Vollständige E-Book-Ausgabe der im Rosenheimer Verlagshaus erschienenen Originalausgabe 2014
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Titelfoto: © Andreas P. – Fotolia.com (oben) und
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Lektorat: Christine Weber, Dresden
Satz: SATZstudio Josef Pieper, Bedburg-Hau
eISBN 978-3-475-54364-7 (epub)
Viktoria Schwenger
Das geliehene Glück
Die hübsche Südtirolerin Carina will sich in Bayern ein neues Leben aufbauen und verliebt sich dabei prompt in den Architekten Jörg. Obwohl es die große Liebe zu sein scheint, wird das Glück des Paares getrübt. Jörgs Beruf ermöglicht ihm einen längeren Auslandsaufenthalt – eine zu große Belastung für die junge Beziehung.
Carina findet Trost bei Jörgs Freund Hubertus. Sie hilft regelmäßig im Gasthof seiner Familie aus und kommt so dem ruhigen und verlässlichen Mann näher. Mit ihm scheint eine Zukunft möglich zu sein. Das Schicksal hält jedoch einen weiteren Schlag bereit. Findet Carina dennoch das große Glück?
Dreikönigsfest!
Nachdem – wie so oft in den letzten Jahren – an diesem Weihnachtsfest alles grün geblieben war, hatte es in der Neujahrsnacht endlich geschneit. Jetzt lag der Schnee in weißglitzernder Pracht fast einen Meter hoch.
Jörg stapfte in seinem dicken Anorak und den warmen Winterstiefeln hinauf zum Schlossberg der kleinen Ortschaft Gmain. In früheren Zeiten thronte dort oben, wie es der Name verrät, eine Burg oder ein Schloss. Doch das ist längst Vergangenheit; die Burg war vor über dreihundert Jahren geschleift worden, so konnte man es in der Heimatchronik lesen.
Heute steht auf der Anhöhe vor einer mächtigen Felswand das Gasthaus »Zum Schlossberg«, das seit vier Generationen von der Familie Gmainer, einer alteingesessenen Familie von hier, bewirtschaftet wird.
Als Jörg die Anhöhe erreicht hatte, blickte er sich um. Unter ihm lag Gmain: Das Dorf am Fuße der Chiemgauer Berge, deren imposante Gipfel tief verschneit in der nachmittäglichen Sonne strahlten, war seine Heimat. In der Mitte, im Zentrum, ragte der imposante barocke Zwiebelturm der Kirche empor, darum herum lag der Friedhof und daneben, wie es sich für ein bayrisches Dorf gehört, stand das Wirtshaus, der »Postwirt«, obwohl es längst kein Postamt mehr gab im Ort. Die Bezeichnung stammte noch aus der Zeit, als die Post per Kutsche befördert und beim »Postwirt« die Pferde gewechselt oder eingestellt wurden.
Um dieses kleine Ortszentrum gruppierten sich stattliche Häuser, sogar zwei Bauernanwesen, beide noch in Betrieb. Am östlichen Rand lag das »neue Dorf«, eine Neubausiedlung, wie sie mittlerweile am Rande von fast jedem bayrischen Dorf entstanden war.
Auf der anderen Seite von Gmain hatte sich in den letzten Jahren ein Gewerbegebiet etabliert. Jörg konnte das Betriebsgelände der Bauunternehmung »Reitinger« mit der großen Werkhalle und den Garagen erkennen. Es war der Betrieb seines Vaters, der aus der kleinen Maurerfirma von Jörgs Großvater ein respektables Unternehmen gemacht hatte, das aufgrund der regen Bautätigkeit in der Gegend sehr erfolgreich war.
Er hatte es zu etwas gebracht, der Franz-Josef Reitinger.
Jörg wandte sich dem Gasthaus »Zum Schlossberg« zu, einem stattlichen Gebäude in traditioneller bayrischer Bauweise, weiß gestrichen, mit zwei übereinanderliegenden breiten Balkonen.
Früher war der »Schlossberg« ein landwirtschaftliches Anwesen mit Stallungen und Nebengebäuden gewesen, die nun weitgehend leer standen. Vor zwei Generationen hatte die damalige Bäuerin angefangen Kaffee und Kuchen anzubieten – draußen im Garten, wo die Hühner frei herumliefen. Deshalb wurde das »Café Schlossberg« spöttisch »Café Hennadreck« genannt, da die Stühle nicht immer frei von Exkrementen des Federviehs waren.
Im Sommer leuchteten von den Balkonen rot blühende Geranien in Hülle und Fülle, der ganze Stolz von Margret Gmainer, der derzeitigen Wirtin.
Jörg sah mit dem kritischen Blick des Architekten, dass das Haus renovierungsbedürftig war: Die Balkone gehörten, ebenso wie die Fensterrahmen, abgeschliffen und gestrichen, und auch ein neuer Anstrich der Hauswände könnte nicht schaden. Wenn Hannes, Margrets verstorbener Mann, noch leben würde, wäre das längst erledigt; doch der Wirtin schien alles über den Kopf zu wachsen. Jörg konnte es verstehen. Er ging durch den Nebeneingang ins Haus, direkt in die große Küche des Gasthauses.
»Der Jörg! Dass du dich mal wieder blicken lässt bei uns!« Margret Gmainer trat ihm freundlich entgegen, wischte sich die nassen Hände an der Schürze ab und schüttelte Jörg die Hand.
»Ich bin erst gestern aus der Stadt gekommen – und schon hier bei euch!« Jörg grinste. »Ist der Hubertus da?«
»Der ist draußen im Eiskeller und zählt die Biertragerl«, lachte die Wirtin.
