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SIGGE EKLUND

Das Labyrinth

Roman

Aus dem Schwedischen
von Nina Hoyer

Åsa

Dezember 2010  Januar 2011

Sie kann sich nicht mehr an den Traum erinnern, aber irgendetwas bringt sie dazu, sich von der Couch zu erheben, auf der sie offenbar eingeschlafen ist. Sie kommt an der Schlafzimmertür vorbei und hört Martins gleichmäßige Atemzüge. Vorsichtig schleicht sie die Treppe hinunter, um ihn nicht zu wecken, und schlüpft, ohne sich noch etwas anderes überzuziehen, in den Mantel.

Es ist nasskalt in dieser Dezembernacht, und als sie über das Grundstück zur Straße läuft, hat sie das Gefühl, durch eisiges Wasser zu waten. Wie immer geht sie hoch in den Wald, stellt sich hinter die Bäume, damit sie nicht zu sehen ist, und atmet tief ein. Die zwischen ihr und dem Haus schwebenden Schneeflocken scheinen in der Luft stillzustehen.

Von diesem Ort hat sie einen unverstellten Blick auf das Haus und das Restaurant. Dieses Mal kommt sie dem Zustand ganz nah, und es überläuft sie ein Schauer, der ihr wieder bewusst macht, wie es als Kind war, Angst vor der Dunkelheit zu haben.

Dutzende Male hat sie diesen Ort schon aufgesucht, um sich auszumalen, was er gedacht und gefühlt haben mag, doch als es ihr nun endlich gelingt – und sie merkt, dass er in ihr ist –, bekommt sie Panik und flüchtet sich unter eine Straßenlaterne. Steht einen Moment in ihrem Schein, um Kraft zu tanken, geht dann wieder zurück. Jetzt ist es besser. Wieder nähert sie sich dem Zustand. Sie stellt sich vor, es wäre 21.30 Uhr am dritten Mai 2010 und sie stünde an seiner Stelle.

Eigentlich gibt es keinen Anhaltspunkt dafür, dass er ausgerechnet hier gestanden hat; aber es wäre ein guter Platz für jemanden, der zugleich das Haus, das Restaurant und die Rasenfläche dazwischen überblicken wollte.

Sie schließt die Augen und spürt, wie ihn das Jagdfieber erfasst; die Beute ist im Haus, bald wird sie ihm gehören, gleich ist es an der Zeit, zuzuschlagen. Langsam geht sie den Hang hinunter, ganz vorsichtig, um nicht gesehen zu werden, und macht sich mit allen Sinnen bewusst, was er in diesem Moment empfunden haben könnte.

Doch dann passiert etwas. Sie verliert den Kontakt zu ihm, er hat sie verlassen. Es geschieht wie immer an derselben Stelle.

Sie ist daran gewöhnt und denkt nicht weiter darüber nach. Beschließt, mit ihrer Aufgabe fortzufahren, sie kann nicht anders, muss sich bewegen, und so folgt sie der Straße zum Brommaplan, biegt in den Wald ab und spielt diverse Theorien durch, mit denen sie sich in den letzten Tagen beschäftigt hat, um zu beurteilen, ob sie plausibel sind. Sie ist so tief in Gedanken versunken, dass sie zunächst gar nicht bemerkt, wie weit sie gegangen ist, ganz bis zu dem Hügel mit dem Labyrinth aus Kieselsteinen, das im Mondschein glänzt.

Jetzt hält sie inne und sieht auf das Meer von Einfamilienhäusern unter sich und den sternklaren Himmel darüber. Nimmt die würzige Mischung aus Waldluft und kaltem Schnee wahr, hört in der Ferne den an- und abschwellenden Verkehrslärm von der Durchgangsstraße, betrachtet den stummen Mond über den Bäumen und hält die Stille nur schwer aus. Irgendwo da unten liegt die Antwort, und diese einfache Feststellung ist unerträglich.

Sie dreht sich um und geht nach Hause. Als sie am Restaurant vorbeikommt, kneift sie die Augen zusammen, um es nicht sehen zu müssen.

Als sie heimkommt, ist Martin wach. Halbnackt und bemüht kontrolliert sitzt er im dunklen Wohnzimmer, wie ein besorgter Vater, der auf die Heimkehr seines Kindes wartet.

Ihr fällt auf, wie dicht sein Bart geworden ist.

Sie setzt sich ihm gegenüber auf die Couch, knipst die Stehlampe an und wartet auf seine Vorwürfe. Da kommen sie schon; wie erwartet, will Martin wieder einmal durchdiskutieren, inwiefern es »gesund« von ihr sei, sich des Nachts draußen so herumzutreiben.

Sein Ausbruch hebt wie gewöhnlich ihre Stimmung; dass sie überhaupt zur Rede gestellt wird, ihn ein Lebenszeichen von sich geben sieht, gefällt ihr. Sie bittet ihn, noch einen Moment zu warten, setzt Tee auf und macht Licht, bevor sie sich wieder setzt.

»Was glaubst du da draußen zu finden?«, fragt er mühsam beherrscht.

»Mir ist eine neue Idee gekommen.«

»Erzähl schon«, knurrt er, »ich höre dir zu.«

Åsa nippt an ihrem Tee.

»Ich fange allmählich an, aus einem anderen Blickwinkel zu denken, ich glaube, dass das Fehlen von Hinweisen ein Hinweis an sich ist. Du weißt schon, so ein schwarzes Loch saugt alles in sich hinein, sogar das Licht. Da kann keine Information rauskommen. Ich stelle mir den Ort, an dem sie jetzt ist, als ein schwarzes Loch vor.«

Er wirkt skeptisch. Sie fährt fort:

»Und deshalb laufe ich umher und versuche, den Sog zu spüren.«

Er sieht sie kurz an, bevor er antwortet:

»Dafür, dass das aus deinem Mund kommt, klingt das beeindruckend vage.«

»Ich weiß nicht, ob das so vage ist. Die ganzen Geschehnisse der letzten acht Monate waren so unwahrscheinlich, dass ich es für wahrscheinlich halte, dass wieder etwas Unwahrscheinliches passiert. Es sind so starke Kräfte in Bewegung. Ich denke, wenn ich an dem Ort vorbeiginge, an dem sie ist, dann würde ich es vielleicht merken. Ich würde es fühlen.«

Sie verstummt und sieht Martin an, der sich unterdessen zum Fenster gewandt hat, als wolle er ihre These überprüfen und nachspüren, ob er von draußen nicht auch einen Sog wahrnimmt. Es scheint ihm nicht zu gelingen; als er sich wieder zu ihr umdreht, wirkt er so besorgt wie immer.

Åsa trinkt noch einen Schluck Tee.

Sie stellt fest, dass er nur noch lauwarm ist, und fragt sich, wie lange sie sich eigentlich schon unterhalten. Wie immer in diesen Tagen, wenn ihr jedes Zeitgefühl abhandenkommt, fühlt sie sich unwohl, verdrängt das Unbehagen aber. Sieht Martin an und versucht sich in Erinnerung zu rufen, worüber sie gerade gesprochen haben. Vielleicht ist es gut, dass sie den Faden verloren hat, geht ihr durch den Kopf. Schließlich hat sie sich dazu entschlossen, alles, was ihre Gedanken in neue Bahnen lenken könnte, zu begrüßen, denn die gewohnten Gedankengänge waren bereits zur Genüge erprobt und ausgelatscht, ohne sie zu Magda geführt zu haben.

