Klappe und Action!
Kosmos
Umschlagillustration von Ina Biber, München
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Grundlayout: Doppelpunkt, Stuttgart
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© 2015, Franckh-Kosmos Verlags-GmbH & Co. KG, Stuttgart
Alle Rechte vorbehalten
ISBN 978-3-440-14713-9
eBook-Konvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig
Kim spürte, wie heiße Wut in ihr aufstieg. Langsam, aber beständig wie glühende Lava, die sich unaufhaltsam die Hänge eines Vulkans hinabwälzt, breitete sich der Groll in ihr aus. Sie hörte das Blut in ihren Ohren rauschen und es gab nur noch einen einzigen Gedanken: RACHE! Hastig sah sie sich um. Ihr Blick fiel auf die Kommode. Etwas Rotes leuchtete zwischen dem Bücherstapel und der Keksschale hervor – das neue Rubberband-Armband! Augenblicklich schnellte Kims Hand nach vorne, knapp an Bens Schulter vorbei, der ihre Beine fest umschlungen hielt. Ihre Finger krallten sich um das elastische Armband. Mit der anderen Hand wühlte sie in ihrer Hosentasche, blickte einen Wimpernschlag lang zu ihrem Bruder hinab. Seine Brauen hatten sich gehoben, ein fragender Blick: Was hast du vor?!
Im selben Moment ertastete Kim etwas in der Tasche. Blitzschnell zog sie den Gegenstand hervor und legte das Gummiband darum.
Bens Augen weiteten sich.
Kim zielte, spannte das Gummi und ließ los. Sirrend schnellte das Geschoss Richtung Schreibtisch. Es fand mit einem satten KLONK sein Ziel: Einer kleinen Explosion gleich zerpulverte es an Lukas’ Hinterkopf. Der Junge sprang wie von der Tarantel gestochen auf, presste die Hand auf die Stelle, an der er getroffen war, und begann zu schreien. Sein Ellbogen streifte die Computertastatur, die polternd zu Boden fiel.
Bens Griff lockerte sich. Er rappelte sich auf und eilte zu seinem Zwillingsbruder. »Du hast ihn umgebracht!«, rief er Kim zu. Er versuchte einen Blick auf Lukas’ Kopf zu werfen. »Was war das? Eine Stahlkugel?!«
Kim zog eine teuflische Grimasse. »Ein Giftpfeil.«
Lukas riss entsetzt die Augen auf.
Diesen Moment der Verwirrung nutzte Kim aus. Sie warf sich nach vorne, drängte die Zwillinge beiseite und drückte den Knopf am PC. Der Monitor wurde schwarz.
Die Zwillinge machten frustrierte Gesichter. Lukas strubbelte sich durchs Haar. Eine kleine Wolke aus hellgrünem Staub stieg auf. Verwundert betrachtete er seine Hand. »Kein Blut.« Fast schien er enttäuscht zu sein. Lukas schnupperte und schüttelte verwundert den Kopf. Ein feiner süßlicher Duft breitete sich aus. Ausgerechnet ihre Lieblingssorte! Kim überlegte kurz: War ein zerschossenes Waldmeister-Brausestäbchen ein zu hoher Preis im Kampf um ihren Computer? Nein, entschied sie dann, der Einsatz hatte sich gelohnt! Sie hatte wieder einmal erfolgreich die Zwillinge abgewehrt und davon abgehalten, in ihrer Privatsphäre herumzuschnüffeln.
Zwei gleiche braune Augenpaare starrten sie wütend an, zwei gleiche Stupsnasen krausten sich und aus zwei gleich geformten Mündern brach es zur selben Zeit hervor: »Fette Planschkuh!«
Kim blieb gelassen. »Lasst euch mal was Neues einfallen«, sagte sie ruhig und streifte das Armband über. »Und jetzt verschwindet endlich. Sonst packe ich wirklich meine Giftpfeile aus, ihr siamesischen Superhirnis.«
Ben streckte die Zunge raus, Lukas verdrehte die Augen und machte mit der Hand eine Scheibenwischer-Geste vor seinem Gesicht. Aber dann drehten sich die beiden um und trollten sich tatsächlich zur Tür.
