Was ist Europa? Ist es eine Wirtschaftsunion mit allen Problemen, Krisen und Turbulenzen, die zurzeit nur schwer zu bändigen sind? Oder ist es die Vision einer Solidar- und Wertegemeinschaft, die sich auf dem Weg zur Versöhnung untereinander, zum Respekt voreinander, zur Freundschaft miteinander auf dem Weg zum Frieden und zur sozialen Gerechtigkeit befindet? Europa hat eine lange Geschichte hinter sich, die vornehmlich von christlicher, aber auch von jüdischer und islamischer Tradition geprägt wurde. Europa ist ein Schmelztiegel der Konfessionen und Religionen, die heute mehr denn je gefordert sind, mit ihren eigenen Werten ein humanes und sozialethisch geprägtes Europa zu bauen. Es ist ein gemeinsamer Prozess des Voranschreitens und der Wandlung. „Denn dieser Prozess der europäischen Einigung ist wahrlich keine europäische Selbstbezogenheit. Er ist vielmehr das größte Wagnis an Solidarität, das seit 60 Jahren in der gesamten Welt eingegangen wurde und das nicht aufgehört hat, die Augen zur Welt hin offen zu halten. Jenseits noch des ‚Internationalen‘ ist es der Sinn für das Umfassende, das Universale, der das europäische Bewusstsein seit langem antreibt.“ (Francois-Xavier Dumortier SJ, Rektor der Päpstlichen Universität Gregoriana in Rom).
Wir reden, schreiben und diskutieren viel und oft auch gegensätzlich über Europa. Dabei haben etliche unter uns anscheinend schon vergessen, dass die Europäische Union im Jahr 2012 den Friedensnobelpreis erhalten hat. In der Begründung des Nobelpreiskomitees hieß damals unter anderem, dass die EU und ihre Vorgänger über mehr als sechs Jahrzehnte zur Förderung von Frieden und Versöhnung, Demokratie und Menschenrechten in Europa beigetragen haben. Das ist mindestens ein Argument dafür, dass wir weniger Verächter, Zweifler und Ankläger brauchen, sondern vielmehr Frauen und Männer, die für die Zukunft Europas Verantwortung tragen. Natürlich wissen wir, dass die augenblickliche Lage in Europa mit ihren erheblichen Turbulenzen die größte Gefahr für die innere Friedfertigkeit der Mitgliedsstaaten ist. Die Finanz- und Wirtschaftskrise hat sich zu einer großen Vertrauenskrise ausgeweitet. Es ist in der Tat so, dass in den letzten Jahren die Europäische Union von der Politik in sträflicher Weise überwiegend auf eine ökonomische Dimension und auf ein Zentralbanksystem reduziert wurde. Hinzu kommen die Vorstellungen der Gesellschaft, dass die Europäische Union ein riesiger Krake sei, der immer mehr Zuständigkeiten an sich reißt. Das ist die Wahrnehmung vieler Menschen, und diese schafft eine große Distanz zu Europäischen Institutionen. Zusätzlich droht die soziale Schere weiter auseinander zu gehen. Lippenbekenntnisse für ein soziales Europa reichen nicht aus. Ein soziales Europa ist möglich, und es steht nicht im Widerspruch zu wirtschaftlichem Erfolg.
Welche Aufgaben haben nun in einer solchen Situation die Kirchen in Europa? Europa ist nicht nur eine Wirtschaftsunion, sondern wird auch getragen von einem gemeinsamen Wertefundament und ist von einem christlichen Menschenverständnis geprägt. Es ist eine der Verpflichtungen der Kirchen, dies in die politischen Diskussionen und Debatten einzubringen. Dazu gehören kirchliche Kernanliegen wie die Förderung von Frieden und Gerechtigkeit und die Bewahrung der Schöpfung. Deshalb müssen die Kirchen Verantwortung dafür übernehmen, den europäischen Kontinent und seine sozialpolitische Ordnung weiter zu entwickeln. Zumal sich die Kirchen Europas in der Charta Oecumenica verpflichtet haben, sich auf Grund ihres christlichen Glaubens für ein humanes und soziales Europa einzusetzen, in dem die Menschenrechte und Grundwerte des Friedens, der Gerechtigkeit, der Freiheit, der Toleranz, der Partizipation und der Solidarität zur Geltung kommen.
Trotz aller kritischen Stimmen ist Europa bis heute eine Erfolgsgeschichte. Noch nie hat es in der langen und oft blutigen Geschichte Europas so viel Freiheit und Chancen, so wenig Kriegsgefahr und trennende Grenzen, so viel Frieden gegeben wie heute. Umso mehr Zündstoff birgt die Verschärfung der wirtschaftlichen Ungleichgewichte zwischen den Staaten Europas und die sich vertiefende Kluft zwischen Arm und Reich innerhalb der Nationen in sich. Zudem sind die wirtschaftlichen Krisen, mit denen wir derzeit zu tun haben, keine Krisen der Staaten, sondern Krisen der Banken und ungezügelter Spekulationen an den Börsen. Durch die Krise und ihre Auswirkungen für viele Menschen darf die Solidarität zwischen den Ländern Europas nicht zu kurz kommen. Wenn die Europäische Gemeinschaft schon daran scheitern würde, dass einzelne Länder die Solidarität mit kriselnden Staaten aufkündigen, dann wäre das europäische Haus von Anfang an auf Sand gebaut worden. Nur ein solidarisches Europa hat auch Zukunft. Deutschland hat dem europäischen Wirtschaftsraum einen großen Teil seines Wohlstands zu verdanken. Und es ist auch an der Zeit, davon wieder etwas an das gesamte Europa zurück zu geben. Für die Kirchen ist es Teil ihrer christlichen Verantwortung, an dem Projekt „Soziales Europa“ mit und weiter zu arbeiten. Die Kirchen haben eine immense Verantwortung im zusammenwachsenden Europa. Das setzt voraus, dass sie auch zu einem offenen Dialog mit den anderen christlichen Konfessionen und mit den anderen Religionen bereit sind.
