Das Buch
Sie nehmen Menschen öffentlich die Köpfe, versklaven Andersgläubige und ziehen eine Blutspur durch den Irak und Syrien bis nach Europa. Die sunnitische Terror-Miliz ISIS hält nicht nur den Nahen Osten, sondern die ganze Welt in Atem. Das liegt nicht allein an ihrer unglaublichen Brutalität, sondern auch an der Internationalität ihrer Kämpfer: Viele tausend europäische Dschihadisten haben sich ISIS angeschlossen.
Der Nahost-Experte Bruno Schirra ist seit Jahrzehnten in der Region unterwegs. Er war als einer der wenigen deutschen Journalisten vor Ort, als sich im Norden des Irak ISIS mordend konstituierte. Er sprach mit ISIS-Kämpfern und deren Opfern, mit deutschen Salafisten und Dschihad-Aussteigern, Islamgelehrten und Nachrichtendienstlern. In seinem tief recherchierten und kenntnisreichen Buch erklärt er, wie es zu dem fulminanten Aufstieg des globalen Dschihad kommen konnte. Er belegt die Finanzierung durch andere arabische Staaten und die Unterstützung durch den Nato-Partner Türkei und zeigt, wie der ISIS-Führer Abu Bakr al-Baghdadi im Windschatten Al-Qaidas zu solcher Macht gelangte.
Der Autor
Bruno Schirra hat sich als Journalist auf den Nahen und Mittleren Osten spezialisiert und löste mit einem Artikel die Cicero-Affäre aus. Nach Stationen beim Hörfunk, der Zeit und Cicero sowie der Welt-Gruppe schreibt er heute u. a. für die Weltwoche in der Schweiz. Sein Buch über ISIS stand wochenlang auf der Spiegel-Bestsellerliste.
Bruno Schirra
ISIS
Der globale Dschihad
Wie der »Islamische Staat«
den Terror nach Europa trägt
Ullstein
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ISBN 978-3-8437-1124-1
Aktualisierte und erweiterte Ausgabe
im Ullstein Taschenbuch
1. Auflage Dezember 2016
Redaktionsschluss: 12. Oktober 2016
© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2015/Econ Verlag
Karte: Peter Palm, Berlin
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Vorwort zur
aktualisierten und erweiterten Taschenbuchausgabe
Seit dem Erscheinen der Erstausgabe dieses Buches im Januar 2015 hat Europa eine bisher ungeahnte Terrorserie erlebt. ISIS hat seine Fähigkeit demonstriert, die europäischen Menschen nach Belieben in den Terror zu treiben und gezeigt, dass Europa diesem Terror hilflos gegenübersteht. Als habe sie in die Fratze einer dschihadistischen Medusa geblickt, konnte eine im Schock erstarrte Weltöffentlichkeit entsetzt Tag für Tag, Woche für Woche, Monat für Monat in Echtzeit den blutigen Kreuzzug der islamistischen Meister des Schlachtens und Tötens miterleben – denn ISIS wusste alle Mittel der schönen, neuen Kommunikationswelt des Internetzeitalters brillant einzusetzen. Bis zum heutigen Tag. Ihre Botschaft: Das Töten und Morden für Allah ist gut. Das Töten und Morden für Allah ist schön. Antworten auf die zunehmend auch in Europa geschehenden Morde hat die Welt bis heute nicht gefunden. Weder die westliche, noch die islamische.
Ich habe nach dem Erscheinen dieses Buches immer wieder mit unterschiedlichen Menschen gesprochen. Solchen, die sich auf der politischen Bühne mit diesem so unerwartet aufgetauchten Phänomen beschäftigen mussten und solchen, deren alltägliche Arbeit darin bestand, in Deutschland, Frankreich, der Schweiz, Österreich und Belgien einen sehr einsamen Kampf gegen den salafistischen Terror zu führen. Männer und Frauen aus sehr unterschiedlichen Sicherheitsbereichen.
