Horror-Legionen II
Herausgegeben von Christian Sidjani
© 2015 Amrûn Verlag
Jürgen Eglseer, Traunstein
Lektorat & Korrekturen: Carmen Weinand, Torsten Exter
Umschlaggestaltung: Mark Freier
Alle Rechte vorbehalten
ISBN – 978-3-944729-70-1
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Willkommen im düstersten Bereich der Phantastik, dem Horror.
Bevor du dich in die Geschichten stürzt, möchte ich dich etwas fragen:
Was ist Horror für dich? Aus welchen Elementen muss eine Geschichte bestehen, damit sie für dich zum Genre gehört? Bedarf sie übersinnlicher Phänomene oder doch eher eines realen, menschlichen Grauens? Muss sie unheimlich oder mit viel Blut und anderen Körperflüssigkeiten angereichert sein? Historisch, aktuell oder futuristisch? Mit einer knallharten, modernen Sprache oder doch eher im traditionellen Schreibstil?
Damit du es gleich weißt: In diesem Buch findest du all diese Elemente und noch mehr.
Seit das Genre Horror als solches bezeichnet wird, wollte man es in eine Nische zwängen. Früher war es die Gruselgeschichte, erst die psychologische, dann die übersinnliche, heute sind es vor allem Metzeleien, Blut und Gedärme, die mit dem Genre in Verbindung gebracht werden. Doch es ist so viel mehr als das. Es gibt geheime Ecken und Winkel, wo die unterschiedlichsten Einflüsse aufeinandertreffen. Für die zweiten Horror-Legionen habe ich mich bemüht, diese zusammen zu führen.
Diese Anthologie hat kein anderes übergeordnetes Thema als den Horror selbst. Jede der hier enthaltenen achtzehn Geschichten spiegelt eine andere Facette davon wider. Manche Motive mögen sich ähneln, die Herangehensweise der Autoren ist immer eine andere. Die Horror-Legionen sind ein Almanach, der einen Überblick über den jetzigen Stand des Genres in Deutschland geben soll. Bei weitem sind nicht alle aktiven Horror-Autoren des Landes hier vertreten, das hätte den Rahmen mehr als gesprengt, doch das Buch präsentiert, wie ich finde, einen aktuellen Querschnitt.
Um die Erfahrung mit diesem Buch so abwechslungsreich wie möglich zu gestalten, habe ich eine bestimmte Reihenfolge festgelegt, wie bei einem Musikalbum. Du musst ihr nicht folgen, kannst von hinten nach vorne und dann in die Mitte springen. Doch ich glaube, die Geschichten entfalten erst im Zusammenspiel mit den anderen jene Wirkung, die die Horror-Legionen hervorrufen möchten.
Jede Geschichte in diesem Buch steht für sich selbst, doch erst im Ganzen ergibt sich das Genre, für das du und ich eine Leidenschaft teilen. Es mag sein, dass nicht jede Geschichte dir auf der Reise gefällt, aber du wirst feststellen, wie facettenreich Horror sein kann.
Jedenfalls wirst du deinen Spaß haben, das kann ich dir garantieren.
Um nicht noch weiter zu schwafeln, bleibt mir, mich bei allen beteiligten Autoren zu bedanken, dass sie dem Ruf der Legionen gefolgt sind. Mit Spannung habe ich eure Geschichten erwartet und mit Stolz darf ich nun für sie ein Vorwort verfassen. Und ich möchte Jürgen und dem Doc für ihr Vertrauen danken, die Horror-Legionen fortzusetzen.
Und jetzt auf, lieber Leser dieser Zeilen, danke, dass du mir zugehört hast. Stürze dich in die Horror-Legionen 2014 und erkunde die deutsche Landkarte des Grauens. Gute Reise.
Christian Sidjani
Hamburg, 13. September 2014
Das verfluchte Zimmer in Venedig
Erzählung von Tobias Bachmann und Markus K. Korb
Der Januar in Venedig war bislang ohne Schnee geblieben. Eine Eiseskälte hielt die Lagunenstadt in ihren frostigen Klauen. In dem vergeblichen Versuch sich zu wärmen, drängten sich die Tauben zitternd unter den steinernen Löwen auf der Piazza San Marco zusammen. Zwischen den Fassaden gespannte Wäscheleinen glichen silbernen Spinnfäden aus Eis. Gondolieri mit ihren langen schwarzen Mänteln glitten stumm wie riesige Krähen auf ihren Gondeln vorbei.
Marco lief mit hochgezogenen Schultern durch die Gassen, die Hände zu Fäusten geballt und tief in die Taschen gestopft, wo der Zettel lag. Der Frost kroch wie eine grausame Geliebte unter seinen Mantelstoff und tastete mit klammen Fingern nach seiner nackten Haut. Früher war er nie so verfroren gewesen. Eher unverfroren, wie er sich mit schiefem Grinsen eingestand.
An einer Haustür mit abblätternder Farbe stoppte er, nahm den handgeschriebenen Zettel aus der Manteltasche: »Calle Cassellaria Nr. 4«; Marco kontrollierte anhand des abblätternden Emailleschilds, dass er richtig war.
Es gab keine Klingel, nur einen altmodischen Klopfer in Form eines gusseisernen Löwen mit Ring im Maul. Marco nahm den Eisenring mit spitzen Fingern – erwartungsgemäß war er eiskalt – und klopfte drei Mal damit gegen das wurmstichige Türblatt.
Hohl hallten die Schläge. Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, ehe schlurfende Schritte hörbar wurden und sich die Tür einen Spalt breit öffnete.
Ein rotgeädertes Auge in einem faltigen Gesicht, das andere im Schatten der Tür verborgen. Eine rostige Stimme schnarrte: »Sie wünschen?«
»Ich bin wegen des Zimmers hier.«
Die Person hinter der Tür ließ Marco nicht ausreden, sondern fuhr ihn barsch an: »Verschwinden Sie! Ihr Reporter habt schon genug angerichtet!«
Schon drückte der alte Mann die Tür zu, aber Marco stellte geistesgegenwärtig den Fuß dazwischen.
»Ich bin kein Reporter«, verteidigte er sich. »Ich möchte die Wohnung mieten!«
Die Falten im Gesicht des Gegenübers veränderten ihre Position. Die Stimme verriet ein Lächeln: »Kommen Sie rein, kommen Sie rein!« Und die Tür wurde ganz geöffnet, begleitet von einem Knarren, als sie über den Steinboden gezerrt wurde. Offenbar hat sie sich durch die Kälte verzogen, mutmaßte Marco.
