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Buch

Ein Serienmörder macht New York unsicher. Man nennt ihn den »Rätselmacher«, denn er scheint von Wortspielen besessen zu sein und gibt der Polizei eine Reihe von grausigen Rätseln auf, bei denen er einzelne Körperteile seiner Opfer als Lösungshinweise hinterlässt. Doch die ermittelnden Behörden tappen im Dunkeln.

Die junge forensische Psychiaterin Dr. Claire Waters befindet sich im zweiten Jahr ihrer Ausbildung am Manhattan State University Hospital. Als sie mit eigenen Augen mit ansieht, wie eine ihrer Patientinnen vor dem Krankenhaus entführt wird, glaubt ihr die Polizei nicht. Claire wendet sich an den einzigen Mann, von dem sie weiß, dass er ihr helfen wird: Detective Nick Lawler von der New Yorker Polizei – der die Morde des »Rätselmachers« aufmerksam mitverfolgt …

Autor

Neal Baer studierte Politikwissenschaft, verbrachte ein Jahr als Stipendiat im Fach Regie am American Film Institute und promovierte 1996 an der Harvard Medical School. Der gebürtige New Yorker Jonathan Greene studierte Politikwissenschaft und arbeitete als Fernsehjournalist und Drehbuchautor. Die beiden Autoren lernten sich am Set der erfolgreichen US-Krimiserie Law and Order kennen, für die sie elf Jahre lang als Produktionsleiter arbeiteten und die unter ihrer Führung vielfach ausgezeichnet wurde, u. a. mit mehreren Emmys und einem Golden Globe. Neal Baer und Jonathan Greene leben mit ihren Familien in Los Angeles.

Von Neal Baer & Jonathan Greene bei Blanvalet bereits erschienen:

Beuteschema (978-3-641-08503-2)

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Neal Baer

Jonathan Greene

Der Rätselmacher

Roman

Aus dem Englischen von Fred Kinzel

Die amerikanische Originalausgabe erscheint 2015

unter dem Titel »Kill Again«

bei Kensington Books, New York.

1. Auflage

Taschenbuchausgabe April 2015 bei Blanvalet,

einem Unternehmen der Verlagsgruppe

Random House GmbH, München

Copyright © der Originalausgabe 2015

by Neal Baer und Jonathan Greene

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2015

by Blanvalet in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Umschlaggestaltung und -motiv: www.buerosued.de

Redaktion: Sabine Thiele

ES · Herstellung: sam

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN: 978-3-641-14373-2

www.blanvalet.de

Prolog

Die Einzimmerwohnung im Souterrain eines Backsteinhauses hatte die Form eines vollkommenen Quadrats und verfügte über einen eigenen Eingang. Ein großer, karg möblierter, spiegelloser Raum. Ein zufälliger Besucher sähe als Erstes das Fußende eines IKEA-Betts mit weißem Rahmen, das sorgfältig in die linke hintere Ecke des Apartments gezwängt war und so stand, dass der im Bett Liegende nur den Kopf heben musste, um die Eingangstür zu sehen. Auf der anderen Seite des Betts fügte sich nahtlos eine fleckenlose Kiefernkommode an, die Schubladen zeigten nach vorn und bildeten einen perfekten Neunzig-Grad-Winkel mit der Rückwand und dem Kopfende des Betts. Auf den ersten Blick mochte es vielleicht wie ein vager Feng-Shui-Versuch wirken. Doch die Person, die hier lebte, war an solchen Torheiten nicht interessiert.

Ginge man ein wenig weiter in den Raum hinein, sähe man gegenüber vom Bett rechts die kleine Keramikspüle und den Gasherd mit den zwei Kochstellen, die zusammen die Küche bildeten. Man würde vielleicht auch bemerken, dass alles makellos sauber ist, als würde jeder Quadratzentimeter täglich eingesprüht, gespült und gewischt. Das Badezimmer blitzte, als würde es nach jeder Benutzung geschrubbt. Es enthielt nur eine Toilette und eine jener Dusche-Wannen-Einheiten aus Fiberglas, die fraglos die gusseiserne Klauenfußwanne ersetzte, die der Erbauer des Backsteinhauses ursprünglich installieren ließ. Für den Mieter roch die Anwesenheit dieses Dings an einem solchen Ort nach der überstürzten Tat eines geizigen Pfuschers, eine ins Auge springende Unvollkommenheit an einem ansonsten für seine Bedürfnisse perfekten Ort. Doch im Augenblick war das nur eine zusätzliche Sünde, begangen von einem weiteren Sünder in einer Welt, in der es von beidem zu viele gab. Er musste sich um wichtigere Dinge kümmern.

Neben dem Bad war die Tür zum einzigen Schrank der Wohnung, der beim Öffnen so bescheiden wie die Schränke in den meisten Vorkriegsbauten aussah. Alle Kleidungsstücke hingen an Kleiderbügeln derselben, aus hellem Holz gefertigten Art, der Abstand zwischen den Bügeln war jeweils gleich groß. Die Garderobe des Mieters bestand aus säuberlich gebügelten weißen Oxford-Hemden, Khakihosen und einem schwarzen Anzug. Nahm man dazu die Schlichtheit der Möblierung, mochte man auf einen Bewohner schließen, dem es nach Einfachheit verlangte, der sich nicht dem zusätzlichen Druck aussetzen wollte, jeden Tag zu entscheiden, was er anziehen sollte. Der sich keinen Deut um weltliche Besitztümer oder leibliche Genüsse scherte.

Und man läge richtig. Denn was ihn interessierte – und zuweilen in den Wahnsinn trieb –, waren die Gedanken, die ihm durch den Kopf gingen.

Er hatte das Apartment unter der Bedingung genommen, dass der Vermieter es nicht ohne Vorankündigung von einem Tag betrat. Er bestand sogar darauf, diese Bedingung in den Vertrag aufzunehmen, was den Vermieter natürlich sofort misstrauisch machte – bis er diesem, ohne mit der Wimper zu zucken, drei Monatsmieten im Voraus und zwei als Kaution in die Hand drückte. Das wiederum ließ den Vermieter sofort seine Unterschrift unter den Mietvertrag setzen und gewährleistete, dass die Bestimmung des Mieters hinsichtlich neugieriger, unerwünschter Blicke respektiert wurde.

