Mit dem so genannten „Bologna-Prozess“ galt es neu auszutarieren, welches Wissen Studierende der Sozialen Arbeit benötigen, um trotz erheblich verkürzter Ausbildungszeiten auch weiterhin „berufliche Handlungsfähigkeit“ zu erlangen. Die Ergebnisse dieses nicht ganz schmerzfreien Abstimmungs- und Anpassungsprozesses lassen sich heute allerorten in volumigen Handbüchern nachlesen, in denen die neu entwickelten Module detailliert nach Lernzielen, Lehrinhalten, Lehrmethoden und Prüfungsformen beschrieben sind. Eine diskursive Selbstvergewisserung dieses Ausmaßes und dieser Präzision hat es vor Bologna allenfalls im Ausnahmefall gegeben.
Für Studierende bedeutet die Beschränkung der akademischen Grundausbildung auf sechs Semester, eine annähernd gleich große Stofffülle in deutlich verringerter Lernzeit bewältigen zu müssen. Die Erwartungen an das selbständige Lernen und Vertiefen des Stoffs in den eigenen vier Wänden sind deshalb deutlich gestiegen. Bologna hat das eigene Arbeitszimmer als Lernort gewissermaßen rekultiviert.
Die Idee zu der Reihe, in der das vorliegende Buch erscheint, ist vor dem Hintergrund dieser bildungspolitisch veränderten Rahmenbedingungen entstanden. Die nach und nach erscheinenden Bände sollen in kompakter Form nicht nur unabdingbares Grundwissen für das Studium der Sozialen Arbeit bereitstellen, sondern sich durch ihre Leserfreundlichkeit auch für das Selbststudium Studierender besonders eignen. Die Autor/innen der Reihe verpflichten sich diesem Ziel auf unterschiedliche Weise: durch die lernzielorientierte Begründung der ausgewählten Inhalte, durch die Begrenzung der Stoffmenge auf ein überschaubares Volumen, durch die Verständlichkeit ihrer Sprache, durch Anschaulichkeit und gezielte Theorie-Praxis-Verknüpfungen, nicht zuletzt aber auch durch lese(r) freundliche Gestaltungselemente wie Schaubilder, Unterlegungen und andere Elemente.
Als Herausgeber der Reihe möchte ich Sie als lernende und lehrende Leser/-innen ausdrücklich zur Meinungsäußerung ermuntern: Gibt es Anregungen, die wir bei der Vorbereitung weiterer Bände berücksichtigen sollten? Waren die Ausführungen gut verständlich? Haben Sie das Buch mit Freude und Gewinn gelesen? Gemeinsam mit den Autor/innen der Bände antworte ich Ihnen gerne (Rudolf.Bieker@netcologne.de).
Prof. Dr. Rudolf Bieker, Köln
Das deutsche Sozialwesen ist eines der finanziell bestausgestatteten der Welt; gleichzeitig hat es es einen komplizierten Aufbau: Verschiedene soziale Systeme greifen je nach rechtlichen Voraussetzungen. Dies ist durch die Entstehungsgeschichte des deutschen Sozialstaates in Verbindung mit herrschenden gesellschaftlichen Normen und den entsprechenden politischen Direktiven begründet und spiegelt sich in den jeweils gewählten Formen der Organisation, der Trägerschaft, der Leistungsgewährung sowie in der Art der Finanzierung wider.
Die soziale Arbeit befasst sich mit einzelnen Personen und Gruppen in ihren jeweiligen spezifischen sozialen Lagen bzw. Problemsituationen, sie ist somit an sozialpolitischen Handlungsfeldern orientiert: Jugend, Bildung, Gesundheit, Alter, Pflege, Armut etc. Aus dieser Aufgabenstellung der sozialen Arbeit heraus stellt sich in erster Linie die Frage danach, welche unterschiedlichen Systeme des Sozialwesens in einem bestimmten sozialpolitischen Handlungsfeld zum Tragen kommen: Welches Sozialversicherungssystem greift unter welchen Voraussetzungen z. B. bei Pflegebedürftigkeit, unter welchen Voraussetzungen kommen Fürsorgeleistungen zum Tragen und welche Aufgaben kommen in diesem sozialpolitischen Handlungsfeld der kommunalen Planung zu?
Das Konzept dieses Lehrbuchs zur Sozialpolitik nimmt den Blickwinkel der Sozialen Arbeit, sich an den sozialpolitischen Handlungsfeldern zu orientieren, auf. Dieser Aufbau hat den weiteren Vorteil, dass die einzelnen Kapitel in sich geschlossen sind und die Leserin/der Leser zu jedem sozialpolitischen Handlungsfeld einen zusammenhängenden Überblick erhält. Wichtige Voraussetzung bei dieser handlungsfeldorientierten Vorgehensweise sind Grundlagenkenntnisse über die Prinzipien sowie die generelle Ausgestaltung der Sozialsysteme in Deutschland, auch im Vergleich mit anderen europäischen Staaten.
Zu Beginn dieses Lehrbuches wird in den Kapiteln 1 bis 3 ein sozialpolitischer Überblick über Ziel und Zweck sozialpolitischen Handelns auch vor dem Hintergrund unterschiedlicher Gesellschaftsmodelle, über die Entstehungsgeschichte sowie über die grundlegenden Prinzipien des deutschen Sozialstaates gegeben. Die Kapitel 1 bis 3 bilden damit die Grundlage für die Bearbeitung der einzelnen sozialpolitischen Handlungsfelder.
