Inhaltsverzeichnis
Glauben Sie an Gott?
April 1993
Sahnehäubchen mit ranzigem Beigeschmack
Rückflug
Diagnose Lyell-Syndrom
Die Götter in Weiß
Zeit ist relativ
Völlig losgelöst oder die vierte Dimension
Dr. Shanti
Wozu sind eigentlich Fingernägel da?
Ich hab die Haare schön
Auf dem aufsteigenden Ast
Spieglein, Spieglein …
Daheim
Mama ist die Beste
Absturz
Auf zu neuen Ufern
Weiblich, ledig sucht …
Bauchgefühl
Beruf(ung)
Tick, tack …
Erstes kommt es anders, und zweitens als man denkt
Erneute Prüfung
Bewusstsein heilt
Danke!
Impressum
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie.
Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de abrufbar.
Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Funk und Fernsehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger, elektronische Datenträger und auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten.
© 2014 novum publishing gmbh
ISBN Printausgabe: 978-3-99038-781-8
ISBN e-book: 978-3-99038-782-5
Lektorat: Katja Kulin
Umschlagfoto: Michael Orlik
Umschlaggestaltung, Layout & Satz: novum publishing gmbh
www.novumverlag.com
Vorwort
Ich bin eine Frau.
Ich bin eine Suchende.
Ich bin eine Zweiflerin.
Ich bin eine Tochter.
Ich bin eine Kranke.
Ich bin eine Kämpferin.
Ich bin eine Überlebende.
Ich bin eine Mutter.
Ich bin eine Ehefrau.
Ich bin eine Liebende.
Ich bin alles.
Ich bin.
1
Glauben Sie an Gott?
„Glauben Sie an Gott?“
Die Frage überraschte mich in zweierlei Hinsicht. Einerseits, weil sie mir doch einigermaßen intim erschien und ich diesem Mann, der mir gegenübersaß, nur deshalb noch einmal begegnete, weil ich die Fäden, die er mir „einverleibt“ hatte, nicht vertrug. Andererseits, weil diese Worte aus dem Munde eines Arztes gekommen waren, eines Chirurgen noch dazu, der sich in meinen Augen streng der empirischen Wissenschaft verschrieben hatte und sich nicht aufs Philosophieren über Gott und die Welt mit seinen Patienten einließ.
Indirekt hatte ich mit Herrn Gutzwyler schon vor einiger Zeit Bekanntschaft geschlossen und mir ein Bild von ihm gemacht. Vor über einem Jahr hatte er meinen Mann an seinem Allerwertesten operiert, den er sich im wahrsten Sinne des Wortes aufgerissen hatte. Die anfänglich gut verheilende Wunde wollte des Guten zu viel und verheilte an der Oberfläche zu schnell, ohne in der Tiefe zugewachsen zu sein. Bei einer Nachkontrolle fackelte Doktor Gutzwyler, der ein Mann der Taten und nicht der vielen Worte zu sein schien, nicht lange und setzte das Skalpell in seinem Untersuchungszimmer zum Nachschnitt an. Mein Mann war derart überrumpelt, dass er mit einem Sack voll neuer Kompressen in der Hand noch immer sprachlos nach Hause kam, dafür aber umso mehr blutete.
Obwohl ich meinen Mann seit einigen Wochen pflegte und ich den ersten Schock, als ich die einige Zentimeter tief klaffende Wunde zum ersten Mal erblickte, überwunden hatte, sah ich mich vor eine neue Herausforderung gestellt. Ich fluchte nicht schlecht über die Dreistigkeit dieses Arztes, als ich mit Mullbinden gegen die Blutung ankämpfte. Zum Glück ließ sie über Nacht nach und ich musste mir nicht ernsthaft den Kopf über den Ruf Doktor Gutzwylers zermartern, der in Fachkreisen als Koryphäe gilt. Dennoch blieb mir in Gedanken das Bild eines Metzgers, der zwar gekonnt, aber nicht gerade zimperlich mit seinem Messer umgeht.
Als ich ihm dann vor einigen Wochen zum ersten Mal persönlich begegnete, war mir so hundeelend, dass ich mir darüber keine Gedanken machen konnte. Eine akute Entzündung der Gallenblase ließ mir keine Zeit, mich gegen den diensthabenden Arzt aufzulehnen. Alles, was ich wollte, war die Erlösung von meinen Schmerzen, und ich vertraute ihm voll und ganz in seiner Aussage, dass dieses Ding, das mich die ganze Nacht zum Pendelgang zwischen Toilette und Bett gezwungen hatte, raus musste. Er hatte mir kurz mitfühlend die Hand gehalten, als er mich über allfällige nachoperative Komplikationen aufklärte, was mein Vertrauen in ihn ungemein stärkte.
