Hanser Berlin E-Book
Teju Cole
Jeder Tag
gehört dem
Dieb
Roman
Aus dem Englischen
von Christine Richter-Nilsson
Mit Fotografien des Autors
Hanser Berlin
Die Originalausgabe erschien 2014 unter dem Titel Every Day Is For the Thief bei Random House, New York. In einer früheren Version erschien der Text 2007 bei Cassava Republic Press, Abuja, Nigeria.
Jeder Tag gehört dem Dieb ist ein fiktionales Werk. Sämtliche Namen, Figuren, Schauplätze und Handlungen sind Erfindungen des Autors oder werden fiktiv verwendet. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Menschen, Ereignissen oder Schauplätzen sind rein zufällig.
ISBN 978-3-446-24859-5
© 2007, 2014 Teju Cole
All rights reserved
Alle Rechte der deutschen Ausgabe
© Carl Hanser Verlag, München 2015
Umschlagfoto: © Teju Cole
Umschlag: Peter-Andreas Hassiepen, München
Das Motto auf Seite 7 stammt aus Maria Benets Gedicht »Three American-Style Studies of a Landscape Rendered Foreign«, in Mapmaker of Absences, Sixteen Rivers Press, San Francisco 2005. Das Zitat auf Seite 118 stammt aus Tomas Tranströmers Gedicht »Minusgrade«, aus dem Schwedischen von Hanns Grössel, in Sämtliche Gedichte, Carl Hanser Verlag, München 1997.
Satz: Greiner & Reichel, Köln
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Datenkonvertierung E-Book:
Kreutzfeldt digital, Hamburg
Für Karen
und für meine Eltern
und Jeremy und Bibi
The window was one of many,
the town was one. It was the only one,
the one I left behind.
Maria M. Benet, Mapmaker of Absences
Gbogbo ojo ni t’ole, ojo kan ni t’oni nkan.
Jeder Tag gehört dem Dieb, doch ein Tag
gehört dem Besitzer.
Sprichwort der Yoruba
1 Am Morgen meines
Konsulatsbesuchs
wache ich spät auf. Während ich meine Unterlagen zusammensuche, rufe ich im Krankenhaus an und gebe Bescheid, dass ich erst am Nachmittag komme. Dann steige ich in die U-Bahn und fahre zur Second Avenue. Das Konsulat ist problemlos zu finden. Es erstreckt sich über mehrere Stockwerke eines Wolkenkratzers; ein fensterloses Zimmer im achten Stock dient als Büro für konsularische Dienste. Es ist Montagvormittag, und die meisten Besucher sind Nigerianer mittleren Alters. Die Männer sind kahlköpfig, die Frauen aufwendig frisiert, und ich zähle doppelt so viele Männer wie Frauen, dazwischen ein paar unerwartete Gesichter: ein großer, italienisch aussehender Mann, ein Mädchen ostasiatischer Herkunft, Afrikaner anderer Nationalitäten. Jeder Besucher zieht beim Betreten des düsteren Raumes eine Nummer aus einer roten Maschine. Die Auslegeware ist schmutzig und hat dieselbe undefinierbare Farbe wie überall sonst in öffentlichen Räumen. An der Wand hängt ein Fernseher. Das Bild ist schlecht, aber man erkennt, dass eine Nachrichtensendung läuft. Nach einigen Minuten sind die Nachrichten zu Ende und die Übertragung eines Fußballspiels zwischen Enyimba und einem tunesischen Klub beginnt. Die Leute im Raum füllen Formulare aus.