Der »Eiskeller« war ein in den Fels hinterm Haus geschlagenes Verlies, das vermutlich noch aus Zeiten der Burg stammte und jetzt als Lagerraum für Getränke genutzt wurde, die der Bierfahrer der Brauerei aus dem Nachbarort anlieferte.
Hubertus, der Sohn der Wirtin, kam gerade herein. »Brrr, ist das eine Saukälte da draußen im Bierkeller!« Er rieb sich die kalten Hände, zog seine Jacke aus und hängte sie an den Garderobenhaken an der Tür. »Grüß dich, Jörg!« Er gab dem Freund die Hand. »Schön, dass’d wieder da bist!«
»Jetzt werd ich wohl für länger bleiben! Mein Studium ist vorbei, und jetzt geht’s an die Arbeit!«
»Was heißt für länger?«, fragte die Wirtin. »Ich denk, jetzt wirst für immer dableiben, oder nicht?«
»Vermutlich«, entgegnete Jörg und machte ein missmutiges Gesicht.
»Gefällt’s dir nimmer bei uns?«, hakte die Wirtin neugierig nach. »Du hast es doch gut hier! Dein Vater hat dich extra Architektur studieren lassen, damit du die Häuser planst, die er baut. So bleibt alles in der Familie.«
»Schon!« Jörg war die Fragerei offensichtlich unangenehm. »Was gibt’s denn heut zu essen?« Er öffnete die Tür des riesigen Backofens einen Spalt, aus dem sogleich köstlicher Bratenduft strömte.
»Pfoten weg!«, lachte die Wirtin. »Du weißt doch, dass es bei uns jeden Sonntag und Feiertag einen reschen Schweinsbraten mit Knödeln und Salat und eine Halbe Bier für neun Euro achtzig gibt. Das zieht, das kann ich dir sagen! Da ist die Gaststube voll, und beim ›Postwirt‹ drunten ist’s leer!« Sie schien sich darüber zu freuen. »Gut, dass du da bist, Jörg«, fuhr sie fort, »da kannst mithelfen beim Ausschank. Gleich wird die Kathie kommen, um beim Servieren zu helfen!«
»Die alte Kathie? Arbeitet die immer noch? Ist ja kaum zu glauben! Wie alt ist die denn jetzt, ich kenn sie noch von damals als kleiner Bub – und da war sie schon alt!«
»Die Kathie ist heuer sechsundachtzig geworden, die ist noch so was von flink auf den Füßen, das kannst kaum glauben!«
»Kommt die Hilde auch? Sonst wird’s eng beim Servieren, das schafft die Kathie alleine net«, fragte Hubertus.
»Die kommt auch! Du weißt doch, dass sie auf ein bisserl Zubrot angewiesen ist bei ihrem knickrigen Ehemann!«
Hilde war eine Frau aus dem »neuen Dorf«, die sich ein Taschengeld als Aushilfsbedienung verdiente.
»Na, dann kann der Ansturm kommen. Ich helf’ mit in der Kuchl, Jörg macht den Ausschank, und Kathie und Hilde servieren. Aber jetzt setz dich erst mal her, Jörg! Magst ein Bier?« Hubertus stellte dem Freund, der sich gesetzt hatte, eine Flasche Weißbier und ein Glas hin. »Wie ist es dir ergangen bei der Prüfung?«
»Gut! Hab ein gutes Abschlussexamen gemacht.«
»Da wird sich dein Vater freuen!«
»Ich glaub schon. Und mehr noch die Mama – der hat es nicht gefallen, dass ich in München gewohnt und weg von daheim gewesen bin all die Jahre.«
»Das kann ich verstehen«, Margret schmunzelte. »Da hat sie nicht kontrollieren können, was du treibst, du Hallodri!«
»Geh, Margret! So ein braver Bursch wie ich bin«, protestierte Jörg lachend. »Wo ist denn der Opa?«
Die Wirtin seufzte tief. »Der ist oben in seinem Zimmer, beim Fernsehen, und ich hoffe, dass er dort bleibt. So, wie es hier gleich zugehen wird, da kann ich ihn in der Gaststube oder der Küche nicht brauchen.«
»Wie geht’s ihm denn?«
»Ach«, die Wirtin schüttelte den Kopf, »das mit seiner Demenz wird immer schlimmer, da kann man nix machen, sagt der Doktor.«
»Neulich ist er uns ausgebüxt, mitten in der Nacht«, mischte sich Hubertus ein. »Das könnt dumm ausgehen, wenn man es nicht merkt! Mitten im Winter!«
»Mhm …, vielleicht wär’s besser, ihr würdet ihn in einem Pflegeheim gut unterbringen?«
Margret protestierte: »Im Pflegeheim? Nein, nein, das kommt nicht in Frage! Das würd ich nicht übers Herz bringen, den Vater wegzugeben!«
»So lang es geht, soll er dableiben, der Großvater«, pflichtete ihr Hubertus bei. Er stand auf und sah zum Fenster hinaus. Es war inzwischen duster geworden.
»Da kommen die Ersten«, meinte er, als er die Scheinwerfer von drei Autos sah, die hintereinander den Schlossberg heraufkamen.
»Dann kann’s losgehen«, meinte die Wirtin resolut und schwang den Braten in der riesigen Reine aus dem Rohr zum Aufschneiden.
In der Wirtsstube war es brechend voll. Margrets Krustenbraten war bekannt – zusammen mit zwei Knödeln, einem Salatteller und einer Halben Bier für neun Euro achtzig ließ sich das keiner entgehen.
