Becky Citra

Nur dieser eine Sommer …

Aus dem Englischen von Fiona Weisz

KOSMOS

Umschlaggestaltung: Henry’s Lodge GmbH Kilchberg (Schweiz), unter Verwendung eines Fotos von © Anja Hild / Getty Images

© 2011 by Becky Citra

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel Missing bei Orca Book Publishers, Victoria (Canada).

Unser gesamtes lieferbares Programm und viele

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Aktivitäten findest du unter kosmos.de

© 2015, Franckh-Kosmos Verlags-GmbH & Co. KG, Stuttgart

ISBN 978-3-440-14739-9

eBook-Konvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

Für meinen Bruder John

Eins

Es ist fast schon Ende Juni und ich sitze im Diner in meiner Lieblingsecke ganz hinten. Ich muss wie der größte Verlierer aller Zeiten aussehen. Nirgends kann ich nach der Schule hin, außer ins Diner, wo ich meine Hausaufgaben mache. Nicht dass mich irgendjemand sehen könnte. Oder zumindest niemand, der wichtig wäre.

„Wie läuft’s mit den Hausaufgaben?“, fragt Dad. Er wischt den Tisch neben meinem ab und schrubbt an einem besonders störrischen Ketchupfleck herum. Normalerweise steht er hinter dem Grill, brät Eier und Burger, aber heute ist die Bedienung wegen Kopfschmerzen früher nach Hause gegangen. Also hat Dads Chef Sid den Grill übernommen und Dad nach vorne geschickt. Das Diner ist fast ganz leer, bis auf eine Frau mit einem kleinen Kind, die an einem Tisch am Fenster Eis essen.

Dad trödelt herum, um sich unterhalten zu können. „Willst du ’ne Cola?“

„Nein, danke.“

„Wie war’s in der Schule?“

„Super“, lüge ich.

Aber Dad lässt sich nicht hinters Licht führen. „Hab ein bisschen Geduld“, sagt er. „Du kannst nicht erwarten, sofort eine Menge Freunde zu haben.“

Ich beuge mich tiefer über mein Buch, damit ich ihn nicht weiter anlügen muss. Dad hat keine Ahnung! Es braucht Zeit, um Freunde zu gewinnen. Und die haben wir nicht. Sids eigentlicher Koch kommt nächste Woche zurück und dann ist Dad offiziell arbeitslos. Wieder mal. Seit Wochen durchforstet er die Zeitung nach Stellenanzeigen und reicht Bewerbungen in der ganzen Stadt ein. Aber hier gibt’s keinen Job für ihn. Also werden wir wieder weiterziehen.

Seit wann interessiert es Dad überhaupt, wie es in der Schule läuft?

Die Matheaufgaben verschwimmen vor meinen Augen, sodass ich blinzeln muss. Den ganzen Tag fühle ich mich schon so. Zerbrechlich.

„Hey, Dusty, komm her!“, ruft Sid. An Dads Kiefer zuckt ein Muskel. Ich schätze, er hat auch keinen besonders guten Tag heute. Er lässt sich Zeit, in die Küche zurückzugehen. Und ich versuche, mich auf die nächste Matheaufgabe zu konzentrieren.

Jetzt ist mir endgültig zum Heulen zumute. Ich muss noch eine ganze Seite mit diesen dämlichen Aufgaben lösen. Sehnsüchtig denke ich an das Buch, das ich in der Schulbücherei ausgeliehen habe. Der Pferdeflüsterer. Ich habe den Film schon dreimal gesehen, aber das Buch noch nie gelesen. Ich wusste nicht mal, dass es dazu ein Buch gibt, aber es war das Highlight meiner Woche, als ich es auf dem Wagen mit den Büchern entdeckte, die wieder ins Regal geräumt werden mussten. Es ist richtig dick und ich schätze, ich sollte es mir für die Schule aufheben. Es würde sicher eine Menge einsamer Mittagspausen füllen.

Ich konzentriere mich wieder auf das Mathebuch. Wer zum Teufel denkt sich diese Aufgaben nur aus? Was haben sie mit dem wahren Leben zu tun?

Eine Stunde später habe ich so viele Aufgaben gelöst, wie ich konnte – also etwas weniger als die Hälfte. Ich hänge bereits in allen Fächern hinterher und mein schlimmster Albtraum ist, die Achte nicht zu schaffen. Ich habe mich immer für eine durchschnittlich begabte Schülerin gehalten, aber an dieser Schule sind die Lehrer viel anspruchsvoller als an der letzten.