Vor ihm stand ein hochgewachsener Mann. Er musste weit über sechzig sein, hielt sich aber kerzengerade. Auf seinem länglichen Kopf wuchsen nur noch wenige weiße Haare kranzförmig um die haarlose Schädelplatte. Sein Körper unter dem mit braunen Schmutzflecken übersäten Bademantel schien dürr zu sein. Bei jeder Bewegung schwangen die Faltenwürfe zitternd um die dürren Beine. Während er Marco vorweg lief, plapperte der Mann wie ein Wasserfall.
»Soso, das Zimmer wollen Sie mieten. Das ist aber schön. Sehr schön ist das! Sie wissen, dass Sie einen hervorragenden Blick auf die Seufzerbrücke haben? Ja? Wenn die Abendsonne untergeht und durch die Glasscheiben des Brückenaufbaus hindurchscheint, sieht es aus, als würden die Fenster glühen – atemberaubend!«
Durch einen schmalen, nahezu lichtlosen Flur gelangten sie zu einer Holztreppe, die sich schneckenartig in die Höhe schraubte, an einer fast vollständig mit Fliegendreck und alter Farbe verschmierten Glühbirne vorbei, die an einem Stromkabel von der Decke hing und den Flur eher verdunkelte, denn erhellte.
»Ist etwas eng hier, aber was ist nicht eng hier in Venedig?«
Er lachte und wurde sofort von einem Hustenanfall geschüttelt, der nicht aufhörte, bis sie oben am Ende der Treppe angekommen waren.
Vor einer morsch wirkenden Tür wartete er auf Marco, der keuchend die letzten Stufen erklomm. »Das Zimmer ist möbliert. Sie werden also nicht viel mehr als Ihre persönlichen Habseligkeiten die Treppe nach oben tragen müssen.«
»Und das ist nicht viel. Doch zunächst würde ich gerne ...«
»... das Zimmer sehen. Natürlich«, unterbrach ihn der verschmitzt lächelnde Mann und kramte auch schon einen enorm bestückten Schlüsselring aus seinem Morgenmantel hervor. Mit zittrigen Klauenfingern nestelte er an den verschiedensten Schlüsseln herum, bis er ein Exemplar mit dicken Zähnen wählte und in das rostig knirschende Schlüsselloch einführte. Mit einem erlösenden »Knack« hüpfte die Tür regelrecht nach innen auf.
»Bitte, nach Ihnen«, sagte der Mann und ließ Marco den Vortritt. Neugierig schritt er an dem Alten vorbei und trat über die Schwelle. Der Dielenboden knarrte selbst dort, wo ein abgetretener Perserteppich ausgelegt war. Auf diesem stand ein ovaler Esstisch und bildete mit den darum stehenden Stühlen das Zentrum des Raumes. Die Möbel schienen antik zu sein. ›Biedermeier‹, schoss es Marco durch den Kopf. Ein wuchtiger Sekretär befand sich linkerseits und geradeaus wartete neben einer Kommode ein dunkelhölzernes Bett auf einen Schläfer. Darüber thronte ein großes Panoramafenster und gab den Ausblick auf die Seufzerbrücke frei. Marco ging dorthin und setzte sich auf die durchgelegene Matratze. Die Bettfedern quietschten. Sein Blick fiel auf den großen Kleiderschrank, der zwischen Fenster und Wand eingepfercht zu sein schien. Daneben die leere Wand neben der Tür, wo helle Quadrate von abgenommenen Bildern zeugten. In der Tür stand der Vermieter, seinen Blick stur auf Marco gerichtet.
»Wie sieht es mit Küche und Toilette aus?«, fragte Marco, der sich noch etwas unschlüssig war.
»Ihre Vormieterin hatte so eine elektronische Kochplatte«, sagte der Mann. »Sie können sich aber gerne auch bei mir etwas zubereiten. Meine Küche ist separat von meiner Wohnung zugänglich. Gegen einen Aufpreis überlasse ich Ihnen den Schlüssel. Toilette ist auf halber Höhe zwischen den Stockwerken im Treppenhaus.«
Marco nickte, blickte aus dem Fenster und wog die soeben genannte Einschränkung an Wohnkomfort gegen die famose Aussicht ab.
»Wissen Sie?«, redete der Mann weiter. »Es ist lange her, dass hier oben jemand eingezogen ist. Überlegen Sie sich die Sache also in Ruhe. Sehen Sie sich alles an. Ich bereite uns unten einen schönen Kaffee zu, und wenn Sie sich entschieden haben, kommen Sie zu mir nach unten und wir besprechen die Details.«
Noch ehe Marco etwas erwidern konnte, war der Mann verschwunden, als hätte ihn das gähnende Loch des Treppenhauses vor der Tür verschluckt. Marco rieb sich die Augen und blickte noch mal dorthin, nur um die Tür geschlossen vorzufinden. So einfach ließen sich derartige Dinge erklären, dachte er.
Marco stand auf und blickte sich weiter in dem Zimmer um. Er öffnete das Fenster neben dem Schrank und ließ frische Luft ein, deren Geruch ihn an das Nahen von Schnee denken ließ. Neben der Tür befand sich als Heizkörper ein Erdgasofen. Er hielt seine Hand daran. Der Ofen war kalt. Er öffnete die Klappe, drehte das Ventil auf und spürte das Gas zischen. Gleichzeitig drückte er den Zündschalter. Durch ein kleines Fenster sah er, wie ein Funke das Gas entfachte. Er regulierte das Ventil auf kleine Flamme und klappte die Ofentür wieder zu.
Dann ging er wieder ans Fenster. Noch einmal sog er die Luft tief in seine Lungen, bevor er es wieder schloss. Einige Stockwerke darunter sah er das gemächlich winterliche Treiben der Lagunenstadt. Der Winter schien Venedig zu entzaubern. Die wahren Fratzen hinter den einst schmuckvollen Fassaden kamen bei Kälte erst richtig zum Vorschein.
Marco öffnete den Kleiderschrank, der nach Mottenkugeln roch. Er war geräumig, und wenn man ihn einmal gründlich auswaschen würde, dann würde der Schrank ihm gute Dienste erweisen. Auch der Sekretär gefiel ihm, obwohl Marco eigentlich kaum Gefallen an antiken Möbeln verspürte. Dennoch hatten die Dinge in diesem Zimmer ihren Reiz. Nur mit dem Perserteppich wurde er nicht warm. Vermutlich erinnerte ihn der Teppich zu sehr an sein Elternhaus.
Entschlossen schüttelte er die Erinnerungen ab. Einen Teppich konnte man beseitigen.
Er drehte sich im Zimmer und beschloss sogleich, dass auch ein neuer Farbanstrich nicht schlecht wäre. Marco war davon überzeugt, dass mit ein paar wenigen Renovierungsmaßnahmen das Zimmer eine wahre Augenweide für ihn und seine Besucher sein könnten.