Dort stießen sie mit Kims Vater zusammen. Herr Jülich sah mit ernstem Gesicht in die Runde. »Was ist denn hier schon wieder los?«
Kim seufzte. »Die Zwillinge sind einfach hereingekommen und wollten an meinen Computer. Ich musste sie abwehren.« Sie hob die Tastatur vom Boden auf und untersuchte sie. Der Teppichboden hatte den Sturz abgefedert, das Gehäuse war zum Glück heil geblieben. Kim legte die Tastatur auf den Tisch zurück.
Ihr Vater machte ein ernstes Gesicht. »Lukas, Ben, ihr wisst genau, dass ihr in Kims Zimmer nichts zu suchen habt. Ihr habt doch eigene Computer!«
»Aber die sind so langsam«, sagte Lukas und seufzte.
»Sie reichen für euch vollkommen aus«, antwortete Herr Jülich kopfschüttelnd.
Lukas verschränkte die Arme vor der Brust. »Wir wollten dir nur helfen«, murrte er. »Aber die«, er wies mit dem Kinn auf Kim, »hat mir ein Loch in den Kopf geschossen!«
Sein Bruder nickte heftig. »Mit einer Zwille und einer Stahlkugel!«
Herr Jülich hob alarmiert die Augenbrauen. Er sah Kim fragend an, während er Lukas zu sich herzog. »Zeig mal!« Er untersuchte Lukas’ Kopf. »Da ist nichts«, stellte er schon nach kurzer Zeit fest. »Aber du solltest dir mal wieder die Haare waschen. Da sind schon grüne Krümel drin!« Herr Jülich wischte sich die Hände an seiner Jeans ab.
Kim räusperte sich. »Es war ein Brausestäbchen«, sagte sie leise. »Ich war so wütend. Ich wusste nicht, wie ich mich sonst wehren sollte.«
Ihr Vater sah sie streng an. »Das hätte voll ins Auge gehen können! Versprich mir, dass du so was nie wieder machst!«
Kim wurde rot. Sie nickte schweigend.
Die Zwillinge grinsten schadenfroh.
»Und ihr beide«, sagte Kims Vater drohend, »lasst in Zukunft die Finger vom Computer eurer Schwester! Sonst weiß ich, wer hier mal zwei Wochen lang den Abwasch macht!«
Die Zwillinge zogen die Köpfe ein.
»Bei was wolltet ihr mir eigentlich helfen?«, fragte Herr Jülich.
Ben und Lukas sahen sich verschwörerisch an. »Das ist unser Geheimnis«, sagte Ben.
Lukas nickte heftig. »Es wird einschlagen wie eine Bombe! Du wirst dich vor Aufträgen kaum retten können.«
»Darum geht es also«, sagte Herr Jülich. Er schüttelte den Kopf. »Bitte keine Dummheiten, Jungs! Um mein Kuckucksuhren-Geschäft kann ich mich sehr gut alleine kümmern.«
Die Zwillinge sahen ihn beleidigt an und schwiegen.
»Und jetzt raus mit euch!«, rief Herr Jülich. »Pablo wartet unten an der Haustür, ihr wart heute noch nicht draußen mit ihm!«
Kim atmete auf, als sich die beiden Jungen zur Tür hinausgedrückt hatten und die Treppe runterdonnerten.
»Nehmt ihn bitte an die Leine!«, rief Herr Jülich den Jungs noch hinterher.
Unten bellte Pablo freudig auf. Der süße Cockerspaniel-Mischling war sehr bewegungsfreudig. Er wartete bestimmt schon sehnsüchtig darauf, dass er endlich wieder rauskam. Seit einem Vorfall mit dem neuen Nachbarn durfte der Hund nämlich nicht mehr alleine in den Garten.
