Wir alle haben Geister in unserem Leben. Es sind Facetten unserer Persönlichkeit, die wir nie realisieren konnten. Für jedes Ja stirbt ein Nein, für jeden Jungen, der geboren wird, entsteht der Geist eines Mädchens.
Hilary Mantel hat sich ihren Geistern gestellt. In ihrer Autobiografie erzählt sie von ihrem Aufwachsen in einfachsten Verhältnissen und von den Zwängen, denen sich das eigensinnige und träumerische Mädchen unterwerfen muss. Und sie berichtet von ihrer Krankheit, die dazu führen wird, dass sich das Äußere der jungen Frau verändert und sie niemals Kinder gebären wird. Im Angesicht der Geister entscheidet sie sich für ein Geistesleben und wird zu einer der meistgefeierten Autorinnen und wichtigsten sozialkritischen Stimmen Englands.
›Von Geist und Geistern‹ erzählt das bewegte und bewegende Leben einer Frau, die ihre Schwächen immer wieder in Stärken verwandelt hat. Ein Zeugnis, das Mut macht und staunen lässt.
© Els Zweerink
Hilary Mantel wurde 1952 in Glossop, England, geboren. Nach dem Jura-Studium in London war sie als Sozialarbeiterin tätig. Sie lebte fünf Jahre lang in Botswana und vier Jahre in Saudi-Arabien. Für den Roman ›Wölfe‹ (DuMont 2010) wurde sie 2009 mit dem Booker-Preis, dem wichtigsten britischen Literaturpreis, ausgezeichnet. Mit ›Falken‹, dem zweiten Band der Tudor-Trilogie, gewann Hilary Mantel 2012 den Booker erneut. Bei DuMont erschienen zuletzt die Romane ›Jeder Tag ist Muttertag‹ und ›Im Vollbesitz des eigenen Wahns‹ (2016).
HILARY
MANTEL
Von Geist und
Geistern
Aus dem Englischen
von Werner Löcher-Lawrence
Für meine Familie
Kleine Gruben, geheime Gräber,
ein paar Kinder um den Eisenzaun.
Nicht mal ein verschrammter Stein.
Der Wind frischt auf, Wolken bedecken den Mond,
ein Hundebellen und jene Eulen.
Allein und kein Ende.
Meine Kinder, die nichts hören werden.
Die Nacht voller Schreie, die sie nie ausstoßen werden.
Judy Jordan, Sharecropper's Grave
Teil eins
EIN ZWEITES ZUHAUSE
ES IST EIN SAMSTAG, ENDE JULI 2000, wir sind im Owl Cottage in Reepham, Norfolk, und versuchen etwas hinauszuschieben, das fest auf dem Plan steht. Wir müssen nach gegenüber zu Mr Ewing und ihn fragen, wie er den Wert des Cottage und unsere Verkaufschancen einschätzt. Ewing’s ist der örtliche Makler, bei dem wir das Haus vor sieben Jahren gekauft haben. Während der Morgen voranschreitet, bewegen wir uns stumm umeinander herum und meiden jedes Gespräch. Die Entscheidung ist gefallen, es gibt nichts mehr zu diskutieren.
Etwa um elf sehe ich ein Flimmern auf der Treppe. Die Luft ist erst ruhig, dann bewegt sie sich. Ich hebe den Kopf, und die Luft ist wieder ruhig. Ich weiß, es ist der Geist meines Stiefvaters, der nach unten kommt. Oder, um es auf eine für die meisten Leute annehmbarere Weise zu sagen: Ich »weiß«, es ist der Geist meines Stiefvaters.
Ich bin nicht beunruhigt. Ich bin es gewohnt, Dinge zu »sehen«, die nicht da sind. Oder, um es auf eine für mich annehmbarere Weise zu sagen: Ich bin es gewohnt, Dinge zu sehen, die »nicht da sind«. Es war hier in diesem Haus, in den ersten Monaten des Jahres 1995, dass ich meinen Stiefvater Jack zum letzten Mal gesehen habe, lebend, in sein menschliches Fleisch gekleidet. Seitdem nehme ich ihn oft auf der Treppe wahr.
Es kann natürlich sein, dass das Flimmern auf dem Geländer nichts anderes als der Vorbote einer Migräne-Attacke ist. Links von meinem Körper habe ich immer wieder Visionen, mein linkes Auge ist offen für sie. Ich weiß nicht, warum ich in so verletzlichen Momenten mehr sehe, als da ist, oder eben Dinge, die ich normalerweise nicht sehe.
Mit den Jahren sind die meinen Migränen vorauseilenden Symptome zu mehr als dem gefährlichen Rätsel geworden, das sie früher waren, sind mehr als die bloße Mahnung, etwas gegen die bevorstehende Attacke einzunehmen. Sie sind eine Art übersinnlicher Schmuck, eine Geste, eine Kunstform, ein geheimes Talent, das ich nie zu Geld habe machen können. Mitunter nehmen sie die Form von Sehstörungen an, die viele unter Migräne Leidende kennen. Kleine Dinge verschwinden aus meinem Gesichtsfeld, und die Welt ist voller dahintreibender Lücken, jede einzelne wie ein Donut geformt, mit einem blendenden Licht, wo das Loch sein sollte. Manchmal sehe ich goldene Blitze vor der Wand: dahinschießende Winkel, den Flügeln kleiner, flinker Engel gleich. Mangelnder Schlaf und zu wenig Essen erhöhen die Wahrscheinlichkeit derartiger Bilder. Hungernde Heilige hatten, unterzuckert und zittrig, während der Fastenzeit Erscheinungen, die ihren Erwartungen entsprachen.
