Leif GW Persson
Mörderische Idylle
Roman
Aus dem Schwedischen
von Gabriele Haefs
Für Maj Sjöwall und Per Wahlöö –
die es besser gemacht haben als fast alle anderen
1
Växjö, Freitag, 4. Juli, morgens
Es war die Nachbarin, die Linda gefunden hatte, und abgesehen von allem anderen war das besser, als wenn es ihre Mutter gewesen wäre. Außerdem hatte die Polizei damit sehr viel Zeit gewonnen. Die Mutter hatte erst am Sonntagabend zurück in die Stadt kommen wollen, und außer ihr und ihrer Tochter wohnte niemand in der Wohnung. Je früher, desto besser, wenn wir es mit den Augen der Polizei sehen, vor allem wo es sich um einen Mord mit unbekanntem Täter handelte.
Schon um fünf vor acht morgens war in der Bezirkszentrale der Polizei von Växjö Alarm gegeben worden, und ein Streifenwagen, der sich in nächster Nähe befunden hatte, war hingefahren. Nur drei Minuten später meldete die Streife sich wieder. Sie waren jetzt vor Ort, die Frau, die Alarm gegeben hatte, saß in sicherem Verwahr auf der Rückbank, und die Kollegen hatten nun vor, ins Haus zu gehen und sich ein Bild von der Lage zu machen. Die Funkstreife der Polizei von Växjö hätte um diese Zeit eigentlich in der Garage des Polizeigebäudes stehen sollen, weil gerade der Wechsel von Nacht- auf Frühschicht stattfand und fast alle Polizisten vom Nachtdienst unter der Dusche standen oder im Kaffeezimmer saßen und auf Morgenandacht und Dienstschluss warteten.
Der Wachhabende selbst hatte den Anruf angenommen. Die beiden jüngeren Kollegen, die sich daraufhin gemeldet hatten, hatten sich innerhalb der lokalen Truppe schon einen ansehnlichen Ruf erwerben können. Leider war dieser Ruf nicht uneingeschränkt positiv, und da der Wachhabende doppelt so alt war, auf dreißig Dienstjahre zurückblickte und sich nach dieser langen Zeit für gewaltig gegerbt und erfahren hielt, hatte er zuerst Verstärkung schicken wollen, wen immer man um diese Zeit schicken könnte, aber während er noch mit diesen Überlegungen beschäftigt gewesen war, hatte die betreffende Streife sich wieder gemeldet. Nach nur acht Minuten und noch dazu auf seinem Mobiltelefon, damit nicht jede Menge unbefugte Ohren mithören konnten. Jetzt war es Viertel nach acht, und der erste Bericht der Kollegen vom Tatort hatte nur eine Minute in Anspruch genommen.
Und das war nun wirklich bemerkenswert. Dieses eine Mal, trotz ihrer Jugend, ihres Mangels an Erfahrung und ihres Rufs, hatten sie einfach alles richtig gemacht. Sie hatten alles getan, was von ihnen erwartet wurde, und wo sie schon einmal dabei gewesen waren, hatten sie noch mehr gemacht. Sie hatten sich ein goldenes Sternchen für ihr Dienstbuch verdient, und das noch dazu auf eine Weise, die in der Praxis der Polizeibehörden von Växjö bisher unbekannt gewesen war.
Im Schlafzimmer der Wohnung hatten sie eine Tote gefunden. Alles sprach dafür, dass die Frau ermordet worden war, und zwar – wie immer die Kollegen das wissen wollten – vor einigen Stunden. Vom Täter gab es keine Spur, außer einem offenen Schlafzimmerfenster hinten im Haus, was immerhin andeutete, auf welche Weise er den Tatort verlassen hatte.
Leider gab es eine weitere Komplikation. Der jüngere Kollege, mit dem der Wachhabende gesprochen hatte, war davon überzeugt, das Opfer zu kennen, und wenn seine Behauptung nun zutraf, dann bedeutete das unter anderem, dass der Wachhabende selber ihr diesen Sommer schon mehrmals begegnet war, zuletzt, als er am Vortag Feierabend gemacht hatte.
»Nicht gut, gar nicht gut«, murmelte der Wachhabende und sprach vor allem sich selbst an, wie es aussah. Dann zog er seinen Merkzettel hervor, auf dem die Maßnahmen für den schlimmsten Fall verzeichnet waren. Es war eine halbe eingeschweißte A4-Seite mit etwa einem Dutzend Anhaltspunkten und der bemerkenswerten Rubrik »Wenn hmmm-hmmm bei Job in den Ventilator gerät«. Er legte diesen Zettel immer unter seine Schreibunterlage, sowie er den Dienst antrat, und es war fast vier Jahre her, dass er ihn zuletzt hatte hervorziehen müssen.
»Okay, Jungs«, sagte der Wachhabende. »Dann machen wir das so …«
Danach hatte auch er alles getan, was man mit Fug und Recht von ihm verlangen konnte. Wenn auch nicht mehr, denn solche Übertreibungen schätzte man in seinem Alter nun gar nicht mehr.
In dem Streifenwagen, der als Erster am Tatort eintraf, saßen zwei jüngere Ordnungspolizisten aus Växjö. Der stellvertretende Polizeiinspektor Gustaf von Essen, dreißig Jahre alt und bei der Truppe als »Graf« bekannt, obwohl er die Sache sehr genau nahm und immer wieder klarstellte, dass er trotz allem nur »ein ganz normaler Freiherr« war. Und sein vier Jahre jüngerer Kollege, Polizeiassistent Patrik Adolfsson, genannt Adolf, aus Gründen, die leider nicht nur mit seinem Familiennamen zu tun hatten.
Als sie auf den Alarm reagiert hatten, waren sie zwei Kilometer vom mutmaßlichen Tatort entfernt und auf der Rückfahrt zur Wache gewesen, und da so früh am Morgen in der Gegend so gut wie kein Verkehr herrschte, hatte Adolf eine Drehung von hundertachtzig Grad beschrieben, das Gaspedal durchgetreten und ohne Blaulicht oder Sirene den schnellsten Weg eingeschlagen, während der Graf ein scharfes Auge auf alle verdächtigen Bewegungen aus der Gegenrichtung geworfen hatte.
Zusammen bildeten sie an die zweihundert Kilo Ordnungspolizei von bester schwedischer Landrasse. Hauptsächlich Kraft und Knochen, Muskeln und Reflexe in Hochform und insgesamt der pure Lusttraum für jeden verängstigten Mitbürger, der um Hilfe bat, wenn er vor dem Haus drei unbekannte Schurken entdeckte, die gerade dazu ansetzten, die Haustür einzutreten.