»Welche Besucher?«, stellte er sich selbst laut die Frage, und es schmerzte, als Erinnerungen an Sabine auftauchten, die sich nicht so leicht abschütteln ließen, wie die Erinnerung an seine Eltern. Alle waren sie tot und Kinder hatte er nie gehabt, weswegen er mit seiner Reise nach Venedig einen Ausbruch wagte; eine Flucht aus dem Schattenreich der Trauer, das jenseits von Zeit und Raum lag.
Sollten ihn die Schatten gleich hier und jetzt einholen, wo er den ersten Anflug eines Neuanfangs in sich spürte?
»Nichts da«, sagte er wieder laut, um es sich selbst besser zu verdeutlichen. »Ich nehme das Zimmer einfach!« Und ehe Marco es sich anders überlegen konnte, öffnete er die Tür, um gemeinsam mit seinem zukünftigen Vermieter bei einer Tasse Kaffee die notwendigen Einzelheiten zu besprechen.
***
Ein letztes Mal kehrte er zurück in sein Hotel am Canal Grande. Er war in Feierlaune und begab sich direkt in die Hotelbar, um sich dort ein Glas Sekt zu gönnen. Zur Feier des Tages lud er die bereits etwas ältere Dame ein, die neben ihm am Tresen einen Espresso Grappa schlürfte.
»Haben Sie das Zimmer bekommen?«, erkundigte sich die Frau. Sie griff dem Zimmermädchen beim Reinigen der Hotelzimmer unter die Arme und hatte mitbekommen, dass er auf Wohnungssuche war, woraufhin sie ihm die Adresse vermittelt hatte.
»Ohne Sie hätte ich das Zimmer nie gefunden«, verkündete Marco freudestrahlend.
»Stimmt«, sagte die Frau. »Es wird in keiner Zeitungsannonce beworben.«
»Aber wieso denn nicht?«, fragte Marco.
»Das Zimmer stand über Jahre hinweg leer«, antwortete sie. »Niemand wollte es mieten.«
»Das hat mir der Vermieter auch gesagt, jedoch ohne Gründe zu nennen.«
»Davon ist auszugehen. Der alte Argento hüllt sich über die Tatsachen gerne in Schweigen. Ist allerdings auch irgendwie verständlich, wenn Sie mich fragen.«
»Warum?«
»Vor langer Zeit hat sich dort eine junge Frau aus Liebeskummer umgebracht.« Die alte Frau fixierte Marco und wartete auf eine Reaktion. Als diese ausblieb, fuhr sie fort: »Und seitdem spukt es dort, sagen zumindest die Leute. Man halte es nicht lange in dem Zimmer aus, sagen alle. Also ich glaube ja nicht an solche Sachen, aber ich wollte es Ihnen vorher gesagt haben.«
Marco bedankte sich, beteuerte jedoch, nichts von einem Spuk bemerkt zu haben, obgleich er nicht wenig Zeit in dem Zimmer alleine zugebracht hatte. Nachdem er mit dem Vermieter, Signore Argento, die Formalitäten und Absprachen erledigt hatte, hatte er sich von dem Mann ein Metermaß ausgeliehen und das Zimmer vermessen. Danach hatte er die Maße auf einen Zettel übertragen und diese Skizze zeigte er nun der Dame neben sich am Tresen.
»Sehen Sie, und hier ist das schöne Panoramafenster. Es ist der Ausblick, der mich so begeistert hat.«
»Das war das Letzte, was die Selbstmörderin gesehen haben dürfte. Sie hat sich mit ihrem Gürtel am Lampenschirm erhängt, ihren Blick auf das Panoramafenster gerichtet.«
»Das ist ja furchtbar«, sagte Marco. »Aus Liebeskummer sagten Sie?«
Die Dame nickte eifrig. »Danke für die Einladung, Signore. Ich wünsche Ihnen viel Glück.« Dann verließ sie die Hotelbar.
Kaum dass sie fort war, beugte sich der Barkeeper mit verschwörerischer Miene Marco entgegen. »Verzeihen Sie meine Indiskretion«, sagte er mit säuselnder Stimme. »Ich habe Ihr Gespräch mit angehört, das Sie mit Signora Gianni geführt haben und dachte mir, dass es Sie vielleicht interessieren würde, dass ...«
»Was?«
»Nun, Signora Gianni ist die Mutter eben jener Dame, welche sich in besagtem Zimmer umgebracht hat.«
Marco stutzte. »Wollen Sie mich auf den Arm nehmen?«
Der Barkeeper schüttelte den Kopf und schenkte Marco einen Grappa ein, wohl um seine Indiskretion zu entschuldigen. »Ein schauriger Zufall, nicht wahr?«
»Ein Zufall und nichts weiter«, antwortete Marco. »Wie hätte ich das wissen sollen?«
»Nein, das hätten Sie nicht. Signora Gianni wird Ihnen das auch nicht zum Vorwurf machen. Ihre Sorge war ernstgemeinter Natur.«
Marco nippte an seinem Grappa. »Und was halten Sie von dieser Spukgeschichte?«
»Sie müssen wissen, dass wir Italiener von Natur aus sehr sensibel mit solchen Dingen umgehen. Ein Selbstmord gilt hier nach wie vor als Todsünde. Wie Sie wissen, ist uns der katholische Glaube verinnerlicht. Wir alle sind hier zutiefst religiös. Bei uns Venezianern ist dieser Glaube vielleicht noch tiefer verwurzelt, als im übrigen Land. Wenn sich in unserer Stadt ein Mädchen aus solch bedauernswerten Umständen heraus das Leben nimmt, dann ist ganz Venedig in Aufruhr. Signora Gianni hatte seitdem kein schönes Leben mehr, das kann ich Ihnen sagen. Die Mutter einer Selbstmörderin - von solch einer hält man sich hier fern. Signora Gianni ist sehr einsam, seit das Unglück geschah.«
»Wie lange ist das her?«
Der Barkeeper wischte mit seinem Spültuch über den Tresen und dachte nach. »Ich weiß nicht mehr genau. Ich war selbst noch ein Bambino von vielleicht dreizehn Jahren. Nein, älter war ich wohl nicht. Die junge Gianni war vielleicht Anfang zwanzig. Eine bildhübsche Frau. So gutaussehend, dass sie mir selbst in jungen Jahren bereits den Kopf verdrehte. Ihr Mann war Deutscher, wie Sie. Er ist damals verschwunden und kam nicht mehr wieder. Es hieß, die Geister der Lagune hätten ihn geholt. Wahrscheinlicher ist, dass er einfach nur in seine Heimat zurück ist. Auf jeden Fall war die junge Gianni sehr traurig darüber und hat diesen Verlust wohl nie überwunden. Sie war vierundzwanzig, als sie sich das Leben nahm. Nun bin ich selbst schon fünfunddreißig, das Ganze liegt demnach über zwanzig Jahre zurück. Vielleicht noch länger. Ich bin mir nicht sicher.«
Marco trank seinen Grappa aus und bedankte sich für das Gespräch, doch für den Barkeeper schien dieses noch nicht beendet zu sein.