Als wir noch im Fraser Valley gelebt haben, bin ich vom Kindergarten bis zur Vierten in dieselbe Schule gegangen. Das war schön. Ich hatte drei beste Freundinnen. Aber nachdem all der Scheiß passiert war, wollte Dad nichts mehr mit unserem alten Leben zu tun haben. Wir sind nordwärts gezogen, von einer Kleinstadt im Cariboo-Bezirk in die nächste. Von da an wurde alles immer schlimmer. Keiner von Dads Jobs ist von Dauer. Ich würde gern in unser altes Leben zurück, aber ich weiß, dass Dad keine zehn Pferde zurückbringen würden. Ich vermisse meine Freunde von damals immer noch, obwohl sie mich bestimmt schon längst vergessen haben. Und ich vermisse Fraser Valley.

Abgesehen von Sid, Dad und mir ist das Diner jetzt leer. Dad lässt sich mit einem Becher Kaffee in der Hand auf den Stuhl mir gegenüber fallen. Sein Gesicht ist fahl. Sid erlaubt ihm zehn Minuten Pause, und sobald Dad mal eine Millisekunde länger braucht, fängt Sid an rumzumotzen, dass Zeit Geld sei und so. Das Diner schließt bald, also ist es Dads letzte Pause. Danach wird er die Küche sauber machen und wir können endlich nach Hause gehen.

Die Tür wird geöffnet und ein Mann kommt herein. Er ist groß, hat ein rotes Gesicht und trägt nagelneue Jeans, Stiefel und einen Cowboyhut, der nicht so ganz passt. Dad sitzt mit dem Rücken zu ihm und dreht sich nicht mal um. Ein Kunde um diese Uhrzeit heißt, dass das Diner erst später schließt. Sid schlägt nie eine Gelegenheit aus, Umsatz zu machen.

Aber heute will Sid auch nach Hause. Die Klimaanlage ist kaputt und er hat zwei Schweißflecken unter den Armen. „Tut mir leid, wir schließen gerade“, sagt er.

Der Mann lächelt und sagt: „Ich will gar nichts essen. Ich mache nur die Runde, um Bescheid zu sagen, dass ich jemanden für meine Ranch suche. Hier kommen doch bestimmt jeden Tag viele Leute rein. Vielleicht kennen Sie jemanden, der einen Job sucht?“

Jetzt hört Dad doch zu, das sehe ich ihm an, obwohl er so tut, als würde er nur seinen Kaffee trinken. Am liebsten würde ich: „Ja! Hier drüben!“, rufen. Ich kann’s gar nicht glauben. Irgendein Typ kommt hier einfach reingeschneit und hat einen Job anzubieten. Mich interessiert nicht mal, was das für ein Job ist. Ich bin sicher, Dad kriegt das hin. Und vielleicht könnten wir dann diesen einen Sommer einmal in ein und derselben Stadt verbringen.

Sid deutet mit dem Kopf in unsere Richtung. „Vielleicht fragen Sie mal Dusty da drüben.“

Der Mann zögert kurz und kommt dann zu unserem Tisch. Er streckt Dad die Hand hin und sagt mit kräftiger Stimme: „Stan Tulworth. Aber alle nennen mich Tully.“

„Dusty Taylor“, erwidert Dad und schüttelt Tullys Hand. „Und das ist meine Tochter Thea“, ergänzt er.

„Thea. Was für ein schöner Name. Kurzform von Theadora?“

Ich nicke ein bisschen verlegen. Die meisten haben noch nie etwas von dem Namen Theadora gehört. Hoffentlich erzählt Tully was über den Job. Ich versuche, ganz cool zu bleiben, aber ich kann mein Herz bis zum Hals schlagen hören. Ich mache mir jetzt schon große Hoffnungen, obwohl ich es mittlerweile eigentlich besser wissen sollte.

„Schön, euch beide kennenzulernen“, sagt Tully. „Habt ihr kurz Zeit für mich?“

Dad zuckt mit den Schultern und Tully, der das als Ja deutet, lässt sich auf dem Stuhl neben mir nieder. Er legt seine Hände auf die Tischplatte. An einem Finger trägt er einen großen silbernen Ring mit einem klobigen schwarzen Stein. „Ich habe die Lakeview-Ranch gekauft“, beginnt er ohne Umschweife.