Ein mit der Materie durchaus vertrauter politischer Beamte merkte nach der Lektüre des Buches an, dass es »etwas alarmistisch daherkommt«, ein weiterer konstatierte »Panikmache, Schwarzmalerei. Sie befördern einen Generalverdacht. Das ist nicht zweckdienlich«, so seine Mahnung. ISIS betreibe eine vornehmlich regionale Agenda, keine globale. Das war nach Charlie Hebdo und den Morden im jüdischen Supermarkt, als im Verlauf dreier Tage siebzehn Menschen in Paris unter »Allahu Akbar«-Rufen ermordet wurden. Ein Massenmord, mitten in Europa, auf den der deutsche Innenminister Thomas de Maizière folgende Antwort hatte: »Das hat nichts mit dem Islam zu tun!«
»Ja womit denn sonst?«, fragen Männer und Frauen europäischer Sicherheitsbehörden, die vor Ort, Tag für Tag »auf verlorenem Posten« einen einsamen Kampf gegen den salafistischen Terror führen. »Es ist wie bei der Geschichte des Wettrennens zwischen Hase und Igel«, sagt eine deutsche Sicherheitsbeamtin. »Wann immer der Hase am Ziel ankommt, ist der Igel schon da. Kein Wunder, der Igel braucht nur drei Schritte zu laufen, hat er doch im Ziel seine Frau, die akkurat so aussieht wie er selbst, platziert.« Nach 73 Läufen, die der Hase immer verliert, bricht er beim 74. Rennen zusammen und stirbt.
Seit der Erstveröffentlichung dieses Buches ist der salafistische Terror in Europa zur blutigen Alltäglichkeit geworden. Europa steht dem nach wie vor hilflos gegenüber, findet keine Antwort. Kein Wunder: Polizeibehörden wurden über Jahre aus Kostengründen abgerüstet, den Sicherheitsbehörden fehlt das notwendige Instrumentarium, die nötige Expertise. Einer beispiellosen Terrorserie in Frankreich, in Belgien, Dänemark und Deutschland, in der tunesischen Hauptstadt Tunis, im tunesischen Badeort Sousse, in Istanbul fielen Hunderte zum Opfer. Tote und Schwerstverletzte. Europäische Menschen, Juden, Christen, Atheisten und Muslime, die als Überlebende des salafistischen Terrors von ihren Gesellschaften allzu oft allein gelassen werden. Sie sind die wirklich Hochtraumatisierten, weniger die salafistischen Rückkehrer aus Syrien und dem Irak, über die das Füllhorn sozialpopulistischer Therapiemaßnahmen ausgeschüttet wird.
Ganz normale Bürgerinnen und Bürger formulierten ihre Ängste, ihre Sorgen, Nöte und Befürchtungen, angesichts dessen, was da von so weit her aus dem Nahen und Mittleren Osten nach Europa herüberschwappte. Beklagten, dass mitten aus Europa heraus migrantische Mitbürger ebenso wie hier geborene Konvertiten den salafistischen Rattenfängern auf den Leim gingen und deren dschihadistische Vorgaben in eine blutige Realität verwandelten. Der salafistische Terror bestimmt zunehmend den Alltag der europäischen Bürger, schränkt ihn in bislang ungeahnter Weise ein. Unsicherheit, Schrecken, Angst werden zu ständigen Begleitern.
Der Terror des ISIS treibt Europa und seine Bürger nach Belieben vor sich her, verändert den Kontinent, reißt gesellschaftliche Brüche und Gräben auf, zertrümmert lieb gewordene Sicherheiten und Freiheiten, polarisiert europäische Gesellschaften. Bis hin zum Hass. Europa ist dabei, seine demokratischen Werte zu verlieren. In Frankreich sind im Namen einer vorgeblichen Sicherheit wesentliche Bürgerrechte beschnitten und außer Kraft gesetzt worden. Den Sicherheits- und den Geheimdiensten wurden Zugeständnisse gemacht, die weit über das gerade noch demokratisch Vertretbare hinausgehen. Was den Terror in Frankreich nicht verhindern konnte. Eine hundertprozentige Sicherheit ist nur eines: eine hundertprozentige Illusion. Ein Sieg für die Glaubensideologen des globalen Dschihad. »Wir haben die Grande Nation in den Ausnahmezustand gebombt«, jubiliert aus dem irakischen Mossul der schwäbische Dschihadist Abu Hamza, der in diesem Buch porträtiert wird. »Wir haben die Hauptstadt Europas, Brüssel, in Geiselhaft genommen.« Wo der Mann recht hat, hat er recht.