Für die Jahre 2007 bis 2013 hat die EU das Programm „Europa für Bürger und Bürgerinnen“ ausgerufen. Die EU unterstützt mit einem Budget von 250 Millionen Euro Projekte und Aktivitäten, welche das Ziel haben, den 500 Millionen Einwohnern der EU eine größere Rolle und stärkeres Gewicht bei der Entwicklung der EU zu verleihen. „Durch die Finanzierung von Projekten und Aktivitäten, an denen Bürger teilnehmen können, fördert das Programm ein gemeinsames europäisches Bewusstsein, gemeinsame Werte und die Identifikation mit der Entwicklung der EU. Die durch das Programm geförderten Projekte werden von lokalen Behörden, Nichtregierungsorganisationen (NRO), Denkfabriken (Think-Tanks), Gewerkschaften, Universitäten u. a. durchgeführt. Die Projekte bringen Menschen zusammen, um über die Integration, die Politik und die Werte der EU zu diskutieren und um gegenseitiges Verständnis zu fördern. Außerdem dienen diese Projekte dazu, ihr Bewusstsein über die gesellschaftlichen Auswirkungen von EU-Maßnahmen zu schärfen und sie dazu zu ermutigen, an der Gestaltung der Zukunft der EU mitzuwirken.“ (Quelle: EU Bürgerschaft. http://eacea.ec.europa.eu/citizenship/index_de.php)
Aus diesem Grund hat die Europäische Kommission, auch im Blick auf die Europawahl im Jahr 2014, die Kirchen eingeladen, ihre Meinung zu diesem Thema im Rahmen eines Dialogseminars, das am 20.06.2013 in Brüssel stattfand, darzulegen. Hierzu einige von den auf dieser Tagung geäußerten Merkmalen der Bürgerschaft aus christlicher Sicht:
Im Prozess der Entwicklung eines vereinten Europas spielt das Engagement der europäischen Jugend eine entscheidende Rolle. Sie wird und muss am Bau des Hauses Europa für Zukunft wesentlich beteiligt sein. Deshalb soll sie die Möglichkeiten zu einer qualifizierten und umfassenden Bildung erhalten. Nicht nur die europäische Geschichte des 20. Jahrhunderts, sondern auch die europäischen Institutionen wie Europäisches Parlament, die EU-Kommission und die Politik, die in und durch Europa betrieben wird, müssen ihr vertraut sein; dazu sollte sie Kenntnisse über religiöse, ethische und sozialpolitische Aspekte und das damit verbundene Verständnis füreinander entwickeln. Und für die ganz praktische Arbeit europaweit z. B. in den sozialen und gesundheitsökonomischen, ethischen und kirchlich-diakonischen Berufen, in der Medizin, in Betriebswirtschaft und Unternehmensführung wissenschaftlich auf einem hohen Niveau ausgebildet sein. In der Diakonie Neuendettelsau führt das im Jahr 2001 gegründete „Europa-Institut der Diakonie Neuendettelsau“ (http://www.diakonieneuendettelsau.de/diakonie-neuendettelsau/internationales-engagement) wichtige EU-Projekte durch. Der Schwerpunkt liegt dabei auf der Ausbildung der jungen Generation für die konkreten Herausforderungen einer europäischen und globalen Welt. So sind Kontakte und Projekte in Polen, Tschechien, der Slowakei, Ungarn, Rumänien, Russland und Spanien gewachsen. Beispielhaft sind zu nennen der Studiengang mit Schwerpunkt „Soziales Management“ an der Deutsch-Rumänischen Universität in Sibiu/Hermannstadt und Praktika der rumänischen Studenten in Deutschland, um ihr Wissen zu vertiefen.
Das 2003 gegründete Netzwerk „SoCareNet Europe“ (http://www.socarenet.org) ist ein offenes internationales Projekt-Netzwerk von Anbietern sozialer und gesundheitlicher Dienstleistungen in Mittel- und Osteuropa. Unser Ziel ist es, einen aktiven Erfahrungsaustausch zwischen international aktiven Trägern sozialer Arbeit zu fördern und neue Kooperationen zu unterstützen. Außerdem bietet das „Institut für Spiritualität und innovatives Management“ (ISIM: Institute for Spirituality and innovative Management; http://www.diakonieneuendettelsau.de/ISIM) gemeinsam mit der Orthodoxen Theologischen Fakultät der Babes-Bolyai-Universität in Cluj-Naboca/Klausenburg Weiterbildungen und Studentenaustausche an. Nicht zuletzt werden an der neuen „Wilhelm-Löhe-Hochschule“ der Diakonie Neuendettelsau in Fürth/Bayen (http://www.wlh-fuerth.de) zurzeit Bachelorstudiengänge in Gesundheitsökonomie und Ethik, Gesundheitsmanagement und Technologie im Sozialmarkt sowie Management im Gesundheits- und Sozialmarkt angeboten. Auch wird an einem europaweiten Kontakt mit und für die Studenten gearbeitet.
Europa ist nicht nur eine Wirtschafts- und Währungsunion, sondern auch in hohem Maße eine Gemeinschaft der politischen und sozialethischen Werte. Sie müssen zusammengebunden sein in einer grenzüberschreitenden Gemeinschaft, in die jedes Land seine kulturelle Identität mit ihren vielfältigen Werten und Traditionen einbringen kann, und die trotz aller Unterschiede zusammenwächst. Katholische, orthodoxe und evangelische Kirchen können und dürfen sich – trotz ihrer unterschiedlichen Entstehung, Entwicklung, Lehre und Gestaltung – dieser Aufgabe nicht entziehen. Sie haben nicht nur Europa, sondern auch viele Teile der Welt in Vergangenheit und Gegenwart bis heute mit ihren christlichen Werten nachhaltig beeinflusst und geprägt. Das gilt nun auch für die sozialen Herausforderungen und für die Verantwortung eines sozialethisch zu gestaltenden Europas. Einen wesentlichen Beitrag der Verständigung durch den Dialog der theologischen Wissenschaft leisteten dabei bisher drei „Theologische Konsultationen“, die das „Ecumenical Spiritual Center der Diakonie Neuendettelsau“ gemeinsam mit Vertretern der Rumänischen Orthodoxen Kirche durchgeführt hat. Das Thema der „Ersten Theologischen Konsultation“ (2008 in Neuendettelsau) lautete: „Alle Diakonie geht vom Altar aus – Theologie und Praxis der Diakonie im ökumenischen Dialog.“ Die „Zweite Theologische Konsultation“ (2011 im Orthodoxen Kloster Brancoveanu in Sambata de Sus, Rumänien) stand unter dem Thema „Der Heilige Geist – unsere Hoffnung. Ein evangelisch-orthodoxer Dialog.“ Und die „Dritte Theologische Konsultation“ setzte sich mit dem Thema „Das Verständnis des Menschen als Ebenbild Gottes – Grundlage des ökumenischen Dialogs“ auseinander. Dialoge, die beispielhaft zeigen, wie Kirchen auf europäischer Ebene nicht nur aufeinander zugehen, sondern auch miteinander das Verbindende suchen (www.diakonieneuendettelsau.de).