Als sie vor dem Haus im Pär Lagerkvists väg vorfuhren, wo das alles passiert sein sollte, kam eine überaus erregte Frau mittleren Alters mitten auf der Straße auf sie zugerannt. Sie fuchtelte mit den Armen und stolperte über die Wörter, und Adolf, der als Erster das Auto verließ, nahm vorsichtig ihren Arm, bugsierte sie auf die Rückbank und versicherte, jetzt sei alles in Ordnung. Und während der Graf mit gezogener Dienstwaffe hinter dem Haus Posten bezog, für den Fall, dass der Schurke sich noch dort aufhielt und in dieser Richtung verschwinden wollte, überprüfte Adolf rasch die Wohnungstür und betrat danach die Wohnung. Was nicht schwer war, da die Eingangstür sperrangelweit aufstand.
Und jetzt hatte er sich sein goldenes Sternchen verdient, ehe er zum ersten Mal all das machte, was ihm auf der Polizeihochschule in Stockholm beigebracht worden war. Mit gezogener Dienstpistole durchsuchte er die Wohnung. Dabei drückte er sich an den Wänden entlang, um den Kollegen von der Technik nichts durcheinanderzubringen oder dem Täter irgendwelche Vorteile einzuräumen, falls der schwachsinnig genug sein sollte, noch immer hier herumzulungern. Aber die Einzige, die sich in der Wohnung befand, war das Opfer. Sie lag im Bett im Schlafzimmer, bewegungslos, eingewickelt in ein blutbeflecktes Laken, das ihren Kopf, ihren Körper und ihre halben Oberschenkel bedeckte.
Adolf rief dem Grafen durch das offene Schlafzimmerfenster zu, er könne jetzt das Treppenhaus durchsuchen, steckte seine Waffe ins Holster und griff zu der kleinen Digitalkamera, die er sich unter die linke Achselhöhle geklemmt hatte. Dann machte er rasch drei Bilder von dem bewegungslosen und zugedeckten Leichnam, ehe er vorsichtig den Teil des Lakens zurückschlug, der ihren Kopf bedeckte, um festzustellen, ob sie noch lebte oder bereits tot war.
Mit dem rechten Zeigefinger suchte er ihre Halsschlagader, was eigentlich unnötig war, wenn wir an die Schlinge um ihren Hals und den Ausdruck in ihren Augen denken. Danach berührte er vorsichtig ihre Wangen und Schläfen, aber anders als bei den lebendigen Frauen, die er auf diese Weise berührt hatte, kam ihm ihre Haut unter seinen Fingerspitzen nur stumpf und starr vor.
Sie ist bestimmt tot, aber besonders lange kann sie das noch nicht sein, dachte er.
Außerdem erkannte er sie plötzlich. Nicht als eine, die er einfach vom Sehen her kannte, er kannte sie wirklich, hatte mit ihr geredet und danach sogar von ihr phantasiert. Und das Seltsamste von allem war … aber er hatte nicht vor, das irgendwem zu erzählen. Er war sich noch nie so anwesend vorgekommen wie jetzt. Total dabei, und zugleich schien er neben dem Geschehen zu stehen und sich selbst zu beobachten. Als ginge es hier eigentlich gar nicht um ihn und noch viel weniger um die Frau, die tot in ihrem Bett lag, obwohl sie noch vor wenigen Stunden genauso lebendig gewesen sein musste wie er.
2
Die Zeugin, die das Opfer gefunden und die Polizei alarmiert hatte, wurde gegen zehn Uhr an diesem Vormittag erstmals von zwei Kriminalinspektoren von der Bezirkspolizei vernommen. Die Vernehmung wurde auf Band aufgezeichnet, und die Ausschriften wurden noch am selben Tag angefertigt. Sie füllten an die dreißig Seiten: Margareta Eriksson, fünfundfünfzig, Witwe, keine Kinder, wohnhaft im Obergeschoss des Hauses, wo auch das Opfer und dessen Mutter wohnten.
Als letzter Punkt der Vernehmung war notiert worden, dass die Zeugin über das sogenannte Schweigegebot, Kapitel 23 der Vorschriften, § 10, informiert worden sei. Nichts jedoch war darüber vermerkt, was sie zu dem Hinweis gesagt hatte, dass niemand erfahren dürfe – »widrigenfalls sie sich strafbar mache« –, was bei dieser Vernehmung zur Sprache gekommen war. An sich vielleicht nicht so unverständlich. Solche Äußerungen wurden niemals notiert, und außerdem hatte die Zeugin genauso reagiert wie die meisten bei dieser Mitteilung. Sie hatte nämlich gesagt, sie sei wirklich keine, die mit solchem Klatsch hausieren gehe.
Das Haus, das aus Keller, vier Wohngeschossen und Dachboden bestand, gehörte einer Wohnungsgenossenschaft, deren Vorsitzende die Zeugin war. Zwei Wohnungen befanden sich je in den drei unteren Geschossen, und eine doppelt so große war oben, eben die der Zeugin. Also insgesamt sieben Wohnungsbesitzer oder -besitzerinnen, alle mittleren Alters oder älter, Alleinstehende und Paare mit erwachsenen und anderweitig wohnenden Kindern. Die Mehrzahl war zum Zeitpunkt des Mordes im Urlaub gewesen.
Die Mordwohnung gehörte der Mutter des Opfers, und der Zeugin zufolge wohnte das Opfer dort zeitweise. In letzter Zeit hatte die Zeugin sie ziemlich oft gesehen, da die Mutter selbst Urlaub hatte und die meiste Zeit in ihrem Sommerhaus auf Sirkön, zwanzig Kilometer südlich von Växjö, verbrachte.
Die Wohnung, vier Zimmer und Küche, lag im Erdgeschoss, auf der Seite Richtung Straße und Haustür, aber da sich das Haus auf Souterrainniveau befand, lag die Wohnung auf der Hofseite eine Treppe hoch. Der Hof grenzte übrigens direkt an eine kleine, von Villen und einzelnen Mietshäusern umgebene Grünanlage.
Die Zeugin war Hundebesitzerin, und ihrer Aussage bei der Vernehmung nach galt Hunden seit vielen Jahren schon ihr großes Interesse. In den letzten Jahren hatte sie zwei gehabt, einen Labrador und einen Spaniel, die sie jeden Tag viermal Gassi führte. Schon gegen sieben Uhr morgens machte sie meistens mit ihnen einen längeren Spaziergang von mindestens einer Stunde.
»Ich bin ein Morgenmensch, und das frühe Aufstehen hat mir noch nie Probleme bereitet. Ich hasse es, morgens lange im Bett herumzulungern.«
Wenn sie von diesem Spaziergang zurückkehrten, frühstückte die Zeugin und las die Morgenzeitung, während für die Hunde die »Morgenfütterung« auf dem Plan stand. Gegen zwölf Uhr war es wieder so weit. Noch ein Spaziergang von ungefähr einer Stunde mit den Hunden, und nach ihrer Rückkehr aß sie dann zu Mittag, während ihre beiden vierbeinigen Freunde mit einem »getrockneten Schweineohr oder einem anderen Leckerbissen zum Kauen« belohnt wurden.