Hin und wieder nimmt die Aura schwierigere Formen an. Ich werde taub. Die Wörter, die ich schreibe, verwandeln sich in andere Wörter. Ich träume seltsame Träume, aus denen ich mit einem halluzinierten Geschmack im Mund aufwache. Einmal, vor dreißig Jahren, träumte ich, ich würde Bienen essen, und seitdem lebe ich mit ihrer Milchschokoladensüße und ihrer an zart gekochte Kalbsleber erinnernden Konsistenz. Mitunter setzt sich eine Melodie in meinem Kopf fest, wie ein Muskelzucken, bringt ihre Texte mit sich mit, und ich bin gezwungen, mit beidem zu leben. Die Klage, eine Melodie nicht aus dem Kopf zu bekommen, ist bekannt, doch für die meisten Menschen ist das kein Präludium zu einem Tag herzhaften Erbrechens. Im Übrigen sagen die Leute, sie schnappen die Melodien im Radio auf – meine Lieder hört man dieser Tage kaum noch: Bill Bailey, won’t you please come home? / Some talk of Alexander, and some of Hercules. / My aged father did me deny, and the name he gave me was the Croppy Boy.
Nachdem ich heute den Geist gesehen habe, besteht das Problem darin, dass die Wörter nicht richtig aus mir herauskommen. Ich muss also vorsichtig sein bei Mr Ewing, aber er versteht mich ohne alle Probleme, und ja, er erinnert sich, uns das Cottage vor sieben Jahren verkauft zu haben. Ist das wirklich schon so lange her? In der Zeit habe ich vielleicht eine halbe Million Wörter formuliert und umformuliert, siebeneinhalbtausend Mahlzeiten eingenommen und zehntausend Schmerztabletten geschluckt (vorsichtig geschätzt) – und Gott allein weiß, wie viele die Leute geschluckt haben, denen ich Schmerzen bereitet habe. Es waren Jahre, in denen ich dicker und dicker geworden bin (wider still and wider, shall my bounds be set – weiter noch und weiter sollen sich meine Grenzen dehnen), und während der Nächte in diesen sieben Jahren wurden Träume geträumt, ausgelöscht und neu formatiert: Es waren Jahre, während derer mein Stiefvater am Abend vor dem Erscheinen meines siebten Romans starb. All meine Erinnerungen an ihn sind mit Häusern verbunden, Träumen von Häusern, wirklichen oder geträumten Häusern, deren leere Zimmer auf eine Nutzung warten: mit den Geschichten und den Ansprüchen anderer Leute, mit Angst und meiner erwachsenen Leugnung, dass ich Angst hatte. Aber Zuneigung nimmt nun mal merkwürdige Formen an. Ich kann es kaum ertragen, das Cottage zu verkaufen und ihn auf der Treppe zurückzulassen.
Am späten Nachmittag schleicht sich ein Migräneschlaf an und drückt mir seinen feuchtkalten Ogerkuss auf die Stirn. »Keine Sorge«, sage ich, als mich das Ungeheuer in den Schlaf zieht. »Wenn das Telefon aufwacht, wird es uns rufen.« Mir wurde gestern schon klar, dass eine Migräne im Anmarsch war, als ich in einem Fischgeschäft in Norfolk stand und einen Leckerbissen für die Katzen aussuchte. »Nein«, sagte ich, »Kabeljau ist im Moment zu teuer, um ihn an Fische zu verfüttern. Selbst an Fische wie unsere.«
Ich weiß kaum, wie ich über mich schreiben soll. Welchen Stil ich auch wähle, er scheint sich noch vor Ende des Absatzes wieder aufzulösen. Ich werde einfach drauflosschreiben, denke ich mir, halte die Hände vor mich hin und sage, c’est moi, gewöhne dich daran. Ich werde meinen Lesern vertrauen. Das ist es, was ich den Leuten rate, die mich fragen, wie man es zu einer Veröffentlichung bringt: Vertraut euren Lesern, hört auf, sie am Gängelband zu führen, hört auf, sie zu bevormunden, gesteht ihnen zu, wenigstens so klug wie ihr selbst zu sein, und tut, verdammt noch mal, nicht mehr so verlockend: Sie da in der letzten Reihe, stellen Sie bitte Ihren Charme ab! Einfache Wörter auf einfachem Papier. Denkt daran, dass Orwell sagt, gute Prosa sei wie eine Fensterscheibe. Konzentriert euch darauf, eure Erinnerung zu schärfen und eure Sensibilität freizulegen. Kürzt jede Seite, die ihr schreibt, mindestens um ein Drittel. Hört auf, diese unwichtigen kleinen Bilder zu konstruieren. Werdet euch klar darüber, was ihr sagen wollt, und sagt es so direkt und kraftvoll, wie ihr könnt. Esst Fleisch. Trinkt Blut. Zieht euch zurück, vergesst euer Privatleben und denkt nicht, dass ihr Freunde haben könnt. Steht mitten in der Nacht auf, stecht euch in die Fingerspitzen und benutzt das Blut als Tinte, das wird euch von eurer Spottlust heilen!
Aber nehme ich meinen eigenen Rat an? Kein bisschen. Spott ist mein nom de guerre (benutzt keine Fremdwörter, das ist elitär). Ich weiche ab vom Pfad der einfachen Wörter und streune über die Wiesen extravaganter Vergleiche und Bilder: mit Engeln, Ogern, donutförmigen Löchern. Und was die Durchsichtigkeit betrifft, nackte Fenster sind ein Zeichen von Armut, oder? Wie wäre es mit ein paar hübschen Netzgardinen, durch die ich hinaussehen kann, aber ihr nicht zu mir herein? Wie wäre es mit Fensterläden oder keuschen Rollos? Wobei Fensterscheiben-Prosa keine Garantie für Wahrhaftigkeit ist. Hinter Glas täuscht einiges, und die besten Lügner lügen mit einfachen Worten.
Jetzt, da ich einen autobiografischen Text schreibe, lege ich jedes Wort auf die Goldwaage. Ist das Geschriebene klar – oder ist es täuschend klar? Ich sage mir, erzähle einfach, wie du dazu kamst, ein Haus mit einem Geist darin zu verkaufen. Aber diese Geschichte lässt sich nur einmal erzählen, und ich muss sie richtig hinbekommen. Warum das Schreiben zu so großen Ängsten führt? Margaret Atwood sagt: »Das geschriebene Wort hat unbedingten Beweischarakter – wie etwas, das gegen dich verwendet werden kann.« Früher habe ich gedacht, eine Autobiografie sei eine Form von Schwäche, und vielleicht denke ich das immer noch. Aber ich glaube auch, wenn du schwach bist, ist es kindisch, so zu tun, als wärst du es nicht.