Und dann kam der 4. September 2015. Ein Tag, der Europa radikal verändert hat. Mit Folgen, die auch ein Jahr später unabsehbar sind. »Wir schaffen das«, verordnete die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel. Und Deutschland und deutsche Eliten taumeln in schier besinnungslos scheinender Willkommenskultur einher. Ein deutsches Sommermärchen, aber die dauern in Deutschland nun einmal immer nur vier Wochen lang. Der Rest Europas nimmt dieses Sommermärchen recht schnell als einen Sommernachtsalptraum wahr.
Während in der Berliner Republik von den politischen und medialen Bühnen herab im immerwährenden Gleichklang von tatsächlichen wie sogenannten Experten gebetsmühlenhaft versichert wird, dass sich im Millionenheer der vor Hunger und Durst, vor Krieg und Tod und Terror, vor Bomben und Granaten Fliehenden natürlich kein einziger dschihadistischer Terrorist befände, geschieht genau dies. Für ISIS ist der 4. September 2015 ein wahres Gottesgeschenk. Schon vor dem Fall aller Grenzen, noch vor dem Kollaps aller Grenzkontrollen, hatte ISIS seine Terrorkader über die Balkanroute nach Westeuropa geschleust. ISIS weiß die Lehren des Terroristen Che Guevara zu beherzigen, das Diktum Mao Zedongs in die Realität umzusetzen. »Der Revolutionär (vulgo Terrorist) muss sich in den Volksmassen bewegen wie ein Fisch im Wasser.« Hunderte terrorbereiter ISIS-Jünger pilgerten unkontrolliert über die Balkanroute gen Westen – und schlugen in Europa mit Tod und Terror zu.
Niemand, der seine fünf Sinne auch nur halbwegs beieinander hat, kann auf die Idee kommen, dass die Menschen in dem Millionenheer der Fliehenden, die Europa im Nachgang des 4. September schier überrollten, für den folgenden Terror verantwortlich sind. Was kann das Wasser dafür, wenn Fische in ihm schwimmen?
Niemand, der seine fünf Sinne auch nur halbwegs beieinander hat, wird jedoch abstreiten können, dass die vollkommene Öffnung der Grenzen und der totale Zusammenbruch aller Grenzkontrollen ISIS ungeahnte Möglichkeiten eröffnet hat. Sinnbild dafür: der Bataclan zu Paris und alles, was an jenem Freitag, dem 13. November 2015, geschah.
*
ISIS hat in den vergangenen Monaten in Syrien wie im Irak große Teile seines Herrschaftsgebiets verloren und schon mehren sich die Stimmen derer, die Licht am Ende des dschihadistischen Dunkels sehen und den nahen Untergang des Glaubensspukes prognostizieren.
Was ohne jeden Zweifel nicht geschehen wird.
Ganz sicher wird eines hoffentlich nicht allzu fernen Tages Abu Bakr al-Baghdadi, der selbst ernannte Kalif des ISIS, mittels einer aus einer Drohne abgefeuerten Hellfire-Rakete oder wie auch immer getötet werden. Ganz sicher werden eines hoffentlich nicht allzu fernen Tages die syrische Stadt Rakka, die irakische Stadt Mossul aus den Klauen des ISIS befreit werden. Ebenso sicher wird – allen wohlfeilen Analysen zum Trotz – der Tod des Abu Bakr al-Baghdadi und die Rückeroberung von Rakka und Mossul nicht das Ende von ISIS, nicht das Ende des globalen Dschihad bedeuten.