Kims Vater setzte sich aufs Bett. Er lächelte Kim an. »Du hast es nicht gerade leicht mit deinen Brüdern, was?«
»Manchmal ist es echt nervig«, gab sie zu. »Aber ich komm schon klar.« Sie setzte sich neben ihren Vater und sah ihn besorgt an. »Läuft es wirklich so schlecht mit deinen Uhren?«
»Im Moment habe ich keine Aufträge.« Herr Jülich strich sein T-Shirt glatt. »Aber das ist kein Anlass zur Sorge. Mama verdient genug für uns alle.«
Kim nickte langsam. »Ja, schon. Aber es ist doch schade, dass sich gerade keiner für deine Uhren interessiert.« Sie lächelte ihren Vater an. »Die sind nämlich toll!«
»Danke!« Herr Jülich zwinkerte. »Ich habe übrigens schon eine Idee, wie ich mein Geschäft ankurbeln kann.«
»Echt? Wie denn?«
»Ich habe mich mit einem Geschäftsmann unterhalten, der eine Uhr als Gastgeschenk für seine Reise nach China gekauft hat. Dort sind die Leute ganz wild auf Kuckucksuhren!« Herrn Jülichs Augen begannen zu leuchten. »Ich werde den chinesischen Markt erobern! Bei einer Bevölkerung von 1,3 Milliarden Menschen muss nur jeder tausendste Chinese eine Uhr kaufen – dann sind das 1,3 Millionen Kuckucksuhren!«
Kim musste lachen. »Das ist aber eine ziemlich große Menge. Die kannst du doch gar nicht alle selber bauen.«
Ihr Vater zuckte mit den Schultern. »Sie werden ja nicht alle auf einmal bestellt. Notfalls suche ich mir ein paar Mitarbeiter. Na ja, mal sehen.«
Im Flur ertönte ein Gong. Dann war vier Mal der Ruf eines Kuckucks zu hören. Kim sprang auf. »Papa, ich muss mich fertig machen! Ich bin mit Franzi und Marie verabredet.«
»Der Detektivclub ruft, nehme ich an?« Herr Jülich stand ebenfalls auf. »Ich sollte jetzt auch mal weitermachen.« Er zögerte. Dann sah er Kim ernst an. »Du weißt, dass ich dir vertraue. Aber bitte seid vorsichtig und bringt euch in keine gefährlichen Situationen!«
»Ja, klar!« Kim verdrehte die Augen. Es war mal wieder typisch, dass Erwachsene immer nur die Gefahren erwähnten und nie den Erfolg. Seit sie mit Franzi und Marie zusammen den Detektivclub Die drei !!! gegründet hatte, waren sie in über fünfzig Fällen Verbrechern auf der Spur gewesen. Dabei hatten sie jeden einzelnen Täter erwischt und dingfest gemacht! Kim war sehr stolz auf diese Leistung. Sie überlegte, ihren Vater darauf hinzuweisen, beschloss dann aber, die Diskussion sein zu lassen. Es hätte sie nur noch weitere Zeit gekostet. Sie musste dringend los, wenn sie rechtzeitig zu ihrer Verabredung kommen wollte.
Kim suchte hektisch in ihrem Rucksack nach dem Lipgloss. »Du brauchst dir übrigens keine Sorgen zu machen, wir haben keinen neuen Fall. Wir haben heute unseren Auftritt beim neuen Film von Maries Vater!« Sie fand das Döschen mit dem farbigen Gloss und trug etwas von der zartrosa Paste auf ihre Lippen auf.
Herr Jülich schlug sich mit der Hand vor die Stirn. »Richtig, wie konnte ich das vergessen! Ich habe doch vorgestern erst die Einwilligungserklärung für die Filmgesellschaft unterschrieben.«
Er lächelte. »Finde ich toll, dass ihr in einer Szene mitspielen dürft! Bist du aufgeregt?«
Kim nickte. »Wenn ich daran denke, bekomme ich schon ganz weiche Knie. Es ist ja nicht das erste Mal, dass ich vor der Kamera stehe, aber jetzt hat uns Maries Vater Komparsenrollen besorgt. Dafür mussten wir sogar einen Text auswendig lernen!«
Kim schluckte. Sie war wirklich sehr aufgeregt. In den letzten zwei Wochen waren Marie, Franzi und sie bestimmt fünf Mal am Set gewesen und hatten bei den Filmaufnahmen zugesehen, um sich auf ihre Rollen einzustimmen. Heute waren sie endlich selbst dran!
Kim betrachtete kritisch ihre Haare im Spiegel über der Kommode. Sie hätte doch noch zum Friseur gehen sollen, ausgerechnet heute standen die Spitzen an den Seiten in alle Himmelsrichtungen ab. Sie seufzte. Jetzt war es zu spät. Sie griff nach der Tube mit Stylingcreme.