Gegen fünf Uhr wurde es wieder Zeit, aber dann fiel der Spaziergang kürzer aus. Ungefähr eine halbe Stunde, denn sie wollte in aller Ruhe zu Abend essen und »Peppe und Pigge ihr Abendbrot verpassen«, ehe die Fernsehnachrichten begannen. Danach stand noch das abschließende »Abendpipi« zwischen zehn und elf Uhr abends an, abhängig davon, was das Fernsehen zu bieten hatte.
Feste Gewohnheiten, die im Wesentlichen wohl von ihren Hunden bestimmt wurden. In den freien Stunden dazwischen erledigte sie allerlei Besorgungen in der Stadt, traf sich mit Bekannten – »vor allem Freundinnen und anderen Hundemenschen« – oder arbeitete in ihrem Büro in der Wohnung.
Ihr zehn Jahre zuvor verschiedener Mann war Buchprüfer mit eigener Firma gewesen, in der sie als Teilzeitbeschäftigte mitgearbeitet hatte. Seit seinem Tod betreute sie noch immer einige alte Mandanten. Ihre wichtigste Einkunftsquelle war jedoch die ihr von ihrem Mann hinterlassene Pension.
»Ragnar war da immer sehr umsichtig, und deshalb leide ich wirklich keine Not.«
Die Vernehmung wurde in ihrer eigenen Wohnung durchgeführt. Die Polizisten, die sie vernahmen, hatten Augen zu sehen, und es gab keinen Grund, ihr in diesem Punkt zu misstrauen.
Alles wies darauf hin, dass Ragnar für seine hinterlassene Gattin gut gesorgt hatte.
Gegen elf Uhr am Vorabend, im Zusammenhang mit dem sogenannten Abendpipi, hatte sie das Opfer aus dem Haus kommen und zu Fuß in Richtung Innenstadt gehen sehen.
»Sah aus, als ob sie auf ein Fest wollte, aber ich finde, das tun im Moment die meisten jungen Leute, egal zu welcher Tageszeit.«
Sie selbst hatte dreißig Meter entfernt auf der Straße gestanden, und die beiden hatten keinen Gruß ausgetauscht, dennoch war sie überzeugt, das Opfer erkannt zu haben.
»Sicher hat sie mich nicht gesehen, sie hatte es wohl eilig. Sonst hätte sie mir bestimmt guten Abend gesagt.«
Fünf Minuten später war die Zeugin in ihre Wohnung zurückgekehrt, und nach ihren üblichen Gewohnheiten war sie zu Bett gegangen und ziemlich bald eingeschlafen, und das war so ungefähr alles, woran sie sich vom vergangenen Abend erinnerte.
Dieser unwahrscheinliche Sommer hatte bereits im Mai eingesetzt und schien kein Ende nehmen zu wollen. Tag für Tag nicht der geringste Windhauch, die Sonne heiß wie ein Gartengrill, der Himmel von blassem Blau, schonungslos ohne Wolken und Schatten, immer neue Hitzerekorde, und am nächsten Morgen war sie mit ihren Hunden schon gegen halb sieben losgezogen.
Das war zwar früher als sonst gewesen, aber im Hinblick auf den »vollkommen unwahrscheinlichen Sommer … denn ich bin wohl nicht die Einzige, die das so sieht … wollte ich dem Schlimmsten entgehen.« Und das wussten wirklich alle verantwortungsbewussten Hundemenschen, dass Anstrengung bei zu großer Hitze für Hunde gar nicht gut war.
Sie war denselben Weg gegangen wie immer. Zuerst, sowie sie das Haus verlassen hatte, nach links, die Straße entlang, vorbei an den Nachbarhäusern und dann auf den Fußweg rechts von dem größeren Waldgebiet, das sich nur einige hundert Meter hinter ihrem Haus hinzog. Eine halbe Stunde später, und nun war es bereits unerträglich heiß, obwohl es doch weiterhin erst kurz nach sieben war, beschloss sie, wieder nach Hause zu gehen. Peppe und Pigge hechelten beide besorgniserregend, und auch ihr Frauchen sehnte sich nach dem Schatten in der Wohnung und einem kalten Getränk.
Ungefähr zu dem Zeitpunkt, zu dem sie beschlossen hatte kehrtzumachen, hatte der Himmel sich plötzlich bewölkt und war schwarz geworden, der Wind hatte an Sträuchern und Bäumen gerissen und der Donner in nächster Nähe zu grollen begonnen. Als die ersten schweren Tropfen fielen, war sie nur noch einige hundert Meter von zu Hause fort, und sie rannte los, obwohl das eigentlich unnötig war, denn auf die ersten Tropfen folgte der pure Wolkenbruch, und als sie die Grünfläche hinter dem Hof hinter sich gebracht hatte, war sie bereits triefnass. Und nun sah sie auch, dass das Schlafzimmerfenster der Nachbarin offen stand und im Wind hin und her schlug und dass die Vorhänge im Zimmer bereits durchweicht waren.
Sowie sie das Haus betreten hatte – »und da war es wohl ungefähr halb acht, wenn ich das richtig berechnet habe« –, klingelte sie deshalb mehrmals an der Tür der Nachbarin, es machte jedoch niemand auf.
»Ich dachte, sicher hat sie das Fenster offen gelassen, als sie heute Nacht spät nach Hause gekommen ist. Wozu auch immer das gut sein soll … draußen ist es doch viel heißer als drinnen. Als wir uns gestern zum Abendpipi aufgemacht haben, war das Fenster jedenfalls geschlossen, das habe ich gesehen.«
Da niemand aufgemacht hatte, war sie mit dem Fahrstuhl zu ihrer eigenen Wohnung hochgefahren. Hatte den Hunden die ärgste Nässe abgewischt und selber trockene Kleidung angezogen. Außerdem war sie schlechter Laune gewesen.
»Das ist nun einmal eine Wohnungsgenossenschaft, und Wasserschäden sind kein Spaß. Außerdem haben wir noch das Einbruchsrisiko. Es sind zwar einige Meter bis zur Fensterbank, aber es vergeht doch kaum ein Tag, ohne dass man in der Zeitung von solchen Fassadenkletterern liest, die alles stehlen, was die Leute nur haben, und selbst wenn sie richtig mit Drogen voll sind, können sie sich doch immer noch von irgendeinem Kumpel eine Leiter leihen.«
Aber was sollte sie nun machen? Bei der nächsten Begegnung der Tochter ins Gewissen reden? Die Mutter anrufen und klatschen? Vierzehn Tage zuvor hatte es einen ähnlichen Wolkenbruch gegeben, aber schon nach zehn Minuten hatte der ebenso plötzlich aufgehört, wie er angefangen hatte, die Sonne hatte abermals von einem blauen und wolkenlosen Himmel gestrahlt, und eigentlich war der Guss für Rasen und andere Gewächse ja nur gut gewesen. Aber diesmal war das nicht so, und nach einer Viertelstunde, während sie die Fressnäpfe der Hunde und ihre eigene Kaffeemaschine füllte und es draußen noch immer wie aus Kannen goss, hatte sie ihren Entschluss gefasst.