Ich sehe genauso viele blaue amerikanische Pässe wie grüne nigerianische. Die meisten der Anwesenden lassen sich einer der folgenden drei Kategorien zuordnen: eingebürgerte US-Amerikaner, Personen mit amerikanischer und nigerianischer Staatsbürgerschaft, und Nigerianer, die ihre amerikanischen Kinder zum ersten Mal mit in die alte Heimat nehmen. Ich gehöre zur Gruppe der doppelten Staatsbürger und bin hier, weil ich einen neuen nigerianischen Pass brauche. Nach zwanzig Minuten wird meine Nummer aufgerufen. Während ich mich mit meinen Formularen dem Schalter nähere, nehme ich dieselbe Bittstellerhaltung an, die ich bei den anderen beobachtet habe. Der schroffe junge Mann hinter der Glasscheibe fragt, ob ich die Zahlungsanweisung mitgebracht habe. Nein, sage ich. Ich dachte, man könne bar zahlen. Er deutet auf einen Hinweis an der Scheibe: »Bitte kein Bargeld, wir akzeptieren ausschließlich Zahlungsanweisungen.« Der Mann trägt ein Namensschild. Laut Website des Konsulats beträgt die Gebühr für einen neuen Pass fünfundachtzig Dollar, doch nirgendwo steht, dass man nicht mit Bargeld zahlen kann. Ich verlasse das Gebäude und laufe zur fünfzehn Minuten entfernten Grand Central Station, stelle mich an, kaufe eine Zahlungsanweisung und laufe wieder fünfzehn Minuten zurück zum Konsulat. Als ich ankomme, sind vierzig Minuten vergangen und das Wartezimmer ist voll. Ich ziehe eine neue Nummer, stelle die Zahlungsanweisung auf das Konsulat aus und warte.
Eine kleine Gruppe hat sich um den Schalter versammelt. Einer der Männer bearbeitet lauthals den Beamten, nachdem dieser ihm mitgeteilt hat, sein Pass sei um fünfzehn Uhr fertig. Inständig bittet er:
– Abdul, mein Flieger geht um fünf, bitte, ich brauche den Pass sofort. Ich muss nach Boston zurück, bitte, geht es nicht schneller?
Seine Stimme klingt flehend, er strahlt Verzweiflung aus, was durch sein schäbiges Äußeres – braune Hose und braunes Polyestersweatshirt – betont wird. Ein strapazierter Mensch in strapazierten Klamotten. Abdul spricht durchs Mikrophon:
– Was soll ich machen? Der Beamte, der unterschreiben muss, ist noch nicht hier. Kommen Sie um drei wieder.
– Hier, hier, mein Ticket. Bitte, Abdul, sehen Sie. Mein Flug geht um fünf. Ich darf ihn nicht verpassen. Ich darf ihn auf keinen Fall verpassen.
Der Mann bettelt weiter und schiebt ein Stück Papier unter der Scheibe hindurch. Abdul betrachtet das Ticket mit demonstrativem Widerwillen und spricht dann mit gereizter, gedämpfter Stimme in das Mikro:
– Was bitte soll ich machen? Der Zuständige ist nicht hier. Wenn es unbedingt sein muss, setzen Sie sich. Ich werde sehen, was ich tun kann. Aber ich kann nichts versprechen.
Der Mann schleicht davon, woraufhin sofort mehrere andere aufspringen und mit ihren Dokumenten zum Schalter drängen.
– Bitte, ich brauch meinen auch gleich. Bitte, können Sie meinen nicht einfach zu seinem legen?
Abdul ignoriert sie und ruft die nächste Nummer auf. Einige der Männer tigern weiter vor seinem Schalter hin und her, andere setzen sich wieder auf ihre Plätze. Einer von ihnen, ein junger Mann mit einer himmelblauen Mütze, reibt sich immer wieder die Augen. Einige Reihen vor mir stützt ein älterer Herr seinen Kopf in die Hände und sagt laut, ohne jemanden anzusehen:
– Das hier sollte ein freudiger Anlass sein. Ist es nicht so? Eine Heimkehr ist ein Grund zur Freude.
Zu meiner Rechten füllt ein Mann die Formulare für seine Kinder aus. Von ihm erfahre ich, dass er vor kurzem seinen Pass erneuern ließ. Ich frage ihn, wie lange es gedauert hat.
– Na ja, normalerweise dauert es vier Wochen.
– Vier Wochen? In drei Wochen geht schon mein Flug. Und auf der Website steht, ein Reisepass wird innerhalb einer Woche ausgestellt.