Er baute darauf. Er musste es. Denn wer würde schon einen erwachsenen Menschen verstehen, der Worte an die Wand schrieb? Die Polizei hatte beschriftete Wände in der Wohnung von David Berkowitz, dem berüchtigten Serienmörder »Son of Sam« gefunden – und sie verstanden es nicht.

Kein Polizist würde seine Schriften jemals zu Gesicht bekommen. Zumindest nicht, solange er lebte. Dessen war er sich sicher. Er schwor sich, das hier, seine Schöpfung, um jeden Preis zu schützen. Selbst wenn er sie dafür übermalen musste.

Jetzt, allein in seinem Heiligtum, beendete er den jüngsten Beitrag zu seinem Werk und schnüffelte noch einmal an seinem schwarzen Magic Marker, ehe er die Kappe daraufsetzte. Er liebte den berauschenden Geruch. Er hatte als Kind Magic Marker gesammelt und besaß einen in jeder Farbe: braun, blau, rot, orange, purpurn, grün – sogar gelb. Der gelbe war seine Trophäe. Er sah nie jemanden einen gelben Magic Marker benutzen. Eines Tages hatte seine Mutter sie dann weggeschmissen, weil er »scheußliche, kranke, perverse« Bilder an die Wand seines Zimmers gezeichnet hatte. Er lächelte, wenn er daran dachte. Er hatte den gelben Marker für ihre Geschlechtsteile benutzt. Seine Mutter übermalte die Bilder der Frauen, die er angefertigt hatte, als er zwölf war, denn Magic Marker lässt sich nicht abwaschen.

»Es ist auf Dauer«, dachte er und trat einen Schritt zurück, um sein Werk zu bewundern. Er fügte zwei Worte, »KAEMPFE CHORIST«, zu den Dutzenden von Wortpaaren hinzu, die er bereits fein säuberlich, eins über dem andern, an die Wand geschrieben hatte. Er blickte lächelnd auf »EMPORE FAKTISCH«, »KOREA SCHIMPFTE« und »KASCHMIR TOEPFE«, ganz oben auf der Liste. Auch wenn die Wortkombinationen anderen sinnlos erschienen wären, beruhigten sie ihn, denn nur er kannte ihre Bedeutung.

Denn sie ergaben einen Sinn, oder nicht? Schließlich war es das Alphabet selbst, das keinen Sinn ergab. Es war nur eine lange Reihe von Buchstaben, die darauf warteten, dass sie zu Worten, Sätzen und Gedanken wurden. Einzelne Buchstaben konnten gepaart werden, man konnte wie bei einem köstlichen Rezept weitere Buchstaben hinzugeben, um Worte zu bilden. Er liebte es auch zu kochen, verschiedene Zutaten zusammenzufügen, um einen schmackhaften Eintopf oder einen Auflauf mit zarter Kruste zu machen. Genau wie bei den Buchstaben des Alphabets waren die Zutaten allein unbefriedigend. Aber die richtige Kombination von Buchstaben oder Zutaten brachte Ordnung ins Chaos seines Lebens. Die Worte an seiner Wand oder das Zimtaroma des Apple Pies, den er vorhin gebacken hatte, beruhigten seinen Verstand und brachten vorübergehend noch mehr Perfektion in eine im Werden begriffene makellose Welt, die er selbst erschuf.

Ordnung. Perfektion. Makellosigkeit. Er dachte, wie so oft, über diese Worte nach, denn sie waren genau das, wonach er in der Zufälligkeit seines Lebens strebte und was er aus dem einen oder anderem Grund nie zu fassen bekommen hatte.

Bis jetzt.

Er griff nach seinem gelben Lieblingsmarker, schrieb zwei Worte über die anderen Paare und umrandete die Buchstaben mit Braun, sodass sie im Schein der einen nackten Glühbirne, die den Raum erhellte, beinahe wie Gold leuchteten. ASTHMA EINTRAG.

Dann wandte er sich der Wand links zu, der, von der eines Tages alle reden würden, wie er wusste. Wieder bewunderte er sein Werk: ein Gitter aus penibel gezeichneten Kästchen, hoch und quer angeordnet wie ein leeres Kreuzworträtsel. Mithilfe eines Lineals und eines schwarzen Markers beendete er säuberlich das letzte Kästchen in der unteren rechten Ecke. Er hatte länger auf diesen Tag gewartet, als ihm bewusst gewesen war. Wenn das Gitter voll mit diesen wahllosen, endlich zu Worten geordneten Buchstaben war, würde es sein Meisterwerk sein. Das Werk seines Lebens, abgeschlossen. Und er wusste, mit diesen letzten Strichen des Magic Markers war es Zeit anzufangen.

Er durchquerte das Zimmer zu seiner kleinen Küche und hob ein braunes Kuvert auf, das er auf dem Herd abgelegt hatte. Er machte den Gasbrenner an und sah die blauen und gelben Flammen vor seinen Augen tanzen und ihn locken. Er öffnete das Kuvert und schüttete den Inhalt in seine Hand: perfekt ausgeschnittene, einen Zentimeter große Quadrate eines Fotos, die er dann über die Flamme warf. Das Feuer züngelte an den Papierstücken, ein Auge, eine Oberlippe, eine Nase, und verzehrte sie, bis nichts als ein Häufchen grauer Asche übrig war.

Zufrieden schaltete er den Brenner aus und holte zwei große Töpfe aus einem Unterschrank. Dann entnahm er einer Schublade ein zusammengerolltes Stück Stoff, aus dem die Griffe von Messern, einem Hackbeil und einer großen Schere ragten. Aus dem obersten Fach des Schranks zog er einen Schlafsack, ein kleines Leinenzelt und eine Luftmatratze, alles ordentlich zusammengefaltet. Er war immer gern draußen gewesen, und heute Nacht würde er unter den Sternen schlafen.