»Wie schon gesagt, bin ich doch die Vorsitzende unserer Genossenschaft, und wir hier im Haus helfen uns immer gegenseitig, alles im Auge zu behalten. Vor allem jetzt im Sommer, wo viele im Urlaub sind. Und deshalb habe ich Ersatzschüssel für alle Wohnungen im Haus.«
Sie hatte also den Schlüssel geholt, den die Mutter des Opfers ihr anvertraut hatte, und war mit dem Fahrstuhl nach unten gefahren, hatte noch einige Male an der Tür geklingelt – »sicherheitshalber, falls sie doch zu Hause wäre« –, hatte die Wohnungstür aufgeschlossen und war in die Wohnung gegangen.
»Und da sah es wohl ungefähr so aus, wie es eben aussieht, wenn junge Leute sturmfreie Bude haben, darüber habe ich aber nicht weiter nachgedacht, ich glaube, ich habe gerufen und gefragt, ob jemand zu Hause ist, aber es kam keine Antwort, und da bin ich hineingegangen … in das Schlafzimmer … ja … und da hab ich ja gesehen, was passiert ist, das war mir sofort klar. Und also … ich habe kehrtgemacht und bin auf die Straße hinausgerannt … ich dachte plötzlich, dass er vielleicht noch in der Wohnung ist, und ich hatte eine Sterbensangst. Glücklicherweise hatte ich mein Telefon bei mir und habe angerufen … den Notruf … dieses 112. Und da bekam ich sofort Antwort, obwohl man in der Zeitung doch immer wieder liest, dass nie jemand da ist.«
Das offene Schlafzimmerfenster hatte sie nicht mehr schließen können, was an sich auch nicht so wichtig war, denn der Regen hatte schon aufgehört, als die erste Streife vor Ort eintraf, und eventuelle Wasserschäden waren jetzt einfach belanglos. Polizeiassistent Adolfsson dachte natürlich auch nicht daran. Dagegen notierte er, dass es auf der Fensterbank draußen jede Menge Spuren von mit Wasser vermischtem Blut gab, aber da es ja nicht mehr regnete, überließ er alles Weitere seinen älteren Kollegen von der Technik.
Der heißeste Sommer seit Menschengedenken, eine Nachbarin, die jeden Morgen mit ihren Hunden den gleichen Spaziergang unternahm und noch dazu Reserveschlüssel für die Wohnung des Opfers hatte, ein plötzlicher Wolkenbruch, ein offenes Fenster. Zusammenwirkende Umstände, die Ernte des Zufalls, wenn man so will, oder was auch immer, jedenfalls entdeckte die Polizei deshalb und auf diese Weise und auf keine andere, was geschehen war. Und im Vergleich zu den möglichen Alternativen war diese Weise bei weitem nicht die schlechteste.
3
Der Wachhabende hatte wirklich sein Teil getan. In weniger als zwei Stunden befanden sich alle, die dort sein sollten, am Tatort. Unglücklicherweise zusammen mit einer Menge anderer Menschen, die sich besser anderswo aufgehalten hätten, aber daran konnte niemand etwas ändern, und die Umgebung des Hauses war abgesperrt, die Straße ebenfalls, und zwar in beiden Fahrtrichtungen.
Die Ordnungspolizei hatte mit der systematischen Durchsuchung der Nachbarhäuser und der näheren Umgebung begonnen, während eine Hundestreife versuchte, irgendeine Ordnung in die Spuren zu bringen, die vermutlich der Täter hinterlassen hatte, falls er nun aus dem offenen Fenster auf der Rückseite des Hauses gesprungen war. Das erbrachte allerdings nichts, was auch kein Wunder war, wenn wir an den Wolkenbruch einige Stunden zuvor denken.
Die Technik untersuchte die Wohnung, der Gerichtsmediziner war schon auf dem Weg aus seinem Sommerhaus. Die zuständigen Kollegen von der Bezirkskriminalpolizei führten die erste Vernehmung mit der Zeugin durch, die das Opfer gefunden hatte, die Eltern der Toten wurden informiert und auf die Wache geholt. Bald würde man auch die Nachbarschaft befragen, und damit wären die Punkte auf der Liste des Wachhabenden abgehakt – mit einer Ausnahme.
Als ihm klar war, dass alle Teile des Puzzles an Ort und Stelle lagen oder zumindest unterwegs dorthin waren, hatte er sich dem letzten Punkt auf seinem Merkzettel gewidmet und den Bezirkspolizeichef angerufen. Mit dem verhielt es sich so seltsam, dass, obwohl es in diesem Sommer, der kein Ende nahm, Freitag war und der Polizeichef außerdem eigentlich Urlaub hatte, er sich nicht in seinem Ferienhaus am Meer bei Oscarshamn, an die hundert Kilometer von Växjö entfernt, aufhielt, sondern hinter seinem Schreibtisch in seinem Büro einige Treppen höher im selben Gebäude wie der Wachhabende. Sie hatten gegen halb zehn an diesem Vormittag fast eine Viertelstunde miteinander telefoniert. Vor allem hatten sie über das Opfer gesprochen, und als sie ihr Telefonat beendet hatten, war der Wachhabende, so erfahren und gegerbt er eigentlich war, plötzlich von einer unerklärlichen Niedergeschlagenheit befallen worden.
Seltsam eigentlich, denn als er zuletzt seine handgeschriebene Liste hatte hervornehmen müssen – und zwar im Zusammenhang mit einer längeren Vertretung bei der benachbarten Behörde in Kalmar –, war er beim Gedanken an das Geschehene fast fröhlich geworden. Zwei der schlimmsten Schurken der Stadt hatten am helllichten Nachmittag wild um sich geballert, mitten in der Stadt, mitten zwischen all den netten und anständigen Mitbürgern, und hatten insgesamt an die zwanzig Schüsse in sämtliche denkbare Richtungen abgegeben, aber wie durch göttliche Fügung hatten sie sich nur gegenseitig getroffen, und das kann doch nur in Småland passieren, hatte der Wachhabende damals gedacht.
Der Bezirkspolizeichef war auch nicht gerade begeistert. Er war zwar kein Mordermittler, und eine seiner Lebensregeln war es, sich niemals im Voraus Sorgen zu machen, aber diese Sache sah wirklich nicht gut aus. Sie wies alle frühen Kennzeichen eines klassischen Ermittlungsmordes auf, und wenn das Schicksal es wirklich böse meinte, und wenn wir bedenken, wer das Opfer war, dann bestand eine viel zu große Gefahr, dass es ihm so ergehen würde, wie es Menschen seines Schlags immer erging, wenn ihr Berufsleben sich als ganz besonders ungerecht entpuppte.
In einer Festrede, die er eine Woche zuvor gehalten hatte, war er eine ganze Weile bei den mangelnden Mitteln der Polizei verblieben und hatte seine Truppe abschließend mit einem »viel zu spärlich belegten, verwitterten Lattenzaun und also einem schlechten Schutzwall vor einer immer brutaleren Gewalttätigkeit« verglichen.