Die Sozialpolitik auf der Ebene der Europäischen Union nimmt einen immer wichtiger werdenden Stellenwert ein und die hier getroffenen sozialpolitischen Entscheidungen wirken auf die nationalen Sozialpolitiken. Wichtige Institutionen und Wegmarken der Sozialpolitik in der europäischen Union werden deshalb in Kapitel 4 im Überblick beleuchtet, bevor die Kapitel 5 bis 13 die einzelnen sozialpolitischen Handlungsfelder behandeln.
Diese orientieren sich in ihrer Reihenfolge an Lebensphasen und beginnen mit der Sozialpolitik für Familien, Kinder und Jugendliche (Kapitel 5). Für den größten Teil der Bevölkerung ist Arbeit der entscheidende Faktor zur Existenzsicherung. Diesem Thema sind zwei Kapitel gewidmet, die sich mit den sozialen Rechten und der Sicherung im Berufsalltag (Kapitel 6) sowie mit der Sicherung bei Arbeitslosigkeit (Kapitel 7) befassen. Dem Handlungsfeld Gesundheit, das altersunabhängig alle Teile der Bevölkerung betrifft (Kapitel 8) folgen die Felder Alterssicherung (Kapitel 9) und Pflegebedürftigkeit (Kapitel 10), die insbesondere für die älteren bzw. hochaltrigen Bevölkerungsteile relevant sind. Hierauf folgt das Querschnittsthema Behinderung (Kapitel 11), das im deutschen Recht alle Sozialleistungsträger berührt.
Als Sonderform des Sozialsystems wird die soziale Sicherung für Kriegsopfer (Kapitel 12) dargestellt. Die Soziale Mindestsicherung (Kapitel 13) stellt das unterste Sicherungsnetz des deutschen Sozialstaates dar und wird daher als letztes Handlungsfeld thematisiert.
Dieses Buch abschließend werden in Kapitel 14 einige zentrale Aspekte zu den derzeitigen und zukünftigen Herausforderungen im Rahmen der Sozialpolitik betrachtet.
Da die einzelnen Kapitel zu den sozialpolitischen Handlungsfeldern in sich geschlossen sind, muss dieses Buch nicht der Reihe nach „von vorne bis hinten“ durchgearbeitet werden. Allerdings empfiehlt sich, die vorderen Kapitel (1 bis 4) voranzustellen, da hier Grundlagenwissen vermittelt wird, das dem Verständnis der Erläuterungen zu den einzelnen Handlungsfeldern dient.
Dieses Buch enthält zahlreiche grundlegende Erklärungen zu Begriffen und vertiefende Darlegungen zu politischen Debatten, die durch grau hinterlegte Kästen gekennzeichnet sind. Zudem werden themenspezifisch aktuelle Daten in Abbildungen und Tabellen aufbereitet. Zum leichteren Auffinden der insgesamt 63 Erläuterungskästen, 21 Abbildungen und 4 Tabellen finden sich im Anhang entsprechende Verzeichnisse.
Die nicht immer einfache Aufgabe einer geschlechtsneutralen Sprache wurde in diesem Buch pragmatisch zugunsten der Lesbarkeit ohne eine durchgängige Form gelöst.
Heike Engel
Dieses einführende Kapitel zur Sozialpolitik wird sich mit verschiedenen Fragen zur Begründung von Sozialpolitik und den Formen ihrer Ausgestaltung beschäftigten. Somit werden hier die Grundlagen vermittelt, um zu verstehen, warum Sozialpolitik in einer bestimmten Weise ausgestaltet wird und welche Rolle hierbei der gesellschaftliche Hintergrund und die gesellschaftlichen Leitideen spielen. Diese Überlegungen ermöglichen es auch, ein Verständnis für die länderspezifischen Besonderheiten in der Ausgestaltung von Sozialpolitik zu entwickeln.
Zunächst kann festgehalten werden, dass Sozialpolitik in allen Gesellschaften notwendig war und ist, woraus sich je nach Gerechtigkeitsvorstellungen einer Gesellschaft Ziele der Sozialpolitik ableiten lassen.
Sozialpolitische Maßnahmen sind notwendig, weil es erstens in jeder Gesellschaft Personen gibt, die nicht oder nur zum Teil aus eigener Kraft für ihre Existenz sorgen können und auf die Hilfe Dritter angewiesen sind. Zweitens ergibt sich die Notwendigkeit aufgrund sozialer Ungleichheit in einer Gesellschaft, die einen verteilungsbedingten Bedarf an sozialpolitischen Maßnahmen auslöst (vgl. zu den folgenden Ausführungen Widmaier 1976).
