Dieses Buch entstand anhand von Forschungsergebnissen aus der Pflegepraxis und erläutert durch verschiedene Fälle, welche biografischen Hintergründe dem Phänomen des herausfordernden Verhaltens bei Menschen mit demenziellen Veränderungen zugrunde liegen.
Da der Umgang mit der vulnerablen Personengruppe eine offensive, engagierte und ressourcenorientierte Interaktion erfordert, sind personzentrierte Regeln aktiv in einen Bewusstseinsänderungsprozess einzubeziehen. Dieser Anspruch wird im Buch durch präventive Empfehlungen auf unterschiedlichen Ebenen für Gesundheitseinrichtungen, die demenziell veränderte Patienten therapeutisch begleiten, umgesetzt. Deutlich wird, dass eine umfassende Biografiearbeit als Basis für den therapeutischen Umgang mit dieser Personengruppe unerlässlich ist.
Mit einem Geleitwort von Professor Dr. Gerd Jüttemann.
Dr. rer. cur. Elisabeth Höwler, Dipl.-Pflegepädagogin, Pflegewissenschaftlerin (MScN), Fachbuchautorin.
Elisabeth Höwler
Biografie und Demenz
Grundlagen und Konsequenzen im Umgang
mit herausforderndem Verhalten
Verlag W. Kohlhammer
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1. Auflage 2011
Alle Rechte vorbehalten
© 2011 W. Kohlhammer GmbH Stuttgart
Umschlag: Gestaltungskonzept Peter Horlacher
Textsatz und Seitenlayout: Marcel Höwler
Gesamtherstellung:
W. Kohlhammer Druckerei GmbH + Co. KG, Stuttgart
Printed in Germany
Print:
978-3-17-021947-2
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Einleitung
1 Monodisziplinäre Begriffsklärungen und Forschungsstand
1.1 Medizinisch-psychologisch
1.2 Kulturell-soziologisch
1.3 Rechtswissenschaftlich
1.4 Pflegewissenschaftlich
1.5 Prävalenz des Phänomens
1.6 Erkenntnisstand zum Phänomen
1.7 Fazit
2 Einflussfaktoren auf herausforderndes Verhalten
2.1 Neurobiologische Faktoren
2.2 Psychologische Faktoren
2.2.1 Das Konstrukt „Biografie“
2.2.1.1 Biografie als Orientierungsfolie
2.2.1.2 Erinnern biografischer Ereignisse
2.2.1.3 Erinnern im demenziellen Prozess
2.2.2 Das Konstrukt „Persönlichkeit“
2.2.2.1 Persönlichkeitstheorien
2.2.2.2 Trait-Modell
2.2.2.3 Persönlichkeitsstörungen
2.2.2.4 Prämorbide Persönlichkeit
2.2.2.5 Persönlichkeit im demenziellen Prozess
2.2.3 Das Konstrukt „Identität“
2.2.3.1 Stärkung der Identität
2.2.3.2 Identitätsarbeit im demenziellen Prozess
2.3 Soziale Faktoren
2.3.1 Umgebungs- und Milieufaktoren
2.3.2 Pflegesituationen
2.3.3 Person-Interaktion
2.4 Fazit
3 Durchführung der Untersuchung
3.1 Stichprobenbeschreibung
3.1.1 Multi-Infarkt-Demenz (MID)
3.1.2 Senile Demenz vom Alzheimer Typ (SDAT)
3.2 Verhaltensbeobachtung
3.3 Cohen-Mansfield-Agitation-Inventory (CMAI)
3.4 Biografisches Interview
3.5 Ethische Dilemmata
3.5.1 Dilemmata bei Verhaltensbeobachtungen
3.5.2 Dilemmata bei Interviews
4 Biografisch-narrative Interviews
4.1 Beschreibung des Ausgangsmaterials
4.2 Biografische Daseinsthemen
4.2.1 Leben ist Suche
4.2.2 Leben ist emotionale Unordnung
4.2.3 Leben ist Kampf
4.3 Schlussfolgerungen
5 Verhaltensbeobachtungen
5.1 Beschreibung des Ausgangsmaterials
5.2 Institutionelle Charakteristika
5.2.1 Verlust vertrauter Lebensrhythmen
5.2.2 Verlust von Kontrolle über den persönlichen Raum
5.2.3 Erleben sozialer Isolation
5.3 Charakteristika der Pflegenden
5.3.1 Personale Detraktionen
5.3.2 Bedrohlich wirkende Pflegehandlungen
5.4 Schlussfolgerungen
6 Cohen-Mansfield-Agitation-Inventory
7 Divergenzen zwischen den Demenzgruppen
7.1 Verhaltensunterschiede
7.2 Einfluss prämorbider Persönlichkeitsmerkmale
7.3 Geschlechtsunterschiede
8 Zusammenfassung der Ergebnisse
9 Erklärungsansatz zur Genese des Phänomens
9.1 Transaktionale Theorie
9.2 Bestimmende Vulnerabilitätsfaktoren
9.3 Kreislauf der Chronifizierung
9.4 Das Phänomen als Entwicklungsereignis
10 Diskussion
10.1 Bewertung der Befunde auf Basis der Forschungsfragen
10.2 Bewertung der Befunde vor dem Hintergrund der Monodisziplinen
11 Konsequenzen aus den Forschungserkenntnissen
11.1 Für die Pflegeforschung
11.2 Für die Pflegepädagogik
11.3 Für das Pflegemanagement
11.4 Für die Pflegepraxis
12 Präventive Empfehlungen
12.1 Institutionelle Ebene
12.1.1 Unterstützung des Adaptationsprozesses
12.1.2 Förderung von Vertrautheit und Sicherheit
12.2 Ebene der Pflegenden
12.2.1 Persongebundene performative Kompetenzen
12.2.2 Fachliche Kompetenzen
12.3 Ebene der Facharztversorgung
12.4 Ebene der Angehörigen
12.5 Grenzen des Phänomens
12.6 Aspekte zur persönlichen Demenzprävention
12.7 Fazit
Glossar
Literaturverzeichnis
Die im Folgenden aufgeführten Zusatzmaterialien können Sie im Buchshop des Verlages unter Content PLUS herunterladen.Weitere Informationen hierzu finden Sie auf der vorderen Umschlaginnenseite.