– Theoretisch schon. Praktisch auch, aber nur wenn man eine Expressgebühr von fünfundfünfzig Dollar bezahlt. Mit Zahlungsanweisung.
– Davon ist auf der Website keine Rede.
– Natürlich nicht. Aber so habe ich es gemacht. Ich hatte keine Wahl. Und ich bekam meinen Pass in einer Woche. Natürlich ist die Expressgebühr nicht offiziell. Die Leute hier, das sind Gauner. Sie nehmen die Zahlungsanweisung, und zwar ohne Quittung, dann buchen sie den Betrag aufs Konto, und von dort aus wandert er in ihre eigenen Taschen.
Er macht eine Geste mit der Hand, als würde er eine Schublade herausziehen. Genau das habe ich befürchtet: die direkte Konfrontation mit Korruption. Ich bin mental darauf vorbereitet, ihr am Flughafen von Lagos zu begegnen, aber hier in New York trifft mich die dreiste Aufforderung zur Bestechung unvorbereitet.
– Ich werde darauf bestehen, dass sie mir eine Quittung ausstellen.
– Mein Junge, warum willst du dir Stress machen? Das Geld knöpfen sie dir sowieso ab, aber du kannst vergessen, dass sie dir deinen Pass pünktlich ausstellen. Mal ehrlich: Willst du den Pass oder willst du ihnen was beweisen?
Er hat recht, und dennoch: Hat nicht genau diese beiläufige Komplizenschaft unser Land so tief sinken lassen? Die Frage steht uns beiden vor Augen, doch sie bleibt unausgesprochen. Als meine Nummer endlich aufgerufen wird, ist es elf durch. Alles läuft genauso ab, wie er es mir vorhergesagt hat. Der Beamte verlangt eine Expressgebühr von fünfundfünfzig Dollar, zusätzlich zu den fünfundachtzig, die der Pass kostet. Die Beträge sollen auf zwei Zahlungsanweisungen verteilt werden. Zum zweiten Mal an diesem Morgen verlasse ich das Gebäude, um eine Zahlungsanweisung zu kaufen. Ich beeile mich und kehre erschöpft Viertel vor zwölf zurück, fünfzehn Minuten bevor der Schalter schließt. Diesmal ziehe ich keine Nummer. Ich remple mich zum Schalter vor und reiche Abdul das Formular mit den erforderlichen Anweisungen. Er sagt, der Pass sei in einer Woche abholbereit. Er stellt eine Quittung aus, aber nur über den ursprünglichen Betrag. Schweigend nehme ich sie entgegen, falte sie zusammen und stecke sie ein. Am Ausgang neben den Aufzügen hängt ein halb zerrissenes Blatt mit der Aufschrift: »Helfen Sie uns bei der Bekämpfung von Korruption! Sollte ein Konsulatsbeamter Sie zur Zahlung von Schmiergeld auffordern, wenden Sie sich bitte diskret an den Generalkonsul.«
Doch es ist weder eine Telefonnummer noch eine E-Mail-Adresse angegeben. Mit anderen Worten, ich kann den Generalkonsul nur durch Abdul oder einen seiner Kollegen erreichen. Und der Generalkonsul hält wahrscheinlich selbst die Hand auf. Vielleicht gehen dreißig oder fünfunddreißig Dollar der »Expressgebühr« direkt an den Big Boss. Beim Hinausgehen sehe ich noch einmal Abduls Gesicht. Er ist bereits mit anderen Antragstellern beschäftigt. Das alles ist eine Farce – getarnt durch die gepflegte Aufforderung: »Bitte kein Bargeld.«
2 Es ist früher Abend,
als sich die Maschine den Elendsvierteln
außerhalb der Stadt nähert. Sanft und stufenweise sinkt sie zur Erde, als würde sie langsam eine unsichtbare Treppe hinabschreiten. Vom Rollfeld aus wirkt der Flughafen trostlos. Er ist nach einem toten General benannt und der Inbegriff schlechter Siebziger-Jahre-Architektur. Mit dem schmuddeligen weißen Anstrich und den endlosen Reihen kleiner Fenster ähnelt das Hauptgebäude einem billigen Mietshaus. Der Airbus der Air France setzt auf. Mit der hereinströmenden Luft macht sich sofort Erleichterung in den Kabinen breit. Ein paar Fluggäste applaudieren. Kurze Zeit später drängen wir in Richtung Ausgang. Mit schweren Taschen beladen versucht sich eine Frau durch den Mittelgang zu schieben. »Warte«, ruft sie ihrem Reisebegleiter nach, so laut, dass alle es hören, »ich komme.« Und in diesem Moment spüre auch ich sie, die Ekstase der Ankunft, dieses irrationale Gefühl, dass jetzt alles gut wird. Fünfzehn Jahre sind eine lange Zeit; so lange war ich nicht zu Hause. Sie fühlt sich noch viel länger an, wenn man sich davongestohlen hat.