„Ist das so“, gibt Dad etwas abweisend zurück.

„Dann haben Sie also von der Ranch gehört?“, will Tully wissen.

Dad schüttelt den Kopf. „Tut mir leid, wir sind selbst noch nicht lange in der Stadt.“

Tully atmet hörbar aus. „Ist ein riesiges Anwesen oben am Gumboot Lake, etwa zwanzig Kilometer außerhalb der Stadt. Eine Ferien-Ranch. Es gibt zehn Blockhütten entlang des Seeufers und eine Lodge. Der Vorbesitzer hat vor etwa drei Jahren alle Pferde verkauft und die Ranch dicht gemacht. Hat einen Verwalter eingesetzt, solange sie zum Verkauf stand.“ Tully strahlt. „Und dann habe ich sie gekauft, im April.“

Dad nimmt einen Schluck Kaffee.

„Die Sache ist die“, erklärt Tully, „ich habe vor, wieder Gäste aufzunehmen und Quarter Horses zu züchten. Erstklassige Tiere.“

„Schon mal ’ne Ranch geführt?“, fragt Dad.

„Nein“, gibt Tully zu. „Aber ich mag Herausforderungen.“

„Aha“, erwidert Dad.

„Mit den Pferden lasse ich mir bis nächsten Sommer Zeit“, meint Tully. „Dieses Jahr will ich erst mal alles wieder in Schuss bringen. Die meisten Blockhütten sind ziemlich heruntergekommen. Ich suche jemanden, der was von Tischlerei versteht. Ich will mindestens drei der Hütten entkernen und wieder schön herrichten.“

Normalerweise halte ich Dad und mich nicht für vom Glück verfolgt, aber heute scheint es eindeutig auf unserer Seite zu sein. Dad kann richtig gut Sachen bauen und das macht er auch tausendmal lieber als Hamburger braten. Ich atme hörbar aus.

„Dad hat schon mal ein ganzes Haus gebaut“, stoße ich hervor. Und das stimmt. Es hat acht Monate gedauert. So lange war ich nicht mehr an einem Stück an einer Schule, seit ich neun war.

„Ach was?“, meint Tully erstaunt.

Aber Dad brummt: „Hm, lang her …“

Ich weiß sofort, was in ihm vorgeht: Es sind die Pferde. Seit Mums Unfall vor vier Jahren kann Dad nicht einmal mehr an Pferde denken. Ich habe keine Ahnung, wie er einfach so einen Teil unseres Lebens auslöschen kann, aber er kann es. Immer, wenn ich auch nur Pferde erwähne, wechselt er das Thema. Ein Kloß schwillt in meinem Hals an.

Tully wartet und Dad sagt zögerlich: „Ich weiß nicht …“

Schließlich zieht Tully seine Brieftasche hervor, öffnet sie und nimmt eine Visitenkarte heraus. Er legt sie auf den Tisch. „Ich geb Ihnen meine Karte. Ich bin das ganze nächste Wochenende draußen auf der Ranch. Kommen Sie einfach vorbei, dann reden wir über alles.“

Tully steht auf, schüttelt Dad noch mal die Hand und schon ist er verschwunden. Er kennt Dad überhaupt nicht, hat ihm aber trotzdem gerade mehr oder weniger einen Job angeboten. Ich versuche, das zu checken. Wenn ich religiös wäre, würde ich Tully vielleicht für eine Art Schutzengel halten. Aber das bin ich nicht, also weiß ich nicht, was ich davon halten soll.

Dad geht zurück in die Küche und lässt die Karte unangetastet auf dem Tisch liegen. Ich schaue sie mir eine Weile lang an. Lakeview-Ferienranch, Tullys Name, Telefonnummer und E-Mail-Adresse sind in schwarzen Lettern draufgedruckt. Über einem Bild von einem Pferd, das auf einer Wiese galoppiert.

Der blöde Kloß in meinem Hals schwillt weiter an. Ich nehme die Karte und stecke sie in die Prospekthülle ganz vorne in meinem Ordner.

Zwei

Es ist Freitag und ich habe die ganze Woche darauf gewartet, dass Dad mir endlich sagt, ob wir wegen des Jobangebots zu Tully rausfahren. Dad muss Samstag und Sonntag arbeiten – seine letzten beiden Tage bei Sid –, aber nur bis fünf. Also hätten wir genug Zeit, um der Ranch einen Besuch abzustatten.