Das zeigt der Werdegang, die Entwicklung des globalen Dschihad. Die Besetzung der Großen Moschee in Mekka am 20. November 1979, dem Neujahrstag des Jahres 1400 nach islamischer Zeitrechnung, durch 500 salafistische Dschihadisten unter der Führung von Dschuhaiman al-Utaib sowie des selbsternannten Mahdi Muhammad ibn Abdillah al-Qahtani kann als eine Initialzündung des globalen Dschihad angesehen werden. Beide dienten Osama Bin Laden als Vorbild. Der Niedergang und damit verbunden das absehbare Ende des Terrors der Al Qaida wurde im Westen nach dem ganz entschieden zu spät verfügten Tod des Osama Bin Laden am 2. Mai 2011 verkündet.
Dessen Jünger, Abu Mussab al-Zarqawi, wusste den Terror des Osama Bin Laden auf eine neue Ebene zu heben. Der Tod des »Emir aller Schlächter« am 2. Juni 2006 bedeutete nicht das Ende seines Terrors. Abu Bakr al-Baghdadi schreibt den in noch schrecklicherer, ungeahnter Form weiter. Stirbt der selbsternannte Kalif Ibrahim, kann sich sein Nachfolger auf feste Grundlagen stützen.
Der Salafismus des Abu Bakr al-Baghdadi ist nichts anderes als die globale Fortschreibung des Wahhabismus des Glaubenspotentaten der arabischen Halbinsel. Des Westens beste Partner in der Region. »Der Wahhabismus ist unsere Kultur«, entgegnet mir in einer Fernsehdiskussion ein saudischer Diskussionspartner. Die gelte es, da eben Kultur, zu respektieren. Der Mann gilt als einer der Liberalen seines Landes. »Das ist eine Unkultur! Menschenverachtend. Die kann ich nicht, die will ich nicht respektieren. Auch nicht akzeptieren«, so meine Entgegnung. Der Mann ist dann doch, wenngleich zähneknirschend, im Studio geblieben.
Der Salafismus, der Wahhabismus ist in allen seinen Ausprägungen zweierlei: Pest und Cholera des 21. Jahrhunderts. Europa und der Westen stehen dieser blutrünstigen Terrorideologie hilflos und ohnmächtig gegenüber. Ebenso die gesamte islamische Welt. Aus der islamischen Welt, so unterschiedlich sie in ihren Ausprägungen auch ist, aus dem Islam selbst, so unterschiedlich der sehr wohl gelebt und geglaubt werden kann, ist derweil jedoch bisher nur eines zu vernehmen: ein dröhnendes Schweigen. Kein Wunder – befinden sich die heiligsten islamischen Städte Mekka und Medina doch fest im salafistisch-wahhabitischen Würgegriff. Sieht man von der einen, sich ewig wiederholenden Floskel ab, dass all dies nichts mit dem Islam zu tun habe, ist von dort nicht sonderlich viel zu hören, zu sehen – im Kampf gegen den salafistischen Terror.
Das Schweigen der maßgeblichen islamischen Theologen ist umso bemerkenswerter und vielmehr noch aussagekräftiger angesichts der Tatsache, dass die überwiegende Mehrzahl der Opfer des Salafismus muslimische Kinder, muslimische Frauen, muslimische Männer sind. Der Salafismus tötet jeden muslimischen Menschen, der sich ihm nicht bedingungslos unterwirft. Die korrekte Übersetzung des arabischen Wortes Islam lautet: Hingabe, Unterwerfung. Nicht Frieden.