In dem vorliegenden 6. Band der Reihe „Dynamisch Leben gestalten – innovative Unternehmensführung in der Sozial- und Gesundheitswirtschaft“ erschließen hervorragende Kenner der Sozialethik aus dem katholischen, orthodoxen, evangelischen, ökonomischen, rechtlichen und politischem Bereich die jeweiligen thematischen Grundzüge und Schwerpunkte und entwickeln Perspektiven für Europa. Für den Weg der europäischen Länder in ihrer Vielfalt zu einer wirklich humanitären und sozialgerechten Gemeinschaft sind Innovationen aus christlicher und ökumenischer Perspektive erforderlich. Sie fördern in der Gesundheits- und Sozialwirtschaft die konkrete Gestaltung einer Gesellschaft für soziale Gerechtigkeit, für den sozialen Frieden, für Bildungsgerechtigkeit und für einen ökonomischen Ausgleich in der Marktwirtschaft sowie für die Bewahrung der Schöpfung. Eine der entscheidenden Fragen dabei ist allerdings, wie die Umsetzung der sozialethischen Dimensionen, des Respekts und der gegenseitigen Anerkennung Erfolg haben kann. Unerlässlich sind dabei die aktive Beteiligung und Unterstützung der politischen Vertreter im europäischen Parlament und die der kirchlichen, caritativen und diakonischen Vertreter in Brüssel und an den diplomatischen Knotenpunkten.
Ich danke den namhaften, auch international und wissenschaftlich erfolgreichen und ausgesprochen europäisch gesinnten und engagierten Autorinnen und Autoren dieses Buches, dass sie sich bereit erklärt haben, zu dem weitgefächerten Thema „Sozialethische Dimensionen in Europa – Von einer Wirtschaftsunion zu einer Wertegemeinschaft“ aus ihrer jeweiligen Perspektive und Erfahrung nicht nur klar Stellung zu beziehen, sondern auch fundiert und gewissenhaft zu argumentieren. Sie schreiben, wofür sie stehen, und öffnen damit den notwendigen und weiterführenden Dialog mit allen, die ernstlich, gewissenhaft und geduldig am Bau eines sozialen Europas mitarbeiten. Das gilt auch in Zukunft für den offenen Dialog und für die Einbeziehung des Islam.
Die Beiträge in diesem Buch wollen Aufmerksamkeit und Achtsamkeit für die Gestaltung eines solidarischen und sozialen Europas wecken.
Professor Dr. h. c. Hermann Schoenauer
Ulrich H. J. Körtner
Vor vierzig Jahren, an 16. März 1973, wurde auf dem Leuenberg bei Basel die „Konkordie reformatorische Kirchen in Europa“ unterzeichnet. Nach dem Ort, an dem die feierliche Unterzeichnung stattfand, trägt sie den Namen Leuenberger Konkordie.1 Sie ist die theologische Grundlage der Gemeinschaft Europäischer Kirchen in Europa (GEKE), die bis 2003 Leuenberger Kirchengemeinschaft hieß, und der heute 105 protestantische Kirchen aus ganz Europa sowie einige Kirchen aus Südamerika angehören.
Seit ihrer 5. Vollversammlung in Belfast hat die GEKE das Thema einer evangelischen Sozialethik im europäischen Kontext auf ihre Tagesordnung gesetzt und seither ihre sozialethische Arbeit konsequent ausgebaut. Zunächst wurde ein Fachkreis Ethik eingerichtet, der den Rat der GEKE in ethischen Fragen berät und auch mit der Erarbeitung von Stellungnahmen beauftragt wird. Außerdem gibt es einen Sozialethikbeauftragten der GEKE, der hauptamtlich bei der Church and Society Commission der Konferenz Europäischer Kirchen in Brüssel mitarbeitet. Die sozialethische Arbeit der GEKE ist auf diese Weise mit den Aktivitäten anderer Kirchen vernetzt. Gleichzeitig gewinnt die GEKE auf diese Weise innerhalb der Konferenz Europäischer Kirchen an sozialethischem Profil.
In den vergangenen Jahren ist die GEKE wiederholt mit Dokumenten zu ethischen Fragen an die Öffentlichkeit getreten. Zwei Beispiele seien genannt. Große Beachtung hat die 2011 veröffentlichte Orientierungshilfe „Leben hat seine Zeit, Sterben hat seine Zeit“ zu ethischen Fragen am Lebensende gefunden, die bereits in mehrere Sprachen übersetzt worden ist.2 Die 7. Vollversammlung der GEKE in Florenz 2012 verabschiedete ein Wort zur gegenwärtigen Lage Europas mit dem Titel „Frei für die Zukunft – Verantwortung in Europa“. In Anbetracht der anhaltenden Finanzkrise setzt sich die GEKE dafür ein, Mut zur Wahrheit zu fassen, die Demokratie auf europäischer Ebene zu stärken, die sozialen Folgen der Krise wie auch die sozialen Härten der von Europas Politikern gewählten Krisenbewältigungsstrategien zu beachten, die Steuerpolitik gerecht auszurichten, den Finanzmarkt zu regulieren, einen Rückfall in den Nationalismus zu verhindern, das geltende Wirtschaftsmodell zu überprüfen und für ein solidarisches Europa einzutreten, dessen Bereitschaft zur Solidarität nicht an den Grenzen einzelner Staaten endet und über die Grenzen Europas hinausreicht.