Die fehlende Möglichkeit, seine Existenz vollständig aus eigener Kraft zu sichern, kann unterschiedliche Gründe haben. Hieraus entstehen Bedarfslagen, die unabhängig von der Gesellschaftsform bestehen:
Auch wirtschaftliche Veränderungen erzeugen einen entwicklungsbedingten Bedarf. Denn solche Entwicklungen haben Arbeitslosigkeit, berufliche Fehlqualifikation und damit verbunden die Notwendigkeit beruflicher, sozialer und/oder regionaler Mobilität zur Folge, die möglichst nur vorübergehend der Unterstützung und damit sozialpolitischer Maßnahmen der Gesellschaft bedürfen. Besonders kritisch sind solche Entwicklungen, wenn ganze Regionen betroffen sind, wie z.B. bei der Stilllegung von Werften in Bremen und Mecklenburg-Vorpommern, bei der Beendigung des Kohleabbaus im Ruhrgebiet und im Saarland oder bei der Umstrukturierung der Montanindustrie im Ruhrgebiet.
Soziale Ungleichheit ist ebenfalls ein Thema, das alle Gesellschaften – wenn auch in unterschiedlicher Weise – betrifft, woraus ein verteilungsbedingter Bedarf für sozialpolitische Maßnahmen entsteht. Die soziale Ungleichheit drückt sich erstens aus in unterschiedlich guten Zugangsmöglichkeiten zu bestimmten (insbesondere höheren Entscheidungs-)Positionen und zweitens in den Verfügungsmöglichkeiten über wirtschaftliche Güter. Der Sozialpolitik kommt hier die Aufgabe zu, Sorge für eine gesellschaftlich akzeptierte Verteilung zu tragen und ggf. die Folgen einer bestimmten Verteilung zu mildern. Ersteres kann beispielsweise dadurch erreicht werden, dass die Zugangsmöglichkeiten zur Bildung als eine Grundvoraussetzung für spätere Chancen für alle in gleichen Maßen zugänglich gestaltet wird. Die Folgen einer bestimmten Verteilung werden beispielsweise dadurch sozialpolitisch abgemildert, dass es eine staatliche Leistung zur Existenzsicherung gibt.
Exkurs: „Geweckter“ Bedarf
Ein weiterer Bedarf betrifft insbesondere die industrialisierten und sozialpolitisch entwickelten Systeme und wird hier weniger für die Herleitung der Notwendigkeit von Sozialpolitik erläutert, sondern vielmehr, weil er uns bei der Diskussion um die konkrete Ausgestaltung der einzelnen Handlungsfelder begleiten wird: der geweckte Bedarf.
Ein Bedarf an sozialpolitischen Leistungen kann „geweckt“ oder erzeugt werden, weil die Leistungen in den unterschiedlichen sozialpolitischen Handlungsfeldern unter besonderen Voraussetzungen erbracht werden. Eine wichtige Besonderheit ist, dass die Person, die eine Leistung erhält (Leistungsempfänger), sie nicht direkt zahlt. Dies tun die sogenannten Leistungsträger, also z.B. die Sozialversicherungen oder die Sozialhilfeträger. Die Erbringer von sozialen Leistungen (z.B. Ärzte/innen, Krankenhäuser, Pflegedienste, Pflegeheime, Wohnheime für behinderte Personen usw.) haben das natürliche Bestreben, ihre Leistungen möglichst umfangreich zu erbringen. Und schließlich ist es für die Leistungsempfänger sehr schwierig zu beurteilen, Leistungen welcher Art und in welchem Umfang wirklich notwendig sind und ob die Qualität einer Leistung gut ist. Dieses Phänomen wird asymmetrische Information genannt und besteht auch in anderen Dienstleistungsbereichen, wie z.B. bei Banken oder privaten Versicherungen.
Das Zusammenwirken der beschriebenen Besonderheiten führt dazu, dass quantitativ mehr oder teurere Leistungen erbracht werden und finanziert werden müssen, als notwendig sind. Ein besonders einleuchtendes Beispiel hierfür ist der medizinische Bereich, in dem z.B. Ärztinnen und Ärzte die Nachfrage nach Arztbesuchen selbst erhöhen können, indem sie ihre Patient/innen häufiger wieder einbestellen als notwendig. Um diesen Mechanismus zu durchbrechen, werden die Leistungen von Ärzten/innen durch entsprechende gesetzliche Regelungen begrenzt (s. hierzu ausführlich Abschnitt 8.3).
Diese Ausweitung der Sozialleistungen ist neben unzureichender Steuerung und Organisation von Leistungen ein Grund für die verhältnismäßig hohen Kosten des deutschen Sozialsystems. Das „Maß des Notwendigen“ ist dabei ein Dreh- und Angelpunkt sozialpolitischer Debatten. Welche Leistungen sollen welcher Personengruppe mit welchen Bedarfslagen in welchem Umfang zur Verfügung gestellt werden? Die Beantwortung dieser Frage wird uns in den folgenden Kapiteln begleiten.
Welches Maß an Ungleichheit von einer Gesellschaft als gerecht akzeptiert wird, kann sich durchaus unterscheiden. Nimmt man die Einkommensverteilung in einem Land als einen möglichen Indikator zur Messung von Ungleichheit, so werden allein in Europa unterschiedliche Traditionen sichtbar: die nordischen Länder und hier insbesondere Dänemark oder Schweden legen offenbar größeren Wert auf eine geringe Einkommensungleichheit als die südlichen Mitgliedstaaten, allen voran Portugal mit einer sehr ungleichen Einkommensverteilung (vgl. European Commission 2008).