Die beiden Bedienungen, sowie Margret und Hubertus in der Küche, hatten alle Hände voll zu tun, ebenso wie Jörg am Ausschank. Der genoss es sichtlich, im »Schlossberg« zu sein, um zu helfen, so wie früher. Er wäre der geborene Wirt, dachte Margret, als sie ihn geschäftig hantieren und mit den Gästen scherzen sah.
Irgendwann war der Großvater in der Gaststube erschienen: mit wirrem weißem Haar, in Unterhemd, einer alten grauen, langen Unterhose und in Filzpantoffeln. Hubertus konnte ihn gerade noch rechtzeitig abfangen und in die Küche lotsen. Da saß er nun und ließ sich ebenfalls eine Portion vom Braten schmecken.
Endlich, gegen zweiundzwanzig Uhr, leerte sich die Gaststube. Margret brachte ihren Vater nach oben ins Bett, Hubertus und Jörg saßen noch bei einem letzten Bier zusammen.
»Freust dich auf deine Arbeit hier?«, wollte Hubertus von Jörg wissen. Die beiden kannten sich aus Kindertagen, waren während der Schulzeit unzertrennlich gewesen und auch jetzt noch beste Freunde, so sehr sie sich auch in ihrem Wesen unterschieden.
»Es geht«, antwortete Jörg gedehnt. »Der Vater hat mir neben seinem Büro ein eigenes Büro eingerichtet. Ein Schild hat er auch schon angebracht: ›Jörg Reitinger – Architekt‹, steht drauf.« Er zog ein Gesicht.
Hubertus lachte leise. »Vaterstolz, das musst du verstehen. Ist doch nett von ihm, oder?«
»Schon! Er macht jetzt auf Bauträger. Will einiges von unserem Grund baureif machen, und wenn es soweit ist, soll ich eine Siedlung entwerfen und planen. Er baut die Häuser und verkauft sie. Also, genau genommen: er und der Andreas!«, knurrte Jörg.
»Hör ich da etwa Neid raus?«, hakte Hubertus nach.
»Neid? Auf meinen Bruder? Weil er der Juniorchef der Firma ist? Nein, wirklich nicht! Das hätt’ ich nie gewollt, und Andreas macht das echt gut! Der ist so geschäftstüchtig wie der Vater! Er heiratet übrigens heuer im Sommer!«
»Ach, sag bloß! Wen denn?«
»Die Andrea Holzner von Pang drüben.«
»Ach, die!« Hubertus lachte. »Andreas und Andrea, lustig! Ich glaub, das wird eine tüchtige Geschäftsfrau, die passt zu euch! Arbeitet die nicht im Büro von der Brauerei?«
»Genau! Bin gespannt, wie sich die Andrea und die Mutter vertragen werden.«
»Das ist immer das Gleiche: Alt und jung unter einem Dach, da gibt’s manchmal Probleme. Die Jungen wollen was verändern, nach ihrem Gusto leben, und die Alten wollen alles lassen, wie es immer war. Aber irgendwie geht es dann schon!«
Jörg nickte zustimmend. »Und du? Wie schaut’s bei dir aus? Hast du endlich eine Freundin?«
»Ich?« Hubertus schüttelte den Kopf. »Nein, da ist nichts in Sicht!«
»Geh, das glaub ich dir nicht! Du könntest zehn an jedem Finger haben!«
»Kann schon sein, aber ich mag nicht! Die Mutter würd es zu gern sehen, dass ich eine tüchtige Frau heimbring. Möglichst eine, die von der Gastronomie was versteht, nachdem ich mich geweigert hab, Wirt zu werden.« Er nahm einen Schluck Bier und wischte sich mit der Hand über den Mund. »Nachdem mein Vater vor drei Jahren gestorben ist wird es zu viel für sie, noch dazu mit dem alten Großvater!«
»Das versteh ich! Da hat sie’s nicht leicht, auch wenn sie noch so tüchtig ist!«
»Ich helf aus, wenn ich kann, aber ich brauch auch meine Freiheit. Die Jagerei und das Wild sind mein Leben, darum bin ich Berufsjäger geworden, das weißt du, Jörg. Und mit dem Herrn von Donnersberg hab ich einen guten Jagdherrn. Der wohnt weit weg, in Düsseldorf, und lässt mich hier schalten und walten, wie ich will. Besser kann man es nicht treffen.«
»Klar, versteh ich. Wenn’s halt deine Leidenschaft ist!« Er starrte vor sich auf die Tischplatte. »Ich tät’ auch lieber was anderes bauen als das, was sich der Vater vorstellt. Ich hab nicht Architektur studiert, damit ich Häusl baue, nach dem Motto: Quadratisch, praktisch, gut! Ich möcht lieber was Modernes bauen, etwas Avantgardistisches!«
»Was?!« Hubertus lachte. »Avantgardistisches, hier bei uns? In Gmain? Da wirst nicht viel Glück haben!«
Jörg seufzte. »Ich weiß! Bei uns mögen noch viele den bayrischen Lederhosenstil.« Er sah Hubertus an. »Ich verrat dir was, sag’s aber nicht weiter! Ich hab mich beworben, bei einem Stararchitekten in London!«
Hubertus riss überrascht die Augen auf, dann lachte er schallend. »So was Verrücktes kann nur dir einfallen!«
»Ist nur ein Spaß! Da war in der Architektenzeitung ein Bericht über die. Die haben weltweit große Projekte und jede Menge Preise bekommen, und da hab ich hingeschrieben und mich beworben. Natürlich nehmen die mich nicht, ich hab ja nix vorzuweisen außer einer guten Examensnote! War nur eine Spinnerei von mir!«
Hubertus atmete erleichtert auf. »Du spinnst wirklich manchmal! Das wär für deine Leut’ eine riesige Enttäuschung, Jörg. Das kannst denen nicht antun!«
»Jaja!«, äffte Jörg. »Aber du, du hast den deinen schon eiskalt gesagt, dass du die Wirtschaft nicht übernimmst, die deine Familie seit vier Generationen betreibt, obwohl du der einzige Nachkomme bist«, giftete er.
