerdings jemand anderen, den Bruder eines Freundes, der billig ist, aber nicht so billig, dass die angeheiratete Verwandtschaft Anstoß nehmen könnte.
Dann weichen die Gebäude zurück wie ein Theatervorhang, und vor mir liegt das Meer. An einer roten Ampel halten wir an. Das goldene Licht auf dem schwarzen Wasser ist ein wunderschöner Anblick. Der Wind weht von der Bucht landeinwärts. Hier ist der Geruch des Meeres intensiver als in Keralam, schmutziger und salziger. Dieser Ozean enthält mehr Gewürze.
Die Ampel schaltet auf Grün, und wir biegen auf den Marine Drive ein. Als die Scharen hinter uns zurückbleiben und die Strecke vor uns frei ist, tritt sie das Pedal durch und legt sich in die Kurve. Ich presse die Hand gegen den Seitenholm, um nicht hinausgeschleudert zu werden. Ein fingernageldünner Mond versinkt im Meer. Ich behalte ihn im Blick, so lange wie möglich. Er hat etwas zu bedeuten.
Als wir das Butterfly erreichen, ist es vollends Nacht geworden. Die Rikscha kommt sanft zum Stehen, und die Fahrerin sagt: »Yashna, warten Sie«, dreht sich um und streckt mir ihr Handgelenk entgegen, an dem ein billiger Mitter blinkt.
»Nehmen Sie auch Bargeld?«
Sie wackelt mit dem Kopf und dreht die Hand um.
Ich bezahle und gebe ein großzügiges Trinkgeld. Sie steckt die Scheine in eine Tasche, die auf ihrer Kurta aufgenäht ist. »Danke vielmals!«, sagt sie auf Englisch, ohne sich noch einmal umzusehen. Ich steige aus, und sie tritt das Pedal bis zum Anschlag durch und zischt davon.
Das Butterfly sieht noch genauso aus wie in meiner Erinnerung: eine Praline in Neonfarben. Die Toilette liegt am Ende eines schwarzen Flurs mit pinkfarbenen Leuchtbändern. Ich hole mir einen langen Streifen Toilettenpapier, knülle ihn zusammen, halte ihn unter den Wasserhahn und gehe damit in die Kabine zurück. Dann ziehe ich zum ersten Mal meine Jacke aus und rolle die Kurta bis über meine Brüste hoch. Das Blut ist inzwischen getrocknet, aber der Stoff klebt an der Haut fest, und als ich ihn wegziehe, reißt der Schorf auf. Frisches Blut quillt hervor, die Tropfen rinnen mir über den Bauch. Ich wische sie ab und drücke das nasse Toilettenpapier auf die Wunde. Genauer gesagt, ist es eine ganze Wundenlandschaft, fünf unterschiedlich lange Kratzer, nicht allzu tief, aber auch nicht bloß oberflächlich. Ich weiß nicht, was für eine Schlange das war. Sicherlich keine Kobra, Krait oder Viper, die hätte ich alle erkannt, und außerdem wäre ich dann bereits tot. Diese Schlange glänzte golden wie Bronze. Ich ziehe meinen Sichter heraus und suche nach Bildern, doch kein Tier hat den richtigen Goldton, jedenfalls keines, das in Keralam heimisch wäre. Es könnte eine afrikanische Art sein. Wenn dem so wäre, ließe das gewisse Schlüsse zu.
Ich säubere die Wunden, trage Öl auf und tupfe auch etwas davon auf meinen Hals, weil es nach Pfefferminz riecht, dann drücke ich Transparentpflaster auf die offenen Stellen und klebe die größere weiße Kompresse darüber. Schließlich beuge ich den Oberkörper und strecke ihn wieder, um mich zu vergewissern, dass das Ganze auch hält.
Draußen vor der Kabine schaue ich in den Spiegel. Ich trage immer noch die Sachen, die ich heute Morgen in unserem Schlafzimmer in Thrissur angezogen hatte. Jetzt möchte ich mein Aussehen verändern.
Ich ziehe die Jacke aus und stopfe sie in meine Handtasche. Die Ärmel meiner Kurta rolle ich bis über die Ellbogen hoch und öffne drei weitere Knöpfe. Mit den Jeans und den Stiefeln ist nicht viel zu machen. Also fange ich an, meine Zöpfe zu lösen. Einfache Verrichtungen wie das Verbinden meiner Wunden und das Hantieren an meinen Haaren geben mir das Gefühl, unbesiegbar zu sein. Seht an das Werk meiner Hände, ihr himmlischen Mächte: Ich kann meinen Körper heilen und verschönern. Jetzt könnte ich sogar etwas trinken gehen.