Die Auseinandersetzung mit dem Umgang der oben erläuterten Bedarfe und die Lösungen, die gefunden werden, finden ihren Ausdruck in den Zielsetzungen von Sozialpolitik. Diese hängen von den jeweils vorherrschenden gesellschaftlichen und politischen Systemen, dem vorherrschenden Menschenbild, den damit verbundenen normativen Setzungen sowie von der wirtschaftlichen Situation der jeweiligen Gesellschaft ab. Die Durchsetzung sozialpolitischer Maßnahmen hängt also erstens davon ab, was eine Gesellschaft durchsetzen will, und zweitens davon, was sie mit den ihr zur Verfügung stehenden finanziellen Mitteln durchsetzen kann.
Grundlegende Zielsetzungen von freiheitlichen demokratischen Sozialstaaten, die als Auftrag an die Sozialpolitik formuliert werden können, sind: Die Milderung oder Abwendung der Folgen Existenz gefährdender Risiken sowie die Durchsetzung sozialer Gerechtigkeit (s.o.).
Während die Milderung oder Abwendung der Folgen Existenz gefährdender Risiken als grundlegendes Ziel sozialpolitischer Maßnahmen – unabhängig vom jeweils zugestandenen Niveau – recht einleuchtend erscheint, wird über die Frage der sozialen Gerechtigkeit trefflich gestritten. Aus diesem Grund erscheint es angebracht, einige Überlegungen zu diesem Thema anzustellen.
Die Diskussion um soziale Gerechtigkeit dreht sich letztendlich immer um die Frage, wie in einer Gesellschaft Güter und Lasten verteilt werden. Der abstrakte Begriff Güter steht dabei für die „Habenseite“ und meint Besitz sowie die Möglichkeiten, sich Waren und Dienstleistungen zu beschaffen oder bestimmte Positionen zu besetzten. Der Begriff Lasten steht für die „Sollseite“ und meint insbesondere das Bezahlen von allgemeinen öffentlichen Leistungen (Schulen, Universitäten, Infrastruktur etc.) durch Steuern oder von Sozialleistungen durch Steuern oder Sozialabgaben.
Vor allem in demokratisch verfassten Gemeinwesen, in denen allen Bürgerinnen und Bürgern formal die gleichen Rechte zugesprochen werden, erfordert die Gerechtigkeit, dass die Verteilung von Gütern und Lasten durch eine unparteiische Anwendung allgemeiner Regeln so zu lösen ist, dass niemand strukturell benachteiligt wird (vgl. Liebig/May 2009).
Man kann sich leicht vorstellen, dass diese zunächst recht plausible Forderung in der praktischen Umsetzung je nach politischer Ausrichtung und persönlicher Stellung zu recht unterschiedlichen Lösungen führen wird, wie bspw. die Debatte um gerechtere Bildungschancen in Hamburg eindrucksvoll gezeigt hat.
Bildungsstreit in Hamburg
Im Jahr 2009 hat die schwarz-grüne Koalition in Hamburg eine Schulreform auf den Weg gebracht, die die Einführung einer Primarschule vorsah, in der die Kinder sechs Jahre anstatt bisher vier Jahre gemeinsam lernen. Hintergrund ist die Erkenntnis, dass aus fachlicher Sicht durch ein längeres gemeinsames Lernen die bis heute in Deutschland sehr stark ausgeprägte Abhängigkeit der Bildungschancen von der familiären Herkunft abgemildert werden kann (vgl. bspw. Rösner 2008; Jungmann 2008).
Darauf hin entbrannte in Hamburg ein Bildungsstreit, bei dem sich Teile der Elternschaft insbesondere höherer Einkommensschichten gegen die Schulreform wandten. Die Ablehnung der Reform ist sicherlich auf unterschiedliche Motivationen zurückzuführen. Eine war aber auch, dass die Kinder aus Familien mit höherer Bildung im bisherigen Schulsystem gute Chancen auf eine gute Bildung und damit im späteren Leben auf höhere Positionen und höhere Einkommen haben.
Die Initiative gegen die Reform ging von einem Rechtsanwalt aus, der vor allem ähnlich gut gestellte Eltern aus konservativen sowie aus FDP-Kreisen gewinnen konnte. Am 18. Juli 2010 wurde die Schulreform in Hamburg durch Volksentscheid abgelehnt.
Damit zeigt sich, dass die Wertigkeit von sozialer Ungleichheit unterschiedlich interpretiert wird und sich auch in demokratisch verfassten Gesellschaften größere Ungleichheit erzeugende Systeme durchsetzen können.
Was ist nun aber gerecht? Und: Meint Gerechtigkeit Gleichheit oder kann Ungleichheit durchaus gerecht sein? Im Folgenden soll die Frage beantwortet werden, welche Gerechtigkeitsprinzipien angewendet werden. Erstens bezogen auf den Zeitpunkt eines Verlaufs (bspw. einer beruflichen Karriere); zu unterscheiden sind die Startphase (Zugangsmöglichkeiten zu Bildung/Ausbildung), der Prozess (Zugangsmöglichkeiten zu Ämtern und Positionen) sowie das Ergebnis (berufliche Stellung und Einkommen). Zweitens bezogen auf die Vorstellungen von Gerechtigkeit, die sich, wie bereits angesprochen, zwischen Ländern mit unterschiedlichen Gesellschaftsmodellen unterscheiden.