Zwar gibt es viele vereinzelte Stimmen gläubiger Muslime, islamischer Theologen, muslimischer Intellektueller, die dem mörderischen salafistischen Glaubenswahn die Stirn bieten. Sie tun dies durchaus auf den Grundlagen ihres Glaubens – allein, sie kämpfen einen einsamen Kampf für einen humanistisch geprägten Islam. Ihre Worte verhallen, werden nicht gehört. Wenn gläubige Muslime ihre Stimme erheben, um einen zutiefst humanistisch geprägten Islam einzufordern, dann drohen ihnen 1000 Peitschenhiebe. Der Tod. Der droht unterschiedslos all denen, die sich der Vision des ISIS nicht unterwerfen. Das zeigt das Beispiel des saudischen Intellektuellen Raif Muhammad Badawi, für den Glaube und Demokratie durchaus vereinbar sind. Der Blogger wurde in Saudi-Arabien zu 1000 Peitschenhieben verurteilt und sitzt in Kerkerhaft. Das barbarische Glaubensverständnis der saudischen Wahhabiten entspricht eins zu eins dem des salafistischen Kalifat des Abu Bakr al-Baghdadi. Man vergleiche die Lebensrealitäten der Menschen unter der Knute des ISIS mit denen der Menschen in Saudi-Arabien – sie unterscheiden sich in nichts. Aus dem Kalifat heraus wird der Terror gegen den Westen propagiert und in westliche Staaten exportiert. Aus Saudi-Arabien heraus wird die Glaubensideologie des globalen Dschihad, auf die sich ISIS stützt, gepredigt, organisiert und finanziert. Weltweit, Jahr für Jahr, mit Milliarden Dollar. Bis zum heutigen Tag. Allen Leugnungen der saudischen Herrscher zum Trotz.
»Ihr befindet euch erst am Anfang einer langen, dunklen und sehr blutigen Nacht des Terrors«, sagt mir im August 2016 via Skype Abu Hamza, jener schwäbische Dschihadist, den ich zwei Jahre zuvor im Wüstensand seines Kalifats getroffen habe. »Das Schönste steht euch noch bevor. Das Höllenfeuer. Im Diesseits. Auf Erden. Allahu akbar – Gott ist größer!«
Berlin, im Oktober 2016
Einleitung
Es dauert lange, sehr lange, einem Menschen den Kopf abzusäbeln. Gerade dann, wenn man wie die dschihadistische Terrorgruppe ISIS dies als einen geradezu rituellen Akt zelebriert. Öffentlich dazu und dann die Videoaufnahmen dieses archaischen Tötens ins Internet stellt. Was in Gottes Namen treibt einen Menschen dazu, so etwas zu machen?
Ich weiß es nicht. Werde es nie wissen. Aber ich habe ihre Augen gesehen. Die strahlten voller Glück ob ihres Mordens.
Was treibt andere Menschen dazu, solche Art des Tötens geradezu glücklich zu bejubeln? Ich weiß es nicht. Werde es nie wissen. Weiß aber, dass es in der ägyptischen Stadt Alexandria wie an anderen Orten recht viele Menschen gibt, die dieses Töten und die aufgespießten Köpfe der Gemordeten glücklich bejubeln. Was ist bloß mit Alexandria und seinen Menschen geschehen?
Ich kenne Alexandria noch aus den Zeiten, als in der Stadt am Meer die Frauen flanierten, als in der Nacht dort das Leben in all seiner deftigen Leichtigkeit pulsierte, als dort gelehrt und gelernt wurde, als die Stadt weltoffen und kosmopolitisch war. In der Menschen heiter und lustvoll das Leben und die Liebe liebten und beidem frönten. Verlorengegangene Zeiten. Die Stadt und ihre Bewohner sind im Würgegriff der Islamisten, im Dunkel des Dschihad gefangen.
Ich habe in Beirut, in Damaskus, in Kairo dieselbe Wandlung miterlebt, in all den Jahren nach 1981, als ich zum ersten Mal die Länder Arabiens besuchte. Zuerst als Reisender, später als Reporter. Habe gesehen und gespürt, wie die Menschen dort und überall in der arabischen Welt ihre Lust am Leben verloren haben. Ich habe erlebt, wie ihre Lebenskultur zerbröselte und eine andere Kultur entstand: die Kultur des Todes. Die Barbaren des Dschihad beherrschen heute die Menschen in Kairo, Alexandria, in Beirut, in Damaskus, in allen Ländern Arabiens. Auf lange, auf unendlich lange Zeit hinweg.