Jedes Gespräch, das ihre Gedanken in eine andere Richtung lenkt, ist ihr sehr willkommen, weil ihr auf diesen Nebenstrecken immer etwas begegnen könnte, das ihr neue Anhaltspunkte liefert.

Als sie sieht, dass er ihr nicht mehr folgen kann – so ist es immer, früher oder später –, stellt sie die Teetasse ab, schaltet das Licht aus und begibt sich erneut hinaus.

Sie hat etwas zu erledigen. Irgendjemand muss es tun. Die Polizei tut es ganz offensichtlich nicht, Martin tut es nicht. Ihr bleibt keine andere Wahl, als es selbst zu tun. Erst als sie wieder den Ort im Wald erreicht hat, fällt ihr ein, dass sie das Licht im Wohnzimmer gelöscht hat, obwohl Martin noch darin saß.

Jetzt sitzt sie mitten in der Nacht auf der Couch und betrachtet das Zimmer und die leblosen Gegenstände, die sie umgeben. Die Möbel stehen noch an genau derselben Stelle wie früher, als wäre nichts geschehen. Ihr Blick bleibt an der weißen Wand an der Schmalseite des Raumes hängen. Sie war am Maifeiertag frisch gestrichen worden. Nun stellt sie sich erneut den gleichen Fragen und merkt, wie es ihr Kraft gibt, nach Antworten zu suchen. Denn solange sie danach sucht, besteht noch die Hoffnung, eine Antwort zu finden, wann auch immer. Die schlimmsten Stunden sind die, in denen sie die Kraft für die Suche nicht aufbringen kann, sondern von Kummer erdrückt im Bett liegt, mit der ganzen Last dessen, was geschehen ist.

Jetzt denkt sie nach, hoch konzentriert, und es ist, als umgebe sie ein dünner Schutzfilm. Wo ist er gewesen, als sie die Wand gestrichen hat? Bei der Arbeit? Oder ist er arbeitslos? Hat er sich zu Hause seinen Plan zurechtgelegt, als sie den Pinsel in den Eimer getaucht hat?

Aber die Schutzhülle platzt. Als sie sich zu erinnern versucht, wird ihr bewusst, dass es ein Davor gab, in dem theoretisch betrachtet alles hätte verhindert werden können. Als Åsa den Farbroller auf und ab bewegt hat, war er da. Als sie einen Tropfen Farbe vom Parkettboden weggewischt hat, war er da. Als sie sich die Hände abgewischt hat, war er da. Bereit, zuzuschlagen.

Åsa ertappt sich bei dem Gedanken, wie schade es ist, dass sie diese Wand selbst gestrichen hat, statt einen Maler damit zu beauftragen, weil ein Handwerker im Haus drei Tage vor dem Verschwinden eine hochinteressante Spur dargestellt hätte.

Das ihr bereits vertraute Gefühl zu ersticken übermannt sie, sie muss hier raus. Tritt in die kalte Morgendämmerung. Es ist immer noch dunkel, aber über dem Waldrand zeigt sich bereits ein Hauch von Rosa. Im Gras glitzerte der Frost, sie registriert es, doch empfindet nichts dabei. Dann wird ihr bewusst, dass sie es nur registriert. Alles Schöne jagt ihr Angst ein, weil es sie dazu bringt, Gefühle zu entwickeln, und sie will nicht fühlen. Wie neulich, als Martin stundenlang die Kaffeekanne auf dem Herd vergessen hatte und die Küche von dem galligen Kaffeegeruch erfüllt gewesen war; da hatte sie sofort an ihre alte Zweizimmerwohnung in Gärdet und Martins nächtliche Stippvisiten denken müssen, als sie sich gerade erst kennengelernt hatten, an seine warmen Küsse, seine erfahrenen und ruhigen, aber festen Stöße, als er sie in der Dusche genommen hatte, wie sie danach in Wolldecken gewickelt auf der Fensterbank gesessen und sich Zigaretten geteilt hatten, während es draußen schneite – diese Erinnerung war so lebendig, dass es ihr Angst machte.

Sie steht auf der Straße und späht in die Häuser.

Während die Familien schlafen, wartet das Wohnzimmer auf sie. Der Weihnachtsbaum mit den roten Glaskugeln, die Geschenke darunter, die Lichterketten, die brennen, obwohl es Nacht ist. Und dann diese Vielfalt an Gerüchen in den Häusern; ja, sie weiß genau, wie es vor Weihnachten riecht, nach Kiefernnadeln und Seife und den Essensgerüchen des Vortages. All das erinnert sie an das Leben mit Magda.

Wie hypnotisiert starrt sie in die Fenster ihrer Nachbarn, während sie die Worte übt. Bald wird sie sie sagen können. Das Telefon kann jeden Augenblick klingeln und die Nachricht bringen, vielleicht sogar die schlimmste aller Nachrichten. Das wäre ihr fast lieber, denn in den vergangenen Tagen war es wieder schwer. Etwas in ihr bereitet sich darauf vor, aufzugeben. Wie das rein praktisch vor sich gehen soll, weiß sie nicht, aber etwas in ihr will es so.

Vielleicht hat es angefangen, als Åsa auf Martins Rat hin im Internet nach »Engelblogs« gesucht hatte, in denen Eltern den Tod ihres Kindes verarbeiten. Sie hatte sofort erkannt, dass deren Trauer nicht mit ihrer vergleichbar war. Geringer war sie vielleicht nicht, aber anders.

Die Bloggerinnen berichteten von der Trauerarbeit, der sie sich verschrieben hatten, um weiterleben zu können. Allein dieses weiter unterschied sie. Anders als diese Frauen war sie in einer Folterkammer an den Boden gefesselt und konnte sich nicht rühren, geschweige denn Trauerarbeit leisten. Konnte Martin das denn nicht begreifen? Offensichtlich nicht, und das machte sie zugleich wütend und traurig. Er stand hinter ihr und sah sie an, während sie las, als erwartete er, sie würde ihn vor Dankbarkeit umarmen, weil er diese Trostquelle für sie aufgetan hatte. Doch sie sah nichts als Frauen, die sich jeden Tag aufs Neue vorwärtskämpften, die darum kämpften, das Schreckliche hinter sich zu lassen, das sie erlebt hatten. Schließlich konnte Åsa nicht anders, als sich umzudrehen, um ihn zu fragen, ob er sich denn darin wiederfinden könne. Er hatte sie nur wortlos angestarrt. Schließlich hatte sie gesagt:

»Ich kämpfe mich weder vorwärts, noch kämpfe ich darum, etwas hinter mir zu lassen. Das ist doch das Problem, verdammt noch mal! Ich bemühe mich zurückzuschauen. Zurück zu jener Nacht, um etwas Neues zu sehen, um zu verstehen. Sieh mich an. Antworte mir. Was genau hat ihre Situation mit unserer gemein? Mein Kind lebt, ihres ist tot. Das ist etwas Konkretes, deshalb können sie auch trauern.«

Wie üblich hatte er nur geschwiegen, provozierend fassungslos.

Schließlich war sie aus dem Zimmer gegangen, während Martin sich in sein Arbeitszimmer zurückgezogen hatte.