Um die Antwort der oben gestellten Frage vorwegzunehmen: Gleichheit ist ein, aber nicht das einzige Gerechtigkeitsprinzip. So unterscheiden Becker und Hauser (2004) vier Prinzipien der sozialen Gerechtigkeit, von denen drei Ungleichheit zulassen.
Unschwer zu erkennen ist, dass alle genannten Gerechtigkeitsprinzipien durchaus ihre Berechtigung haben, in Gesellschaften nebeneinander bestehen und sich zum Teil bedingen.
Die Beurteilung, ob etwas gerecht ist, hängt von dem angewendeten Gerechtigkeitsprinzip (s. o.) sowie von der jeweiligen Situation ab, womit Möglichkeiten und Chancen, Verfahren und Prozesse sowie ein endgültiges Verteilungsergebnis gemeint sind.
Chancen- oder Startgerechtigkeit beschreibt die Möglichkeiten, die eine Person in einer Gesellschaft zur freien Entfaltung seiner Persönlichkeit erhält. Wird hier das Gleichheitsprinzip als Herstellung von Chancengleichheit interpretiert, so muss dem Bedarfprinzip gefolgt werden. Denn die Mitglieder einer Gesellschaft sind unterschiedlich mit Talenten, Behinderungen etc. ausgestattet, sodass Chancengleichheit durch dem jeweiligen Bedarf angepasste sozialpolitische Maßnahmen hergestellt wird. Insofern käme hier das Bedarfsprinzip zur Realisierung von Gleichheit zum Tragen.
Chancengerechtigkeit passt mit dem Anrechtsprinzip als Gerechtigkeitsprinzip aus heutiger Sicht zumindest formal nicht zusammen, denn dies würde bedeuten, dass Positionen qua Geburt erlangt werden. Ein – zumindest in Deutschland historisches – Beispiel hierfür ist das Anrecht auf den Königstitel. Das Leistungsprinzip ist bezogen auf die Chancengerechtigkeit dem Anrechtsprinzip recht nahe, weil auf die Leistungen der vorherigen Generation zurückgegriffen werden muss. Waren diese tüchtig oder hatten Glück, so hat die nachfolgende Generation eine entsprechend gute Ausgangssituation.
Prozessgerechtigkeit meint die Bedingungen bei den Verfahren zur Verteilung von Positionen und Gütern. Diese sollten allen offen stehen, transparent und von der Gesellschaft als fair akzeptiert sein. Beispiele für die Gestaltung von Verfahren sind die Beteiligung oder Nichtbeteiligung bestimmter Personengruppen in Entscheidungsprozesse sowie der Grad der Offenheit für bestimmte Personenkreise in politisch und/oder gesellschaftlich hoch stehende Positionen zu gelangen.
Ob Prozesse als fair und gerecht beurteilt werden, hängt ebenfalls vom gewählten Gerechtigkeitsprinzip ab, wobei hier die gleiche Argumentation greift wie bei der Chancengerechtigkeit. So gehören auch hier das Gleichheitsprinzip, sofern es als Herstellung gleicher Zugangsmöglichkeiten interpretiert wird, und das Bedarfsprinzip zusammen. Beide Prinzipien sorgen für gleiche Zugangsmöglichkeiten und haben ausgleichenden Charakter für gegebene Nachteile. Ein Beispiel hierfür sei das inzwischen auch in Deutschland gesetzlich verankerte Recht von behinderten Personen auf ungehinderten Zugang in öffentliche Gebäude, auf barrierefreie Kommunikation sowie darauf, auch beim Erlangen von Positionen in keiner Weise diskriminiert zu werden.
Das Anrechtsprinzip setzt dagegen auch im Prozess auf Vorteile durch bereits erworbene Ansprüche. Das Leistungsprinzip ist bezogen auf die gerechte Ausgestaltung von Prozessen nicht interpretierbar.
Die Ergebnisgerechtigkeit beschreibt die durch Start und Prozess bedingte endgültige Verteilung von Positionen, Einkommen und Gütern.
Nach dem Gleichheitsprinzip müsste die endgültige Verteilung von Gütern und Lasten gleich sein. Nach dem Bedarfsprinzip werden dagegen die Grundbedürfnisse in einem als gesellschaftlich angemessen angesehenen Maß gedeckt. Dieses Prinzip ist insofern schwächer als das der Gleichheit, weil hier eine Mindestversorgung vorgesehen ist, die aber darüber hinaus gehende Ungleichheit zulässt und dennoch als gerecht beurteilt wird. Nach dem Anrechtsprinzip wird ein Ergebnis, das durch Ansprüche und Anrechte erworben wurde und ungleich verteilt ist, als gerecht angesehen. Nach dem Leistungsprinzip wird eine ungleiche Verteilung als gerecht beurteilt, die durch Leistung erworben wurde.
In der Zusammenschau kann festgehalten werden, dass Verteilungen im Ergebnis durchaus ungleich sein können, ohne dass sie zwangsläufig als ungerecht beurteilt werden, sofern die Startbedingungen und die Verfahren, die zu einer bestimmten Verteilung geführt haben, als gerecht beurteilt werden. So gilt eine ungleiche Verteilung dann als gerecht, wenn die Möglichkeiten zur Erlangung von Positionen und Ämtern und damit verbunden auch von Einkommen und Einfluss für alle gleich sind. Diese Bedingung bedarf eines politischen und rechtlichen Rahmens, der dafür sorgt, dass übermäßige Konzentrationen von Eigentum und Vermögen verhindert werden, die ggf. zu politischer Vorherrschaft führen werden. Hierdurch würde nämlich die Bedingung fairer Chancengleichheit verletzt. Zudem muss eine Gesellschaft insbesondere „gleiche Bildungschancen für alle durchsetzen, einerlei, wie hoch das Einkommen der jeweiligen Familie ist“ (Rawls 2006, 80).