Noch am gleichen Abend wurde ich operiert. Die Entfernung der Gallenblase und gleichzeitig der kartoffelgroßen Gallensteine wäre ein Klacks gewesen, hätte es da nicht das Antibiotikum gegeben, das man mir verabreichte. Doch dazu später.
Zurück zu seiner Frage.
„Oh ja, ich glaube an Gott. Auf meine ganz spezielle Art. Es ist nicht so, dass ich oft in die Kirche renne. Das ist etwas, das ich mit Gott und mir ausmache, ganz tief in mir drin“, sagte ich. Die Antwort kam ganz spontan, ohne zu überlegen. Früher hätte ich wohl Probleme gehabt, mich so offen zu meinem Glauben zu bekennen. In unserer Gesellschaft scheint es nicht „in“ zu sein, an Gott zu glauben und zu beten. Ich bin zwar überzeugt, dass es viele tun, dazu zu stehen, ist aber was anderes.
„Das habe ich mir gedacht“, entfuhr es ihm mit einem Lächeln, das ihn weich und zugleich spitzbübisch erscheinen ließ. „Ohne den Glauben hätten Sie das wohl nicht überlebt. Ich habe in letzter Zeit viel an Sie gedacht, Frau Plaar. Als ich Ihre Krankenakte studierte, habe ich mich ein wenig schlaugemacht, was so ein Lyell-Syndrom überhaupt ist. Ich hatte nämlich vorher noch nie davon gehört. Ganz schön heftig!“
„Ja“, bestätige ich, „das wünsche ich niemandem. Es war eine harte Erfahrung. Aber es ist nicht so, dass ich mit meinem Schicksal hadere. Ich wäre heute nicht da, wo ich bin, wenn ich diese Krankheit nicht gehabt hätte. Sie hat mich näher zu mir selbst gebracht, mich zu dem gemacht, was ich eigentlich bin. Insofern bin ich dankbar dafür, was mir widerfahren ist. Für viele ist das schwer verständlich. Für mich ist es eher so, dass ich ein zweites Leben geschenkt bekommen habe. Mein Leben hat sich seither um 180 Grad gedreht, ich bin nicht mehr der Mensch, der ich mal war.“
„Es wäre wirklich spannend, eine Krankheit von diesem Standpunkt aus kennenzulernen. Wir Mediziner lesen in den Büchern ja nur über die Symptome. Was aber machen sie mit dem Menschen, wie erlebt er das Ganze? Ich bin auch überzeugt, dass die Einstellung des Kranken, die Psyche, genauso wichtig ist für den Heilungserfolg wie die medizinische Behandlung. Wenn nicht sogar wichtiger. Wir Mediziner leisten da nur einen kleinen Teil. Haben Sie sich schon mal überlegt, ein Buch über Ihre Geschichte zu schreiben?“ Erwartungsvoll schaute er mich mit hochgezogenen Augenbrauen an.
„Ehrlich gesagt spiele ich schon lange mit diesem Gedanken. Aber irgendwie habe ich die Kurve nie gekriegt. Im Kopf habe ich’s schon hundertmal geschrieben. Und dann stelle ich mir die Frage, wen interessiert das?“
„Mich! Ich würde es sofort lesen. Sie müssen mir versprechen, dass ich einer der Ersten bin, die es zu lesen bekommen.“
Beschwingt verließ ich das Krankenhaus. Ja, vielleicht sollte ich es tatsächlich anpacken, das Schreiben. Aber wie es halt so ist, den inneren Schweinehund konnte ich doch nicht überwinden, und so blieb es einmal mehr bei den guten Vorsätzen.
Der Gedanke holte mich aber bald wieder ein. Wie ein Bumerang, der immer wieder zurückkehrt. Man kann ihn noch so weit wegwerfen, er kommt immer wieder zurück.
„Mit jedem Ausatmen gibst du etwas von dir nach außen ab und mit jedem Einatmen nimmst du etwas von außen auf“, begleitete Daniela, unsere Yogalehrerin, die Entspannungsübung.