»Wissen Sie«, fuhr er fort, »wenn die eigenen Eltern sterben, dann stirbt die Vergangenheit, so sagt man. Wenn der Partner stirbt, stirbt aber die Gegenwart. Sterben jedoch die eigenen Kinder, so stirbt auch die Zukunft.« Der Barkeeper redete noch weiter, doch Marco hatten die letzten Worte zum Nachdenken gebracht. Ähnliche Überlegungen hatte er auch schon angestellt, insbesondere seit Sabines Tod. Doch da er keine Kinder hatte, hatte er auch keine Zukunft für sich in seiner Heimat gesehen.
»Das muss schlimm für Sie gewesen sein«, sagte der Barkeeper und schenkte sich nun selbst einen Grappa ein. Marco war überrascht. Hatte er seine Gedanken laut ausgesprochen? »Wie haben Sie sich aus diesem schrecklichen Zustand der Trauer befreit?«, wollte der Barkeeper nun wissen.
»Tja«, sagte Marco und dachte: noch gar nicht! Um nicht weiter die Tage in einem Dämmerzustand der Gefühle zu verdösen, hatte Marco schließlich beschlossen, etwas zu ändern. »Ich sortierte die Wohnung aus, in der Sabine und ich seit unserer Heirat gemeinsam gelebt hatten. Ein schmerzlicher Prozess. Viele Gegenstände, Kleider, Fotos - an allem hafteten Erinnerungen.«
Erinnerungen und Träume, sinnierte er weiter. Ein altes Foto hatte schließlich über seinen Neuanfang in Venedig entschieden. Er zog es hervor. Das einzige Bild, das er mitgenommen hatte: Sabine und er, jung, frisch verliebt. Lachend, Arm in Arm vor der Kirche San Barnaba in Venedig.
Er zeigte das Bild dem Barkeeper.
»Ist das Ihre Frau?«, sagte der und deutete auf Sabine.
Marco nickte. »Es waren unsere Flitterwochen. Eine Woche auf Wolke Sieben. Zuerst waren wir vor Liebe kaum aus dem Bett gekommen.« Marco lächelte. »Dann die Streifzüge durch das Steinlabyrinth der Altstadt hinter San Marco. Das kleine Café in der engen Gasse, die so schmal war, dass zwei Menschen sich aneinander vorbeidrücken mussten und der Müllabfuhr-Mann sich an den Mauersteinen blutige Knöchel holte, wenn er den Wagen mit dem gestapelten Unrat hinter sich herzog.«
Sein Gegenüber lächelte.
»Stets haben wir davon geträumt, einmal als Alterswohnsitz eine Wohnung in Venedig zu kaufen. Und jetzt ...«, Marco blickte auf, »... jetzt habe ich zumindest eine Wohnung gemietet. Die Eigentumswohnung in Deutschland ist verkauft und mit der Erbschaft meiner Eltern und der von Sabine kann ich es zwar nicht übertreiben, aber muss mir, wenn ich sparsam wirtschafte, keine Sorgen über den nächsten Tag machen.«
»Ein bewundernswerter Entschluss«, sagte der Barkeeper. »Das Leben geht weiter!«
»So ist es. Ich habe alles Überflüssige verkauft. Die Wohnung, das Auto, die Möbel. Eine Woche später war ich hier. Und nun, wenige Tage darauf, habe ich eine Wohnung. In der Altstadt. Na ja. Ein Zimmer wohl eher, aber mehr benötige ich nicht.« Marco stand auf. »Und wie alles in Venedig hat es seine ureigene Geschichte. Wahrscheinlich ist es das, was mich an dieser Stadt so fasziniert.«
»Das ist es in der Tat«, sagte der Barkeeper. »Was werden Sie also tun, um der Stadt ihre eigene Geschichte zu hinterlassen?«
Marco legte den Kopf schief. »Wenn ich ehrlich bin, habe ich darüber noch nicht nachgedacht. Aber ich werde es Ihnen verraten, sobald ich einen Plan gefasst habe.« Er deutete auf die Gläser. »Was schulde ich Ihnen?«
***
Das Zimmer unter dem Dach in der Calle Cassellaria Nr. 4 erstrahlte in neuem Glanz. Marco hatte die Wände mit frischer Farbe getüncht, den Teppich entsorgt, die Dielenbretter abgeschliffen und die Möbel umgestellt. Der Esstisch diente ihm nun als Schreibtisch und er hatte ihn unter das Panoramafenster geschoben. Der Sekretär war zum Küchenschrank degradiert worden. Er hatte den Ratschlag seines Vermieters befolgt und eine elektronische Kochplatte gekauft. Einen kleinen Topf, eine Pfanne und etwas Geschirr hatte er von Signore Argento als Einstandspräsent neben einer Flasche sizilianischen Weines erhalten, wofür er ihm sehr dankbar war.
Den ganzen Tag hatte er geschuftet und geschwitzt. Nun entkorkte er den Wein und ließ ihn sich aus einem abgenutzten Emaillebecher schmecken, wodurch der gute Tropfen eine leicht metallische Note bekam.
Erschöpft aber zufrieden setzte er sich aufs Bett. Das altertümliche Kofferradio spielte moderne Musik mit verzerrtem Klang. Die Lautsprecher der damaligen Zeit waren nicht ausgerichtet für die aktuellen Chartplatzierungen des Senders Radio-Venezia.
Als ihm die Augen schon zufallen wollten, beschloss er, es gleich richtig zu machen. Er würde noch einmal die Toilette im Zwischenstock aufsuchen, sich dort die Zähne putzen und danach zu Bett gehen.
Im Treppenhaus traf er eine junge Dame, die wohl das Zimmer unter ihm bewohnte. Sie grüßte eilig mit französisch klingendem Akzent, bevor sie die Stufen hinuntereilte und Marco hörte, wie sie hinter einer Tür verschwand.
Die Toilette war so alt wie das gesamte Anwesen. Ein Wasserspülkasten war über der Toilettenschüssel angebracht und man musste mit Kraft an einer Perlenschnur ziehen, um die Spülung zu betätigen, woraufhin sich rostfarbenes Wasser mit lautem Krachen in die Schüssel ergoss. Das Wasser aus dem Waschbecken war nicht klarer, doch Marco war das egal. Oberflächlich wusch er sich die getrocknete Farbe von den Fingern. Zum Duschen würde er ein öffentliches Bad benutzen müssen.