Dass diese theoretischen Überlegungen in der Realität durchaus anders gesehen werden können, zeigt der beispielhaft geschilderte Hamburger Bildungsstreit eindrucksvoll (s. Kasten 2).
Die bevorzugte Wahl eines der vier Gerechtigkeitsprinzipien kann schließlich auch als Folge gesellschaftlicher Zusammenhänge erklärt werden (vgl. auch Liebig/May 2009, 5ff.):
Diese Einordnungen geben lediglich einen ersten Hinweis auf die Präferenz möglicher Gerechtigkeitsprinzipien, sie können aber im Ansatz erklären, vor welchem gesellschaftlichen Hintergrund Sozialstaaten mit welcher konkreten Ausgestaltung in welchen Handlungsfeldern entwickelt wurden.
In den beiden vorangegangenen Abschnitten wurden die Notwendigkeit von Sozialpolitik sowie Theorien und verschiedene Prinzipien zur Durchsetzung von Gerechtigkeit diskutiert. Diese beiden Aspekte definieren im Zusammenspiel die Handlungsfelder von Sozialpolitik. Und dies sowohl in qualitativer Hinsicht: Welche Handlungsfelder gehören zur Sozialpolitik? Als auch in quantitativer Hinsicht: In welchem Umfang sollen sozialpolitische Maßnahmen erbracht werden?
In qualitativer Hinsicht gehören zum engeren Kreis sozialpolitischer Handlungsfelder:
Neben diesen, auf den Schutz vor existenzieller Gefährdung sowie auf Familien ausgerichteten sozialpolitischen Handlungsfeldern kann Sozialpolitik auch weiter gefasst werden. Nämlich als eine auf die Verwirklichung von Freiheit und Gerechtigkeit gerichtete Gesellschaftspolitik. Nach diesem Verständnis kommen noch einige sozialpolitische Handlungsfelder hinzu:
So sieht bspw. Christoph Butterwegge (2006) für Deutschland insbesondere in diesen Bereichen einen erheblichen sozialpolitischen Handlungsbedarf, um soziale Ausgrenzung verhindern oder zumindest deutlich eindämmen und die Chancengleichheit verbessern zu können.
Die folgenden weiteren sozialpolitischen Handlungsfelder sind im Rahmen der Sozialpolitik eher als indirekte Handlungsfelder zu verstehen. Diese sind:
Bleibt die quantitative Frage danach, welche sozialpolitischen Maßnahmen vorrangig in welchen Handlungsfeldern und in welchem jeweiligen Umfang erbracht werden sollen. In der politischen Debatte gehen die Meinungen darüber deutlich auseinander. Beispielhaft sei hier auf Hans-Werner Sinn (2005) verwiesen, aus dessen Sicht das Leistungsprinzip deutlich gestärkt werden muss. Gesetzt wird dabei auf die Eigeninitiative der Bürgerinnen und Bürger, die durch ein übermäßiges Angebot an Sozialleistungen gelähmt wird. Diesen neo-liberalen Ideen zur Reform des Sozialstaates setzt beispielsweise Christoph Butterwegge (2006) eine Ausweitung der sozialpolitischen Aufgaben insbesondere zur Herstellung von Chancengerechtigkeit entgegen.
Gut zu wissen – Gut zu merken |
In diesem Kapitel wurde gezeigt, warum Sozialpolitik in allen Gesellschaftsformen notwendig ist und welche Ziele mit Sozialpolitik verfolgt werden. Hierauf aufbauend wurde der Frage nach sozialer Gerechtigkeit nachgegangen, wobei diese in einen gesellschaftspolitischen Kontext gesetzt wurde. Schließlich wurden die Handlungsfelder von Sozialpolitik definiert.
Literaturempfehlungen |
Dobner, P. (2007): Neue soziale Frage und Sozialpolitik. 1. Auflage. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
Bäcker, G. et al. (2007): Sozialpolitik und soziale Lage in Deutschland. Band 1: Grundlagen, Arbeit, Einkommen und Finanzierung. 4. Auflage. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
Dieses Kapitel zeichnet die Geschichte der Sozialpolitik seit seinen Anfängen Ende des 19. Jahrhunderts nach, wobei ein Überblick über die Entwicklungslinien sowie über wichtige Einschnitte und Veränderungen gegeben wird.
Die soziale Absicherung gegen krankheits-, unfall- oder altersbedingte Existenzrisiken funktionierte in den feudalen und ständisch geprägten Gesellschaften über die familiäre Unterstützung, durch die kommunale und kirchliche Armenfürsorge sowie durch ständische Sicherungseinrichtungen der Zünfte und Gilden. In Deutschland wurden durch die preußische Gesetzgebung Freiheitsrechte durchgesetzt: Die Bauernbefreiung wurde ab 1807 eingeleitet und war 1850 abgeschlossen, 1810 wurde die Gewerbefreiheit eingeführt und bereits 1839 wurden in Preußen erste Arbeiterschutzgesetze erlassen, die insbesondere auf die Kinderarbeit abstellten. Hintergrund waren allerdings weniger soziale Überlegungen als vielmehr die zunehmende Militärdienstuntauglichkeit junger Erwachsener aufgrund harter Kinderarbeit bereits von sehr jungen Jahren an.