Nachdem er beendet hatte, was er tun musste. Und was ihn, wie er zweifelsfrei wusste, von der unerträglichen Angst befreien würde, die er sein ganzes Leben lang gespürt hatte.

Für immer befreien.

1

Claire Waters setzte sich kerzengerade im Bett auf und legte eine Hand auf den Mund, um einen Schrei zu unterdrücken. Mit der anderen Hand riss sie gleichzeitig die himmelblaue Steppdecke von sich. Claire liebte diese Jahreszeit in New York: Anfang Mai, noch kühl in den Nächten, besonders kurz vor Sonnenaufgang. Wenn man den pausenlosen Lärm von der Straße unten in der Stadt, die niemals schlief, ausblenden konnte, war es das perfekte Wetter, um bei offenem Fenster zu schlafen, zumindest für sie. Soweit sie sich erinnern konnte, hatte Claire selbst in den eiskalten Wintern ihrer Kindheit in Rochester lieber in wenig beheizten Räumen geschlafen. Schließlich konnte man noch mehr Decken auf sich türmen, so ihre Überlegung, wenn es zu kalt war. Aber man konnte sich nicht die Haut vom Leib reißen, wenn es zu warm war.

Was Claire in diesem Augenblick am liebsten getan hätte. Sie schwitzte heftig. Ihre Albträume kamen jetzt häufiger. Und dieser – ein Mann im Halbdunkel, der ein Messer in der Hand hatte und Claire genau in dem Moment ansprang, in dem sie aufwachte – war der bisher lebhafteste gewesen.

Sie versuchte das Angstgefühl abzuschütteln, doch ihr hämmerndes Herz wollte sich nicht beruhigen. Sie streckte die Hand nach der Schublade mit der Flasche Xanax in ihrem Nachttisch aus, überlegte es sich jedoch anders. Wenn die Angst morgen Nacht, übermorgen Nacht und die Nacht danach wiederkam, was dann? Jedes Mal Xanax einwerfen, bis sie verging? Eine Benzodiazepin-Abhängigkeit konnte sie überhaupt nicht brauchen, die Substanz gehörte zu den am stärksten süchtig machenden. Die Albträume waren höllisch genug, aber ein Benzo-Entzug konnte einen umbringen. Buchstäblich.

Dennoch, als die Angst anhielt, überlegte sie noch einmal. Und noch einmal. Sie versuchte im Kopf nachzuzählen, wie viele Tage hintereinander sie nach einer dieser Episoden eine Tablette genommen hatte, und als sie es nicht mehr rekapitulieren konnte, wurde ihr klar, dass es bereits zu lange gewesen war. Lange genug, dass sie wahrscheinlich nicht nur ihre Zulassung als forensische Psychiaterin, sondern generell ihre ärztliche Zulassung verlieren würde, wenn sie einem Patienten dazu riete, das zu tun, was sie getan hatte.

Arzt, heile dich selbst. Ja, klar. Die Verfasser der Bibel hatten nie Benzos genommen.

So ungern sie es sich eingestand, Claire begriff, dass sie dem Rat folgen musste, den sie einem Patienten geben würde.

Sie musste darüber sprechen.

Sie musste es fühlen.

Doch in Claire war nur Leere. Nichts.

Fühlen ist noch zu schmerzhaft, dachte sie. Und dann kam der Gedanke, der unweigerlich folgte: Sie hatte genügend seelischen Schmerz für mehrere Leben erlitten.

Also tat sie, was sie immer getan hatte, wenn ihre Gefühle ihren Verstand überholten: Sie machte dicht. Sie übertönte sie. Mit weißem Rauschen und anderen Geräuschen.

Sie nahm ihren iPod, setzte die Ohrstöpsel ein und ließ Led Zeppelins »Stairway to Heaven« so laut aus ihnen dröhnen, wie sie es aushielt. Musik war immer Claires Therapie gewesen, vor allem in den schlimmsten Zeiten, von denen sie im vergangenen Jahr mehr als genug gehabt hatte.

Sofort begann die sanfte Gitarrenmelodie ihre Spannung zu lösen, auf ihre Art auch eine Droge, und Claire bemühte sich, den anderen Teil ihres Bewusstseins zu ignorieren, der ihr erzählen wollte, auch die Musik sei nur eine vorübergehende Lösung. Als wissenschaftliche Forscherin wusste sie, dass es in ihrem Gehirn, in der Amygdala, der primitivsten neurologischen Struktur, einen Schalter gab, der auf Gefahr reagierte. Wenn sie in den Abgrund zu trudeln begann, nahm ihre Amygdala eine tödliche Bedrohung wahr. Aber welche? Sie hatte die Albträume seit ihrer Kindheit. Sie hatte sie schon vor den beiden Traumata gehabt, die ihr Leben bis jetzt bestimmt hatten. Sie waren drei Monate nach den Schrecknissen des letzten Jahres vergangen. Und obwohl Claire seitdem kontinuierlich Fortschritte gemacht hatte, waren sie vor zwei Wochen plötzlich wieder zurückgekommen. Warum?

Claire schloss die Augen und hoffte, der hämmernde Rhythmus der Bridge in dem Song von Led Zeppelin würde über ihre Gedanken siegen. Doch nicht einmal die Musik konnte die Sirene eines Rettungswagens übertönen, der achtunddreißig Stockwerke tiefer über die Second Avenue raste. Die Ablenkung war nur kurz; als der Lärm abebbte, verlor sie sich in der letzten Minute des Songs. Erst als Robert Plants A-cappella-Finale verklungen war, spähte sie durch die kaum geöffneten Lider und sah das erste Morgenlicht durch ihre weißen Vorhänge dringen, die leicht im Frühlingswind flatterten. Sie blickte auf die fantastische Stadtlandschaft hinaus und sah nur Schönheit. Keine Gefahr, keine Dämonen. Nichts, was ihr etwas antun könnte.