Die Rede war sehr gut angekommen, und er selbst war sehr zufrieden mit dem Lattenzaunvergleich gewesen, der ihm treffsicher und wohlformuliert erschienen war. Und das hatte nicht nur er so gesehen, auch der Chefredakteur der großen Lokalzeitung, der zu dem Essen geladen gewesen war, hatte ihm bei Kaffee und Kognak gratuliert. Aber das war vorbei, und er wollte lieber gar nicht daran denken, welche Wege die Gedanken des Chefredakteurs in Kürze einschlagen würden.
Noch schlimmer jedoch waren seine persönlichen, ganz privaten Gefühle. Er kannte den Vater des Opfers, und die Tochter – das Opfer also – war ihm mehrere Male begegnet. Er erinnerte sich an sie als an eine überaus bezaubernde junge Frau, und wenn er selbst eine Tochter gehabt hätte, dann hätte sie durchaus wie die Tote aussehen und wie sie sein dürfen. Was ist denn bloß los, dachte er, und warum um alles in der Welt ausgerechnet in Växjö, wo es in all den Jahren, in denen er nun schon hier tätig war, niemals einen Mord mit unbekanntem Täter gegeben hatte. Hier bei mir? Und zu allem Überfluss auch noch mitten im Sommer.
Und nun fasste er also einen Entschluss. Egal, wie viele Latten in seinem Zaun auch fehlen mochten, und ganz abgesehen von Urlaubszeit und allem anderen polizeilichen Elend, das den Zaun nicht dichter machte, war es hohe Zeit, sich auf das Allerschlimmste vorzubereiten. Deshalb griff er selbst zum Hörer und rief seinen alten Freund und Kurskameraden »Zettkazeh« an und bat um Hilfe. Denn an wen sollte man sich in einer solchen Situation denn sonst wenden, dachte der Bezirkspolizeichef.
Nach dem Gespräch, das weniger als zehn Minuten dauerte, fühlte der Bezirkspolizeichef sich um einiges erleichtert, fast schon befreit. Hilfe war unterwegs, die denkbar beste Hilfe von der Mordkommission der Landeszentralpolizei, der sagenumwobenen Landesmord, und ihr höchster Chef hatte versprochen, dass die Hilfe noch am selben Tag eintreffen werde.
Danach konnte auch er sich in allen Ehren vom Einstieg in seinen Auftrag verabschieden. Es gab zwar keinen goldenen Stern für ihn und auch keinen silbernen, aber doch einen kleinen aus Bronze, weil er an ein nicht unwichtiges praktisches Detail gedacht hatte. Er hatte nämlich seine Sekretärin umgehend im besten Hotel am Platze anrufen, sechs Einzelzimmer für unbestimmte Zeit bestellen und vor allem darauf hinweisen lassen, dass die Zimmer nebeneinander und möglichst abgeschieden liegen sollten.
Im Stadshotell war die Freude groß, denn dort herrschte sommerliche Stille, und es gab ausreichend freie Zimmer, was einige Stunden später am selben Tag nicht mehr der Fall sein würde, denn dann würde in der ganzen Innenstadt von Växjö kein Zimmer mehr aufzutreiben sein.
4
Stockholm, Freitagvormittag, 4. Juli
Obwohl es erst zehn Uhr vormittags war – in diesem seltsamen Sommer, der schon im Mai angefangen hatte und offenbar kein Ende nehmen wollte –, hatte eine der besonders sagenumwobenen Gestalten von der Zentralen Mordkommission ihren Arbeitsplatz bereits aufgesucht. Kriminalkommissar Evert Bäckström, der anders als die Mehrzahl seiner Kollegen keinen Urlaub genommen hatte, um aufs Land zu fahren und sich mit Mücken, einer übellaunigen Gattin und quengelnden Kindern herumzuschlagen. Ganz zu schweigen von nervenden Nachbarn, stinkenden Plumpsklos, nach Benzin stinkenden Grillspießen und viel zu warmem Bier.
Bäckström war klein, fett und primitiv, aber bei Bedarf konnte er listig und nachtragend sein. Er selbst hielt sich für einen klugen Mann in den besten Jahren. Einen freien und ungebundenen Burschen, der das gelassene Leben in der Stadt bevorzugte. Da ausreichend viele appetitliche und leicht bekleidete Damen das offenbar ebenso sahen, hatte er wirklich keinen Grund, sich zu beklagen.
Die sommerliche Urlaubszeit war ein Genussmittel für Leute, die es nicht besser wussten, und weil sich wirklich die große Mehrzahl seiner Kollegen dieses Genussmittels bediente, gab es Grund genug, im Büro zu bleiben, wenn man ausnahmsweise einmal Zeit hatte, sich ungestört der Arbeit zu widmen. Der Letzte bei Dienstantritt und der Erste bei Feierabend und niemand, der sich etwas dabei dachte. Und darum ging es doch eben. Zeit genug für allerlei Erledigungen außerhalb der Woche, und falls irgendein übrig gebliebener Chefskerl doch mal einen Blick in sein Dienstzimmer werfen sollte, wäre er gut darauf vorbereitet.
Schon am Vortag, ehe sein direkter Vorgesetzter in den Urlaub aufgebrochen war, hatte Bäckström mitteilen lassen, dass er, abgesehen davon, dass er zur Stelle war, um sich den praktischen Aufgaben zu widmen, nun vorhatte, eventuelle freie Zeit mit dem Durchgang von alten Fällen zu verbringen, die man leider nicht hatte klären können. Der Chef hatte keine Einwände gehabt, vor allem aber hatte er sich aus dem Polizeigebäude auf Kungsholmen weggesehnt, und mit Bäckström hatte er sich schon gar nicht unterhalten wollen, weshalb sich auf Bäckströms Tisch jetzt die unaufgeklärten Morde türmten, die seine weniger begabten Kollegen völlig überflüssigerweise in den Sand gesetzt hatten.
Als erste Maßnahme, wenn er an seinem Arbeitsplatz eintraf, verschob er ein wenig die Papierstapel, für den Fall, dass irgendwer dort herumschnüffelte. Nachdem er dann in dem durchaus nicht unbequemen Sessel hinter seinem so präparierten Schreibtisch den Rest des Tages geplant hatte, programmierte er sein Diensttelefon mit einer passenden Erklärung für seine Abwesenheit. Es gab genügend zur Auswahl, und um jeglichen Verdacht auf Systematik zu vermeiden, würfelte er und ließ den Zufall entscheiden, ob er sich für den Rest des Tages bei einer »Besprechung«, in »dienstlichem Einsatz«, »zufällig nicht im Haus«, »auswärts« oder vielleicht sogar auf »Dienstreise« befinden sollte. Wenn diese tägliche Aufgabe erledigt war, wurde es meistens hohe Zeit, um des Tages Müh und Plage fortzusetzen und »zu Tisch« zu gehen. Ein grundlegendes menschliches Bedürfnis, ein Recht, das in den Arbeitsgesetzen festgeschrieben ist und im Telefonbuch der Polizei natürlich einen eigenen Code besitzt. Dafür brauchte Bäckström nicht einmal die Würfel zu bemühen.