Hubertus schaute schuldbewusst drein, dann meinte er: »Ich wär kein Wirt, wie mein Vater einer gewesen ist, und daran wäre ich immer gemessen worden. Ich bin nicht der leutselige Typ und Stammtischbruder. Ich brauch’ die Natur und meine Freiheit. Wie früher der Großvater, auch wenn man es nicht glauben mag, wenn man ihn heute sieht, hinfällig und dement, wie er ist!«
»Hast recht, Hubertus! Entschuldige, dass ich so dumm dahergeredet hab! Ich werd mich brav an die Leine legen lassen, dem Vater seine Häusl, Garagen und Stallungen planen und irgendwann heiraten und Kinder kriegen«, seufzte er. »Aber jetzt«, er sah auf die Uhr, »jetzt fahr ich nach Rosenheim, in das neue Lokal, das erst vor Kurzem aufgemacht hat. Soll super sein! Magst nicht mitkommen? Ein bisserl was geht allerweil«, er zwinkerte Hubertus zu.
Der wehrte entsetzt ab. »Nein, wirklich nicht! Erstens will ich hier noch aufräumen, Hilde und Katie helfen, und morgen geh ich früh hinauf in den Wald, um nachzuschauen, wie es mit der Winterfütterung steht.«
»Okay! Übrigens, wenns’d wieder mal ’naufgehst, nimmst mich mit, gell? Ich hab jetzt genügend Zeit, und die Jagdprüfung will ich nicht umsonst gemacht haben!«
»Das machen wir. Ich freu mich, Jörg, wenns’d wieder einmal mitkommst!«
Die beiden gingen vors Haus.
Von unten funkelten die Lichter des Dorfes herauf. Vom nachtblauen Himmel blinkten die Sterne, der Vollmond warf sein silbernes Licht auf die umliegenden Gipfel.
»Ist das schön bei uns!«, Hubertus atmete tief durch. »Ich könnt nirgendwoanders leben als hier!«
Jörg sah den Freund von der Seite an: Gut sah er aus mit seinem markanten, schmalen Gesicht und der kühn geschnittenen Adlernase. Kein Wunder, dass die Mädels hinter ihm her waren, auch wenn der davon nicht beeindruckt schien.
Und Hubertus hatte recht. Sie lebten in einer der schönsten Gegenden Deutschlands, und Hubertus gehörte zweifellos hierher.
Doch er selbst?, fragte sich Jörg. Für immer und ewig hierbleiben, in dieser Enge, wo jeder jeden kannte? Zu gern würde er sich den Wind der großen weiten Welt um die Nase wehen lassen, doch er wusste, bald würden ihm die heimischen Fesseln angelegt werden. Andrerseits – schlecht waren seine Aussichten hier nicht, da hatte es mancher seiner Mitstudenten schwerer, das wusste er!
Es gab zu viele Architekten, die Berufsaussichten waren dementsprechend schlecht. »Auf einen Maurer kommen drei Architekten«, hatte einmal einer seiner Kommilitonen gespöttelt, ganz unrecht hatte er damit nicht!
Jörg war klar: In der Firma seines Vaters würde er immerhin sein sicheres Auskommen haben!
Als Jörg in Rosenheim angekommen war, war es bereits Mitternacht, doch das machte ihm nichts aus. Vor dreiundzwanzig Uhr war ohnehin nichts los in den angesagten Bars, Pubs und Clubs.
Er steuerte das »Metropol« an, das neue Lokal im Zentrum Rosenheims. Von außen blinkende Lichter und Leuchtreklame. Schaut ein bisschen wie ein Puff aus, ist halt Provinz hier, dachte Jörg bei sich.
Am Eingang hing ein großes Plakat mit der Ankündigung eines Sängers, der heute auftreten sollte. Jörg sagte der Name nichts – irgendeine regionale Berühmtheit vermutlich.
Das Lokal bestand aus mehreren Räumen, die ineinander übergingen; es war ziemlich dunkel, laut und brechend voll.
Nach einigem Suchen fand er einen Platz bei ein paar jungen Burschen und ihren Mädchen.
»Und? Wie ist es hier so?«, begann er ein Gespräch.
»Geht schon, satte Preise halt«, meinte einer.
»Aber super Musik«, warf eines der Mädchen ein.
Jörg sah sich um. An der Bar standen ein paar Mädchen, sexy aufgehübscht, die neugierig zu ihm herübersahen, kicherten und flüsterten. Jörg grinste. Freiwild! Da könnte leicht noch was gehen heute.
Eine junge Frau kam zu ihm an den Tisch. »Was willst du trinken?«, wollte sie wissen.
Er sah sie überrascht an. Sie passte irgendwie nicht hierher, fand er. »Eine Rum-Cola«, meinte er und richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf die kichernden Mädels an der Bar.
Kurz darauf kam die junge Bedienung wieder und stellte das Getränk für ihn auf den Tisch.
»Dich hab ich noch nie hier gesehen«, meinte er forsch.
»Ich dich auch nicht«, gab sie kurz angebunden zurück, lächelte aber.
»Stimmt, ich war auch noch nie da!«, grinste er zurück.