„Was gebe ich ab?“, fragte ich mich. „Klar, verbrauchte Luft, was sonst. Aber ist das alles? Was hinterlasse ich sonst noch auf dieser Welt?“
Ich wurde nachdenklich. Ein Buch, das ich vor einiger Zeit gelesen hatte, kam mir in den Sinn. Es handelt von einem klinisch Toten, der eine Begegnung mit Jesus hat und mit einer Frage konfrontiert wird, die sein ganzes Leben verändern soll.
„Was hinterlässt du im Leben? Was kannst du mir zeigen? Was hast du geleistet?“ möchte Jesus von ihm wissen. Als der vermeintlich Tote ins Leben zurückkehrt, ändert er dieses radikal.
Was hatte ich vorzuweisen? Was hatte ich bisher aus meinem Leben gemacht? Schön, ich hatte eine wundervolle achtjährige Tochter, wohl das tollste Kind, das ich mir überhaupt nur wünschen konnte. Aber war das mein Verdienst, dass sie so großartig war? Na ja, wenn, dann nur zum Teil.
Mir kam noch so einiges in den Sinn, aber nichts Bewegendes, Großartiges, nichts weswegen ich in Erinnerung bleiben mochte. Plötzlich war die Idee von einem Buch wieder ganz präsent. Vielleicht war es nun an der Zeit, meine Erlebnisse und Erfahrungen mit meiner Krankheit aufzuschreiben. Egal, wenn’s niemanden interessierte. Ich musste es mir einfach von der Seele schreiben. Und vielleicht, vielleicht las es ja auch jemand.
Wenn Sie diese Zeilen gerade lesen, dann habe ich es sogar geschafft, dass Sie mit mir den ersten Schritt auf eine emotionale Reise durch die Hochs und Tiefs meiner Krankheit gemacht haben. Meine Erfahrungen und Gedanken sollen Mut machen, die eigene Stärke zu erkennen und zu nutzen, um das Schicksal, so hart einem das Leben manchmal mitspielen mag, anzunehmen. Dieses Buch soll auffordern, die Schätze im Dunkeln auszugraben und zu entdecken, dass in jedem Schicksalsschlag eine gewaltige Chance steckt.
2
April 1993
So einen Knackarsch hatte ich noch nie. Zufrieden drehte ich mich vor dem Spiegel hin und her und begutachtete das Werk des Schneiders. Passte wirklich wie angegossen, mein erstes maßgeschneidertes Kostüm. Behutsam strich ich mit meinen Fingern über die cremefarbige Rohseide, die sich kühl und glatt anfühlte. Die Farbe brachte meine tiefe Bräune noch mehr zur Geltung. Es war eine gute Entscheidung gewesen, die Reise nach Asien anzutreten.
Noch vor vier Wochen hatte ich völlig verschnupft mit einer roten, verquollenen Nase und am Rande einer Lungenentzündung im Sprechzimmer meines Arztes gesessen, der mir dringend davon abriet, ins Flugzeug zu steigen. Das war natürlich nicht das, was ich hören wollte. Ich brauchte dringend eine Auszeit. Mein Jurastudium und die zwei Nebenjobs, die mich finanziell über Wasser hielten, hatten mich völlig ausgelaugt. Ich lief regelrecht auf dem Zahnfleisch. Ich hatte mich so auf diesen Urlaub gefreut, da sollte mir ein blöder Schnupfen doch keinen Strich durch die Rechnung machen. Ich suchte einen zweiten Arzt auf, der meinte, ein Klimawechsel täte mir vielleicht ganz gut. Genau, ganz meine Meinung, und recht hatten wir. Die Erkältung war Schnee von gestern. Ich fühlte mich so gut wie schon lange nicht mehr.
„Is it okay?“
Die Frage des Schneiders riss mich aus meinen Gedanken. Sie war so vorsichtig gestellt, dass ich sie kaum vernahm. Mit leicht gesenktem Haupt und vor der Brust zur Gebetshaltung gefalteten Händen harrte er angespannt meiner Antwort.
„It’s wonderful!“, erlöste ich den Meister aus seiner demütigen Haltung, die den Thais manchmal so eigen ist. Sofort lockerte er sich und blickte mir strahlend in die Augen.