Sie warf einen Blick auf die Uhr auf dem Nachttisch. 5.29 Uhr. Perfekt. Sie stellte zur Vorsicht jeden Abend den Wecker, aber sie wachte immer ein paar Minuten vorher auf. Selbst nach diesen scheinbar endlosen Dreißigstunden-Schichten im Praktikum und als Assistenzärztin, wenn sie völlig übermüdet nach Hause gekommen und ohne zu essen ins Bett gefallen war.

Jetzt schwang sie die Beine aus dem Bett, machte den iPod aus und nahm die Kopfhörer heraus, dann schaltete sie das Licht ein. Kommode, Nachttisch und Kopfteil ihres breiten Betts waren aus hellem Holz und Laminat, gekauft in einem dieser großen Möbelhäuser, wo man das Mobiliar für jeden einzelnen Raum seiner Wohnung aussuchen kann, und am nächsten Tag ist man komplett eingerichtet. Wie sie es immer machte, wenn sie nicht in Eile war, nahm sie ihre neue Umgebung in Augenschein. Parkettböden, rechtwinklige Räume, eine durchschnittliche Zweizimmerwohnung in einem modernen Glasturm. So nichtssagend, wie es in Manhattan sein konnte.

Vielleicht so nichtssagend, wie Claire selbst im Augenblick sein wollte.

Sie sah zu dem gerahmten Foto ihres Verlobten Ian, neben dem sie jeden Morgen aufwachte und das auf dem Nachttisch hinter dem Wecker stand. Ihre gemeinsame Wohnung war gemütlich eingerichtet gewesen, mit Antiquitäten und Erinnerungsstücken, die Claire größtenteils verkauft oder verschenkt hatte.

»Kannst du dir vorstellen, dass ich tatsächlich in so einer Wohnung lebe?«, sagte Claire zu dem Foto.

Als könnte er ihr irgendwie antworten.

Claire duschte und bürstete das schulterlange braune Haar (keine Zeit zum Fönen), dann zog sie ein elegantes, dunkelblaues Kostüm von Donna Karan, eine weiße Bluse und ein Paar schwarze Pumps von Louboutin aus ihrem Schrank. Vor einem Jahr, als sie mit dem Forschungsstipendium in forensischer Psychiatrie am Manhattan State University Hospital begann, war es ihr unvorstellbar erschienen, diese »Verkleidung« jeden Tag zu tragen. Sie war von Forschungsarbeit in einem Labor des National Institute of Health gekommen, wo es keinen Menschen interessierte, was man unter dem weißen Mantel trug. Damals war sie bevorzugt in bequemen Jeans und Turnschuhen herumgelaufen. Aber als sie am zweiten Tag ihres Stipendiums erneut in diesem Aufzug auftauchte, hatte ihr früherer Mentor sie vor den Kollegen lächerlich gemacht. Forensische Psychiater standen über den Dingen und sollten besser so aussehen. Widerstrebend hatte sie einige Kostüme und Schuhe gekauft, die sie sich kaum leisten konnte. Und es gehasst.

Aber das war, bevor die Probleme anfingen. In den Monaten seit ihrer Rückkehr in das Programm nach einer dringend benötigten Auszeit hatte sie ihren Kleiderschrank mit Kostümen, Schuhen und Halstüchern gefüllt. Und es tatsächlich genossen, das alles zu tragen. Sie ertappte sich ständig bei Überlegungen, ob dieses plötzliche Verlangen nach Mode ihre Art war, die Leere in ihrem Leben mit materiellen Belohnungen zu füllen. Dann verwarf sie den Gedanken wieder, gönnte sich eine Pause von ihren inneren Zweifeln und sagte sich, es käme nur darauf an, dass sie sich gut fühlte, wenn sie gut aussah.

Sie machte sich weiter fertig und wollte gerade in ihre Schuhe schlüpfen, als ihr der Gast einfiel, der im anderen Zimmer schlief. Das Klappern der Absätze auf dem Parkettboden würde ihn zweifellos wecken.

Sie nahm die Pumps in die Hand und zog vorsichtig die Schlafzimmertür auf, dann schlich sie lautlos zur Wohnungstür. Sie nahm ihre Handtasche von Coach und die braune Aktentasche aus weichem Leder und warf einen raschen Blick ins Wohnzimmer. Der Anblick des Mannes, der auf dem Sofa schlief, ließ sie das erste Mal an diesem Tag lächeln. Ihr Vater.

Frank Waters hatte angefangen, mehr Zeit mit seiner Tochter zu verbringen, nachdem sie im Herbst zuvor für eine Beurlaubung von ihrem Forschungsstipendium nach Hause nach Rochester, New York zurückgekehrt war. Frank, ein Spezialist für Fiberoptik, hatte sich zu diesem Zeitpunkt bis zum Vice President seiner Firma hochgearbeitet, die Computernetzwerke und die dazugehörigen Geräte baute. Seine neue Position ermöglichte ihm, das Büro tagsüber für ein spätes Frühstück oder ein frühes Mittagessen mit seiner Tochter zu verlassen, und Claire genoss es, Zeit mit dem Vater zu verbringen, den sie als Kind kaum zu Gesicht bekommen hatte, und ihn in einer Weise kennen zu lernen, von der sie immer geträumt hatte.

Nachdem Claire zwei Monate lang zu Hause herumgesessen war, überraschten ihre Eltern sie mit einer vierwöchigen Europareise, weil sie dachten, diese würde ihr helfen. Doch Claire, die sich nur zu gern wieder ins Nest flüchtete und sich umsorgen ließ, war noch nicht so weit, sich um sich selbst zu kümmern. Sie wollte nicht einmal nach New York und zu ihrem Stipendium zurück. So luxuriös es sich anhörte, sie hatte kein Verlangen, allein durch Europa zu reisen, sie befürchtete, ohne die verstorbene Liebe ihres Lebens würde sie sich nur umso leerer fühlen.

Frank redete seiner einzigen Tochter freundlich zu und erinnerte sie daran, dass sie viele Gelegenheiten zu reisen gehabt und jede einzelne zugunsten ihres Lernpensums am College und im Medizinstudium abgelehnt hatte, und danach hatte sie als Assistenzärztin und in zwei aufeinanderfolgenden Stipendien gearbeitet. Später würde sie ohne Frage eine Praxis aufmachen und eine neue Ausrede haben. Sie hatte eine Pause verdient, vor allem nach der Tragödie des letzten Jahres. Wenn nicht jetzt, wann dann?