1842 erhielten preußische Staatsbürger eine nahezu uneingeschränkte Niederlassungsfreiheit. Diese persönlichen Freiheiten führten in der Anfangszeit der Industrialisierung jedoch nicht zu materieller Freiheit:
„Er [der Arbeiter] besaß alle nur erdenklichen Freiheiten, einschließlich derjenigen, zu hungern und zu verhungern, wenn er seine Arbeitskraft am Arbeitsmarkt nicht oder nur zu unzureichenden Preisen absetzen konnte, oder wenn ihm seine Arbeitskraft infolge von Alter oder Krankheit verloren ging“ (Weddingen 1957, 14).
Die Lage der neu entstandenen Arbeiterschaft war in dieser Zeit katastrophal, und zwar in jeder Hinsicht: Die Arbeitszeiten (über 60 Stunden/Woche) erlaubten keine Zeit zur Regenerierung, die Arbeitsbedingungen waren in hohem Maß gesundheitsschädlich, das Arbeitsentgelt reichte nicht aus, um eine Familie mit oftmals zahlreichen Kindern zu versorgen, Kinderarbeit war an der Tagesordnung, die Wohnsituation um die Industrieanlagen herum war ebenfalls nahezu unbeschreiblich schlecht.
Das unter anderem durch den Wegfall von Freiheitsbeschränkungen (Niederlassung, Freiheit zu heiraten) ausgelöste Bevölkerungswachstum in eben dieser Arbeiterschicht, die beinahe vollständig aus den ehemals Unfreien rekrutiert wurde, führte in Verbindung mit der oben beschriebenen Lage der Arbeiterschicht zu einer Massenverelendung (Pauperismus). Gleichzeitig erstarkte das Bürgertum, das über das Kapital und die Produktionsmittel verfügte. Die Massenverelendung in Verbindung mit dieser extremen Ungleichheit führte zu sozialen Konfliktpotenzialen, die zunehmend eine Gefahr für die bestehende gesellschaftliche und wirtschaftliche Ordnung wurde (vgl. Pilz 2002, 21ff.).
Die mögliche Sprengkraft dieser Ungleichheit wird im „Manifest der Kommunistischen Partei“ von Friedrich Engels und Karl Marx, das bereits 1848 in London erschien, deutlich. Hiernach ist die Befreiung des Proletariats von Unterdrückung und Verelendung nur durch eine die besitzende Klasse umstürzende Revolution möglich. Marx und Engels waren als Wissenschaftler einflussreiche Protagonisten des Sozialismus und erhielten von Seiten des Proletariats viel Zuspruch. Die Angst vor Unruhen, aber auch die erwachende Anerkennung der unzumutbaren Zustände erforderten politische Lösungen.
Reaktionen auf die sozialen Bedingungen und Lösungsansätze auf die drängenden Probleme kamen dabei aus unterschiedlichen Ebenen und Richtungen.
Die sozialpolitische Entwicklung wurde dabei maßgeblich durch die Arbeiterbewegungen vorangetrieben. Diese waren aber keineswegs homogen, sondern es gab eine Reihe von Strömungen, wie die sozialistische Arbeiterbewegung, die christlich soziale sowie die liberal soziale Bewegung. Die Arbeiterbewegungen hatten dabei zwei Zielrichtungen (vgl. Lampert/Althammer 2007, 63):
Sozialistengesetz
Das Gesetz zur Abwehr der gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie wurde am 19. Oktober 1878 im Reichstag des Deutschen Kaiserreichs verabschiedet.
Es handelt sich um ein Ausnahmegesetz und enthielt zahlreiche Verbote, wie z.B. das Verbot sozialdemokratischer Zusammenschlüsse, ein Verbot der sozialistischen Gewerkschaften, des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins und der Internationalen Gewerkschaften und gab die Möglichkeit zum Verbot von sozialistischen Zeitungen und Zeitschriften (vgl. Gabler Wirtschaftlexikon, 2010; http://wirtschaftslexikon.gabler.de/Archiv/55830/ sozialistengesetz-v4.html).
Das Sozialistengesetz muss im Zusammenhang mit der bald darauf erfolgten Einführung der Sozialversicherung gesehen werden. Hierdurch sollte der sozialistischen Bewegung neben den benannten Verboten auch die materielle Basis entzogen werden.
Die beschriebenen Reaktionen seitens der Arbeiterschaft auf ihre soziale Lage lösten politische Debatten zum Umgang damit aus, an denen sich insbesondere Sozialreformer, Politiker, Kirchenvertreter sowie Unternehmer beteiligten. Dabei wurden aus den verschiedenen politischen und gesellschaftlichen Lagern entsprechend den jeweiligen Werteorientierungen verschiedene Lösungsansätze bevorzugt (vgl. Pilz 2004, 23f.):
In liberalen Kreisen herrschte das Idealbild einer klassenlosen, mittelständischen Gesellschaft vor, bei dem das Proletariat durch Bildung, Selbsthilfeorganisationen, Sparkassen und Unterstützungskassen integriert werden sollte. Ziel war der allgemeine Wohlstand durch marktwirtschaftliche Entfaltung. Diese Ideen hatten in der damaligen Realität mit den Klassenkonflikten utopischen Charakter. Neben diesen innovativen Ideen missbilligte diese Gruppe die Entstehung autonomer Arbeiterorganisationen, weil sie dadurch die Behinderung der wirtschaftlichen Prosperität fürchteten.