In jener Nacht hatte sie wieder von dem Keller geträumt, und dieses Mal war der Raum ungewöhnlich klein und stickig gewesen, sodass sie, als sie Magda schließlich in einer Ecke entdeckt hatte, zu geschwächt vor Sauerstoffmangel gewesen war, um ihr zu helfen. Wie sehr sie sich auch angestrengt hatte, sie konnte sie nicht erreichen, wie verzweifelt sie sich ihr und ihren kleinen Mädchenhänden auch entgegengestreckt hatte.

Als sie aufgewacht war, war sie geradewegs ins Badezimmer gerannt.

Darauf waren düstere Tage und Nächte gefolgt. Die Tage hatte sie im Bett verbracht, die Nächte draußen: umherstreifend, suchend, grübelnd. Die Nächte waren also etwas erträglicher gewesen als die Tage.

Die Tage waren schwer. Mal presste sie die Hände auf die Ohren, mal schrie sie ins Kopfkissen, tigerte auf und ab und erkannte plötzlich, dass sie stank. Überlegte, ein Bad zu nehmen, und verwarf es wieder. Schrieb etwas, warf es wieder weg. Es waren nur auf Papier gebannte Worte, kleine vor Selbstmitleid triefende Sachen, die sie von der eigentlichen Aufgabe, die sie zu erledigen hatte, abhielten.

Martin war ihr ausgewichen, bis auf den einen Morgen, als er mit Frühstück ins Schlafzimmer gekommen war. Da hatte sie ihn zum ersten Mal geschlagen. Sie hatte es natürlich sogleich bereut, musste aber gewisse Grenzen ziehen. Sein mitleidiger Blick hatte sie rotsehen lassen.

Als er ans Bett trat, gab sie ihm eine Ohrfeige, sodass er das Tablett fallen ließ und der Tee über die Wand spritzte. Der Schlag hallte im Zimmer wider, als er geschockt stehen blieb.

»Was tust du?«, fragte er.

Sie war über sich selbst erstaunt und suchte nach einer Erklärung.

Dann sagte sie, dass er schuld daran sei, dass Magda nicht mehr da war. Das war vielleicht unnötig, aber er schien sich nicht darum zu scheren, sah sie nur an und murmelte etwas Unhörbares, bevor er verdutzt davonschlich.

Manchmal findet sie es großzügig von ihm, in so einem Fall nicht aufzumucken, aber gleichzeitig macht sie seine Rücksicht wahnsinnig, weil sie so diffus ist. Er benimmt sich wie die Polizei, desorientiert und handlungsunfähig. Sicher ist es mit ihr auch nicht ganz einfach, aber sie hat zumindest an manchen Tagen Kraft. Doch sie erträgt seine resignierte Miene nicht. Gelegentlich kommt es ihr beinahe so vor, als habe er überhaupt nicht realisiert, was passiert ist. Das hatte sie ihm früher schon gesagt, als sie noch frisch verliebt gewesen waren – dass sie manchmal genervt von ihm war, weil er anscheinend keine aufrichtige Traurigkeit empfinden konnte.

Jetzt sitzt sie wieder auf der Couch und starrt erneut die Wand an, die sie drei Tage vor Magdas Verschwinden gestrichen hat.

Ihr kommen Erinnerungen, die sie nicht vertreiben kann, die an ihr nagen. Wie Magda, als sie noch klein war, nachts zu ihnen ins Bett kriechen wollte und Åsa sie nicht gelassen hat. Das Belohnungssystem, das sie damals entwickelt hatte – indem sie Magda für jede Nacht, die sie in ihrem eigenen Bett blieb, Sterne aufgeklebt hatte –, erscheint ihr heute so seltsam.

Wie sonst auch versucht sie sich ins Gedächtnis zu rufen, was sie mit all diesen Regeln eigentlich erreichen wollte, doch das fällt ihr schwer.

Magda war anders als andere Kinder, und es war nicht immer leicht gewesen, aus ihr schlau zu werden. Schon als kleines Kind war sie ängstlich und immer auf der Hut gewesen. Aber auch stur, ein schwieriges Kind. Manchmal denkt Åsa, dass Magda irgendwie wusste, dass ihr einmal etwas Schreckliches zustoßen würde. Das würde ihr düsteres Wesen erklären, das sie vom ersten Tag an gezeigt hatte. So wie damals, als sie mit der Vorschule anfangen sollte und sämtliche Klassenkameraden sich morgens munter von ihren Eltern verabschiedet hatten: Da hatte sie Åsa dazu genötigt, bis zum Mittagessen zu bleiben. Sie habe Angst vor den anderen Kindern, hatte sie gesagt. Angst vor dem Lehrer, Angst vor dem Schulhof, Angst vor allem.

»Manche von uns werden so geboren«, erklärte Martin, ganz der Biologe, als Åsa ihm erzählte, was in der Schule vorgefallen war, und schlug damit zwei Fliegen mit einer Klappe: Zum einen sagte er damit beiläufig, dass Magda und ihn etwas ganz Besonderes miteinander verband, zum anderen, dass die Persönlichkeit einem angeboren war. Zwei Dinge, die Åsa provozierten, und das wusste er. Er ließ nie eine Gelegenheit aus, sie zu reizen.

Wann war er so geworden? Dass es lange vor dem Verschwinden gewesen war, war ihr klar, aber wann – und warum?

An diesem Abend unternehmen sie einen langen Spaziergang entlang der Wasserlinie. Als sie den Eichenhügel erreichen, setzen sie sich auf eine Bank und blicken auf die Bucht. Die Eisschicht glänzt und ist voller Risse. Der Himmel ist tiefblau.

»Erzähl mir etwas von Magda«, sagt Åsa.

»Was denn?«

»Etwas, von dem ich nichts weiß, eine Erinnerung, die du an sie hast, von der du mir nie erzählt hast.«

»Du bist eine Masochistin«, sagt Martin.

»Nenn mich, wie du willst, aber gib mir etwas, ich brauche das.«

»Ich weiß nicht.«

»Es hat keine Eile. Wir können hier so lange sitzen, bis dir etwas einfällt.«

Er schweigt einen Moment und sagt dann, den Blick immer noch aufs Wasser gerichtet: »Magda ist einmal mitten in der Nacht aufgewacht, als sie sieben war, und hat nach uns gerufen. Du bist nicht wach geworden, also bin ich zu ihr runtergegangen und habe mich auf ihre Bettkante gesetzt, um ihr Gesellschaft zu leisten. Dann muss ich wohl eingeschlafen sein, denn ich wurde plötzlich davon wach, dass sie mein Gesicht streichelte. Das hatte sie noch nie getan. Als sie sah, dass ich nicht mehr schlief, hat sie sofort die Hand weggezogen und sich unter der Decke versteckt.«

Nachdem er verstummt ist, fragt er:

»Und, zufrieden?«

Sie wendet sich ab. Hört, dass er zu weinen anfängt, ziemlich laut und schrill, wie eine Frau. So hat er seit Monaten, seit Magdas Verschwinden nicht mehr geweint, und es geht ihr zu nahe.

Sie steht auf, um zu gehen, während er ihr nachruft:

»Ich werde hier verdächtigt! Du musst dich zumindest nicht mit der Polizei rumschlagen!«

Åsa entfernt sich schnell und zielbewusst, hört sein Rufen aber noch viel länger, als ihr lieb ist.