»Dann will ich dich mal nicht weiter stören«, sagte Herr Jülich lächelnd. »Viel Erfolg nachher und grüß Herrn Grevenbroich alias Hauptkommissar Brockmeier von mir!« Er lief zur Tür.
»Mach ich«, rief Kim und verteilte etwas Gel zwischen ihren Händen. »Heute wird aber nicht für die Vorstadtwache gedreht. Herr Grevenbroich spielt einen Kaufhausdetektiv in der neuen Fernsehserie Ladendetektiv Ole Jacobsen.« Kim fuhr sich einmal durch die Haare und arbeitete die Seitenpartien heraus. »Maries Vater spielt Ole Jacobsen, einen arbeitslosen Schauspieler, der einen Job als Ladendetektiv im großen Nobel-Kaufhaus seines Cousins annehmen muss, um über die Runden zu kommen. Ole findet den Job zuerst todlangweilig, aber dann bekommt er es mit gefährlichen Räubern zu tun. Er jagt die Verbrecher, mit Action und Schießereien und so, und kann sie natürlich fassen. Ab da ist sein Ehrgeiz als Detektiv geweckt.«
Kims Vater nickte beeindruckt.
Kim grinste. »Herr Grevenbroich kann in dieser Serie auch sein Comedy-Talent zeigen. Der Regisseur meint, die Serie hätte locker das Potenzial, so beliebt wie die Vorstadtwache zu werden.«
»Ich drücke fest die Daumen«, sagte Herr Jülich. »Jetzt muss ich wieder in die Küche.« Er lächelte Kim an. »Um 22:00 Uhr bist du wieder da, richtig?«
Kim nickte und warf einen zufriedenen Blick in den Spiegel. Das Styling hatte sich ausgezahlt. »Danke! Ja, jemand vom Fernsehteam fährt Franzi und mich nach Hause«, antwortete sie. »Es ist ja nicht weit.« Praktischerweise befand sich der Hauptdrehort im alten Kaufhaus Pulitzer. Das große, vierstöckige Gebäude mit der eindrucksvollen Glaskuppel lag direkt am Marktplatz in ihrer Stadt.
»Prima, ich hebe dir etwas von den Bratkartoffeln auf!« Herr Jülich verschwand mit einem Winken.
Kim tauschte eilig das ausgeleierte T-Shirt, das sie trug, gegen ein sonnengelbes Top und die alte Jeans gegen Cargo-Pants. Dann schlüpfte sie in ihre neuen Sneakers. Jutta, die Kostümbildnerin vom Fernsehteam, hatte ihnen vor einigen Tagen eine E-Mail geschickt und darum gebeten, dass jede ihr eigenes Outfit zum Dreh mitbrachte. Es sollte sportliche Kleidung in bunten Farben sein, die zu den Rollen, die sie spielten, passte: drei junge Kundinnen, die gerade in der Sportabteilung beraten wurden, während sich im Vordergrund Ole Jacobsen eine wilde Verfolgungsjagd mit zwei Verbrechern lieferte und eine Flugrolle über einen Aktionstisch mit Tennisbällen machte.
Kim murmelte den Text, den sie zu sagen hatte: »Parkouring im Kaufhaus, wie geil!«
Marie würde dann nicken, ihre langen blonden Haare nach hinten werfen und sagen: »Ob das gut geht …«
In der nächsten Einstellung sollte Ole Jacobsen inmitten einer Unmenge von Tennisbällen auf dem Boden sitzen, hinter ihm der umgekippte Tisch, und Franzi würde ihm beim Aufstehen helfen. Während der Ladendetektiv wieder lossprintete, sollte sie ihm hinterherrufen: »Sie tragen die falschen Klamotten!«
Dann würden sie alle drei gleichzeitig den Kopf schütteln.
Kim musste in sich hineingrinsen. Plötzlich war sie gar nicht mehr so aufgeregt. Der Dreh würde bestimmt sehr lustig werden.
Sie schulterte ihren Rucksack und machte sich auf den Weg.