Bis der Nachmittagsunterricht anfängt, bleibe ich in der Schulbibliothek und lese den Pferdeflüsterer. Ich kann das Buch kaum aus der Hand legen, so großartig ist es. Zum ersten Mal, seit ich hier an der Schule bin, wünsche ich mir, dass die Mittagspause länger als eine Dreiviertelstunde dauert.

Ich verkrieche mich immer ganz hinten in der Bücherei, weitab von der Fensterreihe, die zum Schulkorridor hinausgeht. Ich will von niemandem gesehen werden, nicht dass die noch denken, ich hätte niemanden zum Abhängen. Seit zwei Monaten bin ich an dieser Schule und die Mittagspause ist definitiv der schlimmste Teil des Tages.

Während des Unterrichts kann ich mich gut verstellen. Ich muss nur ein Buch öffnen und meine Notizen oder Hausaufgaben noch mal abschreiben, um beschäftigt zu wirken. Aber in der Mittagspause schwärmen alle in die Gänge aus. Viele gehen in die Stadt in einen Burger-Laden. Ich wünschte, ich hätte jemanden, mit dem ich gehen könnte, aber keiner meiner Mitschüler hat mich bisher angesprochen. Kein einziger. Als ob ich unsichtbar wäre oder so. Vielleicht hat mir auch irgendein Witzbold am ersten Schultag so einen blöden Zettel auf den Rücken geklebt und ich hab’s nicht mitgekriegt. Tritt mir in den Arsch oder Hoch ansteckend oder Sprich mich nicht an.

Ich bin eine gute Beobachterin und schon nach wenigen Wochen an dieser Schule hatte ich raus, wer zu welcher Clique gehört. Ist ja auch keine große Schule, da erkennt man unweigerlich bestimmte Typen wieder.

Da ist die Clique mit den angesagten Leuten und ich denke, ich weiß ziemlich genau, wer alles dazugehört. Das sind die, die auf den Gängen den meisten Lärm machen. Selbstbewusst. Selbstzufrieden. Und dann sind da noch die, die in jeder Pause abhauen, um außerhalb des Schulgeländes zu rauchen. Und natürlich die Sportskanonen, die in allen Schulmannschaften sind. Tja, und dann sind da noch die, die sich zusammentun, bloß um an der Schule zu überleben. Genau so war das auch an meiner letzten Schule. Dieselben Cliquen, bloß mit anderen Gesichtern.

Na ja, nicht ganz. An dieser Schule gibt es eine Clique, wie sie mir noch nirgends begegnet ist. Neulich bin ich an denen vorbeigekommen, kurz bevor der Unterricht begann. Ungefähr ein Dutzend Schüler standen da im Kreis und hielten sich an den Händen. Ich habe mich bemüht, sie nicht anzustarren, aber einer der Jungs hat mich direkt angeschaut. Er hat mir zugelächelt und ich habe weggesehen. Trotzdem bin ich vor Neugier fast geplatzt. Was machten die da? In dem Moment kamen ein paar von den Rauchern vorbei und einer von denen rief irgendwas wie: „Hey, Gott! Ich wurde erlöööööööst!“ Da erst habe ich es kapiert: Das sind irgendwelche Religionsfanatiker oder so.

Es klingelt und mit einem Seufzen schlage ich das Buch zu. Jetzt Englisch, eine Doppelstunde Physik und dann – Freiheit.

Der Pick-up lässt sich nicht starten und ich bekomme Panik, denke, dass am Ende doch wieder alles schiefgeht. Immerhin hab ich Dad schon so weit, wenigstens noch mal mit Tully zu reden. Heute hat Dad die Kochschürze endgültig an den Nagel gehängt, um Punkt fünf Uhr, und wir sind ins beste Restaurant der Stadt gegangen, um das zu feiern. Ich hatte schon Angst, dass wir zu viel Geld ausgeben. Immerhin hat Dad den Job noch nicht. Aber er war gut drauf und meinte, ich solle bestellen, was immer ich wolle. Ich glaube, bis dahin war mir gar nicht aufgefallen, wie sehr er es gehasst hat, bei Sid zu arbeiten. Also habe ich beschlossen, dieses Festmahl als gutes Zeichen zu werten und mir die Lasagne und den Schoko-Karamell-Eisbecher guten Gewissens schmecken zu lassen.