Als er die Toilette verließ, stand die junge Dame von vorhin wartend vor der Tür. Ihr wallendes Haar reichte ihr bis über die Schultern. Ihre Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen, als sie Marco anblickte. Ihm fielen die kleinen Fältchen am äußeren Rand der Augen auf. Auch schien ihm das Grübchen an ihrer linken Wange auf geheimnisvolle Weise vertraut. Sie lächelte verlegen und drängte sich an Marco vorbei, wobei sie seinen Oberarm mit ihren weichen Brüsten streifte. Ohne ein Wort zu sagen, schloss sie hinter sich die Tür. Was blieb, war der Geruch ihres Parfums, der bereits im Toilettenzimmer vorgeherrscht hatte.
Obgleich er noch nicht so weit war, sich nach neuen Bekanntschaften umzusehen, empfand Marco es als beruhigend, ein so schickliches Frauenzimmer in seiner Gegenwart zu wissen. Im Laufe der Zeit würde man sich schon kennenlernen, dachte er und machte, dass er nach oben kam.
Sein Zimmer empfing ihn mit wohliger Behaglichkeit, obgleich der Geruch nach Farbe sich noch nicht verflüchtigt hatte. Die leeren Farbeimer hatte er zusammen mit Pinsel, Farbrolle und Folie in der Ecke hinter der Tür verstaut. Morgen würde die Arbeit weitergehen. Das Zeug musste entsorgt werden, die schwere Leiter, die ihm Signore Argento geliehen hatte, würde er wieder die Treppe hinunterschleppen müssen. Außerdem hatte Marco eine Liste geschrieben. Dinge, die er erledigen musste und Besorgungen, um die er nicht herumkommen würde.
Leider hatte er es noch nicht geschafft, eine neue Matratze zu beschaffen. Er würde sich in den nächsten Tagen eine im Geschäft aussuchen und sie sich liefern lassen. Doch für den Moment genügte das durchgelegene Ding.
Müde ließ er sich darauf fallen und dämmerte bereits hinweg, als er noch die Schatten an der Decke betrachtete.
Seine Träume drehten sich um Sabine. Im Traum wohnte sie in der Wohnung unter ihm und lebte dort, ohne dass sie ihn erkennen würde. Dabei benutzte sie das gleiche Parfum und trug dieselben Kleider. Nur war sie es nicht. Und doch war sie es. In Marcos Traum verschoben sich die Realitäten, so wie es eben nur in Träumen möglich ist und so existierte alsbald eine Wendeltreppe, die von seiner Wohnung in die darunterliegende führte und die man mittels einer Klappe im Boden erreichen konnte. Diese öffnete sich jetzt und die verjüngte Sabine trat daraus hervor, legte sich zu ihm ins Bett, schmiegte sich an ihn und schnurrte kurz darauf selig in noch ferneren Traumwelten als Marco selbst. Er konnte ihr Schnarchen hören. Das vertraute Schnarchen, das nun immer lauter wurde, so dass er aufwachte und ...
... mit vor Schreck geweiteten Augen auf die leere Fläche neben sich im Bett starrte.
War Sabine nicht eben noch dort gewesen? Er machte Licht und suchte mit seinen Augen die Dielenbretter ab, doch konnte er die Falltür nicht finden und es dauerte eine ganze Zeit, bis Marco sich eingestehen musste, nur geträumt zu haben.
Doch allzu deutlich roch er Sabines Parfum.
»Das gibt es doch nicht«, sagte er und schnüffelte. Er nahm das Kopfkissen in die Hand und vergrub seine Nase darin. Ausgeschlossen. Einen Geruch konnte man vielleicht träumen, aber dieses Kissen roch tatsächlich nach seiner verstorbenen Frau.
»Einbildung. Nichts als Einbildung, du trauernder Narr.«
Wieder roch er am Kissen.
Der Geruch blieb.
***
Tags darauf stand er in einem wenig frequentierten Supermarkt in der Cannaregio an der Kasse und stopfte gerade seine Einkäufe in Plastiktüten: Dosenravioli, Tütensuppen, Gewürze, Brot, Käse und ein paar praktische Dinge, wie Shampoo, einen Waschlappen und dergleichen. Die Kassiererin hielt ihm dabei die Tüten auf und führte ein lockeres Gespräch über das frostige Wetter mit Marco, als dieser sie fragte, ob sie eine öffentliche Bademöglichkeit wisse. »Mein Zimmer verfügt über keine Duschmöglichkeit«, erklärte er der gebürtigen Venezianerin.
»So geht es vielen, die in der Altstadt leben. Die meisten arrangieren sich mit einem Hotel. Es gibt sogar welche, die über ein Schwimmbad verfügen«, erklärte sie. »Ein öffentliches Bad haben wir hier nicht. Das Schwimmbad auf La Giudecca wurde 2012 geschlossen. Am besten wird es wohl sein, Sie erkundigen sich bei Ihren Nachbarn.«
»Meinen Vermieter habe ich bereits gefragt, doch er ist ein alter Herr und hat mir erklärt, dass einmal die Woche eine Dame von einer Pflegeeinrichtung zu ihm kommt, um ihn zu waschen. Dies mache sie am Waschbecken in der Küche.« In sarkastischem Tonfall fügte Marco an: »Er meinte, die Dame sei sehr nett.«
Die Kassiererin lachte. »Nun, dann wird es wohl doch das Beste sein, sie suchen die Hotels in ihrer unmittelbaren Wohnumgebung ab. Oder wollen Sie Ihr Duschgel wieder zurückgeben?«
»Nein, nein. Aber ich danke Ihnen für den Tipp.«
Marco verließ mit seinen Einkäufen das Geschäft und drückte sich an den maroden Hausmauern entlang, überquerte die eine oder andere Brücke und bahnte sich so seinen Weg zurück zu seiner neuen Heimat. Vorbei ging es an brüchigen Fassaden, deren Fenster schwarz und hohl wirkten. Der Putz bröckelte allerorten und der Geruch von Kloake hatte sich tief in die Gemäuer gefressen.
Der Tag war wolkenverhangen und Marco dachte über seine To-do-Liste nach. Eine Menge davon hatte er heute abarbeiten können. Nachdem er aufs Festland gereist war, um dort im Amt seinen neuen Wohnsitz zu melden, hatte er die Spedition in Deutschland angerufen, welche einen Teil seiner persönlichen Besitztümer eingelagert hatte und verwaltete. Marco verfügte, dass ihm ein Paket, das er im Vorfeld zusammengestellt hatte, zugesandt werden würde und nannte seine neue Adresse. Nachdem er dies erledigt hatte, war er mit der Fähre wieder zurück in die Stadt der vierhundert Brücken gefahren, eingepfercht zwischen Touristen, die hier zu jeder Jahreszeit in Strömen in die Schatten des Dogenpalastes drängten. Venedig war ein Kuriosum. Je mehr die Stadt zerfiel und zunehmend vom Meer verschluckt wurde, desto reizvoller schien sie für Außenstehende zu werden. So als würde der Verfall die Menschen wie Aas die Geier anlocken.