»Und ich bin auch neu hier!«
»Aha! Und – gefällt’s dir hier?«, versuchte er, mit ihr ins Gespräch zu kommen, doch da wurde sie von der Bar aus gerufen. »Carina! Getränke für dort hinten!«
Sie eilte davon, Jörg sah ihr nach. Die passte nicht in diese Kneipe, das sah er sofort, sie wirkte viel zu ernst und seriös. Vermutlich eine Studentin, die sich ein Taschengeld verdiente.
Er durchstreifte das Lokal, das Glas in der Hand, auf der Suche nach einem netten Kontakt. Doch es schien, als ob alle Mädchen mit ihrem Freund hier waren, und die blonden Kicherliesen an der Bar waren ihm dann doch zu albern.
Jetzt stand die Kellnerin, die wohl Carina hieß, an der Bar und schenkte Getränke ein. Jörg schwang sich auf einen der Barhocker und sah ihr zu.
Sie war wirklich attraktiv. Lange dunkle Locken umrahmten ihr feines, gebräuntes Gesicht.
»Magst noch was?« Sie blickte ihn aus bernsteinfarbenen Augen an.
»Noch mal eine Cola mit Schuss!«
»Bitte sehr!« Sie schob ihm kurz darauf das Glas hin.
In einem der anderen Räume trat der auf dem Plakat am Eingang angekündigte Sänger auf, denn nun strömten fast alle Gäste aus der Bar dorthin.
Carina ließ sich auf einen Stuhl fallen und strich sich müde über die Stirn. »Endlich ein bissel Ruhe!«
Jörg sah sie an. »Ist doch gut fürs Geschäft, wenn was los ist, oder nicht?«
Sie zog ein Gesicht. »Für mich bleibt nicht viel. Ich hoffe, ich find bald was anderes!«
»Aha! Was suchst du denn?«
»Schon was in der Gastronomie, oder besser noch im Hotel, im Management. Das hab ich gelernt. Doch hier in Rosenheim sieht es schlecht aus, da werde ich wohl oder übel wegziehen müssen.«
Jörg hatte bemerkt, dass das Mädchen zwar gut deutsch sprach, doch mit leichtem Akzent. »Wo kommst denn her? Nicht aus Bayern, oder?«
»Nein, aus Italien.«
»Aus Italien? Und da kannst du so gut Deutsch?«
Carina lächelte. »Meine Mutter ist Deutsche, mein Vater Italiener – und zudem komme ich aus Südtirol, da wächst man zweisprachig auf.«
»Ach so! Und wie hat es dich hierher verschlagen?«
Carina machte ein verschlossenes Gesicht. »Das ist eine andere Geschichte. Magst noch ’nen Drink?«
»Wenn du mittrinkst!«
Sie sah ihn böse an. »Ich bin kein Barmädchen, und meine Getränke kauf ich mir selbst!«
Jörg hob abwehrend die Hände. »He, entschuldige! Ich wollte dich nicht beleidigen, nur nett sein!«
»Ist okay!« Sie sah auf die Uhr.
»Wie lange musst du noch arbeiten?«
»Noch eine halbe Stunde, den Rest macht heute meine Freundin, die Pia.«
»Und wo wohnst du?«
»Etwas außerhalb von Rosenheim.«
»Wie kommst dann heim?«
Sie sah ihn belustigt an. »Na, zu Fuß!«
Jörg sah nun seinerseits auf die Uhr. Es war kurz vor zwei. »Mitten in der Nacht? Allein? Ist das nicht gefährlich?«
Sie zuckte mit den Schultern.
»Ich bin mit dem Auto da, ich kann dich gern heimbringen!«, schlug er vor.
Sie sah ihn schelmisch an. »Und das wäre weniger gefährlich?«
Er richtete sich auf dem Barhocker auf. »Ich bin ein Ehrenmann, junge Frau!«, meinte er mit tief verstellter Stimme.
»Na, dann!« Jetzt lachte sie, und süße Grübchen erschienen in ihren Wangen. »Wenn das so ist, darfst mich natürlich gerne nach Hause bringen.«
Kurz darauf saßen sie im Auto vor dem Mietshaus am Stadtrand, in dem Carina wohnte.
Jörg hatte die Standheizung eingeschaltet und fürsorglich noch eine Decke, die auf dem Rücksitz lag, über Carina gebreitet.
Carina hatte eine Flasche Wein aus dem Lokal mitgebracht, und sie tranken abwechselnd aus der Flasche.
»Besonders edel ist das hier nicht gerade«, meinte sie, »und du solltest nicht zu viel trinken, du musst ja noch fahren!«
»Das geht schon! Aber erzähl, wie du nach Rosenheim kommst, in diese Bar.«
Die junge Frau sah hinaus auf die schwach erleuchtete Straße und schwieg.
»Na, komm! So was Schlimmes wird es nicht sein, oder?«
»Doch, für mich ist es schlimm!« Ernst sah sie ihn an. »Es ist alles blöd gelaufen, und jetzt bin ich auf der Suche nach einer Anstellung. Das in der Bar ist ein Notbehelf, den Job hat mir meine Freundin Pia beschafft. Sie wird Geschäftsführerin dort, und ich wohne bei ihr – hier, in ihrer Wohnung.« Sie deutete zu dem schäbigen Mietshaus. »Nur vorübergehend.«
»Und warum bist weg aus Südtirol?«
Sie seufzte. »Meine Eltern hatten dort ein Hotel, in der Nähe vom Jaufenpass, auf dem Weg nach Meran. Eigentlich sagen sich da Fuchs und Hase gute Nacht, doch wir hatten viele Stammgäste. Es war ein schönes Haus!« Sie seufzte wieder und schwieg.
Jörg wartete geduldig, bis sie fortfuhr.