Und jetzt springt dieser beschissene Pick-up einfach nicht an, dabei ist es schon fast sieben. Dad ist halb unter der offenen Motorhaube verschwunden und fummelt an irgendwas rum. Die Sorge nagt an mir wie ein Hund an einem Knochen. Tully wird sicher denken, dass wir nicht mehr kommen werden. Was, wenn er den Job jetzt jemand anderem gibt? Wie viele andere Leute hat er in der Stadt wohl noch angesprochen? Was, wenn gerade in diesem Augenblick irgendein anderer Typ mit so einem blöden Zimmermannsdiplom in der Tasche bei der Lakeview-Ranch vorfährt?

„Versuch noch mal, den Motor anzulassen, Thea“, sagt Dad. Ich klettere auf den Fahrersitz und drehe den Schlüssel im Zündschloss um. Ein Tropfen Schweiß rinnt mir an der Wirbelsäule herunter. Endlich, der Motor heult auf. Dad lässt die Motorhaube zu fallen und ich rutsche auf den Beifahrersitz rüber, während er in den Wagen steigt.

Auf dem Weg zur Ranch sagt keiner von uns ein Wort. Dad ist müde und ich bin zu gespannt, wie alles ausgehen wird. Ungefähr zehn Kilometer außerhalb der Stadt biegen wir auf eine unbefestigte Schotterstraße ein. Unsere Stoßdämpfer sind im Arsch, deswegen fühlt es sich so an, als würden wir von einem Schlagloch ins nächste rumpeln. Ich schaue aus dem Seitenfenster, sehe Bäume, Felder und hin und wieder ein Haus vorbeifliegen. Auf einer Weide galoppiert ein Pferd einen Abhang hinauf und ich versuche, es so lange wie möglich im Auge zu behalten.

Eine Viertelstunde später fahren wir unter einem hölzernen Torbogen durch, in den die Worte Lakeview-Ferienranch eingebrannt sind. Als Erstes sehe ich den See, eine spiegelglatte Fläche aus smaragdgrünem Wasser, und dann ein riesiges Blockhaus, das halb versteckt in einem Kiefernhain liegt.

Dad hält in der Nähe des Hauses und stellt den Motor ab. Tully steht auf der Veranda, als ob er auf uns gewartet hätte. Er hat immer noch die neue Jeans an und die Stiefel, aber den Hut hat er abgenommen und man sieht den Abdruck des Hutbandes auf seiner Stirn. Er hat lockiges graues Haar, das wild in alle Richtungen sprießt.

Drei Hunde springen ihm vor den Füßen herum, während er zum Pick-up hinüberkommt. Er grinst breit als wir aussteigen.

„Schön, dass Sie es geschafft haben“, sagt er. „Sie werden zuerst meine Jungs hier begrüßen müssen, sonst lassen sie Ihnen keine Ruhe.“

Er stellt uns die Hunde vor. Der langbeinige schwarze mit dem grinsenden Gesichtsausdruck heißt Max, der weiß-braune Springer Spaniel ist Bob und der kleine graue Terrier heißt Tinker. Max und Tinker streichen uns schwanzwedelnd um die Beine, während sich Bob ein wenig zurückhält.

„Ruhig jetzt, genug gebellt“, sagt Tully. „Sie sind alle drei Streuner aus dem Tierheim, aber sie kommen bestens miteinander aus. Bob ist noch etwas scheu, aber das wird schon.“

Ich habe mich sofort in die drei verliebt, besonders in Bob. Er hat lange Schlappohren und Augen so sanft und braun wie geschmolzene Schokolade. Ich halte ihm die Hand hin und er kommt langsam näher und schnüffelt vorsichtig an meinen Fingern.

„Ich führe euch kurz rum, dann gehen wir rein und besprechen alles Weitere“, beschließt Tully.

Er führt uns einen unbefestigten Weg am Seeufer entlang. Die Hunde kommen mit, schnuppern mit den Nasen am Boden und verschwinden auf ihrer Jagd nach Duftspuren immer wieder im Gebüsch. Der Weg windet sich zwischen Kiefern hindurch und der Boden ist von einer weichen Schicht trockener, staubiger Nadeln bedeckt. Die Blockhütten für die Gäste liegen am Weg verstreut. Sie sind alle unterschiedlich groß. Jede von ihnen ist von ein paar schützenden Bäumen umgeben und hat einen eigenen hölzernen Bootssteg, der auf den See hinausführt. Tully erklärt uns, welche der Hütten noch in einem ganz ordentlichen Zustand sind und welche er als Erstes renovieren will. Ich höre gar nicht richtig zu. Ein Lufthauch umweht mich vom See her und zum ersten Mal an diesem Tag ist mir angenehm kühl.