Claire wusste, dass ihre Eltern einen gewissen Mangel an Aufmerksamkeit während ihrer Kindheit wiedergutzumachen versuchten. Es war eine überaus großzügige Geste, und sie hasste es, undankbar zu erscheinen, aber so gut ihr Vater ihr auch zuredete, sie lehnte ab.

Also hatte Frank zu Plan B greifen müssen.

»Tja, dann werden wir wohl einfach alle zusammen fahren müssen«, hatte er schalkhaft lächelnd gesagt und zwei weitere Tickets hervorgezogen. Claire war in Tränen ausgebrochen.

Freudentränen. Die erste Freude, die sie seit langer, langer Zeit empfand.

Sie waren zwei Tage später aufgebrochen und nach Berlin geflogen, um einen Monat lang durch Deutschland, Österreich, Italien und Frankreich zu reisen, mit Paris als letzter Station. Weder Claire noch ihre Eltern waren je an einem dieser Orte gewesen, und sie gemeinsam zu entdecken war die wunderbarste Zeit ihres Lebens.

Als der Jumbo Jet der Air France auf Bostons Logan Airport aufsetzte, fühlte Claire eine Ruhe wie noch nie. Als hätte sie endlich begonnen, Frieden mit der Dunkelheit zu schließen – oder aus ihr aufzutauchen, je nachdem, wie man es sehen wollte –, die das Trauma des letzten Jahrs verursacht hatte. Ihr wurde klar, dass ihre Furcht vor der Reise auch mit der Aussicht zu tun gehabt hatte, von Rochester über New York und zurück zu fliegen. Schon der Gedanke, auch nur auf dem Kennedy Airport umzusteigen, war mehr, als sie glaubte ertragen zu können. Ihr Vater hatte das jedoch klugerweise vorausgesehen und beide Flüge über Boston geplant.

Doch selbst Frank hatte nicht mit dem gerechnet, was am nächsten Morgen zu Hause in Rochester geschah. Er kochte gerade in der Küche Kaffee, als Claire nach einer trotz Jetlag durchgeschlafenen Nacht munterer denn je hereinspazierte und verkündete, es sei Zeit, nach Manhattan zurückzukehren und ihr altes Leben wiederaufzunehmen.

»Ich kann nicht ewig hierbleiben und mich bei euch durchschnorren«, sagte sie lachend. »Und außerdem, wie sollte ich hier oben einen Zeitvertreib finden, der den letzten Monat noch übertrifft?«

Es war ein Wendepunkt. Kein einziges Mal hatten Frank und Mona auch nur angedeutet, Claire solle darüber nachdenken, wieder zur Arbeit zu gehen; sie hatten sehr gut gewusst, dass der Wunsch von ihr kommen musste. Ohne Zögern stand Frank auf, umarmte Claire und sagte ihr, wie stolz er auf sie sei. Und dass es trotz der Gründe, die sie nach Hause geführt hatten, das größte Geschenk seines Lebens sei, sie hier zu haben und Zeit mit ihr verbringen zu dürfen.

»Meins auch«, hatte Claire erwidert, und ihre Augen hatten sich mit Tränen gefüllt.

»Lass uns einen Zeitplan ausarbeiten«, sagte Frank, nahm sein iPad von der Küchentheke und öffnete Notepad.

Claire sah ihrem Vater über die Schulter, während er tippte, und lächelte. Das war Frank Waters, wie er leibte und lebte. Immer vorwärts orientiert. Immer im Begriff, Dinge zu planen.

Es begann damit, dass Claire ihre neue und künftige Mentorin Dr. Lois Fairborn anrief. Sie hatten seit vielen Monaten nicht miteinander gesprochen, und als Fairborn sich in ihrem Büro meldete, hätte sie nicht erfreuter sein können.

»Meine Liebe!«, hatte sie ausgerufen. Sie benutzte ständig Koseworte. »Bitte sagen Sie mir, dass Sie zurückkommen.«

»Ich glaube, ich bin bereit«, hatte Claire voll Zuversicht geantwortet. »Aber ich wollte mich vergewissern, dass es auch für das Programm am besten ist …«

»Etwas Besseres, als Sie hier zu haben, kann dem Programm nicht passieren«, hatte Fairborn eingeworfen und ihr versichert, sie werde ihrer herausragenden Studentin einen Platz freiräumen, wann immer Claire nach New York zurückzukommen gedachte.

Sie hatten noch ein wenig geplaudert, Claire hatte von ihrer Europareise erzählt, und sie hatten vereinbart, dass sie Montag in zwei Wochen wieder im Manhattan State erscheinen würde. Claire würde jede Sekunde Zeit bis dahin brauchen, um alles zu organisieren. Sie hatte die Wohnung, die sie sich mit Ian geteilt hatte, geräumt und fast alles darin verkauft oder weggeworfen, weshalb sie buchstäblich bei null anfing.

Dachte sie zumindest. Bis Frank erklärte, er habe nicht die Absicht, Claire allein nach New York zurückgehen zu lassen.

Vater und Tochter verließen Rochester am nächsten Morgen, einem Freitag, und legten die rund fünfhundert Kilometer nach Manhattan gemächlich mit dem Auto zurück, mit einer Rast unterwegs, um der Wochenend-Rushhour zu entgehen. Kurz vor zehn Uhr abends trafen sie in ihrer vorübergehenden Unterkunft ein: einer Dreizimmerwohnung, die der Firma gehörte, für die Frank arbeitete. Sie befand sich im zweiundzwanzigsten Stock eines Gebäudes aus den Siebzigern an der Columbus Avenue, mit halbrunden Balkonen, die einen prächtigen Westblick vom Lincoln Center auf der anderen Straßenseite bis zum Hudson River und New Jersey dahinter boten.