»Es war ausgemacht, dass ich mit meinem Bruder Gianni das Hotel betreibe, weil sich meine Eltern zurückziehen wollten. Mein Bruder ist Koch, ein guter sogar, und alles hätte gepasst. Er hätte die Gastronomie und ich das Hotelmanagement übernommen. Wir hatten Pläne für einen Umbau, mit Wellnessbereich und so. Das braucht man heutzutage, wenn man vier oder fünf Sterne haben will.« Sie schwieg und sah traurig vor sich hin.
»Und? Was ist draus geworden?«
»Nichts!«
»Wie das, wenn ihr euch einig wart?«
Carina verbarg das Gesicht in den Händen und schüttelte den Kopf. »Was wir nicht wussten, war, dass Gianni spielsüchtig ist. Natürlich hatten wir uns gewundert, dass er an seinen freien Tagen verschwand und erst spät nachts nach Haus kam, doch an so was hätten wir nie gedacht! Mein Vater meinte, er hätte vielleicht eine nicht standesgemäße Freundin …« Sie lachte bitter. »Das kam noch dazu: Die hat ihn richtig ausgenommen! Na ja«, sie winkte ab. »Das Ende vom Lied war, dass meine Eltern das Hotel weit unter Wert verkauften, um Giannis Schulden bezahlen zu können. Meine Zukunftsträume waren damit ausgeträumt; unter einem neuen Besitzer im früher eigenen Hotel angestellt zu sein, das wollte ich nicht. Gottlob blieb meinen Eltern noch eine Wohnung bei Meran, wo sie jetzt wohnen.«
»Und dein Bruder? Was macht der jetzt?«
»Er hat eine Anstellung in einem Gasthof gefunden, wie lange das geht, weiß man nicht. Auch jetzt ist er noch nicht von seiner Sucht geheilt und will sich nicht helfen lassen. Er ist völlig uneinsichtig, wie das bei Suchtkranken eben so ist.«
»O je! Das ist eine verdammt scheußliche Geschichte!«
»Das kann man sagen!«
Sie lächelte Jörg zaghaft an, und er sah, dass ihre Augen feucht schimmerten. Zu gern hätte er sie tröstend in die Arme genommen, doch er spürte instinktiv, dass sie das nicht gewollt hätte. »Aber warum bist du jetzt hier – gäbe es in Südtirol keine Arbeit für dich, bei dem Tourismus dort?«
»Ich hatte mit meinem Bruder einen schlimmen Streit. Ich hab ihm Vorhaltungen gemacht, war böse auf ihn. Das hat meine Eltern in Rage gebracht. Gianni ist ihr Sohn, auf den sie große Hoffnungen gesetzt hatten! Zum Schluss habe ich mich noch mit meinen Eltern zerstritten. Sie sehen ihm alles nach, doch damit helfen sie ihm nicht!« Jetzt kullerten Tränen über ihre Wangen.
Jörg ergriff ihre Hand und drückte sie.
»Zum Glück hatte ich Pia. Mit ihr war ich in der Hotelfachschule, sie war oft zu Gast bei uns und hat den ganzen Schlamassel mitbekommen. Ihr Freund Franco, auch ein Italiener, hat das ›Metropol‹ hier aufgemacht, es lief von Anfang an gut. Sie hat mich hierher mitgenommen, damit ich erst mal weg bin von zu Hause.«
Jetzt begann Carina leise zu weinen, Jörg legte mitfühlend den Arm um sie. »Tut mir echt leid, Carina. Das wird wieder gut, irgendwie«, versuchte er, sie zu trösten.
Carina wühlte in ihrer Tasche, zog ein Taschentuch heraus, wischte sich die Tränen ab und schnäuzte sich. »Vielleicht. Irgendwann und irgendwie!«
»Du hast einen guten Beruf, und wenn es hier nichts gibt für dich: Hotelfachleute sind gesucht, mehr als Architekten, das kann ich dir sagen!«, fügte er hinzu. »Weißt was, Carina? Da ist meine Nummer«, er schrieb seine Handynummer auf ein zerknittertes Stück Papier, das er aus der Ablage vor sich zog. »Wenn du magst, ruf mich einfach mal an. Dann machen wir an einem deiner freien Tage einen schönen Ausflug zusammen. Nach Salzburg oder München, irgendwohin, wo du auf andere Gedanken kommst! Was meinst du?«
Carina lächelte unter Tränen. »Das wäre schön! Pia fühlt sich immer verpflichtet, mich überallhin mitzunehmen. Aber sie und Franco wollen sicher mal was alleine machen, in ihrer ohnehin kargen Freizeit.«
»Also dann … Ich warte, dass du mich anrufst! Oder willst du mir deine Nummer geben?«
»Nein, nein, ich ruf dich an, an einem meiner nächsten freien Tage! Und danke, Jörg, dass du mich heimgebracht und mir zugehört hast.« Sie lächelte ihn an. »Ich hab hier außer Pia niemanden, mit dem ich reden kann! Das hat mir gut getan!«
Normalerweise würde ich ein Mädchen jetzt küssen oder sogar auf mehr hoffen, dachte Jörg bei sich, aber hier schien ihm das nicht angebracht. Er legte ihr nur leicht die Hände auf die Schultern und hauchte ihr einen flüchtigen Kuss auf die Wange. »Kopf hoch, Carina! Das wird wieder, wirst sehen!«
Er sah ihr nach, bis sie hinter der Haustür verschwand, dann startete er den Wagen und fuhr nach Hause.