Nahe einer Taverne wurde er von hastigen Schritten aus seinen Gedanken gerissen. Marco blickte auf und sah sich einem eiligen Straßenjungen gegenüber, der ihm schon zu nahe war, als dass er noch hätte ausweichen können. Noch während der nur dürftig bekleidete Junge ihn anrempelte, ließ Marco die Einkäufe fallen, um den Jungen an seinem dünnen Pullover zu packen. Doch er war zu langsam. Schon sah er, wie der Junge - Marcos Geldbörse triumphierend über den Kopf schwingend - um eine Ecke bog.
Ohne weiter darüber nachzudenken, machte sich der Bestohlene daran, dem Dieb hinterherzueilen. Marco rannte durch das Gewirr aus dunklen Gassen, ohne den Jungen zu sehen. Er hetzte nur dem Geräusch seiner Absätze hinterher, das sich echogleich in der venezianischen Kulisse verlor. Bald schon hatte Marco die Orientierung verloren. Doch immer wenn er aufgeben wollte, sah er wieder den gestreiften Pullover des Jungen, was ihm neuen Ansporn verlieh und ihn weiterrennen ließ.
Marco erkannte soeben noch, dass er unter einem Torbogen hindurch in einen Hinterhof preschte. Ein Fehler für den Jungen, wie sich herausstellte, denn der Hof war eine Sackgasse. Zwar rüttelte er an einer Tür, doch diese war verschlossen.
Ängstlichen Blickes drehte sich der Junge zu Marco um, der keuchend vor ihm stehenblieb.
»Meine Geldbörse«, sagte Marco nach Luft japsend. »Gib sie mir.«
Die Augen des Burschen sahen Marco bange an. Gleichzeitig schüttelte er den Kopf.
»Was? Du hast sie nicht mehr?«, sagte Marco und verstand sogleich den Trick des Taschendiebes, die Beute auf der Flucht einem Komparsen zu übergeben, damit man im Falle einer Festnahme alles abstreiten konnte. »Wo ist sie?«, sprach Marco weiter, doch der Strolch schüttelte weiterhin nur den Kopf.
»Hör mal«, sagte Marco und versuchte es auf die einfühlsame Art: »Das Geld kannst du gerne haben. Du siehst aus, als könntest du es brauchen. Aber ich brauche die anderen Sachen, die darin sind. Meinen Ausweis, Papiere und all der Kram. Verstehst du?«
Der Junge nickte schüchtern. Dann fuhr seine Hand in seine Hosentasche, zog die Geldbörse heraus und ließ sie vor Marco auf den Boden fallen.
Als Marco sich bückte, um seinen Besitz aufzuheben, spurtete der Junge davon. Die Angst vor möglichen Konsequenzen, wie der Polizei, war zu groß.
Marco blickte ins Innere des Geldbeutels und stellte zu seiner Verwunderung fest, dass der Inhalt nicht fehlte. »Alles da«, murmelte er und beschloss, in Zukunft besser aufzupassen.
Dies galt auch für die Wege, die er in Venedig zurücklegte. Als Marco aus dem Innenhof marschierte, musste er sich eingestehen, dass er nicht die geringste Ahnung hatte, wo er sich befand. Die Dämmerung setzte bereits ein, was ein Wiedererkennen von diversen Ecken, Kreuzungen oder Bauten noch schwieriger machen würde.
Missmutig machte er sich auf den Weg, duckte sich unter Mauervorsprüngen der engen Gassen hindurch und erfreute sich daran, als die Straßenlaternen ihren Dienst verrichteten und flackernd zu Leben erwachten.
Er überquerte eine der unzähligen Bogenbrücken und blickte in das Wasser hinab. Tiefschwarz klatschte es gegen die gemauerten Kanalbegrenzungen. Es wirkte schleimig und stank bestialisch. Aus einem runden Rohr floss dickflüssige Kloake.
Plötzlich drängte sich eine Schar kostümierter Gesellen zu ihm auf die Brücke. Marco sah in das bleiche Antlitz venezianischer Masken, die ihm absurd und befremdlich entgegenblickten. Die langen, fliegenden Gewänder lebten im starken Kontrast zu den nahezu konturlosen Masken, die er nur vom berühmten Karneval hier in Venedig her kannte. Doch der würde erst Mitte oder Ende Februar beginnen.
»Ihr seid einen Monat zu früh«, sagte er daher. Doch die Maskenträger gaben keine Antwort. Schweigend, aber wirre Bewegungen ausführend, strebten sie der anderen Seite der Brücke entgegen. Kaum hatten sie diese erreicht, verschwanden sie um die Ecke einer mit Ornamenten versehenen Hauswand im Gassendickicht der Stadt.
Fröstelnd lief Marco weiter, vergewisserte sich zum hundertsten Male, dass sich seine Geldbörse noch in der Innentasche seines Mantels befand, und war froh, als er endlich aus einer weiteren beengten Gasse herausstolperte und sich zu seiner Verblüffung auf dem Markusplatz wiederfand.
Der Zwischenfall mit dem Dieb hatte ihn nicht wütend gemacht. Nein, er hatte sogar Mitleid mit dem armen Burschen. Was ihn so aufbrachte, waren seine Einkäufe und die Tatsache, dass er den kompletten Tag mit einer Jagd vergeudet hatte. Außerdem war sein Einkauf fort.
Missmutig stapfte er zurück zu dem Supermarkt, wo er mit der freundlichen Kassiererin gesprochen hatte und erschrak, als ihn ein alter Mann aus einem Bistro ansprach: »He, Sie!«
»Meinen Sie mich?«, fragte Marco ungläubig.
»Ja, Sie. Sagte ich doch. Kommen Sie her.«
»Was wollen Sie?«, kam Marco der Aufforderung nach.
»Ich habe Ihren Zwischenfall von heute Nachmittag beobachtet. Sind beklaut worden. Ärgerlich so etwas; lässt sich in einer Stadt wie dieser aber kaum vermeiden. Ich habe Ihre Einkaufstüten aufbewahrt.«
»Wirklich?« Mit derartigem Glück hatte Marco nicht gerechnet.
»Ja, wirklich. Kommen Sie.«
Marco folgte dem schnauzbärtigen Venezianer ins Innere seiner Bar hinein, wo ein paar Gondolieri saßen und Cappuccino schlürften. Der Mann trat hinter den Tresen und holte von dort tatsächlich Marcos Einkaufstüten hervor.
»Vielen Dank«, sagte Marco überschwänglich. »Was schulde ich Ihnen?«
»Das ist schon in Ordnung. Passen Sie nur das nächste Mal besser auf sich auf«, sagte der Mann.
Marco setzte sich auf einen der Barhocker und bat um einen Espresso-Grappa. Der lange Fußmarsch forderte seinen Tribut und er spürte die Erschöpfung nahen.