Und dann ist da Bagdad. Da ist der Irak. Bagdad war einmal, auch wenn das lange, sehr lange her ist, die strahlendste Stadt der ganzen Welt, der arabisch-islamischen sowieso. Eine Stadt der Gelehrsamkeit, der Künste, der Wissenschaften. Seit 35 Jahren kennen die Menschen dort nur eines: den Krieg und den Tod. Den hat ihnen Saddam Hussein, und niemand sonst, gebracht. Heute kriecht aus dem Land die Barbarei des ISIS und breitet sich einem Virus gleich in der gesamten arabischen Welt aus. Dschihad, Dschihad, Dschihad, so tönt es unablässig von dort. Zuerst unter dem Banner von Al-Qaida, dann unter der Flagge des ISIS ist die arabische Zivilisation zusammengebrochen und heute eine marode gewordene Gemeinschaft, aus der sich Al-Qaida, ISIS und die Glaubenswut des Heiligen Krieges erst haben entwickeln können. Es ist eine Gesellschaft, die ihre tiefen Wunden betrachtet und dabei jedoch die eine Fähigkeit verloren hat, die ihr zu wünschen ist, auch wenn das schmerzhaft ist. Die zur Selbstkritik, als ersten Schritt zur Heilung.
Die arabisch-islamische Zivilisation hat sich diese Wunden selbst geschlagen. Es war nicht der böse Westen. Nicht der schreckliche Imperialismus, nicht der gierige Kolonialismus und, ach ja, es waren auch nicht die Juden, die für die unsägliche Malaise der arabisch-islamischen Kultur verantwortlich zu machen sind. Muss da die Unschuld des George W. Bush noch eigens erwähnt werden? All die unzweifelhaft begangenen Sünden des Westens wider die arabische Welt haben, wenn überhaupt, nur als Katalysator gedient. Sie haben die Glaubenstumulte, die die arabische Welt erschüttern, nur beschleunigt. Nicht verursacht.
Die Trümmer, unter denen die einst so strahlenden islamischen Zivilisationen heute begraben liegen, müssen weggeräumt werden, damit die Menschen dort wieder leben lernen können. Weder die Amerikaner noch die Staaten des Westens werden diese Aufräumarbeit in Angriff nehmen. Sie wollen es nicht. Sie können es nicht. Sie dürfen es nicht. Antworten können nur aus diesen Zivilisationen selbst heraus kommen. Derzeit und wohl auf lange Jahre hinaus ist jedoch ISIS diese Antwort.
ISIS breitet sich in den arabischen Staaten aus. Auf dem Sinai, in Libyen, in Algerien. Sein Gedankengut wabert durch Jordanien und den Libanon, wuchert in Saudi-Arabien, durch den Jemen, findet Anhänger in Tunesien bis hin nach Mauretanien. Die islamisch-arabische Zivilisation, einst das Licht für das europäische Dunkel, ist jetzt selbst in Dunkelheit versunken und hat derzeit nur eine Antwort: sich und die ganze Welt durch ISIS zur Geisel Gottes nehmen zu lassen.
Die Barbaren sind auch unter uns. ISIS ist längst angekommen in Europa. Deutsche Schulabbrecher und angehende Ingenieure pilgern als »Heilige Krieger« in den Irak und nach Syrien. Junge Frauen in zunehmender Zahl. Konvertiten und Migranten der dritten Generation. Aus Europa sind etwa 8.000 Dschihadisten ausgereist, etwa 3.000 sind bereits wieder zurückgekehrt. Tickende Zeitbomben. ISIS wird Europa verändern. ISIS wuchert. Metastasen gleich.