Auf dem Weg nach Gmain gingen ihm das Mädchen und ihre Geschichte nicht aus dem Kopf. Es war fünf Uhr morgens, als er endlich daheim ankam, und er wusste, dass sich seine Mutter Sorgen gemacht hatte. Was für himmlische Zeiten waren das während seiner Studienzeit gewesen, wo er unkontrolliert hatte ausgehen können, solange er wollte und konnte!
Als er endlich im Bett lag, konnte er nicht einschlafen. Immer wieder stand das Bild Carinas vor ihm, ihr verweintes Gesicht mit den großen traurigen Augen!
Ob sie ihn anrufen würde, wie versprochen? Er hoffte es inständig! Und wenn nicht? Würde er den Mut aufbringen und sie in der Bar aufsuchen?
Er wunderte sich über diese Gedanken, bisher hatte er an flüchtige Frauenbekanntschaften wie diese hier keine große Überlegung verschwendet. Tief in seinem Innersten machte sich ein Gefühl breit, das er so noch nie gespürt hatte. Er spürte sein Herz klopfen. Hatte er sich womöglich verliebt?
Jörg wachte auf, als heftig an seine Zimmertür geklopft wurde.
»Was ist denn los?«, brummte er.
»Was los ist? Es ist fast Mittag! Willst net aufstehen?« Es war die verärgerte Stimme seiner Mutter.
»Ich komm schon!« Missmutig schwang er sich aus dem Bett und sah auf die Uhr. Verdammt, schon nach elf! Er schlurfte ins Bad und duschte, dann ging er hinunter in die Küche.
»Jörg! Schämst dich net? Bis in den helllichten Tag schlafen? Du bist nimmer im Studium, das musst dir merken, hörst!«, schimpfte seine Mutter. »Der Vater und der Andreas, die arbeiten seit sieben. Gleich werden’s zum Essen kommen, und du – du bist grad aufg’standen!«
»Ja, ja, ist gut! Ich geh rüber in den Betrieb!« Er flüchtete vor dem weiteren Gezeter der Mutter.
Jörg hatte es nicht weit zum Betriebsgelände. Die Eltern hatten am Rande des Gewerbegebietes ein stattliches Wohnhaus gebaut, und Andreas war gerade dabei, das oberste Geschoss als Wohnung für sich und seine Verlobte auszubauen.
»Ach, der Herr Architekt! Auch schon auf?«, empfing ihn sein Bruder spöttisch, als Jörg ins Büro trat. Der Vater sah nur kurz vom Computer auf, vor dem er saß.
»Ist ein bisserl spät g’worden gestern«, murmelte Jörg. »Soll nimmer vorkommen.«
»Na«, meinte der Vater, »wollen wir’s hoffen. Komm mal mit, Jörg!« Der kräftige Mann stand auf und ging mit seinem Sohn über den Flur. »Da, schau! Wir haben gestern Abend noch Sachen ’rübergetragen in dein neues Büro.« Stolz öffnete Josef Reitinger die Tür, an der das messingfarbene Schild »Jörg Reitinger – Architekt« prangte.
»Ui!«, stieß Jörg überrascht aus, als er die Möblierung seines zukünftigen Arbeitszimmers sah. Braunes Spanplattenzeug, schlicht scheußlich.
»Gefällt’s dir net?«, fragte der Vater, als er Jörgs entsetzte Miene sah.
»Äh, ehrlich gesagt …«, stotterte der, »ehrlich gesagt, hab ich mir da was anderes vorgestellt. Moderner! Hättest mich ruhig vorher fragen können, Papa! Soll ja mein Büro sein, oder nicht?« Er war sauer und enttäuscht.
»Wenn du gestern da gewesen wärst, hättest noch was sagen können. Jetzt haben Andreas und ich es eben zusammenmontiert, als Überraschung. Ich find, es schaut gut aus!«, verteidigte sich der Vater. »Jetzt fängst erst einmal mit der Arbeit an, und wenn du was verdient hast, kannst dir dein Büro einrichten, wie’s dir gefällt.« Der Vater schien enttäuscht zu sein.
Jörg nickte resigniert. Das fing ja gut an!
»Übrigens – nach dem Essen fahren wir rüber zu dem Grund, den ich baureif machen lass. Den kannst dir anschauen und dir Gedanken machen, was man da alles bauen könnte, wenn der Bebauungsplan genehmigt ist. Das wird eine große Sache! Wirst sehen!«, begeisterte sich der Vater, Jörg nickte lahm.
Der Vater sah auf seine Armbanduhr. »Mittagszeit! Die Mama wartet mit dem Essen! Einen Mordshunger hab ich. Du auch, oder? Oder hast grad erst gefrühstückt?«
»Nein! Ich hab net gefrühstückt!«, gab Jörg gereizt zurück.
»Also, dann! Anschließend fahren wir das Grundstück anschauen. Die Siedlung, die da entstehen soll, muss auf jeden Fall was Gediegenes, Solides werden, gell! Nix G’spinnertes, wie man es jetzt manchmal sieht, sondern etwas, was nach Gmain passt!«
Jörg nickte ergeben. Genau so hatte er es befürchtet!
Am Abend zog es ihn hinauf zum »Schlossberg«. Wohin sonst sollte man in diesem Kaff hingehen? Für einen kurzen Moment hatte er daran gedacht, ins »Metropol« zu fahren, doch dann den Gedanken verworfen. Zum einen konnte er es sich nicht schon wieder erlauben, spät nach Hause zu kommen, zum anderen wollte er dieser Carina nicht hinterherlaufen. Den ganzen Tag hatte er insgeheim auf ihren Anruf gewartet und war nun enttäuscht, weil sie nicht angerufen hatte. Ein paar Tage würde er sich noch gedulden und sie dann im »Metropol« besuchen, wenn sie sich bis dahin nicht gemeldet hatte. Das Mädchen ging ihm nicht aus dem Kopf.