Als er die Tüten an sich nahm, kamen sie ihm unverhältnismäßig schwer vor. Während der Mann seinen Espresso kochte, blickte er in die Tüten und fand neben seinen Einkäufen etwas, das definitiv nicht ihm gehörte: In einer der Tüten, zwischen in Plastik geschweißten Käsescheiben und einem Laib Brot und einem Glas mit eingelegten Oliven lag eine schwarze, kleine Pistole. Ein handlicher Revolver. So einer, wie sie in Wildwest-Filmen von Frauen im Strumpfband getragen wurden. Sein erster Instinkt war es, das Ding herauszuholen, auf den Tresen zu legen und zu sagen, dass es nicht ihm gehöre. Doch sogleich besann er sich eines Besseren. Was, wenn es eine Tatwaffe war, und man nur versuchen wollte, dass seine Fingerabdrücke darauf kamen?
Der Wirt stellte den Espresso und das Glas Grappa vor ihm auf die Theke. Sollte er ihn auf die Waffe ansprechen? Er könnte alle Schuld von sich weisen. Er könnte Marco beschuldigen. Er könnte sich von Marco bedroht fühlen. Er könnte ihn des Diebstahls bezichtigen.
Hundert weitere Möglichkeiten schossen Marco durch den Kopf und führten letztlich zu dem Ergebnis, dass Marco es vorzog, gar nichts zu sagen. Er trank seinen Espresso, schüttete den Grappa hinunter, legte ausreichend Kleingeld auf die Theke und verließ schleunigst das Lokal.
***
Als er diesen Abend in seinem Zimmer verbrachte, hielt er die Waffe in seiner Hand. Damit zur Polizei zu gehen, hatte er nicht gewagt. Wer wusste schon, in welch schrecklichen Verbrechen die Waffe bereits eine Rolle gespielt hatte. Auch hatte er überlegt, das Mordinstrument einfach in den Kanal zu werfen, doch hatte sich ihm keine Gelegenheit dafür geboten. Venedig war stets und überall voller Menschen. Derartiges konnte man nicht unbeobachtet tun.
Den ganzen restlichen Tag hatte Marco sich darüber den Kopf zerbrochen, warum man ihm dieses Ding zugespielt haben mochte. Und ob tatsächlich der Wirt der Bar dahintersteckte. Wenn ja, warum hatte er Marco gegenüber nicht einmal eine Andeutung gemacht? Warum hatte er ihn nicht unentwegt verstohlen beobachtet? Oder hatte er das gar und Marco war es lediglich entgangen?
Doch so sehr er das Gedankenkarussell auch hin und herbewegte, eine logische Erklärung fiel ihm nicht ein.
Der Revolver selbst war geladen. Rasch hatte Marco herausgefunden, wie man die Trommel öffnete und vorsorglich hatte er die Patronen herausgenommen. Er hatte durch den Lauf gepustet und das Öl gerochen, was wohl bedeutete, dass die Waffe frisch gereinigt worden war.
Danach hatte er Pistole und Patronen in eine der unzähligen Schubladen seines Sekretärs gelegt und sich etwas zu Essen gemacht.
Während er aß, lief der ereignisreiche Tag in seinem Kopf Revue und er stellte sich unweigerlich die Frage, was geschehen wäre, hätte er die Waffe bereits besessen, als er den Jungen gejagt hatte. Ob er ihn wohl damit bedroht hätte?
Wäre er überhaupt dazu fähig, eine Schusswaffe zu gebrauchen? Damals, mit achtzehn, hatte er sich für den Zivildienst entschieden, sich bewusst dem Dienst an der Waffe verweigert. Nun hatte er eine in seiner Schublade.
Marco besorgte den Abwasch in der Toilette auf dem Zwischenstockwerk und vertrieb den Geruch von Sabines Parfum mit dem von Spülmittel. Zurück auf dem Zimmer räumte er die Sachen auf, trank einen Becher Wein und legte sich schlafen.
Sein Traum war diesmal klarer. In einer Masse aus Touristen, die Venedig überschwemmten, sah er Sabine. Er folgte ihr, drängte sich an unterschiedlichsten Personen vorbei, benutzte seinen Ellbogen und schaffte es, sie nicht aus den Augen zu verlieren. Ihm fiel auf, dass sämtliche Statisten seines Traumes venezianische Masken trugen. Masken, die aufgrund ihrer Starre inmitten der farbenschillernden Kostüme und wehenden Gewänder unwirklich, befremdlich und furchteinflößend wirkten. Er folgte Sabine über Brücken und schaukelnde Gondeln hinweg, durch enge Seitengassen hindurch, bis zu einem Rundbogentor, durch das sie in einen Hinterhof gelangten. Sabine drehte sich zu ihm um, doch auch sie trug eine der Masken. Sie war weiß und der Nasenschnabel nach unten gebogen. Der Mund bewegungslos, die Augen zwei schwarze Höhlen. Marco holte seine Pistole aus der Manteltasche, legte an und schoss ihr zwischen das Augenpaar ein drittes Auge, das sich als farblicher Kontrast rot färbte. Doch Sabine fiel nicht tot um. Nein. Sie kam auf ihn zu und ...
... er erwachte.
Verstört blickte Marco um sich. Kalter Schweiß klebte wie Blut an ihm. Der Traum war auf eine befremdliche Art realistisch gewesen. Weshalb nur verfolgte ihn Sabine auf derart verstörende Weise bis in seine Träume hinein? Eigentlich war er nach Venedig gezogen, um diesen Abschnitt seines Lebens hinter sich zu lassen. Doch es schien, als klammere nicht er sich an Sabine, sondern sie sich an ihn. Mit kalten, scharfen Klauen krallte sie sich in seinen Träumen an ihn, um ... Um was?
Wie bereits nach seinem Traumgespinst die Nacht zuvor, hing Sabines Duft im Raum. Ein liebliches Odeur mit Vanille, dem zugleich eine herbe Note anhaftete.
Er stand auf und wischte sich mit dem Hemd des Vortages den kalten Schweiß von der Stirn.
Wie zum Teufel war das mit dem Duft zu erklären? Er hatte keine Ahnung. Kopfschüttelnd machte er Licht und setzte sich an den Tisch, auf dem eine Flasche Mineralwasser stand. Er trank einen großen Schluck und blickte danach aus dem Panoramafenster über die vermoderten Dächer Venedigs.
Der Himmel darüber war schwarz und geheimnisvoll. Marco nahm ein Flimmern wahr und wunderte sich darüber, bis er begriff, dass es regnete. Er öffnete das Fenster an den rostigen Scharnieren und kippte es leicht. Die einströmende Luft war angenehm und roch nach Winter.