Owl Cottage verkaufen: Im Freitagabendverkehr über die M25 kriechend, durch die Dunkelheit Brecklands, die Flecken und Ansiedlungen mit ihren verdrehten Kiefern und geschlossenen Fensterläden steuernd, fuhr die Entscheidung mit uns. Wir hatten die Reise schon so oft gemacht, am Rand der Industriegebiete ums Zentrum von Norwich, um an der Kreuzung in West Earlham mit seinen Sozialwohnungen schließlich vom Gas zu gehen: Lichter brennen hinter den zugezogenen Vorhängen, niemand ist auf der Straße. Am Stadtrand hören die Laternen auf, und die Straße wird schmaler. Weiter geht es in die Finsternis, die nur von funkelnden Fuchs- und Katzenaugen erleuchtet wird. Flügelschlag zieht vorbei, und ganz am Rand eilen Schritte dahin. Im Dunkel wird gegessen, etwas wird verspeist.
Im kleinen Ort Reepham biegt man an der Kirchenmauer ab, die schon von etlichen Lastwagen malträtiert wurde, und gelangt auf den autofreien Marktplatz. Im King’s Arms brennt noch Licht, aber die großen Türen der Old Brewery sind geschlossen, und ihre Bewohner tapsen hoch zu ihren Betten. Vom Markt aus geht es den Hügel hinauf und auf den matschigen, zerfurchten Hof hinter dem Cottage. Im Dunkeln wird ausgeladen, meist regnet es. Deine Stiefel kennen die Pfützen und glitschigen Stellen, den großen Schritt ins Finstere auf den Rand des Pflasters. Manchmal ist es schon Mitternacht und Winter, die Kälte nimmt dem Taschenlampenstrahl die Kraft und zerstreut das Licht zu einem diffusen Blendwerk. Aber so wie die Füße den Weg kennen, finden die Finger den Schlüssel. Fünfzig Meter vom Markt gibt es keine Lichtverschmutzung, kein städtisches Hintergrundleuchten, das den Himmel bleicht. Keine Flugschneisen, keine Schritte. Nur Sternenlicht, Reif auf dem Weg, Eulenrufe aus drei Pfarreien.
Man schläft gut in diesem Haus, auch wenn einen in der Woche schon bei Sonnenaufgang Lastwagen und Traktoren wecken. Ihre Ausdünstungen verschmieren die Fenster zur Straße mit fettigem, öligem Schmutz. Das Land ist weder sauber noch ruhig, den ganzen Tag über keuchen die hydraulischen Bremsen, wenn die Lastwagenfahrer am Fuß des Hügels, an der Townsend Corner, zum Stehen kommen. Und was hier town’s end heißt, ist es auch. Hinter der Polizei, hinter dem letzten Bungalow, also keinen halben Kilometer weiter, geht die Stadt in offenes Feld über. Der nächste Flecken heißt Kerdiston. Seine Kirche ist vor mehreren Hundert Jahren eingestürzt, und es gibt weder Straßennamen noch Straßen. Selbst die Leute, die dort wohnen, sind nicht sicher, wo ihr Dorf nun liegt. Sein einziger bekannter Bewohner, Sir William de Kerdeston, zog nach seinem Tod nach Reepham und liegt als Bildnis auf seinem Grab. Er ruht, wenn das denn das Wort dafür ist, in voller Rüstung auf einem Bett aus Kieseln: Und vielleicht zucken seine Schultermuskeln und seine Beine strecken sich einmal im Jahr, wenn wir das Allerheiligenfest feiern und die Toten sich auf einen Spaziergang vorbereiten.
Als wir das Cottage kauften, hatte es weder einen Namen noch eine Geschichte. Es war ein Umbau von etwas, das womöglich einmal ein Haus gewesen war oder auch nicht: wahrscheinlich eher ein landwirtschaftlicher Lagerraum, aus dessen alten, unansehnlich rotbraunen Ziegelmauern ein Bauunternehmer aus Norwich in den 1990ern vier Wohnungen und zwei Cottages entstehen ließ.
Im Winter 1992/93 suchten wir die Gegend nach einer Wochenendbleibe ab. Wir fuhren an die Küste und tief ins Land, immer an die lange Anfahrt aus Berkshire und die Notwendigkeit denkend, wochenends nah bei meinen Eltern zu sein, die sich in Holt zur Ruhe gesetzt hatten. Mit unseren Barbour-Jacken und unserem scharlachroten BMW boten wir einen Anblick, der die Augen jedes Landhausmaklers mit freudiger Erwartung erfüllte. Wir sahen, wie sich ihre Mienen aufhellten, bis wir ihnen unser strikt begrenztes Budget und unsere hohen Anforderungen nannten, worauf sie in ihr gewohntes Grau zurücksanken. Wir wollten nichts Baufälliges, nichts Pittoreskes, nichts mit einem kleinen, aber eindämmbaren Hausschwammproblem. Und nichts zu Abgeschiedenes, da ich womöglich auch einmal allein dort bleiben wollte und selbst zu »abgeschieden«, nervös und reizbar war, um Auto zu fahren. Wir wollten einen Laden und einen Pub, aber die meisten Dörfer in Norfolk sind zerstreute, entvölkerte Weiler mit einer Telefonzelle als Zentrum, wenn man Glück hat. Trotzdem dachten wir, dass es irgendwo im County ein Heim für uns geben müsse. Ich hatte gerade einen Buchpreis gewonnen, sodass wir unerwartet eine zusätzliche Summe zur Verfügung hatten. Norfolk war damals absolut nicht gefragt. Es lag den Leuten zu weit von London entfernt und hatte nichts von dem, was Städter wollten, kein Netz von Gourmet-Restaurants und auch keine hübschen kleinen Delikatessenläden. In den Pubs gab es in der Mikrowelle gebackene Kartoffeln mit so großen wie trostlosen Portionen Fleisch und Soße, kleine Woolworth-Filialen in den kleineren Städten und Spar-Läden in den größeren Dörfern, dazu Wasservögel, große Kiesstrände und Meer, und einen riesigen, weiten Malerhimmel.