Das zunehmende Engagement der GEKE in sozialethischen Fragen bedeutet in der Geschichte der Leuenberger Konkordie und der auf ihr gründenden Kirchengemeinschaft eine neue Entwicklung. In der Vergangenheit haben sich Lehrgespräche der Leuenberger Kirchengemeinschaft bzw. der GEKE zunächst nur mit Fragen der Bekenntnisses und der Dogmatik befasst. Fragen der Ethik haben in der Anfangszeit eine untergeordnete Rolle gespielt. Jedoch erklären die Signatarkirchen in LK 11, dass sie erkennen, „daß Gottes fordernder und gebender Wille die ganze Welt umfasst. Sie treten ein für irdische Gerechtigkeit und Frieden zwischen den einzelnen Menschen und unter den Völkern. Dies macht es notwendig, daß sie mit anderen Menschen nach vernünftigen, sachgemäßen Kriterien suchen und sich an ihrer Anwendung beteiligen. Sie tun dies im Vertrauen darauf, daß Gott die Welt erhält, und in Verantwortung vor seinem Gericht.“ Auch verpflichtet die Leuenberger Konkordie die Signatarkirchen, „eine möglichst große Gemeinsamkeit in Zeugnis und Dienst an der Welt zu erstreben“ (LK 29). Zur Verwirklichung der Kirchengemeinschaft gehört nach LK 36, dass die Verkündigung der Kirchen in der Welt an Glaubwürdigkeit gewinnt, „wenn sie das Evangelium in Einmütigkeit bezeugen. Das Evangelium befreit und verbindet die Kirchen zum gemeinsamen Dienst. Als Dienst der Liebe gilt er dem Menschen mit seinen Nöten und sucht deren Ursachen zu beheben. Die Bemühung um Gerechtigkeit und Frieden in der Welt verlangt von den Kirchen zunehmend die Übernahme gemeinsamer Verantwortung.“
In Aufnahme der Beschlüsse der Vollversammlung von 1994 und entsprechend den Grundsätzen der Leuenberger Konkordie zum gemeinsamen Zeugnis und Dienst an der Welt (v. a. Nr. 29 u. 36) hat sich die GEKE auf ihrer 5. Vollversammlung in Belfast 2001 das Ziel gesetzt, „profilierter und zeitnaher als bisher in aktuellen wichtigen Fragen der Politik, der Gesellschaft und der Ökumene ein deutliches evangelisches Zeugnis abzulegen und insbesondere die Präsenz der evangelischen Kirchen auf europäischer Ebene auszubauen“.3 Dazu wurde unter anderem beschlossen, es sollten zugleich „in theologischen Lehrgesprächen die spezifisch evangelischen Voraussetzungen und Kriterien ethischer Urteilsbildung herausgearbeitet werden, die es im ökumenischen Gespräch und in der europäischen Öffentlichkeit deutlicher zu vertreten gilt. Grundlegend sind der Begriff evangelischer Freiheit, die Zuordnung von Freiheit und Liebe im Sinne der Rechtfertigungslehre, der Begriff des Gewissens und die evangelische Gewissensbildung sowie ein evangelisches Verständnis von Verantwortung.“4
So hat sich die GEKE am Beginn des zurückliegenden Jahrzehnts eingehend mit den Stellungnahmen verschiedener Kirchen, der konfessionellen Weltbünde, der KEK und des ÖRK zu Fragen der Wirtschaft und der Globalisierung beschäftigt.5 Für die GEKE stellt sich dabei die Frage, welche Konsequenzen solche Stellungnahmen für die Kirchengemeinschaft im Sinne der Leuenberger Konkordie haben: Was bedeutet es für die einzelnen Signatarkirchen, ihre Beziehungen untereinander und für die Verwirklichung der Kirchengemeinschaft in der GEKE insgesamt, wenn sozialethische Fragen zum Gegenstand kirchlicher Lehre oder der Bekenntnisbildung gemacht werden?
Die 6. Vollversammlung der GEKE in Budapest hat in ihrem Schlussbericht ausdrücklich begrüßt, „dass es in den vergangenen Jahren gelungen ist, das Profil der GEKE in diesem Bereich nachhaltig zu stärken. Die Fachkompetenz des GEKE-Fachkreises für ethische Fragen und die enge Verzahnung der sozialethischen Arbeit der GEKE mit der Kommission Kirche und Gesellschaft der Konferenz Europäischer Kirchen (KEK) gewährleisten dabei einerseits die Vertretung einer ‚evangelischen Stimme in Europa‘, andererseits das geschlossene Auftreten der Kirchen gegenüber den politischen Institutionen in Europa. Die Diaspora- und Minderheitssituation vieler Mitgliedskirchen ist ein besonderes Kennzeichen der GEKE. Aber auch für die ‚großen‘ Kirchen gilt, dass sie ihre Interessen glaubwürdiger vertreten, wenn dies im Rahmen der Gemeinschaft mit den anderen Kirchen geschieht. Wenn immer möglich, sollten die Kirchen in Europa mit einer gemeinsamen Stimme sprechen. Damit erfüllen sie die Verpflichtung, die sie mit der Unterzeichnung der Charta Oecumenica eingegangen sind.“6
Schon LK 39 führt das Thema „Kirche und Gesellschaft“ sowie Probleme, „die sich im Blick auf Zeugnis und Dienst, Ordnung und Praxis neu ergeben“ ausdrücklich unter den Themenfeldern auf, bei denen „an Lehrunterschieden, die in und zwischen den beteiligten Kirchen bestehen, ohne als kirchentrennend zu gelten, weiterzuarbeiten“ sei. Zwar ist die 6. Vollversammlung nicht dem Vorschlag des GEKE-Fachkreises für ethische Fragen gefolgt, ein Lehrgespräch zur „Bekenntnisbildung zu sozialethischen Fragen“ zu beschließen, doch hat sie dem Rat empfohlen, nach geeigneten Wegen zur Bearbeitung des Themas „Die evangelischen Kirchen vor neuen Herausforderungen sozialer Gerechtigkeit“ zu suchen. So wurde 2007 ein Studienprozess auf den Weg gebracht, an dem junge Theologinnen und Theologen aus den Mitgliedskirchen der GEKE beteiligt waren. Sein Ergebnis ist die Studie „Tretet ein für Gerechtigkeit. Ethische Urteilsbildung und soziales Engagement der evangelischen Kirchen in Europa“,7 den die 7. Vollversammlung 2012 in Florenz entgegengenommen und in ihrem Schlussbericht als „einen wegweisenden Beitrag für den Prozess der Reflexion, Kommentierung und Behandlung sozialethischer Fragen“ und als Bekräftigung der bereits oben zitierten Aussagen von LK 11 gewürdigt hat.
Neue Probleme im Blick auf Zeugnis und Dienst, Ordnung und Praxis ergeben sich im Sinne von LK 39, wenn man an die sozialethischen Herausforderungen der europäischen Integration, der Weiterentwicklung der Europäischen Union und der Globalisierung denkt. Zum 50. Jahrestag der Römischen Verträge 2007 hat das Präsidium der GEKE fünf Glück-Wünsche für Europa ausgesprochen: 1. Europa muss weiter zusammenwachsen. 2. Die Europäische Union braucht mehr Demokratie. 3. Die Europäische Union bracht mehr Gerechtigkeit. 4. Die Europäische Union braucht mehr Offenheit. 4. Die Europäische Union braucht eine tragfähige kulturelle Identität.