Schließlich vernimmt sie nur noch ihre eigenen Atemzüge und das Geräusch des knarzenden Schnees unter den Schuhen. Trotzdem geht sie weiter und macht sich bewusst, was er gerufen hat; schämt sich, weil sie so selten darüber nachdenkt, dass er formal immer noch verdächtigt wird.

Sie bleibt erst stehen, als sie den Schulhof erreicht.

Dort erstarrt sie.

Ihr kommt ein neuer Gedanke, eine neue Idee: Was wäre, wenn der Täter sie nun tagsüber bei der Schule gesehen hatte, sich auf irgendeine verdrehte Weise zu ihr hingezogen gefühlt und herausgefunden hatte, wo sie wohnte? Dieser Spur ist die Polizei bereits nachgegangen, aber sie selbst hat sich nur flüchtig damit beschäftigt. Die vertraute Ekstase erfasst sie, sie eilt zu dem Teil des Schulhofs, auf dem Magda meistens gespielt hat, hält jedoch inne, als sie sieht, dass in Magdas Klassenzimmer Licht brennt und es voller Menschen ist. Sie scheinen einen Elternabend abzuhalten. Åsa zieht sich hinter einen Schuppen zurück.

Die Lehrerin steht am Pult und redet, die Eltern machen sich Notizen. Åsa kennt sie fast alle. Sie will sie nicht hassen – sie weiß schließlich, woher ihre Aggression rührt –, aber es fällt ihr schwer, ihre Reaktion zu unterdrücken, wenn sie ihr selbstgerechtes Lächeln und ihre entspannte Sitzhaltung sieht.

Ihr kommt ein Gespräch in den Sinn, das sie zwei Wochen nach dem Verschwinden mit der Lehrerin geführt hatte, als diese sie anrief, um zu erzählen, dass allen Kindern in der Klasse nach dem Vorfall eine therapeutische Begleitung angeboten worden sei. Als ob das Åsa interessieren würde. Sie glaubt sich daran zu erinnern, dass die Lehrerin laut geweint hatte, noch bevor sie mit ihr fertig gewesen war.

Reglos steht sie in der Dunkelheit und studiert die Gesichter der Eltern.

Sie diskutieren über Belanglosigkeiten, ohne zu wissen, wie gut sie es haben. Bestimmt sehnen sie sich nach dem Ende des Elternabends, weil sie es nicht besser wissen.

Dass Martin schließlich verreisen muss, stellt sich bald als ziemlich befreiend heraus. Jetzt kann sie all das tun, was sie sonst nicht zu tun wagt, wenn er zu Hause ist, weil sie fürchtet, dass er sie für labil halten könnte. So kann sie ihre alte Gewohnheit wieder aufnehmen, beim Abrufen ihrer Mails Weißwein zu trinken. Das macht sie ungefähr alle zwei Wochen, und nur, wenn sie allein im Haus ist, wenn sie weiß, dass sie nicht gestört werden wird. Diese Stunden sind ihr mittlerweile äußerst kostbar.

Wie sich herausgestellt hat, gibt ihr der Hass Energie.

Wenn sie ihn spürt, fühlt sie sich seltsam lebendig.

Außerdem hat sie dann immer den Eindruck, dass mit ihr alles in Ordnung ist. Jedenfalls, dass sie mehr in Ordnung ist als die anderen. Heute hat sie zweihundertzwanzig neue E-Mails.

Zehn der zweihundertzwanzig Mails nennt sie »Novellen«; sie gehen über drei, vier Seiten und enthalten ausführliche, unterschwellig aggressiv vorgebrachte Annahmen darüber, weshalb Martin oder sie jenseits allen angemessenen Zweifels schuldig seien und deshalb gestehen sollten. Aber der Großteil ist wie üblich ein Mischmasch aus Todesdrohungen, Interviewanfragen und Anhängerschreiben.

Die Interviewanfragen sind interessant, illustrieren sie doch den in den Medien herrschenden Mangel an Kreativität. Alle beginnen ihre Mails mit den Worten, dass man ihr durch ein Interview ermöglichen wolle, »zum ersten Mal« unbefangen über die »schrecklichen Vorwürfe«, die gegen Martin erhoben werden, zu sprechen, und sie enden stets damit, dass der Journalist / die Journalistin beteuert, wie überzeugt er oder sie von seiner Unschuld sei.

Die einzige Mail, die sie beantworten wird, stammt von der Journalistin, die Martins Schuld ernsthaft infrage gestellt hat. Aber das wird bis zum Frühjahr warten müssen; im Augenblick ist ein Interview zu geben das Letzte, was sie will.

Die Anhängerschreiben schließlich sind zwar an Åsa gerichtet, handeln aber im Grunde immer von Eltern, die ihre Kinder vernachlässigen, wie sie feststellt. Sie hätten sich ebenso gut an einen x-beliebigen Verbrecher richten können, der gerade die Medien beherrschte; verfasst von kaputten Seelen, die Kontakt zu anderen kaputten Seelen aufnehmen wollten, auf die Åsas Außenseiterstatus oder ihre mögliche Schuld Faszination ausübte.

Natürlich hat sie erwogen, ihre E-Mail-Adresse bei Eniro zu löschen oder jemand anderen damit zu beauftragen, ihre Mails zu checken, aber sie zu lesen ist ihr mittlerweile zu einer lieb gewonnenen Gewohnheit geworden. Es ist eine eigentümliche, aber wichtige Verbindung zwischen ihr und der Außenwelt. Eine der wenigen Verbindungen, die es noch gibt.

Als sie so vor dem Computer sitzt, erhält sie eine Nachricht: Der Speicher Ihrer Mailbox ist demnächst voll. Leeren Sie bitte Ihr Postfach, und sie scrollt zum Anfang des Posteingangsordners hinunter, um ein paar Mails zu tilgen. Als Erstes sticht ihr dabei eine Mail von Magda ins Auge, die diese ein halbes Jahr vor ihrem Verschwinden verschickt hat.

Åsa öffnet sie nicht, sondern steht instinktiv auf, geht ins Schlafzimmer und setzt sich auf die Bettkante, um sich zu beruhigen. Bleibt lange dort sitzen und hört, wie ihr Herz hämmert. Dann geht sie, ohne zu zögern, zum Rechner und öffnet die E-Mail.

Wann kommst du endlich nach Hause, Mama? Ich bin so allein.

Sie hört ihr eigenes Aufkeuchen, verbirgt das Gesicht in den Händen. Liest die E-Mail ein weiteres Mal und spürt die Dunkelheit ins Zimmer dringen; rasch, erstickend, alles umschließend. Sie läuft zu Magdas Zimmer, geht vor ihrem Bett auf die Knie und betet zum ersten Mal seit ihrer Kindheit wieder zu Gott. Bittet darum, dass es Magda gut gehe, bittet um Verzeihung, bittet darum, dass Magda nicht mehr allein sein müsse. Sagt laut, dass sie es bereue, und dass sie wünsche, alles anders machen zu können, wenn es nur ginge.

Lange liegt sie danach in der Dunkelheit wach und versucht, ihre Gedanken bewusst zu lenken. Lenkt sie sie in eine falsche Richtung, tut es weh; deshalb ist es wichtig, gewissenhaft vorzugehen.