Wir kannten Norfolk mittlerweile recht gut. 1980 war ich zum ersten Mal hergekommen, um Freunde zu besuchen, die sich gerade frisch in einem Dorf in den Broadlands niedergelassen hatten. Ich selbst war zu der Zeit eigentlich in Afrika zu Hause, doch meine Ehe stand kurz vor dem Zusammenbruch. Ich war ein blasses Kind mit einem Koffer, ein altes, achtundzwanzigjähriges Kind, das herumfuhr und Freunde besuchte, eine Weile blieb und weiterzog und am Ende immer bei seinen Eltern landete, die damals noch im Norden lebten. Ich schien ständig im Zug zu sitzen, schleppte mein Gepäck die Stockwerke in Crewe hinauf oder suchte auf den windigen Bahnsteigen von Nuneaton nach einem geschützten Platz. Während meiner Fahrten wurde ich dünner und dünner, immer noch zerzauster und schäbiger und immer noch einsamer. Ich sehnte mich nach dem Haus, das ich verlassen hatte, nach meinen Tieren und dem Manuskript des gewaltigen Romans, den ich geschrieben und zurückgelassen hatte. Ich sehnte mich nach meinem Mann; meine Gefühle in Bezug auf meine Vergangenheit waren jedoch zu undurchdringlich und vernebelt, als dass ich sie hätte begreifen können, und damit sich daran nichts änderte, beendete und begann ich jeden Tag mit ein paar Barbiturat-Pillen, die ich mir auf den Handteller schüttete und mit einer Tasse Wasser aus irgendeiner Küche herunterspülte. Nimmt man solche Pillen vor dem Schlafengehen, sind die Träume schwarz und leer, beim Aufwachen fühlt man sich krank und abwesend, und der neue Tag ist wie ein fernes, von einem wild stampfenden Schiff aus sichtbares Ufer. Das liegt aber nur daran, dass man eine weitere Dosis braucht, und nach einer Stunde fühlt man sich wieder gut.
Meine Gastgeberin in Norfolk war eine Frau, die ich aus Afrika kannte. Ihr Mann arbeitete wieder im Ausland, und sie mochte nicht allein auf dem finsteren Land sein. Hätte uns unser verdrehtes Leben im Ausland nicht in Kontakt gebracht, wären wir niemals Freundinnen geworden, und nach einer Weile begriff ich, dass wir auch so keine waren; so setzte ich mich denn in den Zug nach Norwich und sah sie nicht wieder. Aber unsere langen Fahrten durchs County, die auf winterlichen Wegen mitunter zu Irrfahrten wurden, unsere welken Salate in Dorfcafés, die überwucherten Friedhöfe und die Geschichten der alten Leute ließen mich über die Gegend nachsinnen und weckten in mir den Wunsch, einen Roman dort anzusiedeln. Was ich nach einigen Jahren auch tat.
Wir waren nicht länger als zwei Jahre getrennt gewesen, als mein Exmann zurück nach England kam – verändert. Ich denke, dass sich alle Menschen ändern, und es ist ernsthaft nutzlos, das Gegenteil anzunehmen. Ich hatte mich ebenfalls verändert; ich lebte allein, litt unter einer chronischen Krankheit, war aufgeschwemmt von den Steroiden, die ich nehmen musste, und zu einer Zynikerin in Sachen Romantik geworden. Von den beiden freudschen Konstanten Liebe und Arbeit widmete ich mich nur mehr einer, hatte sechs Tage die Woche zwei schlecht bezahlte Jobs, tags in einem Buchladen, abends hinter der Theke einer Kneipe, und stand mit dem ersten Licht auf, um meine Tagebücher zu schreiben und meinen Körper für die Welt draußen zu stabilisieren. Ich machte mir Notizen für zukünftige Bücher und hatte erst eine Kurzgeschichte veröffentlicht. Mit den Barbituraten hatte ich aufgehört. Ich weiß nicht mehr genau, wann es so weit war oder was ich mit der endlosen Menge winziger Pillen machte, die ich in einem Plastikkübel aus Afrika mitgebracht hatte. Habe ich sie langsam abgesetzt? Von heute auf morgen? Ich weiß es nicht mehr. Angesichts der Behauptungen, die ich später in Bezug auf meine Erinnerung aufstellen werde, macht mir das Sorgen. Vielleicht haben sie ihr eigenes Vergessen mit sich gebracht: jede kleine Dosis raschelnder, nadelkopfgroßer Killer. Auch danach war ich stets nach irgendetwas süchtig; gewöhnlich nach Dingen, für die es keine Selbsthilfegruppen gibt. Nach Semikolons zum Beispiel, länger als zweihundert Worte komme ich kaum ohne sie aus.
Ob ich in jenem Sommer fit genug war, eine rationale Entscheidung zu fällen – nun, wer wird das je sagen können? Es schien, dass mir mit meinem Exmann mehr geblieben war, als die meisten Leute als Startkapital hatten. Und so heirateten wir erneut, ganz sparsam, auf dem Standesamt von Maidenhead, mit zwei Zeugen. Es war September, und ich fühlte mich an dem Morgen sehr krank, gereizt und aufgebläht, so als wäre ich schwanger. Es schmerzte unter meinem Zwerchfell, und von Zeit zu Zeit schien sich etwas in mir zu drehen und zu kratzen, als wäre ich die Frau in einem Volksmärchen, die mit dem Teufel schwanger geht. Nichts sonst, nur das Heiratenmüssen vermochte es an diesem Tag, mich aus dem Bett zu bringen, hinein in mein Kleid, auf die hohen Absätze und hinaus auf die Straße. Die Standesbeamtin war nett und wünschte uns diesmal mehr Glück. Einen Ring gab es nicht; da sich die Dicke meiner Finger von Woche zu Woche änderte, sah ich keinen Sinn darin, und womöglich war auch ein Grund, dass ich mich nicht zu schnell wieder mit den Zeichen und Symbolen der Ehe umgeben wollte. Wir aßen in einem Restaurant in Windsor, in einem Hof mit Blick auf den Fluss. Es gab Champagner. Einer der Trauzeugen machte ein Foto, auf dem ich hohläugig wie eine Rübenlaterne aussehe. So heiratete ich – ich muss mich schütteln, um es zu sagen – zum zweiten Mal denselben Mann. Ich dachte immer, das sei etwas, was sie in Filmen machen oder was blondierte Toto-Gewinner tun, überdrehte Leute, die von ihrem Glück aus der Bahn geworfen wurden. Ich dachte, so etwas machten nur überschäumende Charaktere, nicht aber die klugen, standfesten. Obwohl es vielleicht, wenn man über einen bestimmten Punkt hinaus klug und standfest bleibt, das einzig Vernünftige ist: dass man dieselbe Person wieder und wieder heiratet, immer wieder, so oft es nötig ist, damit es hält.