Bei einer der größeren Hütten gehen wir hinaus auf den Steg und schauen über das glasklare Wasser. Die Sonne verschwindet langsam hinter dem Gipfel des Hügels auf der anderen Seeseite und die Farbe des Wassers hat sich von Smaragdgrün in ein helles Kupferrot verwandelt. Es sieht atemberaubend schön aus.

„Gumboot Lake ist zwei Kilometer lang und einen halben Kilometer breit“, erklärt uns Tully. „Es gibt ein paar Ferienhäuser am anderen Ende des Sees sowie einige ganzjährig bewohnte Häuser. Aber hier bleibt es eigentlich immer schön ruhig.“

Der Weg wird immer schmaler, die Büsche auf beiden Seiten immer dichter. Tully meint, es gäbe nicht mehr viel zu sehen, nur noch eine Hütte, die so abgelegen sei, dass es sich nicht lohne, sie wieder herzurichten. Wir machen uns auf den Rückweg. Ich lasse mich ein wenig zurückfallen und versuche, mir vorzustellen, wie es wohl gewesen sein mag, als es hier noch von Feriengästen und Pferden gewimmelt hat.

Vor mir redet Tully lebhaft auf Dad ein und der nickt hin und wieder mit dem Kopf. Als wir wieder bei der Lodge ankommen, deutet Tully auf ein Stallgebäude, einige Pferche und noch ein paar andere Nebengebäude. Der Stall ist auch in Blockbauweise und hat ein Wellblechdach. Dahinter erstreckt sich eine riesige Weide bis zum Rand eines kleinen Waldes.

Während ich dastehe und meinen Blick schweifen lasse, verschwindet die Sonne ganz hinter dem Hügel. Der See verliert seinen Zauber. Das Wasser ist auf einmal schwarz und das gegenüberliegende Ufer verschwimmt in der Dunkelheit. Ich schaudere ein wenig.

„Jetzt gibt’s erst mal Kaffee“, meint Tully. „Kommt rein.“

Wir erklimmen die vier Stufen zur Veranda, die um die gesamte Lodge herumführt. Hölzerne Liegestühle mit ausgeblichenen gestreiften Auflagen sind überall auf ihr verteilt, mit Blick auf den See. Sieht so aus, als könnte man es sich hier wunderbar mit einem Buch gemütlich machen.

Als ich durch die Tür in die Lodge trete, erstarre ich zur Salzsäule. Wir befinden uns in einem riesigen, offenen Raum mit Holzfußboden, auf dem bunte Flickenteppiche liegen, einem gewaltigen gemauerten Kamin und jeder Menge weich gepolsterter Ledersessel und Sofas. Die Küche ist am anderen Ende des Raums, mit einer gigantischen Kochinsel und vielen glänzenden Kupferpfannen und Töpfen, die von einem an der hohen Decke befestigten Metallrahmen herabhängen. Es gibt einen langen Tisch, an dem bestimmt zwanzig Leute Platz haben. Über uns führt eine Galerie einmal rund herum und ich wette, da oben sind noch mal jede Menge Zimmer, die von der Galerie abgehen.

Der Raum ist fantastisch, aber das ist es nicht, was mich innehalten lässt. Es sind die gerahmten Fotos, die alle Wände bedecken. Ungelogen, es müssen hunderte sein.

„Beeindruckend“, stellt Dad hinter mir fest. „Wer hat die alle aufgenommen?“

„Ich“, erwidert Tully. Stolz schwingt in seiner Stimme mit. „Schaut sie euch an, wenn ihr wollt.“

Tully deckt an einem Ende des Tisches drei Becher, einen Teller mit Keksen, eine Kanne Kaffee und heiße Schokolade für mich auf, während Dad und ich durch den Raum schlendern. Die Aufnahmen sind wunderschön. Gebäude, Menschen, Tiere und Landschaften. Die Farben sind ausdrucksstark und lebhaft. Manche Orte wie die Pyramiden von Gizeh in Ägypten oder den Eiffelturm in Paris erkenne ich. Aber bei den meisten Bildern habe ich keinen Schimmer, wo sie wohl aufgenommen wurden.