Ab jetzt gilt eine neue Strategie: Verhalte dich ganz normal.
Als ich den Club betrete, empfängt mich eine Szenerie aus schwarzen Menschensilhouetten vor violettem Licht. Ein Remix aus Meshell Ndegeocello und Bhangra-Musik lässt den Fußboden erzittern. Der Barkeeper sieht mit seinem glatt rasierten schwellenden Bizeps wie ein alter Bollywood-Held aus. Er trägt ein fadenscheiniges T-Shirt mit effektvoll platzierten Löchern an den Nähten, Dalit-Eleganz, nicht authentisch. Sein Blick huscht um meinen Kopf herum und heftet sich wieder auf mein Gesicht, als er nichts sieht.
»Was darf ich dir bringen?«
»Einen Jameson.«
Er betrachtet mich genauer. »Malayali?«, fragt er.
Wie kommst du bloß darauf, Chutiya?
»Nur äußerlich«, antworte ich. »Meine Familie lebt seit dem Raj in Mumbai.« Lügen ist so einfach und dabei so nützlich. Ich weiß nicht, warum ich jemals damit aufgehört habe.
»Ist nicht gerade Onam?«
»Denke schon.«
»Nicht sonderlich traditionsbewusst, wie?«
»Nicht unbedingt.« Dieser verdammte Barkeeper redet mir zu viel. Und ich bin ein schweigsamer Mensch. Reden kostet Energie, und außerdem schaffe ich es nie, richtig auszudrücken, was ich sagen will. Deshalb lasse ich meinen Körper sprechen, wo das möglich ist, aber hier geht das nicht, und deshalb sage ich: »Wir wohnen in Santa Cruz East. Ich war in letzter Zeit nicht oft hier unten. Was geht denn so ab in der Gegend?«
»Oh, Bomben auf dem Azad Maidan, das Übliche.« Er wirkt verärgert und beschäftigt sich angelegentlich mit meinem Drink.
»Wahrscheinlich ein Anschlag von Semena Werk«, sage ich. Böswillige Verdächtigungen, vor denen mich Mohini warnen würde. Aber denk an die Schlange. Denk an das barfüßige Mädchen. Denk an deine Familiengeschichte. »Die können einfach nicht vernünftig sein.«
»Und deshalb werfen sie Bomben auf ihre eigenen Leute?«
»Sie betrachten sie nicht als ihre eigenen Leute. Sie halten sie für Verräter.«
»Das stimmt.« Der Barkeeper schiebt mir das Whiskeyglas zu. Ich nehme einen Schluck, und sobald das Feuer meinen Magen erreicht, löst sich meine Spannung. Mir ist nicht bewusst gewesen, wie sehr dieser Tag aus der Reihe fällt. Jetzt habe ich das Gefühl, dass wieder eine gewisse Ordnung eingekehrt ist.
»Sieht so aus, als hättest du den gebraucht.«
»Richtig.«
»War mir ein Vergnügen.«
Allmählich fühle ich mich wohl hier. Vielleicht ist das das Ende der manischen Phase. Oder der Beginn einer neuen.
»Und was tut sich sonst so in der Innenstadt?«, frage ich.
»Ausländer ziehen scharenweise hierher, besonders wegen des ›Energy Park‹.«
»Was ist das?«
»Das sind die vielen Türme am Ende des Nariman Point, der Komplex, der aussieht wie das Land Oz. Wenn du noch nicht dort warst, solltest du es dir ansehen. Im HydraCorp-Gebäude gibt es ein neues Museum.«
»Ein Museum wofür?«
»Energie.«
»Das kann vieles bedeuten.« HydraCorp ist einer der größten multinationalen Energiekonzerne. Und der angesagteste von allen, denn sie investieren fünf Prozent aller Gewinne in die Entwicklung ausgefallener neuer Energiequellen. Ich habe von einem Projekt gelesen, bei dem ein Baumwollspinnrad, wie es Gandhi entwickelt hat, mit menschlicher Scheiße betrieben werden soll, und wusste nicht, ob ich lachen oder weinen sollte.
»Hast du schon mal vom Trail gehört?«, fragt er.