Mitte Januar 1993 schlugen wir unser Hauptquartier im Blakeney Hotel auf, einem durch die salzigen Marschen segelnden Feuersteinschiff. Wir waren mit Bündeln von Immobilieninformationen ausgestattet, von denen die meisten falsch waren und in die Irre führten. Zwei Tage lang fuhren wir herum und strichen Häuser von der Liste, sobald wir ihre Lage oder ihr Äußeres sahen. Ich erholte mich noch von einem schlimmen Weihnachtsfest mit Bronchitis und Lungenentzündung und hatte keine Stimme. Aber die war auch nicht nötig, es reichte, die Karte im verblassenden Licht zu studieren und verblichenen Wegweisern zu folgen, die unter dem Gewicht der Norfolker Ortsnamen ächzten. An einem Sonntagnachmittag um fünf, es war schon beinahe dunkel, steckten wir irgendwo östlich von East Dereham bis zu den Waden im Matsch, einen Steinwurf von einer uralten, zerfallenen Kirche und einer Reihe baufälliger, zu einem Bauernhof gehörender Wellblechgebäude entfernt, und suchten nach einem einsamen kleinen Cottage am Ende einer einsamen kleinen Häuserreihe. Wir gaben auf, saßen niedergeschlagen in unserem scharlachroten Monster und wandten unsere Gedanken der M25 zu.
Beim nächsten Mal, immer noch in bitterer Kälte, war meine Stimme zurückgekehrt und wir hatten unsere Suche eingegrenzt. Während meines Aufenthalts bei meiner Freundin aus Afrika waren wir oft zum Einkaufen nach Reepham gefahren, und ich hatte die großen georgianischen Fenster der Old Brewery bewundert, eines Pubs mit einem kleinen Hotel. Die lateinische Inschrift über der Sonnenuhr auf der Fassade des eleganten roten Ziegelhauses besagte: »Ich zähle nur die glücklichen Stunden.« Jetzt, zehn Jahre später, besaß Reepham ein Postamt, zwei Metzger, eine Apotheke und einen Telefonkiosk, einen Friseur, einen oder zwei taktvolle Antiquitätenhändler, eine geschäftige Bäckerei, in der es auch Vitamine, Eier von den Bauern aus der Umgebung und Bio-Schokolade gab, sowie einen Gemüse- und Blumenhandel namens Meloncaulie Rose. Der wohlgeordnete Marktplatz war von ruhigen, großfenstrigen Häusern umgeben, und die Station Road hinunter reihte sich ein Wirrwarr von Cottages. Einen Bahnhof gab es nicht mehr, obwohl der Ort in viktorianischer Zeit sogar zwei gehabt hatte, dazu zwölf Bierhäuser und einen Viehmarkt. Drei Kirchen hatte es einmal gegeben, aber eine war 1543 niedergebrannt und nie wieder aufgebaut worden. Die Geschichte der Stadt wurde von einem langsamen Abstieg in Ungläubigkeit und Bescheidenheit begleitet. An einem Januartag, nachdem ich Reephamerin geworden war, winkte mich eine gebeugte alte Dame zur Tür ihres Hauses und sah über den verlassenen Markt zur Kirchentür hinüber. »Was sagen Sie jetzt dazu?«, meinte sie. »Heute sind mehr Leute auf dem Kirchhof als auf der Straße.«
Die Leute aus Reepham und den umliegenden Dörfern treffen sich samstagmorgens im Postamt. Sie reden über die Regenmenge – »nicht genug, um eine Briefmarke anzufeuchten«, habe ich einmal jemanden sagen hören – und darüber, ob sie die Heizung eingeschaltet haben oder nicht, sie schimpfen über neunzigjährige Fahrer, die in ihrem Morris Traveller über die Straßen kriechen. Sie sind durchaus gastfreundlich und machen einen erst zum Fremden, wenn man seit zwanzig Jahren hier lebt; wobei man ihnen im Grunde herzlich egal ist. Die, die ehedem auf dem Land gearbeitet haben, sitzen heute wahrscheinlich am Computer. Sie kennen einen nicht, doch das macht ihnen nichts. Leben und leben lassen ist ihre Devise. Früher einmal haben sie sich mit einem »Alles in Ordnung bei dir?« begrüßt, und das mit einer ganz besonderen Norfolker Färbung, doch das ist zurückgegangen. An Heiligabend verschwinden sie früh in ihren Häusern und verschließen die Türen. Ihr Fallobst und ihr überschüssiges Gemüse stellen sie in Körben vors Haus, damit sich jeder daran bedienen kann, und im Frühling verkaufen sie Narzissensträuße für nicht mehr als ein paar Pennys.
Als wir uns das Haus ansahen, lag es noch voller Bauschutt. Wir traten in die unfertigen Zimmer und versuchten sie uns eingerichtet vorzustellen: als unsere Zimmer. Das Cottage war billig und nur eine Minute vom Markt entfernt. Um Mitternacht gingen wir aus unserem Zimmer in der Old Brewery noch einmal hinüber und stellten uns ans Tor oder dorthin, wo das Tor einmal sein würde. Wir wollten das Haus noch einmal sehen, ganz für uns und in aller Stille; und während wir dort standen und unsere Mäntel gegen die hartnäckige Kälte um uns zogen, rief der Waldkauz aus einem Baum.