„Thank you, Ma’am!“
Überglücklich hakte ich mich bei Mike unter und wir verließen vollgepackt den klimatisierten Laden. Die schwüle Hitze schlug uns wie eine Wand entgegen. Sofort bildete sich ein feuchter Film auf der Haut, der sich mit dem Dreck, der in grauen Schleiern durch die Luft waberte, zu einem klebrigen, unappetitlichen Belag vermischte. Ich hatte mich auf unserer Reise durch Asien an die hohe Luftfeuchtigkeit gewöhnt und sie machte mir nichts mehr aus. Hier in Bangkok jedoch hatte ich ständig das Bedürfnis, mich unter die Dusche zu stellen.
Der Gestank der Autos und der Tuk-Tuks, die sich im Schritttempo durch die Straßen wälzten, vermischte sich mit dem wohligen Geruch, welche die Garküchen am Straßenrand verströmten. Ein Mix aus Gewürzen wie Ingwer, Chili und Curry in gebratenem Fleisch mit Gemüse ließ einem das Wasser im Mund zusammenlaufen. Schnell war da der Abgasgestank vergessen.
Und da war es wieder, dieses zweischneidige Gefühl, das Bangkok in mir auslöste. Ich liebte und hasste diese Stadt, eine pulsierende Metropole, die für mich eine Mischung aus moderner Großstadt und asiatischem Kuddelmuddel darstellte. Für einige Tage war ich von ihr fasziniert, ließ mich von dem ständigen Treiben mitreißen, tauchte ins Händlerleben ein und ließ mich auf das Spiel des Feilschens ein. Doch dann war es höchste Zeit zu flüchten. Bangkok muss man gesehen und erlebt haben, dort zu leben, wäre für mich ein Unding.
Morgen stand der letzte Abschnitt unserer Ferien bevor. Die Malediven sollten das Sahnehäubchen werden. Tauchen, viel Sonne, glasklares Wasser, weiße Sandstrände und süßes Nichtstun, bevor uns der schnöde Alltag wiederhaben sollte. Ich freute mich besonders aufs Tauchen. Ich war schon immer von der Unterwasserwelt begeistert gewesen. Für mehr als Schnorcheln hatte es bis jetzt leider nicht gereicht.
3
Sahnehäubchen mit ranzigem Beigeschmack
Etwas mulmig zumute war mir schon. Der Japaner, der mir gegenübersaß, schraubte schon seit einer halben Stunde an seiner ultramodernen Taucherausrüstung rum. Mit allem Schnickschnack, der ein Taucherherz höher schlagen ließ. Das musste ein Vollprofi sein. Ich war froh, dass man für mich alle Geräte geprüft und eingestellt hatte, und wartete nun mit klopfendem Herzen auf meinen ersten Tauchgang im offenen Meer.
Am Strand hatte ich mich bei den Tauchübungen recht geschickt angestellt, sodass man mich am gleichen Tag mit aufs Boot rausnahm. Ich war selbst von mir überrascht gewesen, denn offen gestanden leide ich unter Platzangst und ich hatte Bedenken, dass ich unter Wasser in Panik ausbrechen könnte. Aber nichts dergleichen. Das gleichförmige Geräusch des Lungenautomaten beim Ein- und Ausatmen sowie das klirrende Geräusch des aufgewühlten Wassers beruhigten mich eher. Die Unterwasserwelt zog mich sofort in ihren Bann.
Da ich die Einzige auf dem Boot war, die heute ihren ersten Tauchgang bestritt, musste ich bis zum Schluss warten. Nach einer gefühlten Ewigkeit, mein Magen begann nämlich vom leichten Seegang zu rebellieren, war ich an der Reihe. Auf ein Zeichen des Tauchlehrers sprang ich mit der Grazie eines Elefanten – die Gewichte sind an Land ganz schön schwer – ins Wasser. An der Stilnote würde ich wohl noch etwas arbeiten müssen.
Zu meiner Überraschung erblickte ich neben mir den Japaner. Mit rudernden Armen versuchte er vergeblich, sich unter Wasser zu drücken. Man hatte ihm schon Unmengen an Gewicht angehängt, um ihm den Abstieg in die Tiefen zu erleichtern. Bevor er überhaupt nur einen Meter unter Wasser abgetaucht war, hatte er in seiner Aufregung die ganze Flasche leergenuckelt und musste zurück an Bord. So viel zum Vollprofi.