Wie hatte sie nur vergessen können, dass sie sich Mails geschrieben hatten, wenn Åsa bei der Arbeit war? Jetzt fällt ihr wieder eine andere E-Mail ein, die Magda ihr ein paar Jahre zuvor geschickt hatte, als sie krank gewesen war: Kannst du nicht nach Hause kommen und mich in die Decke einmummeln, so wie früher, als ich klein war?

Åsa hatte damals einen Termin mit einer Patientin gehabt und die Mail erst abends gelesen.

Martin war außer sich gewesen, als Åsa erzählt hatte, dass Magda ein paar Stunden sich selbst überlassen gewesen war. »Sie ist erst sieben Jahre alt!«, hatte er geschrien. Sie hatte ihre Antwort sofort parat: »Und da hat die Frau zu Hause zu sein, oder wie? Wo warst du denn?«

Da war er in sein Arbeitszimmer gegangen und hatte die Tür so fest zugeknallt, dass ein Bild von der Wand gefallen war.

Nachdem sie die Glassplitter aufgefegt hatte, war sie zu Magda gegangen, um die Decke um sie festzustopfen, und hatte bemerkt, dass sie noch wach war. Mit ängstlichem Blick lag sie unter der Bettdecke, und Åsa war sofort zu ihr geeilt und hatte ihr versichert, dass Mama und Papa nie wieder so streiten würden. Während sie ihre verstörte Tochter im Arm hielt, hatte sie Martin im Stillen für sein Temperament verflucht. Schon bevor sie Magda bekommen hatten, waren seine Wutanfälle unangenehm gewesen – sie hatte es immer gehasst, wie er sie ein ums andere Mal bei jedem Streit niederrang, indem er brüllte oder mit der Faust gegen die Wand schlug –, aber dass er das immer noch tat, obwohl inzwischen ein Kind im Haus war, war absolut inakzeptabel. Sie erinnerte sich noch gut daran, wie erschüttert sie selbst immer gewesen war, wenn ihr Vater seine berühmt-berüchtigten Ausbrüche gehabt hatte, und sie wollte nicht, dass Magda dasselbe durchmachen musste.

Also mummelte sie Magda fest in die Decke ein, wie um sie vor Martin zu schützen – auch wenn das nicht ganz einfach war, da Magda in letzter Zeit so gewachsen war. Sie erinnerte sich, wie sehr Magda das immer geliebt hatte, als sie noch kleiner gewesen war. Dann setzte sich Åsa für einen Moment auf das Bett und betrachtete Magda und wurde von einem plötzlichen Kummer überwältigt. Das war das erste Mal seit Jahren gewesen, dass sie ihre Tochter wie früher umarmt hatte.

Es sind kleine Erinnerungen, nach denen sie nie aus eigener Veranlassung sucht, die aber hin und wieder gegen ihren Willen auftauchen.

Sie liegt auf dem Rücken und sieht das Display des Digitalweckers leuchten, versucht, nicht an die vielen Auseinandersetzungen mit Martin zu denken, in denen es um Magdas Erziehung gegangen war. Worüber hatten sie sich eigentlich gestritten?

Sie erinnert sich: Wie Martin, im Türrahmen ihres Arbeitszimmers, nur wenige Wochen vor Magdas Verschwinden, mit erhobenem Finger und verzerrtem Gesicht schreit, dass sie Magda als »Versuchskaninchen« benutzen würde. Sie hatte sich in die Enge getrieben gefühlt, weil er sie nicht zu Wort kommen ließ, und hatte versucht, ihn zu übertönen. Sie hatte gesagt, dass sie sehr wohl wisse, was sie tue, dass sie diese Dinge studiert hätte, aber er hatte ihr nicht zugehört. Zuletzt hatte sie ebenfalls geschrien, um seinen Vorwürfen etwas entgegenzusetzen.

Nun versucht sie, sich ihre Argumente ins Gedächtnis zurückzurufen.

Sie hatte gesagt, dass Kinder wüssten, dass sie sich früher oder später von den Eltern lösen müssten, und dass sie deshalb in einem gewissen Alter die elterliche Umarmung als Bedrohung empfänden, weil sie den unvermeidlichen Eintritt in die Erwachsenenwelt verzögerte. Deshalb war sie so sorgfältig darauf bedacht, Magda genügend Freiraum zu geben.

Sie hatte sich Magda gegenüber immer offen gezeigt und sich geschworen, sie niemals mit ihrer Mutterliebe zu ersticken, wie es ihre eigene Mutter getan hatte.

War das richtig gewesen?

Sie weigert sich, das zu beantworten, verabscheut die finstere Stimme, die nicht lockerlässt und ihr jetzt diese Fragen stellt; das Letzte, was sie jetzt gebrauchen kann, ist Selbstkritik. Sie war eine Mutter, die versucht hat, das Beste für ihr Kind zu tun. Ihre Absichten waren gut gewesen, das weiß sie, das kann niemand bestreiten.

Trotzdem lassen sie die Zweifel nicht los. Sie hasst diese Erinnerungen, die sich nicht auslöschen lassen. Wie die an Martin bei ihrem letzten Krach, außer sich vor Zorn, weil sie Magda von ihren Beziehungsproblemen erzählt hatte. Sie hatte den ganzen Abend darauf verwenden müssen, ihm ihre Position zu erläutern; ihm verständlich zu machen, wie sehr sie darauf bedacht sei, dass Magda sie, ihre Eltern, nicht als zu heilig ansähe; wie wichtig es sei, ihr aktiv ihre, Martins und Åsas, Fehler und Unzulänglichkeiten vor Augen zu führen.

Martin hatte das jedoch »Irrsinn« genannt, obwohl sie ihm eingehend klargemacht hatte, dass das so in der psychologischen Wissenschaft verankert sei.

Es tut weh, sich sein Gebrüll ins Gedächtnis zu rufen.

Tastend versucht sie, sich selbst gegenüber Gerechtigkeit walten zu lassen, aber das fällt ihr schwer. Im Nachhinein Einsicht zu zeigen, ist immer leicht. Es ist wichtig, ihren Einsatz als Mutter nicht mit dem, was danach geschehen war, zu verwechseln. Oder?

Die folgende Nacht ist düster. Erst in der Morgendämmerung fasst sie einen Entschluss, und die Welt scheint ihr nicht mehr auf unsicheren Grundfesten zu stehen.

Es geht um eine Spur, die zu verfolgen sie nicht genügend Kraft gehabt hatte, mit der sie sich jetzt aber auseinandersetzen will.

So ist es häufig: Die Hoffnung blüht auf, sowie sich der Nebel nach einer Panikattacke zerstreut hat.

Die Idee ist simpel, trotzdem hat sie sich bisher nicht dazu aufraffen können, sie in die Tat umzusetzen, da das einen Kontakt zur Außenwelt erfordert.

Schon in den ersten Wochen nach Magdas Verschwinden hatte Åsa die Polizei aufgefordert, ihre ehemaligen Patienten gründlich zu überprüfen und sie gegebenenfalls zu verhören. Gab es doch zahlreiche exemplarische Fälle in der Geschichte, in denen Patienten ihrem Psychologen zu schaden versucht hatten. Die Polizei aber hatte aller Wahrscheinlichkeit nach keinen Finger krumm gemacht, weil sie nach wie vor von Martins Schuld überzeugt war.