Später ließen wir ein Schild anfertigen, auf dem »Owl Cottage« stand, mit einem Bild. Aber der Mann wählte eine Schleiereule, kanariengelb und dünn, mit Krabbelfüßen wie bei einem Nager.
Es ist ein merkwürdiges Phänomen, das zweite »Zuhause«. Wie meine zweite Ehe ist es nichts, was ich je mit mir in Verbindung gebracht hätte. Ich dachte, so ein Zweithaus sei nur etwas für die Reichen, die die Preise in den Cotswolds in die Höhe treiben. Schuldgefühle hatte ich wegen unserem Owl Cottage jedoch nie: Die Leute hatten sich kaum darum gerissen, mit dem winzigen Hof dahinter und dem Verkehrslärm während der Woche. Im Übrigen hofften wir, es zu kaufen sei die erste Stufe eines dauerhaften Umzugs nach Norfolk. Wenn wir in unsere Autos stiegen, den BMW und seine weniger auffälligen Nachfolger, stellte ich mir immer vor, es sei unsere letzte Fahrt dort hinaus, ein Umzugswagen begleite uns und wir ließen den Südosten für immer hinter uns. Dann zog ein Lächeln auf mein Gesicht, und meine Schultern entspannten sich. Aber schon kamen wir zum Stehen, krochen am Ort eines Blutbads oder sonst einer Katastrophe auf der M25 vorbei, und ich musste mir eingestehen, dass es wieder nur ein nervenaufreibender Wochenendausflug war und wir uns unsere Lebensveränderung würden verdienen müssen.
Eine Zeitlang fuhren wir alle zwei, drei Wochen hinaus und nahmen unsere Katzen mit. Befreit stürmten sie aus ihrem Käfig und rasten schreiend durch die Räume; ihre Pfoten trommelten über die hölzernen Stufen, und sie trieben die Teufel aus, die nur Katzen sehen können. Erschöpft legten sie sich schließlich in ihre Körbe, während wir nach oben in ein Zimmer mit einer Tapete vom Blassgelb schwachen Sonnenscheins gingen: bereits bessere Menschen, ruhiger, gütiger. Am Samstagmorgen drehten wir eine entspannte Runde um den Markt, von Laden zu Laden, gaben Pakete auf, füllten meine zahllosen Medikamente auf und kauften Fleisch zum Einfrieren. Nachmittags ging es nach Holt, um meine Eltern zu besuchen; wir hatten Scones oder einen Kuchen dabei, ein paar Blumen und ein, zwei Bücher. Am Sonntag kamen meine Eltern nach Reepham, und wir aßen entweder im King’s Arms zu Mittag oder etwas Kaltes bei uns: Cromer-Krabben, Erdbeeren, Stilton. Schon wurde es Zeit, den Wagen zu beladen und zurückzufahren. Üblicherweise verspürte ich einen leichten Schmerz hinter den Rippen, wenn wir aufbrachen. Ich zähle nur die glücklichen Stunden.
Meine Mutter war eine winzige, schicke Person mit wirrem, kurzem platinfarbenen Haar. Für gewöhnlich trug sie Jeans und ein Sweatshirt in einer verrückten Farbe, aber all ihre Sachen wirkten designt und bewusst ausgesucht. Solange ich sie kannte, schon als ich sie zum ersten Mal bewusst zu betrachten vermocht hatte, besaß sie diese Gabe. Mein Stiefvater war ein paar Jahre jünger als sie, doch seit ihm ein Bypass gelegt worden war, wirkte sein brauner, muskulöser Körper verkümmert. Gebrechlich hätte ich ihn nicht genannt, mir fiel jedoch auf, wie ihm sein weiches, verblichenes Lieblingshemd auf den Rippen hing, und die Beine unter seiner Hose schienen aus Gelenkstöcken zu bestehen. Früher hatte er gezeichnet, mittlerweile versuchte er die beruhigenden, sich verschiebenden Farben der Küste mit Wasserfarben auf Papier zu bannen; in seinen jüngeren Jahren hätte er die Mehrdeutigkeiten und Tricks des Lichts nicht ertragen. Seine Leidenschaft hatte ihn verbraucht; und die Wut. Niemand hatte ihm geholfen, er hatte kein Geld, als er welches benötigt hätte, und war chronisch aufgebracht über die Ausflüchte und Unehrlichkeiten der Welt. Er war ein aufrichtiger Mensch, und die Aufrichtigen dieser Welt machen es einander nicht leicht. Er war Ingenieur, hatte eine kleine, genaue Ingenieurshandschrift, und sein Denken war diszipliniert; aber das Herz in seiner Brust schlug wie eine Wespe in einem umgedrehten Glas.
Ich war sechs oder sieben Jahre alt gewesen, als Jack in mein Leben trat, und in all den Jahren hatten wir uns kein einziges Mal richtig unterhalten. Ich hatte das Gefühl, nichts zu sagen zu haben, was ihn hätte interessieren könnte. Wie er es empfand, weiß ich nicht. Zu einer lockeren, oberflächlichen Unterhaltung waren wir beide unfähig. Ich für meinen Teil verkrampfte gleich, als lauerten versteckte Bedeutungen hinter den Worten, und er … ich kann es nicht sagen. Meine Mutter dachte, wir vertrügen uns nicht, weil wir uns zu sehr ähnelten; ich zog die offensichtliche Erklärung vor, dass wir nicht zusammenpassten, weil wir grundverschieden waren.