Mit ein paar tiefen und ruhigen Atemzügen ließ ich mich langsam in die Tiefe gleiten. Das T-Shirt, das in diesen warmen Gewässern völlig ausreicht, um nicht auszukühlen, flatterte an meinem Oberkörper und kitzelte mich. Das Sonnenlicht flimmerte wie goldene Strahlen durch meinen gespreizten Finger. Der Tauchlehrer bedeutete mir, ihm zu folgen. Da tauchte der erste Fisch auf. Nein, es war vielmehr ein ganzer Schwarm bunt glitzernder Fischleiber, die dicht an dicht an mir vorüberzogen. Sie schienen sich in keinster Weise von mir gestört zu fühlen. Im Gegenteil, sie pickten neugierig an meinen Unterarmen.
Nur wenige Meter tiefer eröffnete sich mir ein wahrer Zauberwald unter Wasser. Die Korallen ragten in den verschiedensten Formen in die Höhe. Weiße und rötliche, einige sahen aus wie große Blumenkohlköpfe, andere wiegten sich sachte wie Fächer in der Strömung. Immer wieder schossen Fische in allen Farben und Größen dazwischen hervor.
Das Eindrücklichste jedoch war für mich die ganz eigene Ruhe, die hier unten herrschte. Alles schien ruhig in seinen geregelten Bahnen zu laufen, ganz ohne Hektik. Mir wurde klar, weshalb manche Menschen regelrecht süchtig nach dem Tauchen werden. Es ist wie das Eintauchen in eine ganz andere Welt.
Ich merkte gar nicht, wie schnell die Zeit verstrichen war. Wir mussten zurück an die Oberfläche.
„Es ist der Wahnsinn!“, schrie ich beim Auftauchen.
„Na, dann hab ich dir ja nicht zu viel versprochen“, grinste Mike, als er mir die Hand reichte, um an Bord zu steigen. Vollgepumpt mit Glückshormonen zog ich mein T-Shirt über den Kopf. Da entdeckte ich auf meinem Dekolleté einige kleine Pöckchen.
„Na bravo, jetzt kriege ich doch noch so eine blöde Sonnenallergie! Ich dachte, dass ich dieses Mal davon verschont bliebe.“
Etwas erstaunt war ich schon, dass sich die ungeliebten Bläschen erst jetzt meldeten. Normalerweise bekam ich die am Anfang des Urlaubs, wenn sich meine Haut noch an die Sonne gewöhnen musste. Jetzt allerdings war ich schon so braun gebrannt, dass mir das schon ungewöhnlich erschien. Die Freude über meinen ersten gelungenen Tauchgang war jedoch so groß, dass ich mir die Stimmung von den paar Pickelchen nicht verderben lassen wollte. Auch als sich die unschönen Dinger immer mehr ausbreiteten, machte ich mir keine ernsthaften Gedanken. Ich beschloss ganz einfach, ein T-Shirt anzuziehen und mich mit einem Cocktail in den Schatten einer Palme zu verkriechen. Die Dinger verzogen sich aber nicht wie erhofft und begannen fürchterlich zu jucken. Ich konnte sie nicht länger ignorieren. Am Abend fühlte ich mich hundeelend.
„Du musst heute alleine zum Essen gehen, ich fühle mich nicht besonders.“
„Soll ich dir was Leckeres mitbringen?“, fragte Mike besorgt.
„Nein, danke! Mir ist gerade nicht nach Essen.“
Als Mike zurückkam, glühte ich bereits wie ein Ofen. Knapp 40 Grad zeigte das Fieberthermometer an. Die Hitze in mir drin war kaum auszuhalten. Die Bläschen an meinem Dekolleté wurden immer größer und breiteten sich langsam, aber sicher aus. Sie krochen den Hals hinauf bis hinter die Ohren und wanderten die Arme hinunter. Zum Jucken war ein heftiges Brennen hinzugekommen. Ich hatte das Gefühl, innerlich zu verbrennen. Eins war mir schlagartig klar: Das war keine Sonnenallergie! Mike wurde immer hektischer, lief das Zimmer auf und ab.
Plötzlich wurde ich von heftigen Krämpfen geschüttelt, mein Körper begann wild zu zucken. Ich wurde wie bei einem elektrischen Stromschlag in die Luft katapultiert und prallte heftig wieder zurück aufs Bett. Ich hatte meinen Körper nicht mehr unter Kontrolle. Diese Krämpfe bekam ich nun in regelmäßigen, immer kürzer auftretenden Abständen. Bei diesem Anblick verlor Mike endgültig die Fassung.