Zur Notwendigkeit von mehr Gerechtigkeit in Europa heißt es: „Trotz aller wirtschaftlichen Erfolge leben in der EU noch immer fast 80 Millionen Menschen an der Armutsgrenze, jedes fünfte Kind ist von Armut bedroht. Mehr als 17 Millionen Menschen in der EU sind ohne Arbeit.8 Die Schere zwischen Arm und Reich geht in vielen europäischen Ländern immer weiter auseinander. Die evangelischen Kirchen in Europa wünschen sich eine Europäische Union, die ihre Wirtschafts- und Sozialpolitik in ein Gleichgewicht bringt, das sich gegenseitig unterstützt und die Armut und soziale Ausgrenzung in Europa stärker als bisher bekämpft.“
Die Forderung nach mehr Offenheit bedeutet konkret: „Die EU braucht eine Politik, die die Lebensmöglichkeiten für die zukünftigen Generationen offen hält. Dies gilt nicht nur für die Umwelt- oder Entwicklungspolitik, sondern für alle Politikbereiche, die insgesamt nachhaltiger ausgerichtet werden müssen. Dazu sind im Hinblick auf die demographische Entwicklung in Europa neue Formen der Vereinbarkeit von Familie und Beruf und eine Neuordnung der Beziehungen zwischen den Generationen notwendig. Gegenüber den armen Ländern der Erde ist die EU einerseits größter Geldgeber der Entwicklungsarbeit, zugleich trägt sie aber mit der Abgrenzung ihrer Märkte und ihrer Handelspolitik zum wirtschaftlichen Ungleichgewicht und zur Armut in der Welt bei. Die evangelischen Kirchen in Europa wünschen sich eine Europäische Union, die sich nicht nach außen abschottet, sondern auch in den gegenwärtigen Globalisierungsprozessen zu mehr Frieden und mehr Gerechtigkeit in der Welt beiträgt, z. B. in den Grenzregionen Europas im Nahen Osten und in Nordafrika.“
Und was die kulturelle Identität Europas bedeutet, hat das Präsidium der GEKE 2007 erklärt: „Die Europäische Union wird nur dann Frieden, Freiheit und Wohlstand weiter entwickeln können, wenn sie sich auf eine gemeinsame Wertebasis der Menschen stützen kann. Der christliche Glauben ist eine der Wurzeln, die Europa geprägt hat und weiterhin prägen wird. Für die Kirchen der Reformation, die aus einer religiösen Freiheitsbewegung hervor gegangen sind, gehört dazu in besonderer Weise ein verantwortlicher Umgang mit der Freiheit. Die Kirchen setzen sich für den Dialog zwischen verschiedenen Religionen und Kulturen ebenso ein wie für das Gespräch mit Menschen ohne religiöses Bekenntnis. Es ist die gemeinsame Aufgabe aller, durch den Dialog zum Aufbau einer friedlichen und gerechten Gesellschaft beizutragen. Das gilt insbesondere dort, wo es Konflikte und Meinungsverschiedenheiten gibt.“
Damit sind wesentliche soziale Herausforderungen Europas wie auch der Kirchen benannt. Wollen die evangelischen Kirchen, wie sie versichern, ihren Beitrag zur Zukunft Europas leisten, werden sie sich aber auch verstärkt über die theologischen Grundlagen ihres sozialethischen Engagements verständigen müssen. Zwar gibt es schon einige ältere Dokumente der GEKE zur ethischen Urteilsbildung, nämlich zur Zwei-Reiche-Lehre und zur Lehre von der Königsherrschaft Christi, zum „iure bellare“ aus CA 169 sowie zu Gesetz und Evangelium10. Doch können diese Texte nur als erste Schritte in einem umfassenden Konsultations- und Studienprozess zur evangelischen Bekenntnisbildung in ethischen Fragen gesehen werden.
Stellungnahmen zu materialethischen Einzelfragen setzen voraus, dass die Konsequenzen kirchlicher Lehre und Bekenntnisbildung in sozialethischen Fragen für die Kirchengemeinschaft theologisch gründlich bedacht werden. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Kirchen ihre Lehrfunktion in sozialethischen Fragen in vielfältiger Form ausüben: In Synodalerklärungen, Denkschriften und spezifischen Stellungnahmen, gegebenenfalls und unter besonderen (politischen und sozialen) Umständen auch in Form von Bekenntnissen. Ein Lehrgespräch über die Fragen von „Kirche und Gesellschaft“ kann sich deshalb nicht allein auf die Bekenntnisbildung beschränken, sondern muss die unterschiedlichen Formen berücksichtigen, in denen sich die Kirchen zu sozialethischen Fragen äußern. Dabei ist insbesondere die Frage der Verbindlichkeit solcher Lehräußerungen zu beachten. Kann es in ethischen Fragen einen status confessionis geben? Was wären dafür allgemeine theologische und bekenntnismäßige Kriterien? Gegenstand des Lehrgesprächs sind aber auch die Umsetzung solcher Lehrentscheidungen und ihre Auswirkungen für die Glaubenden, die einzelnen Kirchen, das Verhältnis zwischen den Kirchen und die Kirchengemeinschaft insgesamt.
In diesem Zusammenhang ist auf die „Krise“ ethischer Urteilsbildung hinzuweisen. Angesichts der wachsenden Grenzfragen in verschiedenen Bereichen (wirtschaftliche Ungerechtigkeit, Medizin usw.) findet sich die evangelische Sozialethik auf einem Markt verschiedener Lösungsangebote wieder. Was ist hier die spezifische Aufgabe der evangelischen Kirchen: Ethische Theoriebildung, theologische Reflexion, praktische Lebenshilfe oder gesellschaftskritische Aktion?
Zu klären ist auch die Frage, wo und wie in neuerer Zeit noch Bekenntnisbildung geschieht. Dabei ist der Unterschied zwischen christlicher bzw. evangelischer Soziallehre und theologischer Sozialethik zu beachten. Ferner müssen die Unterschiede z. B. zwischen einem römisch-katholischen Verständnis von christlicher bzw. kirchlicher Soziallehre und einem evangelischen Verständnis derselben herausgearbeitet werden.
Insofern ist nochmals zwischen den Begriffen „Lehre“ und „(verbindlichem) Zeugnis“ zu unterscheiden.
Im einzelnen stellen sich folgende Fragen: Welche Auswirkungen hat die Bekenntnisbildung auf die Schwesterkirchen (bis hin zur Aufkündigung der Kirchengemeinschaft)? Wie steht es mit der gegenseitigen Anerkennung von Bekenntnissen? In welchen Bereichen muss es innerhalb der GEKE Verbindlichkeit geben, in welchen Bereichen sind Unterschiede in der Lehre hinnehmbar?
Es genügt für die GEKE nicht, die Bekenntnisbildung der Mitgliedskirchen zu rezipieren und die Frage zu stellen, welche Auswirkung diese für die Kirchengemeinschaft hat. Vielmehr geht es auch um die Frage, inwiefern die GEKE von ihrer Ekklesiologie her eine eigene Form der Lehrbildung zu sozialethischen Fragen entwickeln kann. Konkret stellen solch folgende Fragen: Wieviel Gemeinsamkeit in der Bekenntnisbildung braucht die GEKE? Wieviel Verschiedenheit in der Bekenntnisbildung erträgt die GEKE? Wie werden kirchliche Lehre und Bekenntnisse zu sozialethischen Fragen praktisch umgesetzt?
Ich möchte nun im Folgenden einige Überlegungen zu den theologischen Grundlagen und Aufgabenstellungen evangelischer Sozialethik anstellen. Dabei geht es mir auch um die Kriterien evangelischer Urteilsbildung in ethischen Fragen und ihre Verortung im ökumenischen Kontext.