»Und? Wie war’s gestern in Rosenheim?«, begrüßte ihn Hubertus, der gerade aus dem Wald gekommen war und noch in seiner Jagdkleidung war und den Jägerhut aufhatte.
Wieder fiel Jörg auf, wie gut der Freund aussah, geradewegs wie einem Heimatfilm entstiegen. »Ach, ist schon gegangen.«
»Wann warst dann daheim?«
»Fängst jetzt auch noch an?«, gab Jörg aufgebracht zurück. »Hab schon daheim jede Menge Ärger g’habt!«
Hubertus lachte. »Jetzt pfeift ein anderer Wind. Jetzt ist’s vorbei mit dem Lotterleben!«
»Lotterleben! Ihr meint alle, ein Studium macht man mit links, da müsste man nix tun!«
»Nein, das weiß ich schon, Jörg!«, meinte Hubertus begütigend. »Hast es gut gemacht! Das wird, wirst sehen!«
»Ich hoff’s! Wenn ich an das grässliche Büro denk, wird mir schlecht!« Er erzählte Hubertus von der Büromöblierung.
»O je!«, Hubertus lachte schallend. »Der Jörg in braunen Spanplatten! Das richtet sich alles, wirst sehen, irgendwie!«
Der Ausspruch erinnerte Jörg an den Abend mit Carina und daran, wie auch er zu ihr gesagt hatte: »Das wird wieder, irgendwie!«
»Was schaust so nachdenklich?«, holte ihn Hubertus aus seinen Gedanken.
»Ach, nix!«, wehrte Jörg ab.
»Hast den Winterblues? Weißt was, am Samstag gehen wir zusammen auf den Rosskopf. In der Natur draußen, da kommst auch gleich auf ganz andere Gedanken! Da vertreibt es dir deinen Frust!«
So war es! Als sie am Samstagmorgen, noch im Dunkeln, zusammen auf den Berg stiegen, sah die Welt gleich anders aus. Lukas, Hubertus’ Jagdhund – eine schöne Tiroler Bracke, die Hubertus als Welpe bekommen und selbst abgerichtet hatte – wedelte freudig erregt mit dem Schwanz, als er die zwei Männer begleiten durfte.
Oben angekommen, ging gerade die Sonne hinter den Bergen auf. Die schneebedeckten Gipfel strahlten in schimmerndem Rosa und Gelb, unter ihnen bedeckten Nebelwolken wie Watte das Tal. Hier droben fühlte man sich, als wär man allein auf der Welt, entrückt von allem. Da musste einem das Herz aufgehen!
»Verstehst jetzt, dass ich nie von hier weg möchte?«, fragte Hubertus leise, fast schon andächtig und unterbrach Jörgs Gedanken.
Der Freund nickte, in diesem Moment fühlte er genauso, fühlte sich seinem Freund und der Natur verbunden.
Beim Abstieg, kurz bevor sie zum »Schlossberg« kamen, meinte Hubertus: »Schau, jetzt weißt, was ich mein, wenn ich sag, dass ich die Natur und die Tiere brauch. Da gäb ich alles andere dafür – wahrscheinlich liegt mir das im Blut. Das hab ich vom Großvater! Ob du es glaubst oder nicht: Die Mutter war als junges Madl auch so, das hat mir der Großvater früher erzählt. Bis sie meinen Vater kennengelernt hat und Wirtin geworden ist!«
»Und? War sie damit glücklich?«, hakte Jörg nach.
Hubertus zuckte mit den Schultern. »Da hat man früher, glaub ich, net viel gefragt! Da hat man gemacht, was man hat machen müssen. Aber den Vater, den hat sie gern gehabt und er sie! Glaub ich wenigstens, sonst würd sie net immer noch so um ihn trauern!« Er blieb stehen und sah Jörg an. »Sie hat’s net leicht, so allein – immer mit dem kranken Vater um sich! Was mit der Wirtschaft wird, wenn sie nimmer kann, das geht ihr sicherlich im Kopf rum!«
Sie waren am Gasthaus »Zum Schlossberg« angekommen, Margret hantierte in der Küche. Der alte Großvater saß am Küchentisch, vor sich ein Haferl Kaffee, in das er Brot einbrockte.
»Wie war’s droben?«, begrüßte Margret die beiden, als sie in die Küche kamen.
»Schön! Überwältigend schön!«
Margret nickte, wehmütig, wie es Jörg schien. Er zog seine Jacke aus und schnupperte.
»Magst einen Kaffee? Ein paar Rohrnudeln hab ich auch, die hast du doch gern!«
»Freilich, immer!« Jörg hockte sich zum Großvater auf die Bank.
»Wie geht’s, Opa?«, fragte er den Alten.
Der sah ihn aus wässrigen Greisenaugen an. »Wer bist jetzt nachher du?«, murmelte er.
»Der Jörg bin ich, kennst mich nimmer?«
»Der Jörg! Mhm, jaja!« Er nickte, tunkte weiter Brot in seinen Kaffee.
Margret sah liebevoll zu ihm hin und dachte an die Zeit, als sie als junges Mädchen mit dem Vater auf die Jagd gegangen war. Was für ein schneidiger und bildschöner Mann er gewesen war, der Hubertus hatte viel von ihm! Er war ein rechter Hallodri gewesen, im Gegensatz zu seinem Enkel Hubertus. Jetzt saß er hier: ein alter, hilfloser Mann, der auf sie angewiesen war.
»Wie geht’s daheim, Jörg?« Margret drängte die wehmütigen Gedanken zurück.