In Deutschland, in Dresden wie an anderen Orten treibt das die Menschen auf die Straßen. Zehntausende demonstrieren bislang noch friedlich und gewaltfrei gegen die Islamisierung Europas. Allein: Die findet nicht statt. Europa ist vom Terror bedroht. Nicht von einer Religion. Auch wenn es aus dem Islam heraus starke Strömungen gibt, die Religion in eine Terror-Ideologie zu transformieren, bedeutet dies nicht, dass jeder gläubige Muslim die Kultur unseres Abendlandes bedroht oder gar ein Terrorist ist – oder dies werden wird. Die Demonstranten treibt die Angst vor dem Fremden, vor dem Terror auf die Straßen. Das ist ihr gutes Recht, man nennt dies Demonstrationsfreiheit. Sie sogleich in griffiger Dummheit als Rechtspopulisten oder gar Schlimmeres zu diffamieren ist kontraproduktiv. Ihre Ängste ernst zu nehmen und sie abzubauen wäre hingegen hilfreich. Die Türken, die Araber, sie stehen nicht vor den Toren Wiens, geschweige denn vor den Toren Dresdens. Sie leben schon längst unter uns – und das ist gut so.
Dieses Buch beschreibt, wie der Aufstieg des ISIS begann und wozu er führte. Ich berichte von meinen Reisen in ein terrorisiertes Land, habe mit ISIS-Terroristen und ihren Opfern gesprochen. ISIS ist nicht aus dem Nichts heraus entstanden. ISIS ist gehegt und gepflegt worden. Von Saudi-Arabien, aus den Golfstaaten, vom Natopartner Türkei. ISIS hat sich aus Al-Qaida heraus entwickelt, sich losgelöst und von der Mutterorganisation emanzipiert, ist heute weitaus gefährlicher, als es Al-Qaida je war. Der Führer des ISIS, der selbsternannte Kalif, Abu Bakr al-Baghdadi, der sich nun Kalif Ibrahim nennt, sieht sich selbst als den einzig legitimen Erben des Osama Bin Laden.
Das Buch will ganz explizit keine Antworten geben, was zu tun ist, um ISIS zu zerstören, will keine Lösungen behaupten. Aus einem ganz banalen Grund: Es gibt keine – außer der einen. Europa wird lernen müssen, mit ISIS und der von ihm ausgehenden Gefahr zu leben, ohne dabei seine Werte zu verlieren. Seine Freiheiten. Seine Würde. Die besteht aus sechs wunderbaren Worten in der Präambel des deutschen Grundgesetzes: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Nicht die des Muslims, nicht die des Europäers, nicht die des Gläubigen, des Ungläubigen, des Mannes, der Frau. Schlicht die des Menschen. All dies negiert ISIS. Das Kalifat des Abu Bakr al-Baghdadi liebt nur eines: das Dunkel der blutigsten Barbarei. Den Tod, nicht das Leben. Nicht die Liebe, die Lust, die Schönheit, die Poesie. Sie lieben noch nicht einmal ihren Glauben.
»Sie sind keine Menschen«, sagte mein kurdischer Freund Tarik während unserer Reisen. »Sie verdienen nur eine Antwort.« Und zeigt seine Kalaschnikow. »Sie sind Ratten«, sagte Esther, die arabische Christin aus Des Moines, Iowa, USA. Die Ärztin Esther, die nach dem Einfall von ISIS alles stehen und liegen ließ, um im Irak zu helfen. Den Christen, den Jesiden, den Sunniten, den Schiiten des Landes.
Ich sehe keinen Sinn darin, ISIS, dem »Islamischen Staat im Irak und Syrien«, und sei es auch nur gedankenlos, den Anschein von Legitimität zu geben. ISIS nennt sich inzwischen »Islamischer Staat« und unterstreicht damit den globalen Anspruch seiner Herrschaft. Die deutschsprachigen Medien haben diesen von ISIS vorgegebenen Begriff sogleich übernommen. Bis auf eine Ausnahme. Die vielgescholtene BILD. Den Kollegen dort ist zu danken, dass sie nicht in die Falle des ISIS getappt sind.
Bruno Schirra, im Dezember 2014