Zur Signatur der ethischen Diskussionslage gehört heute ein Pluralismus von Moral und Ethik, der nicht nur die ethische, sondern auch die politische und die juristische Konsenssuche – z. B. auf dem Gebiet der Biomedizin – erheblich erschwert. Die christlichen Kirchen haben den ethischen Monopolanspruch längst eingebüßt. Selbst die seit der Aufklärung propagierte Idee einer Synthese von christlicher und humanistisch-säkularer Ethik hat in den letzten Jahrzehnten an Überzeugungskraft verloren. Namentlich utilitaristische Konzeptionen medizinischer Ethik positionieren sich oftmals als dezidiert nachchristliche Ethikentwürfe.
Freilich lassen auch christliche Moral und Anthropologie eine Vielfalt von Ausdeutungen erkennen, die sich inzwischen nicht mehr ohne weiteres mit konfessionellen Unterschieden deckt. Im Gegenzug gibt es ernsthafte Bemühungen, in ökumenischer Perspektive konfessionsübergreifende Grundzüge christlicher Ethik zu formulieren und als gesamtchristliche Position in der Öffentlichkeit zu vertreten. Dezidiert theologische Argumente finden jedoch in ethischen Diskursen immer schwerer Gehör.
Zum gesellschaftlichen Pluralismus gesellt sich die ökumenische Pluralität der Kirchen bzw. der Christenheit. Theologische Ethik, also auch eine evangelische Sozialethik muss daher heute in ökumenischer Perspektive betrieben werden. Dass dieses Erfordernis zunehmend auch von den Kirchen selbst erkannt wird, dafür stehen z. B. der konziliare Prozess für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung und die beiden Europäischen Ökumenischen Versammlungen in Basel 1989 und in Graz 1997.
Ferner wurde im Frühjahr 2001 von der Konferenz Europäischer Kirchen (KEK) und dem Rat der Europäischen Bischofskonferenzen (CCEE) die „Charta Oecumenica“ unterzeichnet. So unzureichend man dieses Dokument auch empfinden mag, es formuliert immerhin die Selbstverpflichtung, „auf allen Ebenen des kirchlichen Lebens gemeinsam zu handeln, wo die Voraussetzungen dafür gegeben sind und nicht Gründe des Glaubens oder größere Zweckmäßigkeit dem entgegenstehen“ (Charta Oecumenica, Abschnitt 4) und „bei Kontroversen, besonders wenn bei Fragen des Glaubens und der Ethik eine Spaltung droht, das Gespräch zu suchen und diese Fragen gemeinsam im Licht des Evangeliums zu erörtern“ (Abschnitt 6). Das Beispiel der Charta Oecumenica zeigt freilich auch, dass der ökumenische Dialog den Pluralismus der Konfessionen nicht hinter sich lässt, sondern ihn gerade zur Voraussetzung hat. Daher kann auch eine ökumenische Sozialethik nicht jenseits der konfessionellen Unterschiede, sondern nur multiperspektivisch betrieben werden.
Bemühungen um eine ökumenische Soziallehre – also Ökumenische Initiativen der Kirchen auf ethischen Themenfeldern, z. B. gemeinsame Erklärungen wie das Sozialwort des Ökumenischen Rates der Kirchen in Österreich (ÖRKÖ) vom November 2003 oder das Sozialwort der Evangelischen Kirche in Deutschland und der katholischen Deutschen Bischofskonferenz von 1997 – müssen freilich von der Ethik als wissenschaftlich-theologischer Disziplin unterschieden werden.11 Ökumenische Ethik ist nicht mit kirchlichen Stellungnahmen gleichzusetzen, sondern macht derartige Stellungnahmen zum Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen. Als Theorieprogramm ist eine ökumenische Ethik bislang noch weitgehend ein Desiderat.12 Seine Verwirklichung hat mit ähnlichen theoretischen Schwierigkeiten zu kämpfen wie auch die ökumenische Theologie im Allgemeinen. Beide, sowohl eine ökumenische Theologie als auch eine ökumenische Ethik haben eine Theorie der Ökumene zur Voraussetzung, die je nach konfessioneller Ausprägung sehr unterschiedlich ausfallen kann. Das Problem einer als ökumenische Theologie bezeichneten Theorie der Ökumene ist eigentlich sie selbst, weil mit dem Begriff des Ökumenischen keine feststehende begriffliche Theorie, sondern das von einer solchen zu bearbeitende Problem von Einheit und Vielfalt des Christentums benannt ist. Folglich genügt es nicht, lediglich den Begriff der Einheit oder Strategien, sie zu erreichen, zu diskutieren. Es bedarf vielmehr einer theologischen Theorie, in welcher der Begriff der Einheit überhaupt erst eine sinnvolle Funktion bekommt.
Vor diesem Hintergrund werden alte Fragen neu gestellt: Gibt es überhaupt eine spezifisch christliche Ethik, und wenn ja: worin besteht ihr Proprium gegenüber anderen Gestalten einer religiös begründeten sowie gegenüber den unterschiedlichen Konzeptionen einer philosophischen Ethik? Gesetzt, man bejaht die Frage nach einer spezifisch christlichen Ethik, wie verhält sich dann ihre Christlichkeit zur konfessionellen Pluralität des Christentums? Gibt es also zwar unterschiedliche christliche Konfessionen und damit unterschiedliche Ausprägungen einer christlichen Glaubenslehre, aber nur eine christliche Ethik, oder muss man davon ausgehen, dass es konfessionsspezifische Merkmale christlicher Ethik gibt, so dass man zwischen einer katholischen, einer evangelischen und einer orthodoxen Ethik unterscheiden kann?