„Sie sind viel rumgekommen“, stellt Dad fest.

„Ja, einmal um die ganze Welt“, antwortet Tully.

„Sogar in Afrika waren Sie“, sage ich. Ich stehe vor einer Wand, an der Fotos von afrikanischen Wildtieren hängen: Geparden, Elefanten, Leoparden, Giraffen und noch ein paar andere, die ich nicht benennen kann. Die Tiere sind so gestochen scharf abgebildet, dass man glauben könnte, sie würden jederzeit aus ihren Rahmen heraus springen können, wenn sie wollten. Ich kann die einzelnen Haare in der Mähne eines Löwen erkennen.

„Letzten Herbst war ich auf Safari im Masai-Mara-Park in Kenia. Ein wirklich eindrucksvoller Ort“, erzählt Tully.

„Wow!“, rufe ich. „Das würde ich auch gern mal machen.“

Ich glaube, ich könnte mir stundenlang diese Fotos ansehen, ohne mich zu langweilen. Außerdem kann Tully bestimmt jede Menge spannender Geschichten von seinen Reisen erzählen.

Tully schenkt Dad und sich Kaffee ein und die beiden setzen sich an den Tisch. Ich hole mir nur meinen Becher Kakao und ein Plätzchen und gehe zurück zu der Wand mit den Afrika-Fotos. Da bin ich noch nahe genug, um alles hören zu können, was Dad und Tully besprechen.

Tully kommt ohne Umschweife zur Sache. „Ich suche jemanden, der an den Hütten arbeiten kann, bis der erste Schnee kommt.“

Ich halte den Atem an.

„Könnte hinhauen“, meint Dad gedehnt.

„Sie und Thea könnten hier mietfrei wohnen.“ Tully erwähnt das beinahe schon beiläufig. „Hütte drei ist in einem ziemlich guten Zustand. Die gehört nur mal gründlich sauber gemacht. So müssten Sie nicht jeden Tag extra hier rausfahren und Thea könnte die letzten Wochen des Schuljahrs bequem mit dem Schulbus fahren.“

„Ich weiß nicht“, meint Dad. „Ich würde lieber Miete zahlen, wenn ich hier wohne.“

Tully zuckt mit den Schultern. „Ich bin mir sicher, da werden wir uns schon einig.“

Ich lasse mir die Idee durch den Kopf gehen, während ich Auge in Auge mit einem Leoparden stehe. Hier zu wohnen wäre definitiv besser, als den Sommer in unserem kochend heißen Wohnwagen zu verbringen. Viel besser! Ich stelle mir vor, wie ich im See schwimme oder in einem der Liegestühle mit den gestreiften Polstern ein Buch lese.

„Klingt doch super“, melde ich mich zu Wort.

„Ist auch nicht ganz uneigennützig“, gibt Tully lachend zu. „Ich kann hier gut etwas Gesellschaft gebrauchen. Und ich benötige Versuchskaninchen für meine Kochkünste, damit ich weiß, was ich meinen Ranch-Gästen anbieten kann.“

„Mahlzeiten zusätzlich zum Lohn?“, hakt Dad nach.

„Ich esse nun mal nicht gern alleine“, stellt Tully fest. „Und es macht auch nicht mehr Mühe, für drei zu kochen statt für einen.“

„Ich möchte mich nicht aufdrängen“, sagt Dad. Seine Stimme klingt ein bisschen angespannt, so, als ob das alles zu schnell für ihn ginge.

„Wie wäre es dann, wenn ihr euch um euer Frühstück und Mittagessen selbst kümmert und nur zum Abendessen herkommt?“

So wie Tully redet, könnte man meinen, es wäre schon alles entschieden. Als hätten wir sein Angebot bereits angenommen. Einen Augenblick lang überlege ich, ob es nicht ein bisschen merkwürdig ist, dass er all das für zwei völlig Fremde zu tun bereit ist. Ich schiebe den Gedanken schnell beiseite. Tully braucht Hilfe, Dad braucht einen Job. So einfach ist das.

„Super Idee!“, sage ich deshalb. „Ich hasse Kochen.“

Tully lacht nur darüber und schließlich fängt auch Dad an zu lachen.

„Okay“, sagt er und schüttelt Tullys Hand. „Abgemacht!“

Tully hat schon mal ein paar grobe Entwürfe gezeichnet, wie er die Hütten gern umbauen würde, und breitet