Die Auswertungsprozesse |
CP |
Bogen zur Erfassung der persönlichen Daten |
CP |
Beobachtungsformular |
CP |
Interviewleitfaden |
CP |
Prämorbide Persönlichkeitseigenschaften |
CP |
Biografische Einzelfallanalyse (Struktur) |
CP |
Merkmalsräume |
CP |
Komparationstabellen |
CP |
Komparative Auswertung |
CP |
Exemplarisches Interview |
CP |
Exemplarische Beobachtung |
CP |
Bögen zur gerontopsychiatrischen Fallbesprechung und Umgangsempfehlung |
CP |
Cohen-Mansfield Agitation Inventory Scale (CMAI) |
CP |
Bei der Studie handelt es sich um eine Qualifizierungsarbeit zur Doktorin in Pflegewissenschaften. Die Studie wurde nicht finanziell unterstützt. Sämtliche Untersuchungsschritte wurden allein konzipiert und durchgeführt. Ich möchte all denen danken, die durch ihre fachliche und persönliche Unterstützung zum Gelingen dieser Arbeit beigetragen haben. Mein erster Dank gilt den Studienteilnehmern1, den betagten Heimbewohnern und ihren Angehörigen, den Pflegenden und dem interdisziplinären Auswertungsteam mit Frau Dr. med. Schellong und Herrn Dr. sc. hum. Schützwohl, beide Universitätsklinikum Dresden, Herrn Dr. med. Seemann, Oberarzt der Psychiatrie und Gerontopsychiatrie Arnsdorf, Frau Dipl. Psychologin Wilhelm und Frau Dipl. Pflegewirtin Dumke, beide aus Dresden, die durch ihr Einverständnis, an der Studie teilzunehmen, ihren Mitmenschen ein großen Dienst erwiesen haben, wenn Erkenntnisse über Pflegeforschung in die gerontopsychiatrische Praxis und weitere Forschungen über die Demenz vorangetrieben werden sollen.
Ein besonderer Dank gilt Herrn Dr. Kaufmann, Sozialwissenschaftler mit Spezialisierung auf die NS-Zeit (Universität Leipzig und Universität Jena), für kritische Vorschläge und Bestätigungen. Mein persönlicher Dank gilt den Pflegedienstleitern aus sieben Pflegeheimen in Sachsen, die sich für das Gelingen der Untersuchung besonders eingesetzt haben. In den betreffenden Einrichtungen wurde erstmalig ein Forschungsprojekt durchgeführt. Die Entscheidung, mich in allen Anliegen zu unterstützen, erforderte nicht nur ein herausragendes berufliches Engagement, sondern zugleich den Mut, die eigene Arbeit mit den Heimbewohnern und die Arbeit der Pflegemitarbeiter kritisch reflektieren zu lassen.
Weiterhin gedankt sei meinem Sohn Marcel für seine Hilfe bei der Erstellung von Grafiken und dem Setzen dieser Arbeit mit LaTex. Alle Beteiligten haben meine Untersuchung aktiv unterstützt und mir durch ihr persönliches Engagement und ihre Offenheit Einblick in Biografien,Möglichkeiten des Kennenlernens als Person, Zeit für fachlichen Austausch, den Rahmen für umfassende Verhaltensbeobachtungen und Ergebnispräsentationen gegeben.
11Sofern nicht explizit anders ausgeführt, wird zugunsten der Lesbarkeit in der folgenden Arbeit bei Personen die männliche Formverwendet, selbstverständlich ist die weibliche stets mit eingeschlossen.
Die Einführung des Begriffs herausforderndes Verhalten markiert eine neue Ära des Umgehens mit Menschen, deren extrem ungewöhnliches krankheitsbedingtes Auftreten andere Personen als erschreckend oder sogar abstoßend erleben.Wurde eine derartige Symptomatik früher als eine sinnentleerte Reaktion betrachtet, unter Verzicht auf jegliche Deutung als schwere Gestörtheit abgewertet und ausschließlich medikamentös behandelt, so hat sich inzwischen die Einschätzung durchgesetzt, dass auch absurd anmutende Verhaltensweisen häufig eine Botschaft enthalten, die an die soziale Umgebung gerichtet ist. Vor dem Hintergrund dieser grundlegend gewandelten Krankheitsauffassung werden psychologisch-diagnostische Bemühungen unverzichtbar und eröffnen sich neue Perspektiven für die Therapie.
Das ist das Forschungs- und Praxisfeld, in dem das von der Autorin initiierte Projekt angesiedelt ist, dessen wichtigste Ergebnisse in dem hier vorgelegten Buch zusammengefasst werden. Dem herausforderndem Verhalten bei Menschen mit demenziellen Veränderungen liegen, wie die Arbeit zeigt, multifaktorielle Ursachen zugrunde. Es kann biografisch aus unbewältigten belastenden Daseinserfahrungen erklärt werden. Erkenntnisse über ein Wirksamwerden kritischer Lebensereignisse und früherer Traumatisierungen erhöhen den Stand des Wissens über das Phänomen in erheblichem Maße. Die damit verbundene Erweiterung der Sichtweise wird nicht nur dazu beitragen, die Betroffenen in einem diagnostischen Sinne besser zu verstehen, sondern dürfte auch den Pflegekräften eine noch bessere Einfühlung und damit einen empathischen und bedürfnisgerechten Umgang mit der Klientel ermöglichen. Therapeutische Ziele wären dann nicht länger vorwiegend auf einer verrichtungsorientierten Ebene zu formulieren, sondern könnten noch stärker als bisher unter Berücksichtigung biografischer Aspekte entwickelt und umgesetzt werden.Diese Anwendungsperspektive relevant erscheinen zu lassen, ist das wertvollste Resultat der hier geleisteten Forschungsarbeit, die nicht zuletzt durch den enormen Zeitaufwand, die große Sorgfalt der Durchführung und die hohe Fachkompetenz der Autorin imponiert. Dabei hat sich hinsichtlich der ätiopathogenetischen Analyse vor allem der Einsatz der Komparativen Kasuistik bewährt. Nach diesem Konzept lässt sich auf der Basis eines systematischen Vergleichs einer größeren Zahl einschlägiger Biografien der individualhistorische Entstehungzusammenhang untersuchenswert erscheinender Entwicklungsphänomene klären.
Ich wünsche dem Buch die große praktische und und wissenschaftliche Anerkennung, die es verdient hat.
Prof. Dr. Gerd Jüttemann
Fachgebiet Klinische Psychologie/Gesundheitspsychologie
Technische Universität Berlin im April 2011
In der Handlung und durch Sprache zeigen wir, wer wir sind. Wenn wir nicht im Stande sind, das Verhalten einer demenziell veränderten Person zu verstehen, können wir nicht „sehen“, wer diese Person wirklich ist. Ein Teil der Einzigartigkeit dieser Person bleibt uns verborgen, wenn wir ihre Biografie nicht kennen.