Um diese Fragen sinnvoll bearbeiten zu können, ist zunächst zwischen Ethik und Ethos bzw. Moral zu unterscheiden.13 Während Ethos oder Moral – ich verwende die Begriffe hier synonym – die sittliche Grundorientierung menschlicher Lebensführung sowie die Verhaltensnormen einer Gesellschaft oder einer Gemeinschaft bezeichnet, ist unter Ethik eine Theorie der Moral oder des Ethos zu verstehen. Von einer rein deskriptiven Ethosforschung oder einer Moralsoziologie unterscheidet sich Ethik dadurch, dass es sich um die selbstreflexive Theorie der Moral handelt.14 Als selbstreflexive Theorie der Moral ist Ethik aber nicht moralfrei, sondern selbst moralhaltig. Sie verfährt also nicht nur deskriptiv-hermeneutisch,15 sondern argumentiert auch normativ. Dementsprechend ist unsere Ausgangsfrage dahingehend zu präzisieren, dass einerseits nach der Möglichkeit eines spezifisch christlichen bzw. evangelischen Ethos und andererseits nach der Möglichkeit oder Notwendigkeit einer spezifisch christlich-theologischen bzw. evangelischen Ethik gefragt wird.16
Im Anschluss an Friedrich Schleiermacher lässt sich argumentieren, dass es ein spezifisch christliches Ethos gibt, so dass die Eigenart theologischer Ethik in ihrer Bindung an dieses Ethos begründet ist.17 In jüngster Zeit wird eine vergleichbare Konzeption vor allem von Johannes Fischer vertreten. So wie es christliche Theologie gibt, weil es den christlichen Glauben gibt, gibt es nach Fischers Auffassung auch „so etwas wie ‚theologische Ethik‘“, weil es faktisch ein unterscheidbar christliches Ethos gibt.18 Folgt man dieser Konzeption, wäre das Unternehmen einer evangelisch-theologischen Ethik dann begründet, wenn mit der Existenz eines spezifisch evangelischen Ethos zu rechnen wäre. Davon ist nun allerdings auszugehen, wie aus Ernst Troeltschs klassischer Darstellung der Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen zu lernen ist.19 Auch heute ist mit solch einem gelebten Ethos zu rechnen, wenngleich sein Profil in der pluralistischen Gesellschaft von heute weitaus schwerer als noch zu Zeiten Troeltschs zu charakterisieren sein dürfte, hat doch in gewisser Hinsicht eine Protestantisierung auch der übrigen Konfessionen stattgefunden.20
Um nun aber den Begriff eines evangelischen Ethos bzw. denjenigen einer evangelisch-theologischen Ethik bestimmen zu können, müssen wir in einem weiteren Gedankenschritt zwischen „evangelisch“ und „protestantisch“ bzw. zwischen einem deskriptiv-konfessionskundlichen und einem systematisch-normativen Begriff des Evangelischen unterscheiden. Als konfessionskundliche Kategorie bzw. als Selbstbezeichnung von Kirchen umfasst der Begriff „evangelisch“ im deutschsprachigen Bereich nicht nur die lutherischen und die reformierten Kirchen, sondern auch die evangelisch-methodistische Kirche und die Baptisten, die in Deutschland im „Bund Evangelisch-freikirchlicher Gemeinden“ organisiert sind. Das englische Wort „evangelical“ kann sowohl mit „evangelisch“ als auch mit „evangelikal“ übersetzt werden. Die letztgenannte Bezeichnung trifft wiederum auf unterschiedliche freikirchliche Gemeinden und Bewegungen zu. Der neben der Bezeichnung „evangelisch“ international gebräuchliche Terminus „protestantisch“ bezeichnet noch weitere Kirchen, die aus der Reformation oder sogar aus vorreformatorischen Traditionen hervorgegangen sind, wie z. B. die Waldenser, die Hussiten, die Mennoniten oder die Herrnhuter Brüdergemeine.
Evangelische Sozialethik ist zunächst eine deskriptiv-analytische Beschreibung der Soziallehren aller evangelischen bzw. protestantischen Kirchen und Gruppen. Freilich kommt auch ein deskriptiv-hermeneutisches Verständnis von theologischer Ethik um die Problematik normativer Gehalte der von ihr verwendeten Beschreibungskategorien nicht herum, weil man in jedem Fall ein gehaltvolles Vorverständnis des zu interpretierenden Phänomens voraussetzen muss. In diesem Sinne ist auch die Frage nach dem Evangelischen evangelischer Ethik bzw. nach dem evangelischen Charakter eines evangelischen Ethos zu verstehen.
Ein systematisch-normativer Begriff des Evangelischen benennt nun nicht etwa ein kontroverstheologisches Kriterium für die Unterscheidung zwischen verschiedenen konfessionell gebundenen Typen theologischer Ethik, sondern bezeichnet im Gegenteil ein grundlegendes Kriterium theologischer Ethik überhaupt. Das Evangelische ist nämlich nichts anderes als das Evangeliumsgemäße und als solches keineswegs auf den Bereich protestantischer Theologie beschränkt. Ja, es kann hier bisweilen sogar fehlen oder verdunkelt werden, während es in Ethikkonzeptionen anderer konfessioneller Provenienz zum Tragen kommt. So wie seinerzeit Karl Barth in seiner Baseler Abschiedsvorlesung 1962 lapidar erklärte, alle gute Theologie sei rechtverstanden evangelische Theologie,21 so lässt sich auch – und zwar durchaus protestantismuskritisch! – argumentieren, dass alle theologische Ethik evangelische, nämlich evangeliumsgemäße Ethik zu sein hat.
Das Evangelische im Sinne des Evangeliumsgemäßen lässt sich nun aber nicht gegen das Anliegen einer ökumenischen Ethik ausspielen, sondern muss gerade im ökumenischen-theologischen Dialog immer wieder neu bestimmt werden. Ganz in diesem Sinne hat auch Barth mit seinem normativen Begriff des Evangelischen ein ökumenisches Kriterium guter Theologie benennen wollen. Dementsprechend hat Barth auch zwischen evangelischer und protestantischer Theologie unterschieden. Letztere, zumal in ihrer neu- oder kulturprotestantischen Variante, war häufig genug Gegenstand seiner theologischen Kritik und galt ihm keineswegs als Inbegriff guter, sondern im Gegenteil schlechter Theologie. „Nicht alle ‚protestantische‘ ist evangelische Theologie. Und es gibt evangelische Theologie auch im römischen, auch im östlich-orthodoxen Raum, auch in den Bereichen der vielen späteren Variationen und auch wohl Entartungen des reformatorischen Neuansatzes“, lautet das Urteil Barths.22
Ganz in diesem Sinne soll nun im Folgenden die Frage nach dem Evangelischen eines evangelischen Ethos und einer evangelischen Ethik im ökumenischen Kontext gestellt werden. Mit dem Begriff des Evangeliumsgemäßen wird nicht nur das entscheidende Kriterium benannt, sondern auch nach der Identität des christlichen Ethos und seiner selbstreflexiven theologischen Theorie in der Pluralität und den Gegensätzen der Kirchen und Konfessionen gefragt.
Eine evangeliumsgemäße Ethik steht im Spannungsfeld zwischen der Freiheit des Glaubens und des Gewissens auf der einen und der Verbindlichkeit des Glaubens und der Nachfolge Christi auf der anderen Seite. Glaube im evangelischen Sinne ist gleichbedeutend mit der Gewissheit des Heils, der bedingungslosen Annahme des Menschen und der Unbedingtheit der göttlichen Liebe. Diese Gewissheit begründet jedoch keine letzten Gewissheiten oder theologischen Überbietungsansprüche auf dem Gebiet von Moral und Ethik. Diese kann es zumindest auf den sozial- und umweltethischen Ebenen heutiger ethischer Konflikte schon deshalb nicht geben, weil nicht etwa nur die Handlungsnormen, sondern schon die Analyse der Sachverhalte, also die Beschreibung der Phänomene strittig ist. Wenn es sich als Irrtum erweist, von theologischen Gewissheiten ausgehend rigorose ethische Ansprüche zu deduzieren, so bleibt auch für eine theologische Ethik nur der von Martin Honecker beschriebene Weg, „von den Ungewißheiten auszugehen, die zur ethischen Reflexion herausfordern“23.