Das einzige praktische Problem war, dass es ein wenig schlecht bestellt war mit Überstunden und anderen pekuniären Zuschüssen, denn wie schon so oft herrschte Ebbe in seiner Kasse, obwohl er erst vor einer Woche Gehalt bekommen hatte. Das findet sich schon, dachte Bäckström. Man muss sich über das Wetter und die vielen halb nackten Frauen in der Stadt freuen. Und jederzeit kann irgendein Dussel irgendein armes Würstchen erschlagen, an einem dreisternigen Ort, der eine Dienstreise wert ist, und dann gibt es Überstunden, Bewirtung und alle erdenklichen steuerfreien Vorteile für einen schlichten Schutzmann. Und mitten in diese tröstlichen Überlegungen hinein klingelte plötzlich sein Telefon.
Auch der Chef der Zentralen Kriminalpolizei, Sten Nylander – oder der Zettkazeh, wie er in der Umgangssprache seiner achthundert Mitarbeiter genannt wurde –, war in Gedanken versunken, als der Bezirkspolizeichef von Växjö ihn anrief, und zwar in erhabene Überlegungen zu einem komplizierten operativen Problem, dessen Elemente er auf dem riesigen Planungstisch in seiner Einsatzzentrale oder dem Op-Center, wie er selbst das lieber nannte, hatte darstellen lassen. Konkret ging es darum, wie er seine Nationale Einsatztruppe vergrößern könnte, falls internationale Terroristen auf die wenig willkommene Idee kämen, draußen in Arlanda ein Flugzeug zu kapern.
Der Kollege in Växjö besaß offenbar nicht dieselbe Fähigkeit, im Umgang mit Groß und Klein Prioritäten zu setzen, und um sich nicht den halben Tag zu ruinieren, versprach der Zettkazeh, umgehend Leute von seiner eigenen zentralen Mordkommission zu schicken. Schlimmstenfalls, wenn sie etwas anderes vorhatten, würden sie Prioritäten setzen müssen, dachte er, als er den Hörer auflegte, dann rief er seine Sekretärin an und bat sie, »diesen kleinen Fettsack von der Landesmord, dessen Name mir immer entfällt, zu holen«. Danach wandte er sich wieder den wesentlichen Dingen zu.
»Der Zettkazeh scheint ja eine Menge um die Ohren zu haben, und das, obwohl doch Urlaub ist«, erklärte Bäckström, lächelte die Sekretärin des höchsten Chefs einschmeichelnd an und nickte zu der geschlossenen Tür hinter ihrem Rücken hinüber. Op-Center ZKC, das klingt doch gut, dachte er.
»Ja, er hat eine Menge um die Ohren«, erwiderte die Sekretärin kurz und ohne von ihren Papieren aufzublicken. »Zu jeder Jahreszeit«, fügte sie hinzu.
Klar doch, dachte Bäckström. Vielleicht hat er einen Kurs gemacht und gelernt, dass Leute wie er Leute wie mich immer eine Viertelstunde warten lassen müssen, während sie den Leitartikel von Svenska Dagbladet lesen.
»Ja, es sind böse Zeiten«, sagte er heuchlerisch.
»Ja«, antwortete die Sekretärin und schaute ihn misstrauisch an.
Wenn man nicht Zettkazeh ist, natürlich nur, dachte Bäckström. Klassetitel hatte der Arsch eben auch. Zettkazeh klingt militärisch und männlich. Einwandfrei besser als Reichspolizeichef, das allerhöchste Huhn auf dem Misthaufen, das nur Erpezeh genannt wird. Wer will schon Erpezeh heißen, dachte Bäckström. Klingt fast, als ob man sich mit dem falschen Frauenzimmer eingelassen und sich sonst was zugezogen hätte.
»Der Zettkazeh kann Sie jetzt empfangen«, sagte die Sekretärin und nickte zur verschlossenen Tür hinüber.
»Meinen untertänigsten Dank«, sagte Bäckström und machte im Sitzen eine Verbeugung.
Genau eine Viertelstunde, das hätte sich doch jedes Kind ausrechnen können. Sogar du, du kleine Kampflesbe, dachte er und lächelte die Sekretärin herzlich an. Die sagte nichts. Sie schaute ihm nur misstrauisch hinterher.
Bäckströms höchster Chef schien noch immer in Gedanken versunken. Zumindest fuhr er sich nachdenklich mit Daumen und Zeigefinger der rechten Hand über sein männliches und überaus markantes Kinn, und als Bäckström das Zimmer betrat, sagte er nichts, sondern nickte nur kurz.
Seltsamer Typ, dachte Bäckström. Und wie zieht der sich denn an, bei dreißig Grad draußen.
Der Chef der Zentralen Kriminalpolizei war wie üblich tadellos in Uniform gewandet und trug an diesem Tag außerdem schwarze Reitstiefel, die blaue Hose der berittenen Polizei, dann Achselklappen, vier Goldstreifen mit Eichenlaub, gekrönt von der königlichen Krone, auf der linken Seite der Brust eine vierreihige Ordensspange, auf der rechten die beiden gekreuzten Säbel in Gold, die aus unerfindlichen Gründen zum Emblem der Zentralen Kriminalpolizei geworden waren. Schlips natürlich, in genau dem richtigen rechten Winkel festgehalten von der polizeieigenen Schlipsnadel für die hohen Ränge, gerader Rücken wie ein Schürhaken, der Bauch eingezogen, die Brust hervorgeschoben, als versuche sie, den Kampf gegen sein hervorragendstes Körperteil aufzunehmen.
Was für ein verdammtes Kinn. Der hat doch eine Visage wie ein Öltanker, dachte Bäckström.
»Wenn Sie über meine Kleidung staunen«, sagte der Zettkazeh, noch immer, ohne ihn auch nur eines Blickes zu würdigen und ohne die Finger von dem Körperteil zu lösen, das Bäckströms Gedanken auf sich zog, »so habe ich vor, später an diesem Tag Brandklipparen zu bewegen.«
Der kriegt noch dazu alles mit, hier sollte man sich also in Acht nehmen, dachte Bäckström.
»Ein königlicher Name für ein edles Ross«, fügte der Zettkazeh hinzu.
»Ja, so hieß ja wohl der Gaul von Kalle Zwölf«, sagte Bäckström verständnisinnig, obwohl er zu der fraglichen Zeit meist die Schule geschwänzt hatte.
»Von Karl XI. und Karl XII.«, stellte der Zettkazeh richtig. »Derselbe Name, wenn auch natürlich nicht dasselbe Pferd. Wissen Sie, was das hier ist«, fügte er hinzu und nickte den kunstvollen Modellen zu, die er auf seinem riesigen Planungstisch aufgestellt hatte.