Gedanken zum Einstieg
Elisabeth Höwler
In den Diskursen über demenzielle Veränderungen im Alter findet in den letzten Jahren das Phänomen des herausfordernden Verhaltens zunehmend Beachtung. Welche Präsenz das Phänomen in der Praxis darstellt, zeigen auch Entwicklungen im Rahmen der niedrigschwelligen Betreuungsleistungen (vgl. Klie et al. 2009, § 45 a-d III SGBXI). Aufgrund von schweren „Verhaltensauffälligkeiten“ bei demenziell erkrankten Menschen besteht ein erheblicher erhöhter Betreuungsbedarf. Das Phänomen wird zumeist mit dem Erkrankungsprozess in Zusammenhang gebracht (vgl. Leger et al. 2000; Wingenfeld 2005; Schneekloth et al. 2009). Weil Verhaltensweisen, z. B. Hyperaktivität, physische und verbale Aggressionen, das soziale Umfeld und Pflegende sehr belasten, werden die Betroffenen, vorwiegend aus Pflegeheimen, zur Behandlung in die gerontopsychiatrische Klinik eingewiesen (vgl. Kolanowski et al. 1999; Zaudig et al. 2001 : 19; Höwler 2008 : 51). Das Phänomen stellt für alle am Pflegeprozess Beteiligten eine Krisensituation dar. In diesen Krisensituationen werden die Verhaltensweisen unter das Vorzeichen von „Selbstgefährdung“ und erforderlicher Überwachung gestellt und mit beschützenden Machtmethoden (z. B. körpernahe Fixierungen, Antipsychotika) „behandelt“, was zu entsprechenden Nachteilen für die Betroffenen führen kann. Eine optimale Pflegequalität der Klientel wird zunehmend mit Vermeidung und Reduktion dieser Methoden verbunden (vgl. Pantel et al. 2005; Koczy et al. 2005; Bredthauer 2006; Wingenfeld et al. 2006; Wolter 2009). Eine klinische Tatsache ist, dass nicht alle demenziell veränderte Menschen herausfordernde Verhaltensweisen zeigen (vgl. Berrios 1989 : 14). Die Pflegewissenschaft macht es sich zur Aufgabe, Krisensituationen anhand vorhandener theoretischer Ansätze der Pflege zu erforschen oder zu prüfen. Interviewaussagen der Studie „Herausforderndes Verhalten bei Menschen mit Demenz. Erleben und Strategien Pflegender“ (vgl. Höwler 2008) waren der Anlass, eine weitere Untersuchung zum Phänomen durchzuführen. Beispielsweise berichtete eine Pflegende im Interview, dass eine demenziell veränderte Heimbewohnerin ein Verhalten zeigt, welches mit ihrem Beruf in Verbindung gebracht werden konnte. Sie möchte eine wichtige berufliche Aufgabe erfüllen, die sie vor langer Zeit hatte. In ihrer ehemaligen Rolle als erfahrene Hebamme sucht sie des Öfteren auf der Wohngruppe sehr agitiert, auch des Nachts, ihre Instrumententasche. Sie möchte zu einer Hausgeburt, weil bei einer schwangeren Frau plötzlich die Wehen einsetzen. Somit ist zu hinterfragen ob herausfordernde Verhaltensweisen vermeintlich einen biografischen Kontext aufweisen. Ziel der komparativ-kasuistischen Studie ist, mithilfe einer iterativen Such- und Prüfstrategie (vgl. Jüttemann 1990, 1990a, 1990b) partiell herausforderndes Verhalten als psychologisch beschreibbares Phänomen in seiner mehr oder weniger begrenzt überindividuellen Bedeutung zu erfassen, möglichst exakt deren Genese anhand von Einzelfällen auf biografischer Ebene zu beschreiben und hinsichtlich seiner Genese und Chronifizierung zu erklären. Da die Multi-Infarkt-Demenz (MID) und Demenz vom Alzheimer Typ (SDAT) in der Praxis am häufigsten vorkommen, soll das Phänomen an diesen Subtypen untersucht werden. Folgende Leitfragen sollen mit der vorliegenden Untersuchung beantwortet werden:
Welcher Zusammenhang besteht zwischen biografischen Merkmalen und herausforderndem Verhalten bei Menschen mit demenziellen Veränderungen? Welche Unterschiede existieren zwischen Personen mit Multi-Infarkt-Demenz (MID) und Demenz vom Alzheimer Typ (SDAT) in Bezug auf herausfordernde Verhaltensweisen?
Im Mittelpunkt der Untersuchung stehen sechsundzwanzig in Pflegeheimen lebende chronisch verwirrte Menschen, deren Biografien sowie aktuell beobachtbares herausforderndes Verhalten. Da in Pflegeinstitutionen vorwiegend agitiertes Verhalten und weniger Passivität die Pflegenden2 belastet (vgl. Finnema et al. 1993; Brodaty et al. 2003a; Zuidema et al. 2007a), sollen ausschließlich Personen mit diesen Verhaltensweisen untersucht werden.
Um zu verstehen, wie herausforderndes Verhalten entsteht, wird ein multidimensionales Menschenbild benötigt, das von einem Kontinuum balanchierter sozialer, psychischer, kultureller und historischer Determinanten ausgeht. Die Personengruppe demenziell veränderter Menschen gilt als psychisch behindert im Sinne der UN-Konvention. Dies folgt aus Art. 1 Satz 2 des Konventionstextes (vgl. Lachwitz 2007 : 37). Von einem personzentrierten Verständnismodell aus wird die „Demenz“ ebenfalls als Form der geistigen Behinderung bzw. Veränderung verstanden (vgl. Kitwood 2000 : 25). Dieses Verständnis fordert in dieser Untersuchung den Begriff „demenzielle Veränderung“. Bei der Untersuchung steht die pflegerische Perspektive im Vordergrund – dennoch bleibt die bio-medizinische Sichtweise nicht außen vor, um die zwischen den Bezugsdisziplinen erforderliche Integration herstellen zu können.