Sie hatten ausgeschlafen und sich am nächsten Morgen aufgemacht, um eine Wohnung in Manhattan zu suchen, was immer eine mühsame Aufgabe war. In Claires Fall musste es eine sein, die sie von dem mageren Gehalt eines medizinischen Fellows bezahlen konnte. Sie und ihr toter Verlobter Ian hatten sich die Miete für eine hübsche Genossenschaftswohnung in einem kleinen, sicheren Gebäude in Chelsea geteilt. Aber Claire wusste, für sich allein würde sie Abstriche machen müssen. Sie hoffte nur, sich nicht letzten Endes mit einem Einzimmerapartment begnügen zu müssen.

Deshalb war sie schockiert, als sie – nachdem sie sich bei Daniel’s in der Third Avenue Bagels geholt hatten – die 40th Street zum East River entlanggingen und Frank unmittelbar hinter der altehrwürdigen Feuerwache in ein hohes, luxuriöses Gebäude mit Portier steuerte, wo es einem Schild am Eingang zufolge freie Wohnungen gab.

»Machst du Witze?«, flüsterte Claire, als der Portier sie einließ. »Das ist absolut nicht meine Liga.«

»Tu deinem alten Herrn den Gefallen, okay?«, erwiderte Frank leichthin und ging unbeirrt weiter. Claire folgte resigniert. Wie hätte sie sich weigern können?

Natürlich führte die für Vermietungen zuständige Managerin sie zur hübschesten Zweizimmerwohnung, die sie hatten. Im achtundzwanzigsten Stock, nach Osten, zur Second Avenue gelegen, mit Blick über den East River auf Long Island City und das restliche Queens dahinter. Und mit einem Balkon, von dem man den Blick genießen konnte, was Frank und Claire nun taten, während die Maklerin hinter ihnen im Wohnzimmer stand.

»Was meinst du?«, fragte Frank seine Tochter, lehnte sich an das Geländer und atmete einen tiefen Zug verschmutzte Stadtluft ein.

»Ich meine, dass du spinnst«, antwortete Claire.

»Und das ist ein medizinischer Ausdruck?«

»Du leidest unter Wahnvorstellungen. Ich verdiene in einem Monat nicht einmal so viel, wie diese Bude kostet.«

Was nicht ganz richtig war. Die Wohnung kostete viertausend im Monat, aber da die Eigentümer als Sonderangebot einen Monat mietfrei anboten, hätte sie nur etwa dreitausendsechshundert zahlen müssen. Nur.

Claire wollte der Maklerin schon für ihre Zeit danken und einen würdigen Abgang hinlegen, als sie Frank fragen hörte: »Wann kann sie einziehen?«

»Sofort, kommenden Monat«, erwiderte die Frau, die ebenso überrascht war wie Claire. Sie war schon lange im Geschäft und erkannte an der Körpersprache der Interessenten, ob diese eine Wohnung haben wollten oder nicht.

»Akzeptieren Sie eine zweite Unterschrift auf dem Mietvertrag?«, fragte Frank und klopfte seine Taschen nach dem Scheckbuch ab.

»Solange Ihre Kreditauskunft positiv ist, ja«, antwortete die Maklerin.

»Dad«, flehte Claire, »ich kann mir das trotzdem nicht leisten.«

Frank blieb unbeirrt und schrieb bereits einen Scheck aus. Die Augen der Maklerin wurden groß wie Untertassen, als sie den Betrag darauf sah. »Das sollte für die Kaution und ein halbes Jahr Miete im Voraus reichen«, versicherte Frank und klickte abschließend auf seinen Kugelschreiber.

Eine Stunde später, als alles geregelt und unterschrieben war, durchquerten sie die in Marmor gehaltene Eingangshalle des Gebäudes und traten auf die 40th Street hinaus. Claire schwamm noch der Kopf. Ihr Vater war immer ein so penibler, vorsichtiger Mensch gewesen, vor allem, wenn es um Geld ging. Jetzt, mit der vierwöchigen Europareise – die Zehntausende von Dollar gekostet haben musste – und dieser spontanen Demonstration von Großzügigkeit, wusste sie nicht, ob sie dankbar oder besorgt sein sollte. Als Psychiaterin fragte sie sich, was eine so plötzliche Veränderung von Franks Verhalten bewirkt hatte.

Und sie wusste nicht recht, wie sie es ansprechen sollte, aber sie musste es tun.

»Das hättest du nicht tun müssen, Dad«, begann sie und blickte stur geradeaus, während sie auf die Third Avenue zumarschierten.

Frank seinerseits bewegte sich mit der Selbstzufriedenheit eines Mannes, der eine überaus wichtige Sache erledigt hatte. Er sah seine Tochter nicht an, als er antwortete.

»Dein ganzes Leben, schon als Kind, hast du uns nie um etwas gebeten. Kein Spielzeug, kein Buch, nicht einen Cent. Gar nichts.«

Es war das erste Mal, dass er so etwas zu ihr sagte. Das Innenleben ihres Vaters war Claire immer ein Rätsel gewesen, denn er hatte über die Jahre nur sehr wenig davon enthüllt. Abgesehen von seiner Freundlichkeit und seiner Liebe zu seiner einzigen Tochter. Die für Claire nie in Frage stand, ganz im Gegensatz zu ihrer Mutter, die zwar nicht kalt zu ihr war, aber doch immer distanziert wirkte, was ihre Gefühle anging.

»Erzählst du mir das, oder willst du wissen, warum?«, fragte sie.

Frank fuhr fort, als hätte er sie nicht gehört. »Alles, was du erreicht hast, alles …« Er ließ den Satz ausklingen, als würde er mit sich selbst sprechen, und vielleicht tat er genau das. »Alles hast du immer allein geschafft.« In diesem Moment wurde ihm offenbar bewusst, dass sie direkt neben ihm war. Er blieb stehen und sah ihr in die Augen. »Als würdest du denken, dass wir …«

»Dass ihr was, Dad?«, fragte sie und mäßigte ihren etwas zu harschen, drängenden Ton. Warum? Warum jetzt?