Ausstieg, Passkontrolle und Gepäckausgabe rauben uns mehr als eine Stunde. Der Himmel füllt sich mit Schatten. Ein Mann beschwert sich bei einem lustlosen Zollbeamten über die Ineffizienz.
– Das ist ein internationaler Flughafen, da müsste alles viel besser organisiert sein. Ist das der erste Eindruck, den wir von unserem Land vermitteln wollen?
Der Beamte zuckt mit den Schultern und sagt, dass Leute wie er ja nach Hause zurückkommen und es besser machen könnten. Während wir darauf warten, dass das Gepäckband die Koffer ausspuckt, spricht mich ein Weißer an. Er hat einen Akzent, und ich frage ihn, ob er Schotte sei. »Aye«, sagt er und erzählt mir, dass er auf den Bohrinseln arbeitet.
– Hab mich gestern in Paris volllaufen lassen und bin ausgeraubt worden. Kreditkarte weg, verdammte Froschfresser. Aber die Champs-Élysées, der Hammer! Das Hirn hab ich mir weggeballert. Mann, war ich hinüber.
Er grinst. Seine Zähne sind metallbespickt. Er trägt einen Ohrring, rötliche Bartstoppeln sprießen aus dem Kinn. Zu Europas feiner Gesellschaft gehört er nicht, aber er wird hier gut verdienen.
– Krieg’ erst morgen einen Flieger nach Port Harcourt. Das heißt, erst einmal eine Nacht im Sheraton. Da, wo die Stewardessen absteigen, wenn du verstehst, was ich meine.
Ich nicke. Endlich kommen meine Taschen, sie sind feucht und verschmutzt. Ich hieve sie auf einen Gepäckwagen. Auf dem Weg nach draußen bedeutet mir ein Beamter in Zivil anzuhalten. Er sitzt neben dem Ausgang und scheint keine wirkliche Funktion zu haben. Er ist einfach nur da. Er fragt mich, ob ich Student sei. Irgendwie schon, ja. Ich nehme an, dass diese Lüge die Dinge beschleunigen wird.
– Dachte ich mir. Sie sehen so aus. Und wo studieren Sie?
NYU, sage ich, die Antwort hätte vor drei Jahren noch gestimmt. Er nickt.
– In New York sitzt das Geld locker. Dollars, jede Menge.
Wir schweigen kurz. Dann kommt sotto voce und auf Yoruba seine Forderung:
– Ki le mu wa fun wa? Hast du mir kein Weihnachtsgeschenk mitgebracht? Du weißt schon, in New York sitzt das Geld locker.
Mitgebracht habe ich nur meine Entschlossenheit. Ich ignoriere ihn und rolle meine Koffer nach draußen, wo Tante Folake und ihr Fahrer auf mich warten. Als wir unsere Umarmung lösen, hat sie Tränen in den Augen. Der verlorene Sohn. Erneut umarmt sie mich und lacht herzlich.
– Du hast dich überhaupt nicht verändert! Wie ist das möglich?