Der deskriptive theoretische Teil ist Grundlage für die empirische Studie. Dieser wird eingeleitet mit einem Aufriss monodisziplinärer Begriffsdefinitionen. Ein medizinischpsychologischer, soziokultureller, rechtlicher sowie pflegewissenschaftlicher Fokus konstatiert, dass das Phänomen nicht einheitlich definierbar ist. Konstrukte, die auf das Phänomen beeinflussend einwirken können, wie z. B. die Biografie, Persönlichkeit, Identität und die Person-Umwelt-Situations-Interaktionsproblematik werden umfassend erläutert. Situationsbezogenes herausforderndes Verhalten wird in den herkömmlichen Persönlichkeitstheorien (z. B. von Freud oder Erikson), dies zugunsten einer Determination und damit Vorhersehbarkeit menschlichen Verhaltens, nicht oder nur unzureichend beschrieben. Mit den Theorien kann menschliches Verhalten erklärt werden, beinhaltet jedoch die Gefahr, dass individuelle Bewusstseinsformen in Bezug auf Verhaltensrelevanzen unterschätzt werden und herausfordernde Verhaltenskonstrukte nicht oder nur unzutreffend erklärt werden können und damit kaum vorhersagbar werden. Herkömmliche Persönlichkeitstheorien sind nicht als Theoriekonstruktionen erkennbar, sondern mehr als Gegenstandskonstruktionen (vgl. Jüttemann 1995 : 45) und aus diesem Grund mit einer grundlagenwissenschaftlichen Pflegeforschung unvereinbar. Das Fünf-Faktoren-Modell (Big Five) wird dennoch mit aufgenommen, weil es individuelle Erlebens- und Verhaltensdifferenzen beschreibt. Prämorbide Persönlichkeitseigenschaften, die Einfluss auf herausforderndes Verhalten nehmen können, sind somit abbildbar.
Die Untersuchung verbindet psychologische mit pflegewissenschaftlichen Perspektiven und ermöglicht durch monodisziplinäre Verknüpfungen Konstruktionen des Phänomens „herausforderndes Verhalten“ auf psychosozialer Ebene (in der sozialen Pflegepraxis) zu analysieren. Ein solcher bisher nur in Ansätzen interdependent durchgeführter Forschungsansatz, der das Phänomen aus verschiedenen Perspektiven untersucht, ermöglicht auf der einen Seite Integration der Pflegewissenschaft mit der Psychologie, auf der anderen Seite stellt dieser Ansatz eine Herausforderung an das Forschungsdesign und erweitert die Erfahrungsbasis. Mit den Methoden des biografisch-narrativen Interviews und nichtteilnehmenden Verhaltensbeobachtungen sind qualitative Daten gewonnen worden. Die Methoden sind auf der Ebene des hermeneutisch-reflexiven Verstehens angesiedelt und beziehen sich jeweils auf den Einzelfall. Praxisrelevanz wird über das empirische Material und deren Fallrekonstruktionen dargestellt. Die mit den Verhaltensbeobachtungen verschränkten Biografien geben Auskunft über die Konstruktion von Historie und Identität der Betroffenen im Horizont ihrer demenziellen Veränderung. Erst die Interdependenz der Analyse zwischen den Beobachtungssequenzen und den rekonstruierten Biografien erlauben Schlussfolgerungen über die Hintergründe des Phänomens zu ziehen. Aus dieser Begründung heraus erfolgt die Auswertung und Ergebnisdarstellung der biografischen Daten sowie der Verhaltensbeobachtungen jeweils in getrennten Kapiteln. Explorationen der rekonstruierten Biografien der Untersuchungspersonen dienen nicht der Subjektivierung des Phänomens, vielmehr charakterisieren Daseinsthemen das Verhalten unter dem demenziellen Prozess und erklären dies. Ergebnisse der Verhaltensbeobachtungen werden im institutionellen Kontext und auf interaktiver Ebene mit ihren Charakteristika präsentiert. Zwischen den biografischen Merkmalen und institutionellen Charakteristika konnte ein Erklärungsansatz auf vier unterschiedlichen Vulnerabilitätsebenen generiert werden. Die phänomenspezifische Theorie versucht wechselseitigen Beeinflussungen von prämorbiden Persönlichkeitseigenschaften, biografischen Prägungen und Milieubedingungen, d. h. dem Erfahrungsrepertoire des betagten Menschen und seiner Einbettung in eine subjekthaft institutionellen Umwelt, Rechnung zu tragen.
Aus den Ergebnissen eine Erkenntniserweiterung anzustreben ist nicht alleinige Intention dieser Untersuchung. Kenntnisse über das Phänomen verbessern die Situation der Klientel, die in Institutionen lebt. Pflegende sollen ermuntert werden auf die Biografien ihrer anvertrauten betagten Menschen zu schauen, damit sie herausforderndes Verhalten verstehen und mit diesem angemessener umgehen können. Die Pflegewissenschaft nimmt an diesem Kenntnisprozess teil, indem sie Pflegequalität antizipiert und geeignete Umgangskonzepte entwirft. Je klarer und realistischer sich ihr Spannungsfeld innerhalb der Bezugswissenschaften Medizin und Psychologie präsentiert, desto bewusster wird sie demenziell veränderten Menschen und ihren Wegbegleitern, den Pflegenden, unabdingbare Unterstützung gewährleisten. Wenn es gelingt, in diesem Sinne einige Orientierungspunkte zu setzen, ist das eigentliche Ziel dieser Untersuchung mit Erfolg erreicht.
2 Der Begriff „Pflegende“ bezeichnet in dieser Arbeit examiniertes Pflegepersonal (dreijährig ausgebildet in der Kranken- und Altenpflege) sowie Pflegehilfspersonen.
Monodisziplinarität bedeute, dass unterschiedliche Disziplinen das Phänomen „Herausforderndes Verhalten“ bei Personen mit demenziellen Veränderungen behandeln, aber jeweils vom eigenen Standpunkt und der eigenen Perspektive aus, mit eigener Sprache und Logik. Somit können unterschiedliche Facetten der gleichen Realität nebeneinander verdeutlicht werden. Die beteiligten Bezugsdisziplinen arbeiten nebeneinander, agieren getrennt und konfrontieren mit unterschiedlichen Sichtweisen über das Phänomen. Diese können sich manchmal ergänzen, sich gegenseitig bestätigen, manchmal aber auch widersprechen.
Aus medizinischer Sicht zeichnet sich die Demenzerkrankung durch degenerative Gehirnunordnungen, mit einem globalen und irreversiblen kognitiven Niedergang von Gedächtnis, Lernen, exekutiven Funktionen, Sprache, Aufmerksamkeit und visuospatial geistigen Funktionen, aus (vgl. Moses et al. 2004). Dies führt bei einem Menschen zu enormer Abhängigkeit und Begrenzungen. Demenztypische Verhaltensweisen werden in der internationalen medizinischen und psychologischen Literatur mit der Abkürzung BPSD (Behavioral and Psychological Symptoms of Dementia) „verhaltensbezogene und psychologische Symptome der Demenz“ bezeichnet (vgl. Brodaty et al. 2001).