„Was soll ich bloß tun, lieber Gott, was soll ich bloß tun?“, murmelte er immer wieder vor sich hin und vergrub die Hände in seinen Haaren. Ich dachte mir nur, dass ich nun kühlen Kopf bewahren musste, und gab ihm kurze, klare Anweisungen.
„Hol mir die Cola-Dosen aus der Minibar und leg sie mir auf die Brust!“
Es war das Einzige, das mir in den Sinn kam, die Hitze zu kühlen. Eis hatten wir keines. Wie ein Roboter folgte Mike meinen Anweisungen. Dann kniete er sich neben mein Bett und wimmerte nur noch vor sich hin. Irgendwann mussten wir beide wohl eingeschlafen sein. Die ersten Strahlen der Sonne weckten mich.
„Du musst mich zum Arzt bringen“, weckte ich Mike.
Eilig stürzte er sich in seine Shorts und in ein T-Shirt und organisierte eine Überfahrt mit dem Boot zur Hauptinsel Male. Hier auf unserer Insel gab es keinen Arzt. Sie war ja so klein, dass man sie gut in einer Viertelstunde zu Fuß erkunden konnte. Ich kam mir wie eine alte Frau vor, als mich Mike stützen musste. Das Fieber hatte meine Beine zu einem wabbligen Brei gemacht.
Ich hatte mir das einzige langarmige Shirt, das ich überhaupt dabeihatte, übergezogen und ein Tuch um meine Beine gewickelt. In die Hose konnte ich mittlerweile nicht mehr steigen, da sich die Blasen bis dahin ausgebreitet hatten und schmerzten, als ich die Jeans anziehen wollte. Das gefälschte Hermès-Tuch, ein Schnäppchen aus Bangkok, zog ich mir über den Kopf und versteckte mein Gesicht, um die mitfahrenden Passagiere nicht zu erschrecken. Dass ich das Tuch als Gesichtsschleier brauchen würde, hätte ich mir einige Tage zuvor, als ich den Händler mit meinem hartnäckigen Feilschen fast in den Wahnsinn getrieben hatte, nicht vorstellen können.
Die Leute auf dem Boot bemühten sich angestrengt, mich nicht dauernd anzustarren und versuchten krampfhaft, ihre Heiterkeit zu bewahren und ließen sich über das schöne Wetter aus. Die Stimmung auf dem Boot blieb beklemmend.
In Male angekommen, machten wir uns sofort zum einzigen diensthabenden Arzt auf. Zum Glück war es ein Schweizer. Ich war selten so froh gewesen, schweizerische Klänge zu vernehmen, als er uns mit einem herzlichen „Grüezi“ begrüßte. Ich hatte mir schon ausgemalt, wie ich auf Englisch erklären sollte, was mir fehlte. Obwohl ich der englischen Sprache mächtig bin, fehlen dann oft im entscheidenden Augenblick die richtigen Worte. Doch allzu vieler Worte bedurfte es wohl gar nicht, denn mein Aussehen und Zustand sprachen Bände.
Der Arzt vermutete, dass es sich um eine toxische fotosynthetische Reaktion, ausgelöst durch das starke UV-Licht auf den Malediven, handelte. Er verabreichte mir eine Kortison-Infusion. Obwohl der Arzt mit seiner Diagnose völlig danebenlag, wie sich später herausstellte, tat er das einzig Richtige, indem er mir stark dosiertes Kortison gab. Er erlegte mir ein striktes Sonnenverbot auf und meinte, dass sich das Ganze dann in paar Tagen wieder legen würde.
Dass ich, so wie ich aussah, mich nicht spaßeshalber in der Sonne rösten würde, verstand sich von selbst. Außerdem war ja für morgen unser Rückflug geplant. Also würde alles bald wieder in Butter sein. Zuversichtlich und erleichtert machten wir uns auf den Rückweg zur Insel. Dennoch konnte ich der Insel nichts Paradiesisches mehr abgewinnen. Das, was unser Sahnehäubchen der Reise hätte werden sollen, hatte einen ranzigen Beigeschmack bekommen.
4
Rückflug
Ich hasste dieses Gefühl, wenn man durch die starke Beschleunigung in den Sitz gedrückt wurde. Blupp, da war er, der Moment, in dem das Flugzeug den Kontakt zum Boden verlor und der Magen für eine Sekunde eine Etage tiefer rutschte. Mit einem Blick auf meine Hände realisierte ich, dass ich völlig verkrampft war. Die Knöchel an den Handgelenken standen weiß hervor, so krallte ich mich an der Sitzlehne fest.