Doch falls Frank beabsichtigt hatte, eine Art emotionale Bombe platzen zu lassen, überlegte er es sich plötzlich anders. »Wir haben so viel Geld für deine Ausbildung gespart«, sagte er. »Genug, um alles bezahlen zu können, ohne ein Darlehen aufnehmen zu müssen. Und du hast ein Stipendium nach dem anderen erhalten, sodass wir nie etwas davon verwenden mussten. Es liegt jetzt schon all die Jahre auf einem Treuhandkonto unter deinem Namen. Ich dachte einfach, es ist an der Zeit, dass wir etwas von dem Geld für einen sinnvollen Zweck einsetzen.«

Was Claire in diesem Moment irritierte, waren nicht die Worte ihres Vaters. Es war sein Gesichtsausdruck. Oder was sie zumindest in seinen Augen zu sehen glaubte. Fast als würde er sie anflehen, diese Erklärung zu akzeptieren und nicht weiter zu bohren.

Claire wollte unbedingt wissen, was er ihr nicht sagte. Aber er war so großzügig gewesen und schien sich so unwohl in seiner Haut zu fühlen, dass sie es nicht über sich brachte zu fragen. Frank musste das gespürt haben, denn plötzlich sprach er weiter.

»Es ist nur so, dass deine Mutter und ich … Wir wollen dir helfen, diese Geschichte durchzustehen …«

»Stopp, Dad«, sagte Claire leise. »Ich weiß nicht, wo ich im Augenblick emotional oder anderweitig wäre, wenn ich euch beide im letzten Jahr nicht gehabt hätte.«

»Das Kind soll sich nicht um die Eltern kümmern müssen«, entfuhr es Frank. »Emotional oder anderweitig. Ich dachte immer, du hast nie um etwas gebeten, weil dir etwas in deinem Innern sagte, es sei deine Aufgabe, dich um uns zu kümmern. Um unsere Bedürfnisse. Dabei hätten wir uns um deine kümmern müssen …«

»Das habt ihr getan«, unterbrach ihn Claire. »Du bestrafst dich für nichts.«

Frank hob die Hand, um sie zum Schweigen zu bringen. »Lass mich ausreden«, sagte er, und seine Stimme zitterte, als könnte er jeden Moment in Tränen ausbrechen. »Ich weiß, du denkst, du bist jetzt wieder in Ordnung. Du wirst dich in dein Forschungsstipendium stürzen und ganz darin aufgehen. So wie sich deine beiden Eltern jeweils in ihre Karriere gestürzt haben und darin aufgegangen sind. Du hast wie alle Kinder dem nachgeeifert, was du gesehen hast. Wir haben dir wunderbar beigebracht, wie man überlebt und vorwärtskommt. Aber wir haben dir nie gezeigt, wie man lebt.« Er betonte das letzte Wort überdeutlich, um klarzumachen, worum es ihm ging. »Ich weiß, du hast dich in Europa prächtig amüsiert. Es war das erste Mal, dass ich dich etwas genießen sah, seit … na ja, seit 1989.« Er musste nicht aussprechen, was in diesem Jahr passiert war, weil sie es beide wussten. »Und ich weiß es deshalb, weil diese Reise das erste Mal seitdem war, dass ich mir selbst erlaubt habe, etwas zu genießen.«

Er sah zu dem Hochhaus hinauf, das bald Claires neues Zuhause werden würde, und streckte den Arm in die Höhe, als würde er eine neue Welt in der Hand halten. »Es ist Zeit, dass du dir ein bisschen Leben gönnst. Ich bin zwar kein Experte darin, aber da wir es dir damals nicht beigebracht haben, musst du deinem alten Herrn vielleicht erlauben, dich ein bisschen zu verderben.« Er lächelte. »Nur ein bisschen.«

Claire erwiderte das Lächeln, vor allem als dieses Funkeln wieder in den Augen ihres Vaters war, dieses schalkhafte Grinsen, das immer auf seinem Gesicht erschien, wenn er noch einen Trumpf im Ärmel hatte. Sie wollte immer noch wissen, was er ihr nicht erzählte, aber sie wollte ihrem Vater den großen Moment nicht ruinieren.

»Ich schätze, ein bisschen Leben könnte ich im Augenblick gebrauchen«, erwiderte sie.

»Dann mal los«, sagte er und hob die Hand, um ein sich näherndes Taxi anzuhalten.

Sie waren in den Flatiron District in Midtown gefahren, wo Frank sie in eins der bekanntesten Einrichtungshäuser der Stadt schob. Er hatte ein wenig enttäuscht gewirkt, als Claire, die Antiquitäten liebte, die IKEA-artigen Schlaf- und Wohnzimmermöbel ausgesucht hatte, die jetzt ihre Wohnung füllten, hatte aber darauf bestanden, sie zu bezahlen.

Sie betrachtete ihn nun, und sein leises Schnarchen tröstete sie irgendwie. Sie dachte an jenen Montag zurück, als die Möbel geliefert worden waren und sie damit rechnete, ihr Vater werde ihr einen Kuss geben, seinen Koffer aus der Firmenwohnung holen und nach Rochester zurückfahren.

»Ich hätte nicht gedacht, dass wir so schnell etwas für dich finden«, hatte er gesagt. »Deshalb habe ich vereinbart, dass ich für zwei Wochen von unserem New Yorker Büro aus arbeite.«

Zu ihrer Überraschung hatte er für diese Zeit das Schlafsofa besetzt. Und war seitdem viele Male wieder zu Besuch gewesen, mindestens einmal alle zwei Wochen, stets unter dem Vorwand, »ein Projekt hier unten betreuen« zu müssen. Aber Claire ließ sich nicht täuschen. Die Schrecken des vergangenen Jahres hatten Schlagzeilen gemacht, und alle in Franks Firma wussten, was geschehen war. Er unterstand direkt dem Präsidenten und CEO des Unternehmens, der in Claires Kindheit fast wie ein Onkel für sie gewesen war. Frank hätte ihm erklären können, er müsse für einen Monat in Simbabwe arbeiten, und der Mann hätte kaum mit der Wimper gezuckt. Er kam Franks Bitte ohne Zögern nach, weil er wusste, es ermöglichte seinem langjährigen Kollegen und Freund, alle paar Wochen einige Tage bei Claire sein zu können.