Darunter werden Symptome gestörter Wahrnehmung, Gedankeninhalte, Stimmungen oder gestörten Verhaltens, die bei den Betroffenen häufig vorkommen, subsumiert (vgl. Finkel 1998). BPSD ist ein deskriptiver Begriff und stellt keine diagnostische Kategorie dar (vgl. Lawlor 2002). Durch Befragung der Personen oder ihrer Angehörigen werden eher psychische Symptome konstatiert, wie z. B. Angst, Halluzinationen, Wahn, depressive Stimmungslage (vgl. Steeman et al. 2004 : 174). Durch Beobachtungen von Pflegenden werden u. a. körperliche Aggressionen, Schreien, Erregung und zielloses Umherwandern wahrgenommen. Nach Füsgen sind psychische Störungen regelhaft anzutreffende Begleitphänomene demenzieller Abbauprozesse (vgl. ebd. 2001 : 49).
Bei vielen Autoren ist aggressives Verhalten mit Abstand das am häufigsten auftretende BPSD (vgl. Schröder 1998). In der Bezugswissenschaft Medizin werden herausfordernde Verhaltensweisen bei Demenz auch unter den „Nicht-kognitiven-Symptomen“ (vgl. Moniz-Cook 1998) bzw. Neuropsychiatrische Subsyndrome (vgl. Bauer et al. 1993; Hermann et al. 2007) eingeordnet.
Das psychiatrische Klassifikationssystem, das diagnostische und statische Manual psychischer Störungen (DSM-IV) der Amerikanischen Psychiatric Association (1996) nimmt den Begriff „klinisch auffällige Verhaltensstörungen“ auf. Aus der Perspektive eines Facharztes für Psychiatrie/Gerontopsychiatrie kann diese Klassifizierung bedeutsam sein, um psychopathologische Symptome abzubilden.
Im englischen Sprachraum werden die Begriffe difficult, behavioural disturbance, disruptive behaviour, dysfunctional behaviour, disordered behaviour, inappropriate, problematic behaviour und non-cognitive symptoms verwendet, um Verhaltensweisen zu beschreiben, die im pflegerischen Umgang als problematisch gelten. Die Begriffe implizieren einen intrinsischen Ursprung des Verhaltens, d. h. verursacht durch die demenziell veränderte Person selbst. Umgebungseinflüsse als Auslöser werden hierbei weniger in Betracht gezogen (vgl. Moniz-Cook 1998).
Im Gegensatz zu der Kategorie von aktiv gezeigten Verhaltensweisen gibt es eine weitere Kategorie, die sich in apathischem und passivem, willfährigem Verhalten der Patienten äußert. Zurückhaltende und stille Verhaltensweisen der Patienten fordern Pflegeexperten weniger heraus und werden bei der täglichen Versorgung weniger belastend empfunden (vgl. Höwler 2008 : 68). Die Symptome können bei demenziell veränderten Menschen als Dekompensation, d. h. als „Rückzug“ interpretiert werden (vgl. Vernooij 2001 : 50). Die beobachtbaren Symptome haben Ähnlichkeiten mit denen einer Depression: Geringe Bewegungsaktivitäten, über längere Zeit geschlossene Augen, Mutismus, erhöhtes Schlafbedürfnis, geringes Selbstwertgefühl. Die Betroffenen erfahren persönliche Begrenzung, lassen sich emotional und sozial unschwer ansprechen und können zielorientierte Bedürfnisse und Aktivitäten nicht eigenständig ausdrücken. Durch fehlende Ansprache von Seiten der Pflegenden, im Zusammenhang mit eingeschränkter Mobilität, kann sich das apathische Verhalten in kürzester Zeit verstärken (vgl. Cohen-Mansfield et al. 1986a).
Die Psychiaterin Cohen-Mansfield und Mitautoren verwenden den Begriff „Agitiertheit“ synonym für BPSD. Agitiertheit stellt innerhalb BPSD eine Kategorie von Verhaltenssymptomen dar (vgl. ebd. 1986a, 1986b, 1989b, 2003). Cohen-Mansfield zählt aggressives Verhalten, körperlich nicht aggressives Verhalten und verbale Agitation zu agitationsähnlichen Syndromen. Ihre Definition lautet: Agitiertes Verhalten wird verstanden als eine unangemessene verbale, vokale oder motorische Aktivität, die sich dem Beobachter nicht direkt durch die Bedürfnisse oder die Verwirrung der agitierten Person erklärt, z. B. zielloses Wandern, Fluchen, Schreien, Beißen und Schlagen (vgl. Cohen-Mansfield et al. 1989c : 77). Im Glossar DSM-IV (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders) wird Agitiertheit wie folgt definiert:Übermäßige motorische Aktivität, die mit einem Gefühl innerer Anspannung einhergeht. Die Aktivität ist in der Regel unproduktiv und wiederholt sich ständig. Sie zeigt sich in Verhaltensweisen wie Hin- und Herlaufen, Zappeln, Händeringen, Zerren an den Kleidern und Akathisie (Sitzunruhe) (vgl. Saß et al. 1996). Im DSM-IV werden die Begriffe Unruhe, Erregung und psychomotorische Unruhe synonym verwandt. Diese Definition geht von der betroffenen Person aus, die das Phänomen zeigt, und blendet Wechselwirkungsprozesse zwischen Interaktionspartnern aus. Es werden sechs Eigenschaften einer Agitation identifiziert (nach Cohen-Mansfield 2003):
Die Klassifizierung von agitiertem Verhalten basiert nach Cohen-Mansfield et al. (1986a) auf der verbalen oder physischen Art des Verhaltens und seinem aggressiven Charakter. Somit können Verhaltenssymptome in vier Kategorien mit ihren Subkategorien beobachtet werden (nach Cohen-Mansfield et al. 1986b : 712f.):
Die vier Kategorien schließen sich nicht gegenseitig aus, da bestimmte Verhaltensweisen in mehreren Kategorien auftreten können. Agitierte Verhaltenskategorien sind von der Bereitschaft zu aggressivem Verhalten zu unterscheiden. Aggressivität stellt ein Persönlichkeitsmerkmal dar, während Aggression für die gezeigten Verhaltensweisen steht (vgl. Hillenbrand 2006 : 175). In der Querschnittstudie von Heeren et al. (2003) wird unterstützt, dass Agitiertheit ein komplexes Konstrukt ist.