Ich zögere. Mohini und ich haben vor einigen Jahren eine Folge von Extreme Weather! gesehen, die vom Trail handelte. Der Barkeeper sieht, dass ich weiß, wovon er spricht, und fährt fort: »Im Museum kriegst du zwar bloß die Firmenversion serviert, aber es lohnt sich dennoch, sich das anzusehen.«
Der Whiskey hat mein Gedächtnis wachgerüttelt, die Erinnerung kommt zurück. Damals fand ich den Trail irreal: eine schwimmende Pontonbrücke, vor der Küste von Mumbai vertäut, die das gesamte Arabische Meer überspannt, eher ein Gedicht als ein Werk der Technik. Ich habe Mohini gefragt, ob sie sich vorstellen könne, darauf bis nach Afrika zu wandern. Sie nahm meine Begeisterung gewohnt freundlich auf, gab aber zu bedenken, dass man auf dem Trail nichts als den leeren Himmel und das gesichtslose Meer um sich habe, die perfekte Kulisse, um meinen eigenen Wahn auszuleben.
»Was ist die Firmenversion?«
»Das kann ich dir nicht sagen. Aber wenn du dort bist, sprichst du besser nicht vom ›Trail‹.«
»Warum nicht?«
»Weil der Konzern nicht will, dass Leute hinausschwimmen, um darauf zu laufen.«
Ich bin verblüfft. «Es gibt Menschen, die auf dem Trail laufen?«
»Ich habe gehört, dass … He, Arjuna!«
Ein zweiter Mann ist an die Bar getreten. Er wirkt gepflegt, sein silbergraues Hemd steht so weit offen, dass sein dichtes, glänzendes Brusthaar zu sehen ist. Er beugt sich an mir vorbei, um den Barkeeper zu küssen, und berührt dabei mein Knie mit seinem Bein. Sofort weicht er zurück und legt Verzeihung heischend die Handflächen aneinander. Und als wir Blickkontakt aufnehmen, wird mir klar, dass ich ihn kenne: Arjuna Swaminathan, zur Hälfte persischer Herkunft. Er war in meinem Nano-Seminar am ITT. Ich erging mich in Fantasien über ihn, anstatt der Vorlesung zuzuhören. Doch im Gegensatz zu der Frau aus der Apotheke erkennt er mich offenbar nicht wieder.
Der Barkeeper sagt: »Arjuna, ich habe soeben … Wie heißt du eigentlich?«
Ich muss mich vorsehen und greife abermals zu einer Lüge. »Durga.«
»Ich bin Sandeep«, sagt der Barkeeper und stellt Arjuna einen Klaren hin. Der setzt sich neben mich und krempelt die Ärmel auf. Seine Hände sind riesig, seine Finger muskulös. Dicke Adern schlängeln sich über seine Unterarme. »Ich habe Durga soeben vom Trail erzählt. Hat nicht erst letzten Monsun jemand versucht, darauf zu laufen?«
»O ja, das kommt immer wieder vor. Die Leute sind verrückt. Meistens sind es arme Teufel, die irgendwo gehört haben, sie könnten mit Fischfang ihren Lebensunterhalt verdienen. Also schwimmen sie hinaus, und man hört nie wieder von ihnen.«
»Arjuna muss es wissen«, sagt Sandeep zu mir. »Er arbeitet bei HydraCorp.«
»Hast du mit dem Trail zu tun?«
»Nein. Aber ich kann vom Fenster meines Büros aus ein ziemlich großes Stück davon sehen. Dann und wann schwebt ein verschwommener Fleck über dem Meer, das heißt, dass dort jemand kampiert, diese Leute haben nämlich spezielle Rettungsinseln mit Tarnfunktion. Sie laufen nur bei Nacht.«
»Damit sie nicht erwischt werden.«
»Anzunehmen.«
»Und wenn doch, wie werden sie bestraft?«
»Gefängnis, eine Nacht, ein Monat, je nach Laune der Polizei. Die Anklage lautet auf unbefugtes Betreten von Firmengelände. Aber wir haben nicht die Mittel, um den Trail ständig zu überwachen. Wenn du bloß mal erleben willst, wie es ist, kannst du …«
Sandeep schnippt Arjuna mit den Fingern vor dem Gesicht herum. »Erzähl es ihr nicht!«
»Was soll ich ihr nicht erzählen, Chutiya?«
»Ich habe gesagt, sie muss es sich selbst ansehen.«
Sandeep muss andere Gäste bedienen, und Arjuna wendet sich mir zu, in offener Körperhaltung und mit gespreizten Beinen. »Er meint das Museum«, sagt er mit weicher Stimme. »Ich kann dir Freikarten besorgen.«
An keinem anderen Abend könnte er mich beeindrucken. Aber ich finde ihn sexy. Der Ablauf ist immer der gleiche: Jemand passt in dein Beuteschema, du willst mit ihm schlafen, du schläfst mit ihm. Ein klares Machtspiel, eine kalkulierte Anstrengung, die zum Erfolg führt. Er hat nicht nach meinem Aadhaar gefragt. Er hat nicht einmal danach gesucht. Das nimmt mich für ihn ein.