Doch das hatte weniger mit dem Start des Flugzeugs als vielmehr mit der Tatsache zu tun, dass die Krämpfe, die gestern nach der Kortison-Infusion verschwunden waren, wieder einsetzten. Jetzt nur nicht die Nerven verlieren. Ich schloss die Augen und konzentrierte mich auf meinen Atem. Tief einatmen, lange ausatmen. Ich versuchte die aufkommenden Schmerzen wegzuatmen. Vergeblich! Die Zuckungen durchbebten meinen Körper.
Entsetzt schaute mich Mike mit weit geöffneten Augen fragend an. Ich nickte bloß, unfähig, auch nur ein Wort über meine Lippen zu bringen. Schlagartig setzte bei ihm wieder Panik ein. Er blickte sich nervös nach rechts und links um und begann die Nagelhäutchen an seinen Fingern zu bearbeiten. Das tat er immer, wenn er unter Druck geriet.
„Es geht schon“, versuchte ich ihn zu beruhigen und schloss meine Augen wieder. Die Frau, die neben Mike saß, hatte es sich bequem gemacht und lehnte sich mit dem Kopfkissen am Fenster an. Zum Glück bekam sie von allem nichts mit. Auf neugierige Zuschauer konnte ich jetzt nämlich verzichten.
„Was möchten Sie gerne trinken? Mineralwasser, Cola, Orangensaft …“
Das letzte Wort blieb der Flugbegleiterin beinah im Halse stecken. „Oh, mein Gott! Geht es Ihnen nicht gut?“
Unwillkürlich zuckte sie mit dem zuvor zu mir geneigten Oberkörper zurück. Sie versuchte ihre Stimme zu dämpfen, um nicht die Aufmerksamkeit der anderen Passagiere zu erregen. So verzweifelt, wie sie aussah, musste etwas mit mir nicht stimmen. Ich drehte meinen Kopf zu Mike, der vorher gedöst haben musste. Die zwei letzten Nächte hatten ihren Tribut gefordert.
„Du siehst … Du siehst ganz schrecklich aus“, rang er nach Worten.
Ohne ein Wort löste ich meinen Sitzgurt und drängte mich an der Stewardess Richtung Toilette vorbei. Ich öffnete die Tür und drehte mich sofort dem Spiegel zu, ohne mir die Zeit zu nehmen, die Tür zu verriegeln. Was mich da ansah, war nicht ich. Innerhalb kürzester Zeit hatte ich mich äußerlich in eine uralte Frau verwandelt. Mein ganzer Körper war mit Blasen übersät. Die Lippenkonturen verloren sich im Brei einer kraterigen Landschaft. Die verquollenen Augen waren zu Schlitzen verengt. Nichts war mehr von der sommerlichen Bräune zu sehen. Die Haut wirkte gräulich-violett, so, als wäre sie kurz vor dem Verfaulen.
Was war das? Wo war die schöne Frau, die sich vor einigen Tagen noch so zufrieden vor dem Spiegel gedreht hatte? So muss ein Aussätziger aussehen, schoss es mir durch den Kopf. Ich beugte mich vornüber, legte meine Unterarme neben das Waschbecken und ließ meinen Kopf darauf sinken. Die Kehle verkrampfte sich, drückte mir den Atem zu. Ich spürte die Enge der Bordtoilette, hatte das Gefühl, die Wände rückten immer näher zusammen.
Nein, das konnte alles nicht wahr sein. Wenn ich jetzt bis zehn zählte und mich ganz beruhigte, war vielleicht alles wieder vorbei. Wie ein böser Traum, aus dem ich schweißgebadet aufwachte. In verzweifelter Hoffnung hob ich den Blick Richtung Spiegel. Unverändert schaute mich dieses hässliche Etwas an, zu dem ich emotional keinen Zugang finden konnte.
Ich beschloss, es einfach zu ignorieren, mich von meinem Äußeren zu trennen, mich auf mein Inneres zu konzentrieren. Ob ich wollte oder nicht, ich konnte nicht ewig auf der Toilette bleiben. Ich musste zu meinem Platz zurück. Ich atmete noch einmal tief durch und drückte die Tür entschlossen auf.
Erhobenen Hauptes durchschritt ich den Gang, ohne nach rechts oder links zu blicken.