Dies bedeutet, dass der faktische Pluralismus gesellschaftlichen Lebens und ethischer Reflexion auch von Theologie und Kirche zur Kenntnis zu nehmen ist. Ethik in einer pluralen Gesellschaft ist eine offene Suchbewegung, ausgelöst durch die Frage nach den Folgen neuer Handlungsmöglichkeiten, die in Ratlosigkeit und Verlegenheit stürzen. Die dem Glauben gebotene Weltverantwortung wird nicht durch universalethische Überbietungsansprüche wahrgenommen, sondern durch die solidarische Beteiligung am Prozess der Antwortsuche. Hierbei ist nochmals zwischen binnenkirchlichen Verständigungsprozessen in ethischen Fragen und der Beteiligung der Kirche und ihrer einzelnen Mitglieder am gesellschaftlichen Ethikdiskurs zu unterscheiden. Denn die Kirchenmitglieder treten in den gesellschaftlichen Teilsystemen als funktionale Rollenträger auf, deren individuelle Werthaltungen durch die religiöse Sozialisation zumindest mitgeprägt sind. So kommt es zwischen den Kirchen und anderen sozialen Systemen zu vielfältigen Überschneidungen. Pluralität kennzeichnet dabei nicht nur das gesellschaftliche Umfeld der Kirchen, sondern diese selbst. Weder innerhalb noch außerhalb der Kirchen ist in der pluralen Gesellschaft mit einem Einheitsethos zu rechnen.
Problematisch erscheinen daher auch Konzepte einer „kirchlichen Ethik“, wie sie derzeit von Stanley Hauerwas, John H. Yoder, Reinhard Hütter und anderen vertreten werden.24 Man kann in ihnen die kirchliche Variante des Kommunitarismus sehen, wobei der kommunitaristische Gemeinschaftsbegriff auf die Kirche übertragen wird.25 Positiv ist an diesem Ansatz, dass er eine individualistische bzw. personalethische Engführung christlicher Ethik zu überwinden versucht. Zustimmung verdient auch die These, dass die Eigenart theologischer Ethik in ihrer Verpflichtung begründet ist, die sie dem gelebten christlichen Ethos gegenüber hat. Wie es christliche Theologie nur deshalb gibt, weil es den christlichen Glauben gibt, so auch theologische Ethik als Theorie der Moral, weil es ein christliches Ethos gibt, dessen Eigenart sich nicht einseitig über den Begriff des Gebots bzw. der Pflicht, sondern tugendethisch über die Trias von Glaube, Hoffnung und Liebe erschließt.26 Die Gefahr einer kirchlich-kommunitaristischen Ethik liegt jedoch in einer einseitig antagonistischen Verhältnisbestimmung von Kirche und Gesellschaft mit der Folge einer möglichen Selbstimmunisierung der Kirche gegenüber kritischen Anfragen von außen und binnenkirchlicher Reduktion ethischer Urteils- und Konsensbildung auf Bekenntnissätze. Eine „kirchliche Ethik“ droht die Komplexität der konfessionellen Vielfalt und der realen ökumenischen Situation auf einen abstrakten Kirchenbegriff oder aber auf die binnenkirchliche Identität einer Einzeldenomination zu reduzieren.27
Die Unterscheidbarkeit der Kirche von anderen Institutionen und Gruppen in der pluralen Gesellschaft, die heute unter dem Stichwort der Profilierung diskutiert wird,28 ist kein Selbstzweck, sollte aber in einer nachkirchlichen Gesellschaft auch nicht gescheut werden. Die Kirche kann ihrem historischen Ursprung und ihrem Wesen nach durchaus als „Kontrastgesellschaft“ verstanden werden.29 Sie muss sich deshalb aber nicht im Konkreten zu jeder denkbaren Gesellschaftsform im permanenten Dauerkonflikt befinden.
Das entbindet Theologie und Kirche freilich nicht von der Aufgabe, die Verbindlichkeit des Glaubens für das individuelle Leben und die Gestaltung der Gesellschaft ernstzunehmen. Gerade weil der moderne Pluralismus prinzipiell ist, ist die „Wiedergewinnung des Positionellen“30 eine zentrale theologische und kirchliche Herausforderung. Das innerkirchliche Bemühen um eine größere Verbindlichkeit des Glaubens auf dem Gebiet der Lebensführung darf freilich nicht gegen die Autonomie des Gewissens der Kirchenmitglieder ausgespielt werden, die als mündige Christinnen und Christen ernstgenommen werden wollen.31 In diesem Sinne ist es zu verstehen, wenn die Stellungnahme „Starre Fronten überwinden“, die mehrere evangelische Ethiker im Januar 2002 zur Forschung an humanen embryonalen Stammzellen veröffentlicht haben, vom Pluralismus als „Markenzeichen“ des Protestantismus spricht.32
Diese Formel hat auf katholischer wie evangelischer Seite Missverständnisse und Kritik hervorgerufen. Den Autoren der Stellungnahme „Starre Fronten überwinden“ wurde gelegentlich unterstellt er, zumindest in ethischen Fragen die Wahrheitsfrage zu suspendieren.33 Christofer Frey, einer der Autoren der Stellungnahme „Starre Fronten überwinden“, hat allerdings klargestellt: „Dass der Protestantismus pluralistisch sei, kann ohne Selbstwiderspruch nicht auf jener grundsätzlichen Ebene gelten, die Voraussetzung jeglichen humanen Pluralismus ist und deshalb die Anerkennung des anderen, den Zuspruch der Menschenwürde und den Schutz menschlichen Lebens begründen will. Ein Pluralismus gilt aber angesichts der Frage, welche empirischen Identifikatoren, gegebenenfalls mit Nachhilfe philosophischer Interpretation, zur Identifikation herangezogen werden können, um zu bestimmen, wann und wie der Schutz menschlichen Lebens oder die Konsequenz des Zuspruchs der Menschenwürde relevant werden.“34 Nicht im Bereich der ethischen Grundlegung, wohl aber „im Bereich der pragmatischen Umsetzung in Problembereiche, die empirische Sachverhalte und hermeneutische Perspektiven in einem umfassen, ist ein Pluralismus der Anwendung prinzipieller Einsichten in Grenzen zu vertreten.“35