Um fünf Uhr früh schläft sie ein, und obwohl sie schon um sechs Uhr wieder aufwacht, fühlt sie sich munter, weil ihr der neue Plan Kraft gibt. Hellwach, mit weit geöffneten Augen, liegt sie im Bett und wartet auf das Morgenlicht.

Zum ersten Mal seit dem dritten Mai nimmt sie den Bus.

In dem Moment, als sie sich auf dem Sitz niederlässt, taucht sie in den Alltag ein und stellt wieder einmal fest, dass er seinen gewohnten Gang gegangen, weitergelaufen ist, als ob nichts passiert wäre – trotz allem, was passiert ist. Und von eben dieser Erkenntnis wird ihr übel. Sie muss aufstehen, um den jähen Anfall von Unwohlsein zu bezwingen, und bleibt auf der ganzen Fahrt bis zum Krankenhaus stehen.

Als sie durch den Haupteingang geht, schlägt ihr der bekannte Geruch entgegen, diese ach so vertraute Mischung aus Putzmitteln und frisch gebackenen Zimtschnecken. In der Lobby sind dieselben Menschen wie üblich mit ihren unverkennbaren Mienen zu sehen. Menschen, die gerade einen kranken oder im Sterben liegenden Angehörigen besucht haben, Menschen mit dem typischen Verhalten, gedämpft einen anderen Nahestehenden am Telefon über die Lage zu unterrichten.

Åsa zupft ihren Schal zurecht, damit ihr Gesicht verdeckt ist, als sie am Empfang vorbeigeht und direkt auf die Aufzüge zusteuert. Zum Glück sind die Frauen auf Station vier noch nicht da, sodass sie ungesehen in die Psychiatrische Abteilung schlüpfen kann. Sie klopft an die Tür von Lars und hört, wie er sie hereinbittet.

Er sitzt hinter dem Schreibtisch, mitten in einem Telefongespräch, und deutet auf den Stuhl davor. Åsa setzt sich und sieht sich um. So muss man sich als Patient fühlen, denkt sie. Aus dieser Perspektive ist es offensichtlich, dass der Raum konstruiert wurde, um die Rollenverteilung zu unterstreichen. Der ausladende Schreibtisch, der Distanz erzeugt, das Gegenlicht, das die Silhouette von Lars – dem Arzt – dunkel und hoch aufragend erscheinen lässt, während sich der Sprossenstuhl des Patienten schäbig und kläglich dagegen ausnimmt. Als er aufgelegt hat, geht er um den Schreibtisch herum und legt Åsa eine Hand auf die Schulter.

»Åsa …«, sagt er und bleibt schweigend stehen, aber sie antwortet nicht. »Wie geht es dir?«

Sie denkt: Warum ist es immer Sache des Opfers, die Neugier der anderen zu befriedigen? Warum kann er nicht zur Abwechslung einmal von seinen Gefühlen bezüglich ihres Schicksalsschlags sprechen? Stattdessen immer nur von allen diese ewige Neugier. Eine so absurde Neugier, weil sie nur bis zu einem gewissen Grad verstehen wollen. Sie haben ein Bild von der Trauer, und das – das ist ihr klar geworden – ist nur schwer zu relativieren. Die wirkliche Trauer wollen sie nicht begreifen, hieße das doch, sie selbst zu empfinden.

Zugleich ist es schwer, sie dafür zu verurteilen. Früher hatte sie es selbst nicht besser gewusst. Sie sieht es seinen Augen an, sieht, dass er zu den Neugierigen gehört.

»Ich wollte dich anrufen«, sagt er und lässt sich wieder hinter dem Schreibtisch nieder.

»Du hast doch eine Karte geschickt«, bemerkt Åsa.

Er betrachtet sie über den Rand seiner Brille hinweg. »Ich bin froh, dass du da bist.«

Mit einem Mal zweifelt sie daran, ob es richtig von ihr war, hierherzukommen. Es kostet sie zu viel Anstrengung, etwas vorzutäuschen, nur um die Patientenakten lesen zu können.

»Wir freuen uns sehr, dass du wiederkommen willst«, erklärt er, »viele haben dich vermisst.« Dann folgt, was die Neugierigen immer fragen: »Kann ich etwas für dich tun?«

Diese klassische Frage, die ihr absurd vorkommt, lautet die Antwort doch selbstverständlich Ja. So erfinderisch muss man nicht sein, um sich etwas Neues einfallen zu lassen. Aber nein. Wie gewöhnlich verlangen sie von denen, die in einer Krise stecken, sich zu erniedrigen und um Hilfe zu bitten.

»Nein danke«, antwortet sie kurz.

»Gut.«

Daraufhin greift Lars nach einem Stapel Formulare, »ein paar Formalien« vor Wiederaufnahme ihres Dienstes, wie er sagt, und bittet sie, sie zu Hause in aller Ruhe auszufüllen.

»Kann ich auch gleich einen Blick auf die Patientenakten werfen?«, fragt Åsa.

»Nein, lass uns eins nach dem anderen angehen.«

»Ich möchte natürlich gerne wissen, wie es ihnen inzwischen geht, weißt du.«

»Das hat keine Eile«, sagt er, als er sich über den Schreibtisch lehnt und ihr die Formulare reicht.

»Nein«, erwidert sie nicht ganz aufrichtig.

Schon bald sitzt sie wieder im Bus nach Hause. Er schaukelt durch das Schneegestöber vorwärts. Die tief stehende Sonne lässt das Eismuster auf der Scheibe glitzern, und die schöne Aussicht bewirkt, dass sie das Gefühl hat, als würde sich ein Messer in ihr umdrehen. Die fahlen, metallischen Winterfarben lösen etwas in ihr aus, das sie schon lange nicht mehr gespürt hat. Sie stöhnt laut auf und streckt sich schon nach dem Halteknopf, doch dann gelingt es ihr, sich wieder zu fassen und sitzen zu bleiben.

Sobald sie zu Hause ist, trinkt sie eine Tasse Kamillentee und legt sich in die Badewanne. Nur noch ein Tag bis zu Martins Rückkehr. Sie will die ihr verbleibende Zeit nutzen, um all das zu tun, was sie eigentlich auch gerne tun würde, wenn er zu Hause ist. Aber sie schafft es nicht.

Sie legt sich ins Bett, warm und schläfrig nach dem langen Bad, und nickt sofort ein.

Als Martin am nächsten Abend heimkommt, herrscht große Distanz zwischen ihnen. Sie in dem pechschwarzen Zimmer, in dem die Angst förmlich zu riechen ist, er im Anzug in einer Wolke aus Rasierwasser, das er am Flughafen erstanden hat.

Sie hat einen schlechten Tag hinter sich. Hat bis zwölf Uhr im Bett gelegen, anschließend zwei Stunden mit den Formularen aus dem Krankenhaus zugebracht, ohne sie fertig ausgefüllt zu haben. Vielleicht liegt es ja daran, dass sich Magdas Geburtstag nähert, dass ihr jeder Tag schwerer erscheint.

Droht sie wieder in die undurchdringliche Dunkelheit abzugleiten? Sie erkennt gewisse Anzeichen dafür. Dass sie das Radio ausschaltet, sobald Musik gespielt wird, zum Beispiel. Oder dass ihre Gedanken wieder so oft zu Helén aus Hörby schweifen.