Von außen sieht der Flughafen besser aus, majestätischer als beim Anflug. Die Eingänge sind verstopft mit Verwandten der Passagiere und mit noch viel mehr Schleppern, Abzockern und allen möglichen Leuten, die da sind, weil sie nicht wissen, wo sie sonst hingehen sollen.
3 Auf dem Weg vom Flughafen
geraten wir am Kreisverkehr in Ikeja
in den Feierabendstau. Wütend knurren sich die Motoren an, und unter der knapp zwanzig Meter entfernten Überführung streiten sich zwei Polizisten. »Hau ab«, brüllt der eine den anderen an. »Warum stehst du immer hier, Mann? Warum bleibst du nicht auf deiner Seite?« Er zeigt auf die gegenüberliegende Seite des Kreisverkehrs. Einen Moment lang scheint der andere Polizist tatsächlich versucht einzulenken, doch dann zögert er seine Reaktion hinaus. Ihre Meinungsverschiedenheit hat bereits die Blicke der Fußgänger auf sich gezogen, und er möchte nur ungern sein Gesicht verlieren. Beide Männer sind schlank und dunkel, tragen grauschwarze Uniformen und haben Maschinengewehre geschultert. Verwirrt und schweigend stehen sie da, wie zwei Schauspieler, die ihren Text vergessen haben. Eine Schar Berufspendler gafft sie aus sicherer Entfernung an.
Tante Folake erklärt, was vor sich geht. An dieser Stelle hält die Polizei routinemäßig gewerbliche Fahrzeuge an und fordert von den Fahrern Schmiergelder. Der abgekanzelte Polizist ist offenbar zu weit ins Terrain seines Kollegen vorgedrungen. Wenn zwei abkassieren, schadet das dem Geschäft, weil die Fahrer wütend werden. Die Szene findet ausgerechnet unter einer Anschlagtafel statt, auf der steht: »Korruption ist strafbar. Das Bezahlen oder Annehmen von Schmiergeldern ist verboten.«
Und wie viel Regierungsgelder, frage ich mich, hat sich die Agentur abgezweigt, die den Auftrag an Land gezogen hat, diese Hinweisschilder zu installieren?
Es ist ein großer Unterschied, von der »informellen Wirtschaft« in Lagos nur zu hören oder sie tatsächlich zu erleben. Sie setzt jeden unter Druck. Etwa fünfzehn Minuten zuvor haben wir an der Airport Road eine Mautschranke passiert. Auch sie befand sich unterhalb einer großen Anzeigentafel, die Bestechung anprangert und die Bürger ermahnt, die Verhältnisse im Land zu verbessern. Uns wurden zweihundert Naira abverlangt, der angezeigte und akzeptierte Betrag. Allerdings wissen geschäftstüchtige Fahrer wie unserer, dass sie die Schranke auch zum halben Preis passieren können, indem sie die hundert Naira direkt in die Tasche des Mautbeamten bezahlen. »Für zweihundert bekommt man eine Quittung«, sagte unser Fahrer, »für hundert nicht. Aber was soll ich mit einer Quittung? Ich brauch diesen Wisch nicht!« Und so zahlen täglich Tausende Fahrer die inoffizielle Maut und füllen die Taschen der Kassierer und ihrer Vorgesetzten. Die Forderung des Einwanderungsbeamten am Flughafen, die Maut-Geschichte, die Polizei in Ikeja – innerhalb von fünfundvierzig Minuten bin ich mit drei eindeutigen Fällen von behördlicher Korruption konfrontiert.
Noch bevor wir an diesem Abend zu Hause ankommen, ist mein Blick auf diese Zahlungen differenzierter geworden. Wir halten in Ogba an, um Brot zu kaufen. Ogba kommt irgendwann nach Ikeja und liegt am Ende der Agidingbi Road. Am Eingang des Ladens grüßt uns ein Wachmann und hält die Tür auf. Als wir einige Minuten später das Gebäude wieder verlassen, folgt er uns etwa zwanzig Meter auf unserem Weg zum Wagen und bittet um Trinkgeld. Es ist keine Forderung; eher eine freundliche Bitte, als würde er einem Kind etwas erklären.