Somit wird mit dem Begriff „Agitiertheit“ eine Gruppe von Symptomen, eher im Sinne eines unspezifischen Symptomenkomplexes als eines diagnostischen Terminus beschrieben. Agitiertheit dient als eine Form der Kommunikation bei Verlust der Kontrolle (vgl. Cohen-Mansfield et al. 1996). Kontrolle ist das Gegenteil von Hilflosigkeit, d. h. Personen sind davon überzeugt, dass sie kontrollierend in ihre Umgebung eingreifen und Einfluss nehmen können. Personen mit starker Kontrolle betonen die Selbstverantwortlichkeit ihres Handelns in einer Situation und die Möglichkeit, durch ihre selbstbestimmten Aktivitäten negative Auswirkungen von Belastungen zu reduzieren (vgl. Brandtstädter et al. 1994). Zunahme verbaler Agitiertheit muss nicht immer negativ sein und kann auf eine erhöhte soziale Interaktion hinweisen, was wiederum ein positives Resultat einer Intervention sein kann (vgl. Steeman et al. 2004 : 182, 187).
In ihrem Review stellen Cohen-Mansfield et al. (1986b) fest, dass in den meisten Untersuchungen psychosoziale Zusammenhänge zwischen den einzelnen agitierten Verhaltensweisen aufgezeigt werden konnten. Das Phänomen kann erst dann als Agitation gewertet werden, wenn deren Ursache nicht gleich ersichtlich ist. Aus dieser Begründung heraus wird der psychiatrische Begriff „Agitiertheit“ in diese Untersuchung mit aufgenommen. Unter dem Begriff subsumieren Cohen-Mansfield et al. (1986b) mehr aggressive Verhaltensweisen.
Das lateinische Wort „agere“, „aggredior“= handeln, antreiben, aufregen, nähern, jemanden gewinnen, aufreizen, angreifen, anfallen, überfallen, gibt Aufschluss über die Wortherkunft für den in der Fachdisziplin (Geronto)psychiatrie gebräuchlichen Begriff, der oftmals synonym für herausforderndes Verhalten verwendet wird (vgl. Glaus-Hartmann 2000 : 227). „Aggression“ ist ein komplexes Phänomen; es stellt ein Konstrukt mit unterschiedlichen Konnotationen dar. Es wird versucht, alle gewaltsamen Handlungsweisen, die qualitativ ähnlich sind, darunter begrifflich zu erfassen (vgl. Petermann 1998). Einige Autoren fassen unter dem Begriff ein Verhalten, mit dem die direkte oder indirekte Schädigung eines Individuums intendiert wird (vgl. Barron et al. 1981; Brandtstädter et al. 2007). Aggressives Verhalten ist eine offene Tat, die ein schädliches Stimulus (psychisch oder psychologisch) einschließt. Die Tat ist in der Regel auf ein anderes Objekt (z. B. Zerstören des Eigentums), auf einen Organismus (Schlagen einer Person) oder auf sich selbst gerichtet (Selbstkörperverletzung). Die Tat kann vom Betroffenen mit Absicht oder unbewusst ausgeführt werden (vgl. Patel 1993). Aggressives Verhalten kann nach Attributionen eingeteilt werden (nach Cohen-Mansfield 1991 : 3):
In lernpsychologischen Experimenten und Studien wird Aggression als ein Verhalten bestätigt, das erlernt bzw. durch den familiären und sozialen Kontext bedingt und aufrecht erhalten wird (vgl. Frick et al. 1992). Die Studie von Frick belegt, dass Aggression das stabilste Sozialverhalten des Menschen darstellt. Aggressive Verhaltensweisen eines Menschen haben immer Ursachen und Beweggründe, die in persönlichen Charakteristiken, Verhalten von Interaktionspartnern und Umweltmilieu zu finden sind. Hat ein Mensch in seiner Erziehung ein überprotektives, entwertendes, kontrollierendes, gewaltvolles oder missbrauchendes Milieu kennengelernt, wird er mit großer Wahrscheinlichkeit Interaktionsmuster entwickeln, welche von Aggressionen geprägt sind. Oftmals werden aggressive Verhaltensstrategien im Erwachsenenalter beibehalten (vgl. Noeker et al. 2008). Ein gewisses Aggressionspotenzial ist Bestandteil einer normalen Bewältigungsstrategie und trägt zum seelischen Gleichgewicht und zur Erhaltung des Selbstwertgefühls bei. Aggression kann als normale, zielorientierte, nicht feindselige Reaktion bezeichnet werden. Sie ist gleichzeitig ein positiver, physiologischer Bestandteil der Persönlichkeit und beinhaltet u. a. Durchsetzungswillen (vgl. Hillenbrand 2006 : 175).
Aggressives Verhalten lässt sich als dieses erst bezeichnen, wenn eine Person in mehreren Situationen über eine längere Dauer (mindestens 6 Monate) in störender Weise auf seine Umwelt mit großer Häufigkeit einwirkt (vgl. Hillenbrand 2006 : 175).
Aggressive (agitierte) Verhaltensweisen können unter psychodynamischen Aspekten, unter dem Zusammenspiel von Persönlichkeitsmerkmalen, Bewusstsein, Unbewusstsein und einer Situation ausgelöst werden und gestalten sich, wie oben erläutert, konträr.
Unterschiedliche Ansätze versuchen die Entstehung von aggressiven Verhaltensweisen zu erklären. So geht die Frustrations-Aggressions-Hypothese von Dollard und Miller (vgl. ebd. 1941, 1950) davon aus, dass jede Aggression auf einer Frustration basiert. Eigenes Versagen, verursacht durch den demenziellen Prozess, Entbehrungen psychischer und physischer Bedürfnisse, Bedrohungen durch Verkennungen von Pflegesituationen sind einige Beispiele, die bei einem Betroffenen Frustrationen auslösen können. Das Frustrationserlebnis veranlasst zu einem Angriff auf die Frustrationsquelle, um diese zu beseitigen. Es ist davon auszugehen, dass der Betroffene aggressiver reagiert, je intensiver er die Frustration erlebt (vgl. Finnema et al. 1993).