Im Vorgarten zappelten die Zwillinge und Pablo, zu einem Knäuel verstrickt, im Blumenbeet. Lukas hatte die Schlaufe der Hundeleine fest um sein linkes Handgelenk gewickelt, mit der Rechten hielt er sich an einem Busch mit rosa Pfingstrosen fest. Ein Teil der Leine wand sich um Bens Bein und der Junge kämpfte mühsam um sein Gleichgewicht. Pablo zog aus Leibeskräften, er war erstaunlich stark für einen mittelgroßen Hund. Seine Vorderpfoten hatte er auf den Zaun zum Nachbarn hin gestemmt und die Hinterpfoten hingen auf halber Höhe in der Luft. »Pablo, bei Fuß!«, keuchte Lukas. Plötzlich gab es ein lautes Knacken und die Stängel der Blüten brachen ab. Lukas kippte vornüber. »Verdammt!«, hörte Kim ihren Bruder rufen, dann hing er auch schon bäuchlings über dem kniehohen Zaun. Hilflos schwenkte er die abgebrochenen Pfingstrosen in der Luft, während er weiterhin die Leine fest in der Hand hielt. Der Hund schnupperte kurz an einer der Blüten, kläffte und machte sich dann mit einem Ruck endgültig los. Er verschwand schwanzwedelnd im Rhabarber des Nachbargartens und begann begeistert zu buddeln.
Kim sah aus den Augenwinkeln, wie sich Herr Poschke aus der Hollywoodschaukel auf seiner Terrasse erhob und den Hals reckte. Er fing an zu schreien und rannte los. Einen Augenblick überlegte Kim, einzugreifen. Dann entschied sie, dass ihre Brüder alleine klarkommen mussten. Sie hatte jetzt wirklich keine Zeit mehr. Eilig schloss sie ihr Fahrrad auf und machte, dass sie loskam.
Marie und Franzi standen neben einer Absperrung am Hintereingang des Kaufhauses Pulitzer. Eine junge Frau mit Basecap, unter dem lange braune Haare hervorschauten, und einem Headset war bei ihnen. Kim erkannte Sophie, die Regiepraktikantin.
Alle drei winkten ungeduldig, als sie Kim entdeckten. Sie rannte die letzten Meter. »Tut mir leid!«, keuchte sie, als sie ihre Freundinnen erreicht hatte. Marie sah Kim vorwurfsvoll an. »Du bist doch sonst immer so pünktlich!« Sie zupfte nervös an ihrem himmelblauen Kapuzenpulli. Ihre Beine steckten in dunkelblauen Leggins und an den Füßen hatte sie schneeweiße Sneakers. Wie immer war Marie top gestylt.
Sophie verschob die Absperrung ein Stück. »Dann mal rein mit euch«, flüsterte sie. »Aber seid leise, der Dreh läuft gleich.«
Die drei !!! schlüpften zwischen den Gittern hindurch und folgten Sophie. Sie mussten ziemlich aufpassen, um nicht über eines der vielen Kabel am Boden oder die Stative zu stolpern, die überall herumstanden. Sophie steuerte in Richtung einer Anlage mit mehreren kleinen Monitoren, die neben dem Eingang aufgebaut war. Davor saß Christian, der Regisseur. Die drei !!! hatten den sympathischen Mann beim letzten Filmdreh kennengelernt. Damals war er noch Assistent. Jetzt verantwortete er seinen ersten eigenen Dreh.
Sophie hielt einen Finger vor den Mund und deutete mit der Hand zu mehreren großen Kisten, die neben der Monitoranlage standen.
Marie nickte und lächelte Sophie zu. Die Praktikantin rückte ihr Headset zurecht und eilte nach vorne.
Augenblicklich war Kim von der Atmosphäre gefangen. Sie reckte den Hals. In einigen Metern Entfernung standen Maries Vater und seine Schauspielkollegin und unterhielten sich. Einer der Lichttechniker kniete vor ihnen und prüfte mit einem Messgerät das Licht. Hinter der Kamera stand Tessa, Maries Stiefmutter. Sie und Herr Grevenbroich hatten sich vor langer Zeit bei einem Dreh kennen- und lieben gelernt und hatten vor vier Wochen geheiratet. Kim beneidete Marie ein wenig um ihre coole Patchwork-Familie, zu der noch Lina, die 12-jährige Tochter von Tessa, und Finn, der 18 Monate alte Halbbruder, gehörten. Der Kleine war einfach so süß! Kim wünschte sich oft, ihre Zwillingsbrüder wären auch wieder so klein und harmlos. Sie seufzte und hob ein leicht zerfleddertes Drehbuch auf, das auf der Kiste vor ihr lag. Sie überlegte, ob sie es auf den Tisch vor Christian legen sollte. Der Regisseur sprach gerade in sein Headset und betrachtete konzentriert einen der Monitore. Herr Grevenbroich und seine Kollegin waren darauf im Brustbild zu sehen. Kim beschloss, das Drehbuch einfach in der Hand zu behalten, und setzte sich. Marie rückte ein Stück zur Seite.