Aus den Augenwinkeln heraus registrierte ich die Reaktionen der Passagiere. Entsetzt rissen sie die Augen auf, schlugen die Hände vor den Mund und tuschelten aufgeregt mit ihren Nachbarn. Ich konnte ihre Blicke spüren, die meinen Rücken wie spitze Dolche zu durchbohren schienen. Es war ein regelrechter Spießrutenlauf. Ich setzte mich auf meinen Platz und starrte geradeaus. Im selben Augenblick hörte ich, wie der Pilot nach einem Arzt an Bord ausrief.
„Ich bin Ärztin“, vernahm ich eine leise, aber warme Stimme mit französischem Akzent.
Die Frau, die direkt neben mir auf der anderen Seite des Ganges saß, hatte sich erhoben und war neben mir in die Hocke gegangen. Schön, dachte ich, eine Ärztin aus Frankreich. Ich liebe Frankreich! Und dann saß sie direkt neben mir. Ich schaute ihr in die Augen und entdeckte dort tiefes Verständnis und Ruhe. Sie sah mich anders an als die anderen im Flugzeug. Sie fühlte sich durch mein Äußeres nicht abgeschreckt. Sie betrachtete mich mit der nötigen sachlichen Distanziertheit, die ein Arzt an den Tag legt, wenn er einen Patienten untersucht. Für sie war ich einfach ein Mensch, der Hilfe brauchte. Hinter dieser Sachlichkeit spürte ich jedoch eine tiefe Wärme und Verständnis.
Ich fasste sofort Vertrauen zu ihr, konzentrierte mich nur noch auf sie und blendete alle anderen Passagiere, alles um mich herum, aus. Sie war jetzt für mich da, alles würde gut werden. Ich merkte, wie ich innerlich ganz ruhig wurde. Den Mann, der neben ihr auftauchte, nahm ich kaum wahr. Es war ein weiterer Arzt aus der Schweiz, der seine Hilfe anbot. Die Ärztin stellte mir einige Fragen und bat mich, die Zunge herauszustrecken.
„Sie haben Blasen auf der Zunge und im Rachenraum. Haben Sie Atemprobleme?“, wollte sie wissen.
„Ein bisschen“, antwortete ich mit kratziger Stimme, „aber es geht.“
Die beiden Ärzte streckten ihre Köpfe zusammen, um sich über das weitere Vorgehen zu einigen. Die französische Ärztin erklärte sich bereit, mir intravenös Kortison zu spritzen, sollte sich mein Zustand verschlimmern und die immer größer werdenden Blasen meine Atemwege verschließen. Der andere Arzt weigerte sich, ihm sei das Risiko zu groß. Er hielt es für zu gefährlich unter den Druckverhältnissen, die in einem Flugzeug herrschen.
„Ich werde es tun, wenn es nötig ist.“ Mitfühlend legte sie mir die Hand auf die Schulter.
„Ich werde es nicht brauchen“, meinte ich nur. Ich war davon überzeugt, dass ich einfach nur diesen Flug zu überstehen bräuchte und alles würde dann wieder gut. Nur diesen Flug überstehen, wiederholte ich innerlich wie ein Mantra, nur diesen Flug überstehen, dann wird alles gut.
An den Rest des Fluges erinnere ich mich kaum noch. Irgendwann sind wir in der Schweiz gelandet. Ich musste mich von Mike trennen. Während er die Zollkontrolle passieren musste und unser Gepäck holte, schleuste man mich an den Zollformalitäten vorbei. Ein Mann wartete auf mich, er sollte mich nach draußen begleiten.
Als er mich erblickte, fing er an zu fluchen: „Herrgott noch einmal! Man hat mir gesagt, es sei eine Allergie! Das ist doch keine Allergie, Herrgott noch einmal! Wenn ich das gewusst hätte, hätte ich einen Krankenwagen gerufen. Was machen wir denn nun? Heilige Scheiße! Am besten, ich setze Sie in ein Taxi zum Unispital. Wenn ich die Ambulanz anrufe, dauert das noch länger.“
Er führte mich durch ein wirres Ganglabyrinth nach draußen. In der Eingangshalle erblickte ich die Mutter von Mike. Sie schaute mich an, schien mich aber nicht zu erkennen.
„Gertrud“, sprach ich sie an.
Ihr Atem stockte, die Augen weiteten sich und gleichzeitig blickte sie suchend hinter mich. Ihre Panik war förmlich greifbar.