Jetzt begann sich die Situation zu ändern. Seit seiner Herzoperation zeigte sich Jack offener und flexibler als je in seinem Leben. Er war geduldiger, gelassener, weniger einsilbig, und so wurde ich in seiner Gegenwart weniger verhalten, erwachsener, gesprächiger. Ich stellte fest, dass ich ihn mit Geschichten über die Schriftsteller-Komitees unterhalten konnte, in denen ich in London saß. Er hatte vor seiner erzwungenen Pensionierung ebenfalls in verschiedenen Komitees gesessen, und wir stimmten darin überein, dass sie, wozu auch immer sie dienten, ähnlich funktionierten und man ihre Aufgaben wahrscheinlich hätte austauschen können. Als wir an jenem letzten Nachmittag, einem hellen, frischen Tag Ende März, den Markt überquerten, ließ ich meinen Mann und meine Mutter vorausgehen, damit ich Jack eine kleine Geschichte erzählen konnte, die nur ihm gefallen würde. Ich dachte, das habe ich noch nie gemacht: Nie habe ich mich zurückfallen lassen und auf ihn gewartet.
Er wirkte müde, als wir nach dem Essen heimkamen. Eine der Katzen, die gestreifte, verlockte ihn immer dazu, auf der Treppe mit ihr zu spielen. Bis vor Kurzem noch hatte er Katzen nicht gemocht und sie wie ein Hexenjäger angeschwärzt: Er behauptete, bei einer Berührung von ihnen zusammenzuschrumpfen. Aber dieses kleine Wesen mit seinen eigenen seltsamen Phobien, voller Ängstlichkeit hinter den Marzipanaugen, lud ihn mit erhobener Pfote dazu ein, es zu berühren, und er folgte seinem Wunsch, wurde von seinem Miauen zehn Minuten lang festgehalten, berührte es und zog die Hand zurück, wurde weggestoßen und wieder herangeholt.
Als die Katze jedoch an jenem Sonntag ihre Position einnahm und ihn einlud, das Spiel zu beginnen, blieb er auf dem Sofa sitzen, lächelte ihr nur zu und nickte. Ich dachte, vielleicht trägt er etwas in sich: eine Erkältung? Aber es war der Tod, den er in sich trug, und er kam plötzlich, der Plünderer, grob und unflätig bahnte er sich in einer Nacht im April zwei, drei Stunden vor Sonnenaufgang den Weg ins Haus meiner Eltern. Der Arzt kam und der Krankenwagen, aber der Tod war schneller gewesen, hatte seinen Fuß auf den Kaminvorleger gesetzt und seine schmutzigen Fingerabdrücke auf dem Kopfkissen hinterlassen. Sie taten ihr Bestes, hätten sich die Mühe allerdings auch sparen können, es war vergebens. Als alles unterzeichnet und bestätigt war und die Männer das Haus wieder verlassen hatten, wusch meine Mutter sein Gesicht. Sie saß neben seiner Leiche, und weil niemand da war, mit dem sie hätte sprechen können, sang sie mit leiser Stimme: »Was bedeutet mir diese fade Stadt? / Robin ist nicht in der Nähe. / Er, den ich so gerne hörte, / den ich so gerne sähe …«
Das Lied hatte sie mir als Kind vorgesungen: Die Melodie trieft nur so vor Verlangen und Sehnsucht nach einer verlorenen Liebe. Gegen sechs Uhr griff sie zum Telefon, aber ihre drei Kinder schliefen noch tief und fest, und sie hörte nichts als höfliche Aufforderungen, die Nachricht zu hinterlassen, die niemand hinterlassen kann. Endlos schliefen wir. »Wo ist die Freude, wo das Lachen, / um das Leben zum Himmel zu machen? / Oh, alles ist mit dir geflohen, / Robin Adare.« Gegen sieben nahm endlich einer meiner Brüder den Hörer ab.
Du kommst an diesen Ort, deine mittleren Jahre, du weißt nicht, wie du hergekommen bist, und plötzlich starrst du der Fünfzig ins Gesicht. Wenn du dich umdrehst und auf die Jahre zurückblickst, erkennst du die Geister anderer Leben, die du hättest führen können. Deine Häuser werden von den Personen heimgesucht, die du hättest sein können. Geister und Phantome kriechen unter deine Teppiche und ins Gewebe deiner Vorhänge, sie lauern in Schränken und liegen flach unter dem Schubladenpapier. Du denkst an die Kinder, die du hättest bekommen können, aber nicht bekommen hast. Wenn die Hebamme sagt: »Es ist ein Mädchen«, wohin geht dann der Junge? Wenn du denkst, du bist schwanger, und dann bist du es nicht, was ist dann mit dem Kind, das in deinem Kopf bereits Form angenommen hat? Das alles hast du in einer Schublade deines Unterbewusstseins abgelegt, wie eine Kurzgeschichte, die nach den ersten Sätzen nicht funktionieren wollte.
Im Februar 2002 erkrankte meine Patentante Maggie, und die Besuche im Krankenhaus brachten mich in meinen Geburtsort zurück. Sie starb nach kurzer Krankheit im Alter von fast fünfundneunzig Jahren, und ich fuhr auch zu ihrer Beerdigung. Über die Jahre war ich oft zurückgekommen, dieses Mal jedoch musste ich eine besondere Route nehmen: die kurvenreiche Straße zwischen den Hecken und der Steinmauer hinunter und dann den breiten, unbefestigten Weg hinauf, den die Leute in meiner Kinderzeit den »Kutschweg« nannten. Er führt den Hügel hinauf zu der alten Schule, die längst nicht mehr genutzt wird, und weiter zu dem heute nonnenlosen Kloster und der Kirche. Als Kind war das mein täglicher Schulweg, morgens und dann noch einmal nach dem dinner, dem Mittagessen, das die Leute im Süden Englands lunch nennen. Als ich als Erwachsene in meinem Beerdigungsschwarz dort entlangging, verspürte ich eine so mächtige wie vertraute Bedrängnis. Kurz bevor die öffentliche Straße auf den Kutschweg stößt, kam ein Punkt, an dem mich Furcht und Bestürzung überwältigten. Voller Angst fuhr mein Blick zur Seite, auf das nasse, wirre Farngestrüpp. Ich wollte sagen: Bleib stehen, geh nicht weiter. Ich erinnerte mich, wie ich als Kind überlegt hatte, ob ich flüchten sollte, davonrennen, zurück in die (vergleichsweise) Sicherheit unseres Hauses. Der Punkt, an dem mich die Angst überkam, war der Punkt, an dem es keine Umkehr gab.