In konservativen Kreisen wurde zunächst eine Rückkehr zur ständischen Feudalordnung in Verbindung mit einer Reaktivierung der Kirchen als soziale Unterstützungseinrichtung angestrebt. Diese Überlegungen wurden insbesondere durch den dem konservativen Lager zuzurechenden Nationalökonom Lorenz von Stein überformt, der – ebenfalls aufgrund der Befürchtung vor zunehmenden Konflikten – eine der ersten Sozialstaatstheorien entwickelte. Hiernach sollte eine überparteiliche Instanz (von ihm als Königtum gedacht) neben eigenständigen Selbstverwaltungskörperschaften die Befugnis erhalten, soziale Leistungen zu gewähren. Diese Überlegungen waren schließlich der Grundstein für die in den 1880er Jahren eingeführten Zweige der Sozialversicherung.
Die Entwicklung der Sozialpolitik und der Sozialgesetzgebung wird anhand der vier politischen Epochen – in der Zeit Bismarcks bis 1890, Wilhelms II., der Weimarer Republik und der Nationalsozialisten – erläutert.
Am 17. November 1881 verlas Bismarck die sogenannte „Kaiserliche Botschaft“ von Kaiser Wilhelm I., in der die Einführung einer Sozialversicherungsgesetzgebung angekündigt wurde, die auf die Arbeiter ausgerichtet war. Hintergrund war insbesondere die Furcht, dass die sozialistischen und sozialdemokratischen Bewegungen nicht ausschließlich durch Repressalien (Sozialistengesetze) gebremst werden konnten. Ein weiterer Faktor war die wachsende Einsicht in die Notwendigkeit, die prekäre soziale Situation der Arbeiter zu entschärfen. Eingeführt wurden:
Die Mitgliedschaft in diesen Sozialversicherungen war verpflichtend. Sie wurden vollständig oder weit überwiegend durch Beiträge finanziert: die Krankenversicherung zu einem Drittel durch Arbeitgeberbeiträge und zu zwei Dritteln durch Arbeitnehmerbeiträge, die Unfallversicherung vollständig durch Arbeitgeberbeiträge und die Alters- und Invalidenversicherung zu gleichen Anteilen von Arbeitnehmern und Arbeitgebern.
Ein weiteres Charakteristikum stellt die Selbstverwaltung dar, die ebenfalls auch heute noch prägend ist. So wurden für die eingeführten Sozialversicherungszweige Körperschaften des öffentlichen Rechts mit Befugnis zur Selbstverwaltung geschaffen.
Körperschaften öffentlichen Rechts mit Selbstverwaltung
Körperschaften öffentlichen Rechts sind gesonderte Verwaltungsbehörden, die weder eine staatliche Einrichtung noch eine private Versicherung sind. Die Selbstverwaltung besagt, dass die Verwaltungsbehörde gemeinsam von Arbeitnehmern und Arbeitgebern verwaltet wird, ohne unmittelbaren staatlichen Zugriff.
Das Leistungsniveau war auf sehr niedrigem Stand: So war die Sicherung im Alter zu dieser Zeit nicht als Vollversicherung geplant, das heißt die Leistungen boten eine Unterstützung, mit der der Lebensunterhalt aber ohne weitere Unterstützung z. B. durch die Kinder nicht finanziert werden konnte. Eine Sicherung von Hinterbliebenen gab es zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Die Unfallversicherung war eine rein nachsorgende Versicherung mit recht geringen Entschädigungen für die Folgen eines Arbeitsunfalls.
Eine Sicherung auf niedrigem Niveau war explizit die Politik von Bismarck, der Sorge hatte, dass eine expansive Sozialpolitik mit weit reichenden Leistungen die Wirtschaft zu stark belasten und dadurch die wirtschaftliche Entwicklung schwächen würde.
Im Jahr 1888 wurde Wilhelm II. Kaiser des Deutschen Reiches. Sozialpolitisch wird das Jahr 1890 als Wendejahr beschrieben, weil in diesem Jahr Otto von Bismarck als prägende Gestalt der ersten sozialen Sicherungssysteme nach längeren Querelen mit Wilhelm II. entlassen wurde. Im gleichen Jahr hob Wilhelm II., der in der an Repressalien gekoppelten Sozialpolitik keine Lösung sah, die Sozialistengesetze auf. Sozialpolitischer Schwerpunkt war zunächst die Verbesserung des präventiven Arbeiterschutzes, der in den 1880er Jahren vernachlässigt worden war. Neben dem Ausbau des präventiven Gefahrenschutzes in den Betrieben und der Stärkung der Gewerbeaufsicht wurden mit der Novellierung der Gewerbeordnung im Jahr 1891 weitere Verbesserungen vor allem für bestimmte Arbeitnehmergruppen angestrebt. Hierzu gehörten insbesondere