Ich schaue weiter zu Boden. Manchmal kann ich mit anderen nur reden, wenn ich so tue, als führte ich Selbstgespräche. »Würdest du auf dem Trail wandern, wenn du könntest?«
Er schüttelt nach westlicher Art den Kopf. »Nein, ich wüsste nicht, warum. Ich käme mir vor wie die Kids, die auf Zugdächer klettern. Ein Nervenkitzel für alle, die auf so was abfahren, aber meine Sache ist das nicht. Ich bin ganz zufrieden mit meinem Leben.«
Ich sehe, dass das stimmt. Vor mir sitzt ein kleiner Kaiser des Technologiezeitalters, ein unverheirateter Playboy, aufgewachsen in einer Drittkultur, mit einer modernen Wohnung und einigen Dienstboten. Ein Einzelkind. Seine Eltern sind geschieden. Jeden Morgen trainiert er im Fitnessraum im Untergeschoss seines Hochhauses. Im Geiste sehe ich seine beiden Beckenschaufeln vor mir.
»Wer braucht schon einen Nervenkitzel?«, frage ich.
Er lehnt sich lächelnd zurück. »Du erinnerst mich an eine Bekannte von früher«, sagt er. »Ein Mädchen auf dem College. Sie trug immer schwere Stiefel und hatte sogar während des Monsuns einen Schal um den Hals. Und sie schaute niemandem in die Augen. Zur Vorlesung kam sie allein, und sie sprach nie ein Wort.«
Ich denke: Ich habe niemandem in die Augen geschaut, weil der Blickkontakt für den alltäglichen Gebrauch zu intensiv ist, und ich habe nicht gesprochen, weil aus meinem verdammten Mund nie etwas richtig rauskam. Was ich sagen wollte, habe ich mit Sex ausgedrückt.
»Ich habe gehört, sie hat das Studium abgebrochen«, fährt er fort. »Aber ich habe sie nicht vergessen. Leidenschaftlich, aber dabei scheu, wie eine Frau, die im Körper eines Kerls gefangen ist.«
Ich denke: Wie scharfsichtig von dir.
Aber ich spreche es nicht aus. Ich befinde mich in der Durga-Rolle, und deshalb sage ich, was Durga sagen würde: »Wenn sie dir heute begegnen würde, was würdest du tun?«
»Wahrscheinlich … würde ich sie um einen Kuss bitten.«
Jetzt brennt mein ganzer Lendenbereich wie Feuer. Das Gespräch plätschert weiter, doch da das Ende bereits feststeht, schlagen wir nur noch die Zeit tot, und ich plaudere mit Arjuna, während ich im Geiste eines meiner Selbstgespräche führe: Ich brauche ein Bett für die Nacht. Er ist zwar ein Schleimer, aber mein Körper verlangt nach ihm. Ich muss den Geschmack von jemand anderem als Mohini in den Mund bekommen. Meine Reiseplanung kann ich auf später verschieben, oder, noch besser, ich kann diese Episode als Teil davon betrachten. Ich versichere mir selbst, dass es ganz normal ist, wenn ein Tag, an dem ich einem Mordversuch und einem Terroranschlag entgangen bin, damit endet, dass ich dringend ficken muss. Tatsächlich kann ich im Moment an nichts anderes denken als daran, es mit diesem Mann zu treiben.
Wir verlassen den Nachtclub und steigen auf seinen Roller. Doch vor der Abfahrt suche ich das Ufer ab für den Fall, dass das barfüßige Mädchen mit wehendem Kopftuch auf der Hafenmauer sitzt und über die Bucht schaut. Doch sie ist nirgendwo zu sehen.