Von den Kultur- und Sozialwissenschaften kann ein anderer Erklärungs- und Verstehensrahmen zum Begriff hergeleitet werden. Sowie die Kultur Wahrnehmungen und Verhaltensmuster formt, formt sie auch Reaktionen auf kognitive Beeinträchtigungen, wie z. B. demenzielles Verhalten. Kulturelle Vorstellungssysteme sind in Geschichte, soziale Rollen, Wissen, Institutionen, d. h. in Standards eingebunden, und beeinflussen, wie menschliche Verhaltenssymptome, z. B. Verlaufen, Verwirrung oder Vergesslichkeit, aufgefasst werden. Infolgedessen sind diese Standards oft ausschlaggebend, wie Menschen anderer Kulturen mit Verhaltenssymptomen umgehen, welche kulturellen Erwartungen und soziale Rollenverteilungen an einen Mensch neu in jedem Lebensalter gerichtet werden. Herausforderndes Verhalten wird erst dann auffällig, wenn dieses von einer Gesellschaft als nicht angemessen empfunden wird (vgl. Cox 2007 : 174). Kulturspezifische Normen und Werte im deutschsprachigen Raum führen zu unterschiedlichen Konnotationen, wie z. B. „abweichendes Verhalten“3, „Verhaltensstörung“, „Verhaltensauffälligkeiten“ und „Verhaltensprobleme“. Die Bezeichnungen lassen eine wertschätzende, personzentrierte Orientierung vermissen. Die dahinter liegenden Zuschreibungen beeinflussen dahingehend, ob man eine Person von oben herab und als „Merkmalsträger“ oder als Mensch begegnet. Die Begriffe stellen eine soziale Konstruktion dar, die aus dem Interaktionsprozess zwischen einem Individuum, mit seinen bio-psycho-sozialen Voraussetzungen sowie den Normen und Werten seiner jeweiligen kulturellen Gesellschaft entsteht. Vom soziologischen Verständnis aus wird ein Verhalten immer dann als abweichend bezeichnet, wenn andere Menschen diesem Verhalten einen negativen Symbolwert zuschreiben. Leicht besteht die Gefahr, dass ein Individuum, was vom erwarteten idealtypischen Verhalten abweicht, bereits durch die sprachliche Verwendung stigmatisiert wird (vgl. Goffmann 1992). Dörner et al. lehnen den Begriff „Verhaltensstörung“ mit der Begründun ab, dass bei der Benennung z. B. die aggressive Handlung einer Person nur ausschließlich zum Problem von zu schwacher Kontrolle gemacht wird (Dörner et al. 1990 : 112). Die Autoren konstatieren, dass das Verhalten höher bewertet wird als die spontane Handlung und dass die Nähe zur Verhaltenheit diese Begriffsbildung fragwürdig macht.
Die Bezeichnung „Verhaltensstörung“ impliziert die Problematik in Bezug auf die Entscheidung, Personen in sozial-gesellschaftlicher Hinsicht in Normale und Nicht-Normale einzuteilen. Eine derartige radikale Unterscheidung widerspricht jeder soziologischen Erfahrung. Hinzu kommt, dass die oben genannten Begriffe Erscheinungsformen der Nicht-Normalität immer als Minus-Varianten des Normaltypus verstanden werden und in gegenständlicher Hinsicht mit den Erscheinungsformen von Normalität verknüpft sind. Es stellt sich zudem die Frage, warum die Störungsvarianten unter den Differenzierungsformen eine völlig andere Einordnung erfahren als die Positivvarianten eines gleichsam nach oben abweichenden Verhaltens.
Im Gegensatz zu medizinischen Modellen gehen Jantzen et al. (2001) davon aus, dass das nicht normangepasste Verhalten eines Individuums immer sinnvoll und systematisch ist, weil es ein Ausdruck der seelisch-geistigen Befindlichkeit ist. Das Verhalten ist ein Ergebnis der Unfähigkeit sich verständlich der Umwelt mitzuteilen, eine Reaktion auf die Umwelt, die plötzlich fremd und unzuverlässlich erscheint. Diese Sichtweise ist dennoch zu einseitig gefasst, weil allzu leicht die Interdependenz zwischen beteiligten Interaktionspartnern einer sozialen Situation ausgeblendet wird.
Grundsätzlich besteht bei Verwendung der oben aufgeführten Begrifflichkeiten das Problem, dass es unvertretbar ist, einen demenziell veränderten betagten Menschen, der sich anders verhält, als von ihm erwartet wird, in etikettierender Weise in eigenständigen Personenkategorien einzuordnen, z. B. indem Pflegende von Schreiern, Aggressiven, Bösartigen, Störern, Abweichlern, Auffälligen etc. sprechen. Bedeutsam wird damit, dass sich mit einem verwendeten Begriff eine Haltung bzw. ein Menschenbild ausdrücken kann, was entscheidenden Einfluss auf den interaktiven Umgang mit einem Betroffenen nehmen kann. Mit einer objektiven Sichtweise sollte das differenzielle Phänomen angesehen und der dahinter liegende relevante Sachverhalt betont werden. Auf diese Weise wäre die Normalitätsklausel in der (geronto-)psychiatrischen Pflege zu überwinden. Unverständnis ergibt sich bereits daraus, dass es sich bei der beobachtbaren Vielfalt der differenziellen Phänomene immer nur zum einen Teil um störungsspezifische Phänomene handelt, während sich der andere Teil auf gesunde Anteile bezieht, die den betagten Menschen positiv auffällig erscheinen lassen und ihn gleichsam sozial und auch kulturell auszeichnen (vgl. Jüttemann 1992 : 119f.). Unterschiedliche Kulturen bringen psychisch andere Menschen hervor (vgl. Cox 2007 : 174). Die Soziogenese und Psychogenese wird entscheidend vom Gesellschaftsgefüge geprägt und kann sich auf Habitus und die Ich-Identität auswirken, z. B. unterschiedliche Scham- und Peinlichkeitsgefühle bei den Nationalitäten ausformen (vgl. Elias 1969 : 198f.). So kann beispielsweise das Ausscheidungsverhalten nicht nur geschlechtlich, sondern auch kulturell geprägt sein. Männer urinieren anders als Frauen. Aufgrund von Erfahrungswissen konnte beobachtet werden, dass Frauen vom Stamm der Nomaden aus Gebieten Tschetscheniens öfters stehend Urin auf Stehtoiletten ausscheiden. Eine auf diese Weise sozialisierte Frau kann in einem deutschen Pflegeheim mit ihrem gewohnheitsmäßigen Verhalten den Pflegenden Probleme bereiten, wenn sie dieses Ritual an ungeeigneten Orten durchführt, wo sie sich unbeobachtet fühlt. Die ihr angebotene Wasserspültoilette erkennt sie nicht als Abort und kann diese zudem nur unschwer annehmen.4 Jedoch ist Ethnizität keine Konstante und die Bindungen zu kulturellen Werten und Normen verändern sich über Generationen kultureller Assimilation (vgl. Cox 2007 : 174). Somit gestaltet es sich problematisch, menschliches (herausforderndes) Verhalten mit Studienergebnissen anderer Kulturen vergleichen zu wollen.