Heute Nachmittag hatte sie den Fehler begangen, Aufnahmen aus dem Keller zu googeln, gedacht, dass sie ihr vielleicht einen Hinweis geben würden. Das hätte sie nicht tun sollen. Sie weiß, wonach sie gesucht hat, hat es aber nicht gefunden. Hatte gehofft, vielleicht etwas zu sehen, das ihr bisher entgangen war, wenn sie sich mit dem denkbar Schlimmsten konfrontieren würde, aber das war ein Irrtum gewesen. Die Eindrücke hatten sich nicht abschütteln lassen und so konnte sie nicht anders, als sich hinzulegen. Das Licht hatte sich nicht aussperren lassen, obwohl sie die Jalousien und die Rollos hinuntergelassen hatte. Das Licht war fürchterlich gewesen, auch weil es sie so an die Wochen danach erinnert hatte. Es lag so so etwas Grundverkehrtes darin, dass Frühling war, dass alles grünte und blühte, während sich das Furchtbare zugetragen hatte.

Martin reagiert so wie immer auf ihren Zustand: mit Schweigen. Zieht sich zurück in sein Arbeitszimmer, während sie draußen im Morgenmantel umhergeistert und versucht, nicht wie ein Gespenst auszusehen.

Sie hört ihn pfeifen, und das Alltägliche daran versetzt ihr einen Stich.

Eine unerklärliche Zärtlichkeit für ihn überkommt sie, sie stellt sich in den Türrahmen und fragt ihn, was sie kochen sollen.

Das Gespräch hat etwas Vertrautes an sich, das ihr zu Herzen geht. Es berührt sie, dass sie sich darin so einig sind: Wir kochen nichts. Wie sonst auch.

Routinen, die man nach einer Katastrophe etabliert, sind auch Routinen. In gewisser Weise ist sie dankbar dafür, dass er wieder zu Hause ist, spürt sie.

Sie legt sich auf die Überdecke und schläft ruhig ein.

Wacht davon auf, dass Martin sie küsst. Sie fühlt sich überrumpelt und weiß nicht, wie ihr geschieht. Fühlt sich von seiner großen forschen Zunge bedrängt. Er öffnet ihren Mund mit den Fingern, und sie kommt nicht mit. Vorsichtig schiebt sie ihn von sich, sieht ihn an und ist drauf und dran ihn zu fragen, wie er bei dem Gedanken daran, was Magda vielleicht gerade durchstehen muss, überhaupt an Sex denken kann. Doch er sieht so verdattert aus, dass sie es nicht über sich bringt, weshalb sie wortlos das Schlafzimmer verlässt. Bevor sie die Tür ihres Arbeitszimmers hinter sich zumacht, hört sie noch seinen resignierten Seufzer vom Bett.

Am nächsten Tag geschieht etwas Unerwartetes.

Sie bekommt am frühen Nachmittag eine SMS.

Bist du zu Hause?, schreibt Martin.

Das hat er schon seit Jahren nicht mehr getan.

Sie weiß nicht, warum, aber die SMS ist wie eine Initialzündung. Vielleicht hat sein nächtlicher Annäherungsversuch etwas in ihr ausgelöst, das jetzt, zwölf Stunden später, Gestalt in ihr angenommen hat. Rasch antwortet sie mit Ja und zieht sich aus, duscht und cremt sich ein. Legt sich dann wieder ins Bett und wartet. Spürt die vertraute Vorfreude in sich aufsteigen und schmiegt sich an die weiche Bettdecke, als wäre es Martin.

Während sie wartet, muss sie an ihr erstes Mal denken. Ohne Penetration, nur mit den Händen. Sie hatten ausgestreckt in seiner kleinen Wohnung auf Kungsholmen gelegen und sich berührt. Dann hatte er plötzlich eine kleine Flasche mit irgendeinem Öl hervorgezogen – was sie verlegen gemacht hatte, als sie bedachte, wie gewandt er sich unter das Bett beugte. Dann hatte er sie aufgefordert:

»Schildere mir eine deiner Fantasien.«

Zuerst war ihr das schwergefallen. Dann aber ging sie darauf ein, und als sie erst einmal angefangen hatte, war es, als wäre ein Damm in ihr gebrochen.

Irgendwie kam ihr alles möglich, alles erlaubt vor, solange sie nur redeten. Während ihre eingeölte Hand ihn bearbeitete und knetete, ließ sie alle Vorstellungen ungehindert zu, ließ sie sich in ihrer ganzen Obszönität entfalten. Sie war sich noch nicht einmal sicher, ob sie diese Fantasien ausleben wollte oder ob sie sie gerade deshalb so erregten, weil es Fantasien waren und bleiben würden. Sie vögelte ihn mit der Kraft ihrer Worte, und er genoss es.

Jetzt kehrt die Erinnerung daran zurück und ihre Haut rötet sich vor Erregung.

Aber Martin kommt nicht, und nach einer Dreiviertelstunde nickt sie fast ein, weshalb sie sich den Morgenmantel anzieht und zum Telefon geht, um ihn anzurufen und zu fragen, wo er bleibt. Da klingelt es an der Tür.

Davor steht ein Bote.

»Ist Martin Horn zu Hause?«

»Nein, bedaure.«

»Bitte unterschreiben Sie hier«, sagt der Mann in dem blauen Overall und reicht ihr eine Quittung, die an etwas befestigt ist, das wie ein Romanmanuskript aussieht.

Nachdem er wieder gegangen ist, pfeffert sie es auf den Küchentisch und verflucht sich für ihre Einfältigkeit.

Spürt, dass die Panik erneut im Anzug ist.

Spürt, dass sie etwas Radikales tun muss.

Geht zum Computer und sucht nach Moas E-Mail. Ruft sie an.

»Einverstanden«, sagt sie, »wir machen es.«

Auf dem Weg in die Stadt bereut sie es natürlich schon, verteidigt ihren Entschluss aber damit, dass Moa immer die einzige Journalistin gewesen war, die den Verdacht gegen sie und Martin infrage gestellt hatte – und die noch dazu Fotos von Magda veröffentlicht hatte, als das Medieninteresse längst abgeebbt war, was ihrer Suche dienlich gewesen war.

Sie parkt den Wagen und betritt das Café Vetekatten.

Als sie einander schließlich gegenübersitzen, neigt Moa den Kopf.

»Danke«, flüstert sie. »Danke, dass Sie sich dazu bereit erklären. Ich weiß, wie schwer das ist.«

»Wir werden sehen«, erwidert Åsa.

Moa bringt ihr iPhone in Stellung und aktiviert die Aufnahmefunktion.