Marco hörte das Klappern hölzerner Fensterläden. Weiter unten liefen einsame Absätze über steinerne Brückenstufen. Der Regen prasselte auf die Markisen der Marktstände, die sich in dieser Stadt nicht um Jahreszeiten scherten. Die Wellen der Kanäle schwappten gegen die Ufermauern.
Einsam und träge läuteten die Glocken des Markusdoms die mitternächtliche Stunde ein. Dumpf folgten die Glocken der anderen Kirchen dem Trauerspiel.
Der Regen wurde stärker und Marco schloss das Fenster wieder. Ein mildes, aber energisches Trommeln gegen die Scheiben.
Ein Schlag.
Marco zuckte zusammen.
Donner? Nein. Es kam von unten.
Da! Wieder!
Als würde die junge Frau mit dem französischen Akzent und Sabines Parfum wie eine alte Vettel mit einem Besenstiel gegen die Decke klopfen.
»Was soll das?«, rief Marco gegen das Klopfen an.
Sogleich war Stille.
dottore
»Eine Spritze? Was für eine Spritze?«
»Nur ein Beruhigungsmittel. Seien Sie unbesorgt.«
»Ich möchte aber keine Spritze. Ihr steckt doch alle unter einer Decke! Wer weiß, was ihr mir für Drogen injiziert!«
»Um Himmels willen, so beruhigen Sie sich doch.«
Marco sprang auf und hielt ihr das Foto hin. »Da sehen Sie doch. Häh? Wer ist das?«
»Das ist meine Tochter. Sie hat sich ...«
»... hier in diesem Zimmer das Leben genommen, ich weiß«, unterbrach er seine Krankenschwester. »Aber ich sage Ihnen eins, Signora Gianni: Das ist auch Sabine! Meine verstorbene Frau. Das ist ebenso Natalie Dampierre, mit der Signore Argento in einem früheren Leben getanzt hat. Und es ist gleichsam die Frau, die in der Wohnung unter mir wohnt. Sehen Sie doch!«
»Aber nein«, versuchte Signora Gianni ihn mit sanfter Stimme zu beruhigen. Im gleichen Moment ging die Tür zu seinem Zimmer auf. Signora Gianni wandte den Kopf und sagte: »Ah, dottore, gut, dass Sie kommen. Unserem Patienten geht es körperlich zwar wieder etwas besser, aber psychisch scheint er mir doch recht angeschlagen zu sein.«
»Psychisch!«, schrie Marco nun. »Ist das der Mann mit der Spritze?«
»Guten Abend, Signore. Mein Name ist dottor Salvadori.«
»Doktor? Sie wollen Doktor sein? Was sind Sie denn noch alles? Vermutlich Schauspieler!«
»Aber nein. Ich bin Arzt, so wahr mir Gott helfe.«
»So wahr mir Gott helfe«, äffte Marco den Mann nach, der ihn irritiert anblickte. »Für wie dumm halten Sie mich eigentlich? Glauben Sie etwa, ich würde Sie nicht erkennen? Sie haben mir doch die Waffe in der Bar zugesteckt. Sie waren doch da hinter dem Tresen.«
»Ich weiß leider nicht, wovon Sie reden. Aber ich werde Ihnen jetzt ein Mittel zur Beruhigung geben. Dann wird das schon wieder.« Er öffnete seine Arzttasche und holte eine Spritze daraus hervor. Mit weit aufgerissenen Augen beobachtete Marco, wie er mit dem Finger gegen die Kanüle klopfte.
»Vergessen Sie es!«, brüllte er. »Keine Spritze!«
»Aber Signore. Das ist nur ein harmloses Medikament. Es wird Ihnen dabei helfen, sich zu beruhigen.«
»Ich will mich aber nicht beruhigen!«
»Darf ich Ihnen wenigstens den Puls messen? Der scheint mir doch recht hoch zu sein«, sagte der Doktor.
Marco schüttelte energisch den Kopf. »Gehen Sie. Alle beide. Los! Verschwinden Sie!«
Doktor Salvadori und Signora Gianni sahen sich fragenden Blickes an und zuckten mit den Schultern.
»Wie Sie wünschen«, sagte der Doktor. »Aber Signora Gianni wartet draußen vor der Tür. Und ich selbst werde veranlassen, dass Sie in eine Klinik kommen. Das hier kann ich nicht verantworten.«
Marco beobachtete zufrieden, wie sich die beiden aus seinem Zimmer entfernten und die Tür hinter sich schlossen.
Erschöpft sackte er auf dem Bett zusammen.
Als er sich ein wenig ausgeruht hatte, stand er auf, ging zur Tür und schloss von innen ab.
Sofort klopfte es von außen gegen die Tür.
»Der Spuk geht also weiter«, murmelte Marco. Rufe wurden von außen laut. »Klopfgeräusche und fremde Stimmen. Aber nicht mit mir.«
Er zog Schubladen auf, wühlte darin herum, öffnete Schranktüren und forstete wie ein Besessener, bis er endlich fand, wonach er suchte.
***
Als Signore Argento endlich mit dem Zweitschlüssel die Tür zu Marcos Zimmer aufsperrte, war es bereits zu spät.
Der Doktor durchtrennte mit einem Skalpell den Ledergürtel, mit dem Marco sich an der Lampe erhängt hatte, den Blick auf das große Panoramafenster gerichtet. Auf dem Gesicht trug er Sabines Maske: eine entstellte, aber lächelnde Fratze. Der Versuch, die Maske vom Gesicht des Leichnams zu entfernen, scheiterte. Es war, als sei sie mit Marcos Gesicht verwachsen.
»Wie bei meiner Tochter«, sagte Signora Gianni und guckte dabei seltsam entrückt.
Doktor Salvadori schüttelte den Kopf. »Diesmal erscheint es mir schlimmer. Die Sache mit der Maske hier kann ich mir nicht erklären.«
Signora Gianni achtete nicht auf Argento oder den Doktor. Sie hatte nur Augen für Marcos Leichnam. Behutsam beugte sie sich über den Toten mit der Maske und strich ihm über das Haar. Dabei blickte sie in die schwarz umrandeten Augenlöcher der Maske, hinter der Marcos Augen in eine weite, unbekannte Ferne blickten.
Doch es waren nicht Marcos Augen, die Signora Gianni sah. Auch nicht die Augen von Sabine, die Marco vielleicht gesehen hätte.
Was Signora Gianni durch die Augenöffnungen der venezianischen Maske sah, waren zweifellos die Augen ihrer Tochter. Sie waren der Grund, weshalb sie auch morgen wieder emsig darum bemüht sein würde, einen neuen Mieter für Signore Argento zu finden. Ein solcher Mieter benötigte bestimmte Kriterien. Er musste sensibel genug und alleinstehend sein. Auch wenn der venezianische Alp eine aufwendige Inszenierung war, so war ihr der Blick in die Augen des Opfers alle Kosten und Mühen wert.