Ein betagter Mensch wird mit Feststellung einer medizinisch gesicherten Demenzdiagnose in die Pflegeversicherung aufgenommen. Aus sozialrechtlicher Perspektive muss beachtet werden, dass viele Begriffe nicht den Anforderungen an empirisch-naturwissenschaftliche Standards entsprechen können, da diese andere Funktionen haben. Der weite Begriff „Fähigkeitsstörung“ bei Demenz wird im Pflegeweiterentwicklungsgesetz 2008 (vgl. Klie et al. 2009, SGBXI § 87b)5 erwähnt und dient in erster Linie nicht der Realität. Er fasst viele Verhaltensprobleme bei Menschen mit demenziellen Veränderungen zusammen6 und ist mehr ein sprachliches Konstrukt. Mit diesem Konstrukt müssen u. a. besondere Maßnahmen gegenüber den Pflegekassen legitimiert werden, nicht zuletzt muss der Einsatz finanzieller und personeller Ressourcen sprachlich begründbar sein. Mit dem Phänomen wird ein Betroffener zu einer „psychischen Problemlage“, der einen erhöhten Beaufsichtigungsbedarf für sich beanspruchen kann (vgl. Klie et al. 2009, SGBXI § 87b). Für Formen des Sprachgebrauchs in öffentlichen Diskussionen sind bestimmte Ausdrücke bedeutsame, wenn auch zeit- und kulturbedingte Mittel. Ein Terminus sollte wertfrei, weniger normgebunden und weniger diffamierend sein. Allerdings erscheint der Begriff „Fähigkeitsstörung“, der die statistische Norm überschreitet, als auffällig. Unter „Fähigkeitsstörungen“ fallen z. B. Weglauftendenz, tätlich oder verbal aggressives Verhalten, Störung des Tag-/Nacht-Rhythmus, ruheloses Umhergehen etc. Damit wird nur das äußere Verhalten betrachtet, die innere Sicht des demenziell veränderten Menschen bleibt dabei unbeachtet. Der Benutzer des Begriffes nimmt für sich die eigene Sinnhaftigkeit und Reflexivität an. Die Gefahr, einen betagten Menschen nur noch unter dem Aspekt der Defizite zu sehen und eine einseitig negative Sichtweise aufzubauen, ist nicht zu übersehen. Damit gilt für einen Betroffenen ein anderes Menschenbild als z. B. für beruflich Pflegende, die ihn als „verhaltensauffällig“ beurteilen. Ein grundsätzliches Problem bleibt bei dem Begriff„Fähigkeitsstörung“ der unvermeidliche Bezug auf Normen. Im rechtswissenschaftlichen Zusammenhang sind damit Regeln, Vorschriften und Ziele für das Handeln der Betroffenen gemeint. Dabei sind vier formale Vorstellungen von Normen relevant: Die statistische Norm (Durchschnitt), die Idealnorm, die Minimalnorm sowie die funktionale Norm (vgl. Mattejat 1980). Demenziell veränderte Menschen entsprechen nicht dem Verhaltensstandard und können gegen alle vier Normen verstoßen:
Der Begriff „Fähigkeitsstörung“ erscheint aus pflegewissenschaftlicher Perspektive ungeeignet, weil er vorwiegend defizitäre Kompetenzen eines Betroffenen herausstellt und die interaktive Komponente, die von Interaktionspartnern in Bezug auf eine adäquate Verständigung ausgeht, völlig unberücksichtigt lässt. Es gehört zur pflegewissenschaftlichen Aufgabenstellung, negative Effekte von Begriffen, die von Bezugsdisziplinen in gesundheitspolitische Debatten eingebracht werden, zu erforschen und möglichst zu minimieren. Vermeidbar sind solche Begriffe nicht, weil deren Funktionen in öffentlichen Kommunikationssystemen nicht aufgegeben werden können.
Aus pflegewissenschaftlicher Perspektive wurde in Deutschland der Stand der Erkenntnisse zum Phänomen erstmals in einer Stellungnahme des Bundesministeriums für Gesundheit zusammengetragen (vgl. ebd. 2006). Die Begriffsklärung auf dieser Ebene kann merklich von den oben genannten Bezugswissenschaften abgegrenzt werden. In der Pflegewissenschaft erhalten Begriffe eine spezifische Bedeutung, sie spiegeln einerseits Bewusstsein wider und andererseits gestalten diese Bewusstsein. Aus dem Bereich der Pädagogik kommt der Begriff „herausforderndes Verhalten“ (engl. challenging behaviour) (vgl. Heijkoop 1998; Moniz-Cook 1998). Dieser Begriff charakterisiert einen Paradigmenwandel im Verständnis des Phänomens, er geht von einem multidimensionalen Menschenbild aus und legt einen Schwerpunkt auf die Person-Umwelt-Situations-Interaktion. Die Bezeichnung impliziert keine negative Bedeutung oder Zuschreibung, weil dessen Ursache nicht unweigerlich bei einem demenziell veränderten Menschen liegt. Das Phänomen ist ein Verhalten, dessen Stärke, Dauer und Häufigkeit die bio-psycho-sozialen Bedürfnisse des Betroffenen selbst, auch seiner Mitmenschen bedroht. Die Interpretation und die Bewertung des Phänomens resultiert aus einem interpersonellen Kontext heraus, in dem das Verhalten gezeigt wird, von dem es abhängig ist und der Veränderungen unterliegt. Das Verhalten fordert Pflegende und die soziale Umwelt unmittelbar zu einer Reaktion heraus (vgl. Halek et al. 2010 : 4). Herausforderndes Verhalten wird bewusst oder unbewusst induziert und kann eine Antwort auf wechselseitige interaktive Prozesse8 auf zwischenmenschlicher Ebene und/oder auf milieureaktive Faktoren sein (vgl. Höwler 2008 : 121).
Das pflegediagnostische Klassifikationssystem nach North American Nursing Diagnosis Association (NANDA) nimmt Bezug auf Verhaltensmerkmale mit den Begriffen „chronische Verwirrtheit“ (vgl. Doenges et al. 2002 : 850) sowie „Orientierungsstörung“ (vgl. ebd. 2002 : 554). Die an die medizinische Sicht angelehnten Pflegediagnosen identifizieren beobachtbare Verhaltensauffälligkeiten im Alltag und betonen die medizinische Irreversibilität des progredient fortschreitenden Demenzprozesses (vgl. Schwerdt et al. 2002a : 189). Aggressives Verhalten von Patienten wird nach der Meinung von NANDA (North American Nursing Diagnosis Association) auf Patienteneigenschaften zurückgeführt, weniger auf situations- und interaktionsbezogene Faktoren (vgl. Finnema et al. 1993).
Die Prävalenz des Phänomens „herausforderndes Verhalten“9vgl.vgl.vgl.bzw.vgl.vgl.