Bei so vielen Terminals, Flugzeughallen und Flugzeugen kann das ja wohl kaum die Schlacht von Poltawa sein, dachte Bäckström.
»Arlanda«, tippte er. Wie auch immer Arlanda von oben her aussehen mochte.
»Genau«, sagte der Zettkazeh. »Aber das ist nicht der Grund, aus dem ich Sie sprechen wollte.«
»Ich bin ganz Ohr, Chef«, sagte Bäckström und versuchte, wie ein Musterschüler auszusehen.
»Växjö«, verkündete der Zettkazeh dramatisch. »Ermittlungsmord, junge Frau, heute Morgen erwürgt in ihrer Wohnung aufgefunden. Vermutlich auch vergewaltigt. Ich habe versprochen, dass wir helfen. Also trommeln Sie Ihre Kollegen zusammen, und fahren Sie sofort hin. Die Details können Sie mit Växjö klären. Wenn irgendwer hier im Haus irgendwelche Einwände vorbringt, dann schicken Sie ihn zu mir.«
Großartig, dachte Bäckström. Scheiße auch, das ist ja besser als zur Zeit der drei Musketiere. Dieses Buch hatte er nämlich gelesen. Damals, als kleiner Knabe, als er die Schule geschwänzt hatte.
»Das geht schon in Ordnung, Chef«, sagte Bäckström. Växjö, dachte er. Liegt das nicht irgendwo am Meer, da unten in Småland? Da muss es um diese Jahreszeit doch von Mädels geradezu wimmeln.
»Übrigens«, sagte der Chef der Zentralen Kriminalpolizei. »Da ist noch was. Ehe ich es vergesse. Es gibt da eine kleine Komplikation. Und zwar geht es um die Person des Opfers.«
Da schaun wir mal, sagte die blinde Sara, dachte Bäckström, als er eine halbe Stunde später hinter seinem Schreibtisch saß und die praktischen Dinge erledigte. Zuerst gab es einen netten Einschuss von flüssigen Mitteln in Form eines Postwechsels, den er der Kasse hatte entlocken können, obwohl es doch ein Freitag in der Urlaubszeit war. Dann hatte er diesen Wechsel mit einigen Tausendern in bar ergänzt, aus der Tippskasse der Sektion. Die stand immer für dringende und unerwartete Fälle bereit, und gerade Bäckström hatte sie in guter Erinnerung, denn egal, wie es auf seinem eigenen mageren Gehaltskonto auch aussehen mochte, so würde er doch in der nächsten Zeit keine vermeidbare Not leiden müssen.
Danach hatte er fünf Kollegen zusammenscharren können, genauer gesagt, vier echte Polizisten und ein Frauenzimmer. Die war allerdings einfach eine schnöde Zivilangestellte und sollte sich vor allem damit beschäftigen, Ordnung in den Papieren zu halten, damit konnte er also leben. Außerdem würde sicher einer der Kollegen dieses Arrangement zu schätzen wissen, da er sie bestieg, sowie sich in ausreichend sicherer Entfernung von seiner übellaunigen Gattin eine Gelegenheit bot. Vielleicht nicht die absolute Elite, dachte Bäckström, als er die Liste seiner Lieben durchsah, aber doch gut genug, vor allem wenn wir bedenken, dass gerade Urlaubszeit war. Außerdem würde er ja selbst mit von der Partie sein.
Blieben noch die Fahrzeuge für die Fahrt nach Växjö und alles, was dort zu erledigen sein würde. Autos hatten sie aus irgendeinem Grund genug, und Bäckström belegte die drei besten mit Beschlag. Für sich selbst einen Volvo mit Allradantrieb, das größte Modell mit dem leistungskräftigsten Motor und so viel zusätzlicher Ausrüstung, dass die Jungs von der Technik besoffen gewesen sein mussten, als sie die Bestellung aufgegeben hatten.
Das wäre wohl alles, dachte Bäckström und machte auf seiner kleinen Liste einen Haken. Jetzt musste er nur noch packen, und als er daran dachte, überkam ihn plötzlich eine gewisse Missstimmung. Der staatliche Alkoholladen war an sich kein Problem. Dieses eine Mal hatte er zu Hause jede Menge Schnaps. Einer der jüngeren Kollegen war am Wochenende zum Hamstern in Tallinn gewesen, und Bäckström hatte sich mit einem ordentlichen Anteil eingedeckt: Whisky, Wodka und zwei Flaschen Starkbier, das pure Dynamit.
Aber was soll ich anziehen, verdammt noch mal, dachte Bäckström und sah seine defekte Waschmaschine vor sich, den überlaufenden Wäschekorb und die Haufen verdreckter Kleidungsstücke, die sich seit fast einem Monat in Schlafzimmer und Bad auftürmten. Noch am Morgen, ehe er zur Arbeit gegangen war, hatte er ein kleines Elend erlebt. Frisch geduscht und wunderbar hatte er dagestanden, ausnahmsweise einmal nicht im Geringsten verkatert, und danach war die pure Hölle ausgebrochen. Bis er an einem Hemd und einem Paar Socken geschnuppert hatte, die sein Gegenüber bei irgendeinem Gespräch nicht sofort an einen dänischen Käsehändler erinnern würden. Das findet sich schon, dachte Bäckström, dem plötzlich eine brillante Idee gekommen war. Zuerst einen kurzen Abstecher in die Galerie in der Sankt Eriksgata, um etwas Fesches und Frisches zu erstehen. An flüssigen Mitteln fehlte es ihm ja nicht, und die schmutzige Wäsche zu Hause könnte er ja – wenn er sich die Sache genauer überlegte – mitnehmen und im Hotel in Växjö abgeben. Hervorragend, dachte Bäckström. Aber zu allererst einen kleinen Mundvoll, denn es wäre doch das reine Dienstvergehen, sich auf nüchternen Magen an eine Mordermittlung zu begeben.
Bäckström hatte in einem nahe gelegenen spanischen Restaurant ein ausgiebiges Mittagessen mit vielen Tapas und anderen sommerlichen Delikatessen zu sich genommen. Da er beschlossen hatte, dass sein Arbeitgeber auch diesen Spaß bezahlen sollte, hatte er eine nicht anwesende Gewährsperson auf die Rechnung gesetzt. Die GP hatte Geschmack genug besessen, zwei große Starkbiere zu trinken. Bäckström selbst, der im Dienst war, hatte sich mit einem einzigen Mineralwasser begnügt, und als er satt und zufrieden wieder auf die Straße kam, klappte das Denken besser als seit langer Zeit. Die Sonne scheint, und das Leben spielt, dachte Bäckström und steuerte seine Wohnung an. Er brauchte nicht einmal ein Taxi zu nehmen, da er seit einigen Jahren in einer gemütlichen kleinen Wohnung in der Inedalsgata hauste, nur zwei Minuten zu Fuß vom Polizeigebäude beim Kronobergspark entfernt.