Im selben Moment gab es einen ohrenbetäubenden Knall.
Ein zweiter Knall folgte. Kim duckte sich. Das waren Schüsse! Auch Marie und Franzi zogen die Köpfe ein.
Kim sah zwischen zwei Stativen hindurch. Herr Grevenbroich kniete mit schmerzverzerrtem Gesicht wenige Meter vor ihnen am Boden. Er hielt sich einen Arm. Auf dem Hemdstoff breitete sich ein dunkler Fleck aus. Blut! Seine Schauspielkollegin versuchte ihn zu stützen. Auch ihr stand der Schreck ins Gesicht geschrieben.
Maries Vater rappelte sich halb auf. Er öffnete den Mund und keuchte mühsam: »Keine Sorge. Nur ein Schleifschuss.«
Die junge Frau kniff die Augen zusammen. »Schleifschuss«, wiederholte sie. »Aha.« Dann zuckte es um ihren Mund.
Herr Grevenbroich verdrehte die Augen. »Ich meinte STREIFSCHUSS! Verdammt. Sorry, Leute!« Dann bekam er einen Lachanfall. Seine Kollegin konnte nun nicht mehr an sich halten und fing ebenfalls an, schallend zu lachen. Die beiden klopften sich auf die Schultern. Maries Vater trällerte: »Schleifschluss … ich habe einen Schleifschuss, schalalalaaa.« Er nestelte an seinem Hemdärmel herum, die Maskenbildnerin eilte herbei und entfernte einen kleinen Plastikbeutel, der zur Hälfte mit blutroter Flüssigkeit gefüllt war.
»Aus! Danke!«, rief Christian. Er winkte ab. »Helmut, du wechselst das Hemd, und dann wiederholen wir die Szene.«
Kim schüttelte den Kopf. Sie hatte überhaupt nicht mitbekommen, dass der Dreh schon lief. Ein Blick auf Marie und Franzi verriet ihr, dass es ihren Freundinnen ähnlich ging.
»Die beiden haben so verdammt gut gespielt, dass ich wirklich dachte, dein Vater ist schwer verletzt. Mann, hab ich mich erschreckt!« Franzi schüttelte den Kopf.
Marie nickte schweigend.
»Wir machen dreißig Minuten Pause auf der Kaufhaus-Dachterrasse, wenn der nächste Take klappt«, versprach Christian. »Dann geht eine Runde Getränke auf mich!«
Das Team klatschte und johlte. Herr Grevenbroich schlüpfte in das neue Hemd, das die Kostümbildnerin ihm gebracht hatte, und klatschte sich mit seiner Filmpartnerin ab. Sie gingen wieder auf Position.
»Und: Bitte!«, rief Chris.
Eine Dreiviertelstunde später war die Schuss-Szene im Kasten und das Team hatte sich auf der sonnigen Terrasse versammelt, die zum Restaurant im obersten Stock des Kaufhauses gehörte. Chris bestellte Cola, Limo und Wasser und alle griffen dankbar zu.
Marie ließ sich in einen der Korbsessel unter einem großen weißen Sonnenschirm fallen. Sie lächelte ihren Vater an. »Danke, Papa, dass wir mitkommen durften!«
Herr Grevenbroich nahm einen Schluck Wasser. »Prinzessin, das ist doch selbstverständlich!« Er stellte das Glas auf dem Tischchen vor sich ab und sah Marie liebevoll an.
Chris nickte den drei !!! zu. »Ihr gehört mittlerweile ja quasi zum Team – so oft, wie ihr dabei seid. Schön, dass ihr auch heute wieder zuschaut!«
Marie strahlte in die Runde. Es war ihr deutlich anzusehen, dass sie mal wieder in ihrem Element war und sich rundum