»Lassen Sie uns doch damit beginnen, dass Sie mir erzählen, wie Sie davon erfuhren, dass Ihr Mann und Sie verdächtigt wurden.«

»Ich bin formal nie verdächtigt worden.«

»Nein, aber auf viele Menschen hat Ihr Gleichmut wie ein rotes Tuch gewirkt. Warum waren Sie nicht erschütterter?«

»Dafür war in dem Moment kein Raum.«

»Und anschließend wurden Sie freigelassen, weil Sie für den ganzen Freitag ein Alibi hatten, während Ihr Mann weiterhin unter Verdacht stand.«

»Ja.«

»Wie alle wissen, hat er am Tag von Magdas Verschwinden das Büro seines Vaters um Viertel nach drei verlassen. Trotzdem ist er erst zwei Stunden später in Bromma eingetroffen. Und er hat nie erklären können, was er in dieser Zeit getan hat. Wie fühlt es sich für Sie an, dass so viele Leute der Ansicht sind, er hätte etwas zu verbergen?«

»Das kann ich nicht kommentieren, da die Ermittlungen noch nicht abgeschlossen sind.«

»Aber wie fühlt es sich an? Darauf können Sie mir doch sicherlich eine Antwort geben?«

Åsa muss sich beherrschen, um nicht das zu sagen, was sie sagen will. Sie ruft sich ins Gedächtnis, dass das Interview für die Ermittlungen nützlich sein könnte, falls viele Menschen es lesen und es sie berühren würde. Noch einen weiteren Artikel über ihre Gefühlskälte konnte sie jetzt nicht gebrauchen. Sie antwortet:

»Die Tragödie liegt darin, dass die Polizei vielen Hinweisen nicht nachgeht, weil sie so überzeugt von der Schuld meines Mannes ist. Aber noch nicht einmal das kann ich ganz an mich heranlassen, dafür fehlt mir die Kraft. Ich würde zusammenbrechen, wenn ich das täte.«

Erstaunt stellt sie fest, dass ihre Stimme zittert. Moa beugt sich vor. Es ist eine subtile Bewegung, trotzdem ist sie unmissverständlich: Sie hat Lunte gerochen.

»Haben Sie jemals an seiner Unschuld gezweifelt?«, fragt Moa.

Das war ja abzusehen, denkt Åsa. Typisch Journalisten. Sie merken, dass man für einen Augenblick seine Wachsamkeit aufgegeben hat, und schon sind sie da.

Moa erkennt, dass sie die Frage nicht zu beantworten gedenkt, und blickt auf ihre Papiere hinunter.

»Sind Sie isoliert? Von der Welt isoliert?«

»Der Schmerz durchdringt alles wie ein Röntgenstrahl und wirft ein klares Licht auf alles und jeden. Ich kann es nur so, auf diese Art ausdrücken. Oder lassen Sie es mich so formulieren: Ich kann im Augenblick nur etwas für Menschen empfinden, die wissen, was Schmerz bedeutet.«

»Erzählen Sie mir mehr davon.«

»Wenn es mir am schlimmsten geht und ich zwei Menschen im Fernsehen lachen sehe, dann denke ich, dass ihr Lachen einen Preis hat. Wenn sie wüssten, was überall vor sich geht, würden sie nicht lachen.«

»Sondern was tun?«

»Sich in andere hineinversetzen und verstehen, wie schlecht es den Menschen dort draußen geht. Und dann würde das Leiden ja vielleicht etwas abnehmen. Oder? Ich weiß nicht.«

»Sind Sie jetzt offener für die Vorstellung, dass es böse Menschen gibt?«

»Wie meinen Sie das?«

»Im Zusammenhang mit einem Gerichtsverfahren gegen einen Mann, der vor ein paar Jahren zwei Kinder ermordet hat, wurden Sie in Ihrer Eigenschaft als Psychologin von Dagens Nyheter interviewt und haben die Medien dafür kritisiert, Mörder immer öfter als ›böse‹ hinzustellen. Sie haben gesagt, dass die Gesellschaft eine Verantwortung für diese Individuen besitze, die sie im Stich gelassen und so zu Verbrechern gemacht habe, und dass es unzivilisiert sei, sie als böse abzustempeln. Denken Sie noch immer so?«

Plötzlich ist die Dunkelheit wieder da. Sie weiß nicht, wie sie es hereingeschafft hat, aber jetzt drängt sie in den Raum und füllt ihn vollständig aus. Sie weiß, dass es nur noch eine Frage von Sekunden ist, bis sie den Halt verliert, und deshalb erwidert sie rasch:

»Jemand hat Magda entführt, sie eingesperrt und sich womöglich an ihr vergriffen, während sie nach mir rief und sich gefragt hat, wo ich bin. Das kann ich nicht verstehen. Und wenn ich es nicht verstehen kann, fehlen mir auch die Worte dafür.«

Hastig erhebt sie sich.

»Ich weiß, dass es schwer ist«, ruft Moa ihr nach. »Ich verstehe Sie!«

Doch Åsa ist schon an der Tür.

Auf dem Heimweg versucht sie die ganze Sache herunterzuspielen, doch es gelingt ihr nicht ganz. Wider Willen ist sie mittlerweile zu einer Expertin geworden, was Schlagzeilen anbelangt, und sie weiß, was ihre Schlussreplik nach sich ziehen wird. Sie hätte sich niemals auf dieses Interview einlassen sollen.

Die Dunkelheit lichtet sich etwas, als sie den Drottningholmsvägen erreicht, trotzdem fährt sie vorsichtig. Als sie zu Hause ist und ins Schlafzimmer wankt, wird ihr klar, dass ihr ein höllischer Abend bevorsteht. Eine Erinnerung nach der anderen taucht auf und quält sie, Erinnerungen, an die sie nicht denken will – ja, ausgerechnet die, an die sie nicht denken will. Magda, die in ihrer Regenjacke auf sie zugelaufen kommt, lachend, mit ausgestreckten Armen. Åsa hatte in dem Moment etwas zu ihr gesagt, das sie nicht vergessen kann, wie sehr sie es sich auch wünscht, und so vergräbt sie sich nun unter der Bettdecke und presst die Hände auf die Ohren, um es verschwinden zu lassen.

Sie steht vor dem Fenster im ersten Stock und beobachtet, wie der Regen den Schnee vom Grundstück spült.

Sie hat den Morgen damit zugebracht, nicht darüber nachzudenken, wie sie als Mutter war, doch vergebens. Hat versucht, sich davon zu überzeugen, dass es eine verdrehte Logik sei, zu bereuen und daran zu zweifeln, ob sie sich immer richtig verhalten hat. Zu bereuen, nur weil es später zu einer Katastrophe gekommen ist.

Sie tastet sich durch ihre Erinnerungen: Martin war noch nicht einmal mit den Grundlagen der Psychologie vertraut. Natürlich hatte er ihre Thesen über Magda da erschreckend gefunden.

Um Antworten zu finden, greift sie nach dem Fotoalbum aus ihrer Jugendzeit, blättert bis zu den Studienjahren vor und muss nur wenige Aufnahmen angucken, um Rührung zu empfinden angesichts des Eifers der jungen Frau, der ihr von den Bildern entgegenstrahlt.

Der Herbst, in dem sie als Einundzwanzigjährige allmählich erkannte, wie alles zusammenhing, war magisch gewesen.

Alice Miller zu lesen war der erste Durchbruch. Das Gefühl, mit dem sie mit den Büchern unter dem Arm zu ihrer Studentenbude ging, glich Verliebtheit. Sie kam sich auserwählt, geheimnisvoll vor, als sie wach lag und Thesen in den Büchern markierte. Wie Miller konnte niemand in Worte fassen, wie Menschen, die in ihrer Kindheit gequält wurden, dieses Leiden im Erwachsenenalter häufig auf eigene Veranlassung hin zwanghaft nachahmten.