Die Wohnung hatte er von einem alten Kollegen übernommen, der vor etlichen Jahren in Pension gegangen war und den er schon während seiner Zeit bei der Gewalt in Stockholm kennengelernt hatte. Der Kollege war in sein Sommerhaus im Schärengürtel gezogen, um sich in aller Ruhe zu Tode zu saufen und derweil ein wenig zu fischen. Deshalb hatte er seine Wohnung in der Stadt nicht mehr gebraucht und sie Bäckström überschrieben.
Bäckström wiederum hatte seine damalige Wohnung einem jüngeren Kollegen von der Bezirkskripo verkauft. Der war vor die Tür gesetzt worden, weil er etwas mit einer Kollegin von der Ordnung hatte, aber da diese Kollegin ihrerseits mit einem Kollegen von der Streife verheiratet war, einem richtigen Widerling im Zweifelsfall, konnte er nicht bei ihr einziehen.
Stattdessen hatte er Bäckströms Bude gekauft. In bar, schwarz und zu einem netten Preis, dafür, dass er Bäckström beim Umzug nach Kungsholmen geholfen hatte, in seine zwei Zimmer, Küche und Bad, zwei Treppen über dem Hof. Wohngeld akzeptabel, vor allem ältere Nachbarn, die nicht besonders störten und keine Ahnung davon hatten, dass er Polizist war, und insofern hätte er es nicht besser treffen können.
Das einzige Problem war, dass er sich ein Frauenzimmer besorgen musste, das für ihn wusch und putzte, um im Gegenzug in Bäckströms solidem Fichtenholzbett von Ikea richtig durchgefickt zu werden.
Denn jetzt sah es einfach zu scheußlich aus, überlegte Bäckström, während er seine schmutzige Wäsche in eine riesige Reisetasche packte, um sie zum Stadshotell in Växjö und von dort zur nächstgelegenen Wäscherei weiterzubefördern.
Das Beste wäre es, wenn er die ganze Wohnung mitnehmen und an der Rezeption abgeben könnte, dachte er. Aber scheiß drauf, das findet sich schon, entschied Bäckström und holte sich ein kaltes Bier aus dem Kühlschrank. Dann packte er eine zweite Tasche mit allem anderen, was er brauchte, und dabei kam ihm ein entsetzlicher Gedanke. Es war, als hätte ihn jemand von hinten am Schlafittchen gepackt und zerrte an ihm, und das passierte in letzter Zeit leider ein wenig zu häufig. Was zum Teufel mache ich mit Egon, überlegte Bäckström.
Egon war nach dem in Rente gegangenen Kollegen getauft, der ihm die Wohnung überlassen hatte, aber besondere Ähnlichkeiten bestanden nicht, da es sich bei Bäckströms Egon um einen Goldfisch vom allerüblichsten Modell handelte, während sein Namenspatron ein ehemaliger Polizist von mindestens siebzig war.
Bäckström hatte Egon samt Aquarium von einem Frauenzimmer bekommen, das er ein halbes Jahr zuvor kennengelernt hatte. Er hatte eine Kontaktanzeige im Internet beantwortet. Was ihn dazu gebracht hatte, war teilweise die Beschreibung der Annoncierenden von sich selbst gewesen, vor allem aber ihr Kennwort »Uniform bevorzugt«. Bäckström hatte sich zwar an der Uniform vorbeigedrückt, seit er bei der Polizei weit genug aufgerückt war, um das vertreten zu können, aber wer kümmerte sich schon um solche Einzelheiten?
Anfangs war auch alles sehr gut gelaufen. Ihre Selbstbeschreibung als »emanzipierte und tolerante Frau« war nicht ganz falsch gewesen. Zu Anfang jedenfalls nicht, aber nach einer Weile war sie genau wie alle anderen Frauenzimmer geworden, die in seinem Leben aufmarschiert waren. Und deshalb war alles so gekommen, wie es kommen musste, sehen wir mal von Egon ab, der noch immer bei ihm wohnte und es noch dazu so weit getrieben hatte, dass Bäckströms Herz jetzt an ihm hing.
Der gefühlsmäßige Durchbruch in der Beziehung von Egon und Bäckström hatte sich zwei Monate zuvor vollzogen, als Bäckström sich aufs Land begeben und eine Woche ermitteln musste und einfach keine Möglichkeit sah, täglich einen Goldfisch zu füttern.
Zuerst rief er die Frau an, die ihm seine schwimmende Sorge aufgedrängt hatte, aber die schrie ihn nur an und knallte den Hörer auf die Gabel. Was sein muss, muss sein, dachte Bäckström, und obwohl die Packungsaufschrift davor warnte, gab er eine halbe Packung Futter ins Aquarium, ehe er aufbrach. Das war der Vorteil eines Goldfischs, dachte er, als er im Auto saß, um sich zu seiner Mordermittlung zu begeben. Einen Köter konnte man nicht ins Klo werfen, wenn der mit dem Bauch nach oben dalag, und für das Aquarium konnte er sicher einen Hunderter einsacken, wenn er es im Netz zum Verkauf anbot. Als er nach zehn Tagen zurückkehrte, zeigte sich, dass Egon noch immer unter den Lebenden weilte. Er hatte zwar munterer gewirkt, ehe Bäckström ihn verlassen hatte, und an den ersten Tagen schwamm er sozusagen auf Dreiviertelflamme, aber dann war er wieder wie vorher.
Bäckström war beeindruckt und erzählte sogar im Kaffeezimmer bei der Arbeit von Egon – »ein ungewöhnlich zäher kleiner Racker« –, und ungefähr zu diesem Zeitpunkt fing er an, Egon lieb zu gewinnen. Es kam sogar vor, dass er ihm abends zusah, während er nach einem langen, mühseligen Arbeitstag seinen wohlverdienten Abendtrunk zu sich nahm. Wie Egon hin und her und auf und ab schwamm und keinen Gedanken daran zu verlieren schien, dass er keine Damen in der Nähe hatte. Du hast es gut, Junge, dachte Bäckström dann, und im Vergleich zu allen blöden Naturprogrammen im Fernsehen war Egon der klare Hit.
Müssen eben sehen, dass wir die Ermittlung schnell hinter uns bringen, dachte Bäckström ein wenig schuldbewusst, als er mit dem Daumen an der Packung eine üppige Futtermenge abmaß und sie seinem kleinen schweigsamen Kameraden ins Glas goss. Und wenn es doch dauern sollte, würde er eben auf der Wache anrufen und irgendeinen Kollegen bitten müssen, einmal pro Tag nach Egon zu sehen.
»Pass auf dich auf, Junge«, sagte Bäckström. »Herrchen muss wegfahren und arbeiten. Aber wir sehen uns bald wieder.«
Und eine Viertelstunde darauf saß er zusammen mit zwei Kollegen von der Zentralen Mordkommission im Auto und war unterwegs nach Växjö.