Franks Erklärung für seine Tochter war, dass er mehr Zeit mit ihr verbringen wollte, und sie wusste, das stimmte, aber es war nur die halbe Wahrheit. Dasselbe galt für sein Beharren darauf, ihr die Hälfte der Miete für eine hoch gelegene Wohnung mit Portier zu zahlen: Er wollte sichergehen, dass sie so geschützt wie möglich war. Und sie liebte ihn dafür.

Sie wollte gerade die Tür aufziehen, als hinter ihr eine hellwache Stimme erklang.

»Du siehst wundervoll aus.«

Claire drehte sich um. Ihr Vater setzte sich auf. Frank Waters war hochgewachsen, schlank, mit einem dichten grauen Haarschopf und den durchdringenden grünen Augen, die seine Tochter von ihm geerbt hatte. Seine Begeisterung für das Fitnessstudio ließ ihn zehn Jahre jünger aussehen und sich bewegen als die sechsundsechzig, die er war. Er schlug die Steppdecke zurück; sein blauer Seidenpyjama war eine Nuance heller als Claires Kostüm.

»Ich dachte, ich wäre leise gewesen«, sagte Claire und ging zurück ins Wohnzimmer

»Du hast mich nicht geweckt«, versicherte ihr Vater.

Sie gab ihm einen Kuss auf die Wange. »Schlaf noch ein wenig.«

»Ach, nein«, erwiderte Frank. »Ich muss ins Fitnessstudio, und dann liegt ein Tag voller Besprechungen vor mir. Wann denkst du, kommst du nach Hause?«

Claire wusste, er fragte nur aus Fürsorge. »Wahrscheinlich gegen acht«, sagte sie. »Mein Terminkalender ist ebenfalls voll.«

»Siehst du deshalb so mitgenommen aus?«, fragte Frank.

Claire dachte, sie hätte sich nichts anmerken lassen. Wie hat er das erkannt?

»Ich habe immer gemerkt, wenn dich etwas beunruhigte«, las er ihre Gedanken. »Schon bevor es dir selbst klar war.«

»Es ist nichts«, erwiderte Claire und schlüpfte in ihre Pumps. »Ich hatte einen Albtraum.«

»Die hattest du als Kind auch«, sagte Frank und tastete mit den Füßen nach seinen Pantoffeln. »Du bist mitten in der Nacht aufgewacht und hast mir alles erzählt.«

»Ich würde dir auch den von letzter Nacht erzählen, aber ich erinnere mich nicht.« Sie tat, als würde sie ihren Rock zurechtrücken, damit sie ihn nicht ansehen musste. Sie wünschte, sie hätte nichts gesagt. Sie wollte nicht über den Traum sprechen, damit sie sich nicht verspätete – und damit die Dämme ihrer Angst nicht brachen.

»Vielleicht kann ich deinem Gedächtnis auf die Sprünge helfen«, sagte Frank, gähnte und zog die Vorhänge auf. »Weißt du noch, wie du aufgewacht bist?«

»Ich saß senkrecht im Bett mit der Hand auf dem Mund«, antwortete Claire und sah auf ihre Armbanduhr, um anzudeuten, dass sie dafür jetzt keine Zeit hatte.

Es funktionierte nicht. »Damit ich dich nicht schreien höre?«, fragte Frank und faltete die Decke zusammen. »Wie kann es sein, dass du in einem Albtraum an so etwas denkst?«

Claire lächelte über die Ironie, dass ein Physiker Seelendoktor bei ihr spielte. »Damit ich dich nicht aufwecke?«, fragte sie spielerisch.

Jetzt lächelte ihr Vater. »Vielleicht hat der Albtraum von mir gehandelt.«

»Das glaube ich nicht.«

»Aber du hast gesagt, du erinnerst dich nicht mehr«, sagte ihr Vater und klappte das Bett zusammen. »Wie kannst du dir dann so sicher sein?«

Schachmatt. Die Unterhaltung endete wie immer – an einer Wand. Bis Frank, der ständig in Bewegung war und jetzt die Sofakissen an ihren Platz räumte, eine andere Taktik versuchte.

»Du weißt«, sagte er und ließ sich auf sein Werk fallen, »dass du als Kind immer mit jemandem geredet hast, der nicht da war.«

»Ja, Dad«, bestätigte Claire und seufzte. »An das erinnere ich mich sehr wohl.«

»Wir haben uns Sorgen gemacht. Deine Mom und ich.«

»Unsichtbare Spielgefährten kommen bei Kindern häufig vor«, sagte sie mit ihrer offiziellen Psychiaterstimme.

Frank kannte diesen Ton. Er hatte ihn oft von ihr gehört und verstand, was er in diesem Fall bedeutete: »Ich muss los.« Er setzte oft einen ähnlichen Tonfall bei ihr ein – auch wenn er es nicht gern zugab – und wusste, wann er zurückstecken musste.

»Schon gut. Komm nicht zu spät«, sagte er und stand von dem Sofa auf.

»Danke, Dad.«

Er kam zu ihr und gab ihr einen Kuss. »Einen schönen Tag, Häschen.«

Claire lächelte über seiner Schulter, als er sie umarmte. Er hatte sie schon immer mit diesem Kosenamen genannt, und es gefiel ihr jedes Mal. Sie küsste ihn noch einmal auf die Wange und eilte zur Tür, um der Welt mit ein wenig mehr Sicherheit entgegenzutreten.

Er würde sich verspäten. Er sammelte alle Gegenstände ein, die er brauchen würde: die Töpfe, das zusammengerollte Tuch mit den rasiermesserscharfen Messern und Scheren, das Zelt. Er spürte ein Hämmern im Kopf, einen Rhythmus fast wie von einer Trommel, der alle Gedanken übertönen würde, die ihn daran hindern könnten, zu tun, was er tun musste. Dann verließ er das Apartment und trat ins kühle morgendliche Sonnenlicht hinaus, das einen schönen Tag verhieß.