Von meinem siebten bis zu meinem elften Lebensjahr – als ich fortzog – gingen wir jeden Monat in Zweierreihen Hand in Hand von der Schule den Hügel hinauf zur Kirche, um zu beichten und uns unsere Sünden vergeben zu lassen. Wenn ich wieder aus der Kirche herauskam, fühlte ich mich erwartungsgemäß sauber und leicht, doch dieser Zustand der Anmut währte nicht länger als die fünf Minuten, die es dauerte, zurück in die Schule zu kommen. Schon mit vier Jahren hatte ich angefangen zu glauben, etwas Falsches getan zu haben. Da gab es eine grundlegende Sünde, an die das Beichten nicht rühren konnte. Da war etwas in mir, das sich nicht in Ordnung bringen ließ und für das es keine Erlösung gab. Die Schule bedeutete eine ständige Einschnürung, das systematische Unterdrücken jedweder Spontaneität. Sie arbeitete mit Regeln, die nie artikuliert worden waren und die sich änderten, sobald man glaubte, sie begriffen zu haben. Vom ersten Tag in der ersten Klasse an war mir bewusst, dass ich dem, was ich dort vorfand, widerstehen musste. Wenn ich meine Klassenkameraden sah und sie ihr jodelndes »Guten Morgen, Missis Simpson« rufen hörte, fühlte ich mich wie unter Geistesgestörten, und die Lehrer, bösartig und dumm, waren ihre Wärter. Ich wusste, ich durfte ihnen nicht nachgeben. Ich durfte keine Fragen beantworten, auf die es offensichtlich keine Antwort gab oder die von den Wärtern nur zu ihrem eigenen Amüsement und als Zeitvertreib gestellt wurden. Ich durfte nicht akzeptieren, dass Dinge über meinen Verstand hinausgingen, nur weil sie es mir sagten; ich musste versuchen, diese Dinge zu verstehen. So kam es zu einem inneren Kampf, und es kostete mich Unmengen von Energie, die eigenen Gedanken intakt zu halten. Aber wenn ich diese Anstrengung nicht unternahm, würde ich ausgelöscht werden.
Bevor ich in die Schule kam, gab es eine Zeit, in der ich glücklich war, und ich möchte aufschreiben, an was aus dieser Zeit ich mich erinnere. Die Geschichte meiner Kindheit ist ein komplizierter Satz, den ich ständig zu beenden versuche – zu beenden und hinter mir zu lassen. Aber sie widersteht dem, und das liegt auch daran, dass Worte nicht ausreichen. Meine frühe Welt war synästhetisch, und ich werde von den Geistern meiner eigenen Sinneseindrücke verfolgt; sobald ich zu schreiben beginne, tauchen sie auf und erbeben zwischen den Zeilen.
Uns wird beigebracht, vorsichtig mit unseren frühen Erinnerungen umzugehen. Manchmal fälschen Psychologen Fotos, auf denen ihre Patienten in ihrer Kindheit in einem unbekannten Umfeld erscheinen, an Orten oder mit Menschen, die sie noch nie gesehen haben. Zunächst sind die Betreffenden erstaunt, doch dann schwenken sie im Maß ihres Wunsches zu gefallen ein und produzieren »Erinnerungen« zu Erlebnissen, die sie tatsächlich nie hatten. Ich weiß nicht, was das beweist, außer dass einige Psychologen überzeugende Persönlichkeiten sind, einige Patienten viel Fantasie haben und uns allen immer gesagt wird, wir sollen unseren Sinnen vertrauen – was wir tun: Wir trauen der sichtbaren Tatsache des Fotos, statt unserer subjektiven Verwirrung zu folgen. Es ist ein Trick, keine Wissenschaft, und hat mit unserer Gegenwart, nicht mit unserer Vergangenheit zu tun. Wenn meine frühen Erinnerungen auch bruchstückhaft sind, glaube ich doch nicht, dass sie, zumindest nicht vollständig, Konfabulationen sind, und das glaube ich aufgrund ihrer überwältigenden sinnlichen Kraft. Sie kommen komplett daher, nicht wie die tastenden, allgemeinen Formulierungen von Leuten, die mit einem Foto getäuscht wurden. Wenn ich sage: »Ich schmeckte«, dann schmecke ich es, und wenn ich sage: »Ich hörte«, dann höre ich es: Ich rede nicht von einem proustschen Moment, sondern von einem proustschen Super-8-Film. Jeder kann diese alten Filme in Gang setzen, er braucht nur etwas Vorbereitung und Übung. Vielleicht fällt es Schriftstellern leichter als anderen Menschen, sicher bin ich mir da nicht. Ich würde auch der Aussage nicht zustimmen, dass es unwichtig ist, woran man sich erinnert, sondern dass es nur darum geht, woran man sich zu erinnern glaubt. Es geht mir um Genauigkeit, ich würde niemals sagen: »Das ist nicht wichtig, das ist Geschichte.« Andererseits weiß ich, dass ein kleines Kind einen merkwürdigen Zeitsinn hat, der ein Jahr zu einem Jahrzehnt werden und alle, die älter als zehn sind, erwachsen und gleichen Alters erscheinen lässt. Obwohl ich also Gewissheit über die Ereignisse selbst verspüre, bin ich mir nicht so sicher, was Abfolgen und Datierungen angeht. Und ich weiß auch, dass sich die Erinnerung einer Familie zu verzerren beginnt, wenn sie sich zum Verschweigen von etwas entschließt, da ihre Mitglieder die entstehende Lücke konfabulierend schließen: Du musst immer einen gewissen Sinn und eine Schlüssigkeit in dem erkennen, was um dich herum vorgeht, und so stoppelst du, so gut es geht, eine entsprechende Geschichte zusammen. Fügst etwas hinzu, redest darüber, und die Verzerrungen produzieren weitere Verzerrungen.