– Haben Sie nicht etwas für mich, Sir?
Er trägt die helle Uniform eines Sicherheitsdienstes, aber keine Waffe. Als meine Tante den Kopf schüttelt, schüttelt er entschuldigend seinen Kopf, lächelt und verschwindet. Am Auto angekommen, spricht uns eine dünne Frau an und bittet um etwas Kleingeld für die Heimfahrt. Ich sehe sie nicht kommen; sie steht plötzlich in ihrem zerlumpten iro und buba vor mir. Sie ist klein und sieht krank aus. Eine kleine Frau ohne Namen, Teil der Welt, die jenseits der glitzernden Handelsbanken, schicken Restaurants und Luxuslimousinen liegt. Die Menschen, die plötzlich vor einem stehen, die vielen, die von diesen kleinen Spenden leben.
Die Nacht sinkt ohne Vorwarnung herab. Zum ersten Mal nach fünfzehn Jahren atme ich die Luft der Stadt ein, ihren weißen Rauch, ihren ockergelben Staub, so vertraut wie mein eigener Atem. Doch es gibt andere, weniger greifbare Dinge, die mich zum Fremden machen. Das Leben in einer westlichen Demokratie hat mich geprägt, ich habe bestimmte Vorstellungen von Rechtsstaatlichkeit. Und die Heimfahrt vom Flughafen hat mich auf einen Gedanken gebracht, der sich im Laufe der folgenden Tage bestätigen wird: Lagos ist zu einer Günstlingswirtschaft geworden.
Geld, das je nach Kontext in größeren oder kleineren Beträgen fließt, ist ein soziales Schmiermittel. Es öffnet Türen und erhält dabei die Hierarchien. Fünfzig Naira für den Mann, der einem beim Ausparken hilft, zweihundert Naira für den Polizeibeamten, der einen mitten in der Nacht ohne ersichtlichen Grund anhält, zehntausend Naira für den Abfertigungsbeamten, der die eingeführte Kiste durch den Zoll schleust. Für jede Transaktion die angemessene Summe, die die Dinge ins Rollen bringt. Wenn mir allerdings jemand Geld abverlangt, dessen Finger über dem Auslöser einer Kalaschnikow schwebt, ist das kein Trinkgeld mehr, sondern Lösegeld, doch das scheint außer mich niemanden zu bekümmern. Ich habe das Gefühl, dass meine Sorge darüber ein Luxus ist, den sich nur wenige leisten können. Das Geben und Nehmen von Schmiergeld, Trinkgeld, Lösegeld, Almosen – die Grenzen sind da fließend – ist für viele Nigerianer keine Frage der Moral, sondern ein gelindes Ärgernis oder ein Mittel zum Zweck: Es sorgt dafür, dass etwas erledigt wird, und genau dafür ist Geld ja da.
Die meisten Polizisten verdienen zwischen zehn- und fünfzehntausend Naira monatlich. Das sind umgerechnet nicht einmal hundert Dollar. Davon kann man nicht leben. Ein Freund meines Onkels arbeitet bei der Einwanderungsbehörde und wurde irgendwann in einen anderen Bundesstaat versetzt, in eine etwas abgelegene Gegend. Seine Weigerung, Bestechungsgelder anzunehmen, wirkte sich negativ auf die Einkünfte seiner Kollegen aus; sie konnten ihre Familien nicht mehr versorgen. Man sorgte dafür, dass er erneut versetzt wurde, irgendwohin, wo er weniger störte. In der Armee sind die Gehälter ähnlich niedrig und werden zudem unregelmäßig ausgezahlt. Und ausgerechnet diese schwer bewaffneten und schlecht bezahlten Männer sind mit dem Schutz der Bürger betraut.
Wenige Minuten nach unserer Ankunft im Haus meiner Tante und meines Onkels fällt der Strom aus. Für sie kommt dieser unvermittelte Entzug nicht überraschend. Er gehört zum allnächtlichen Ritual. Doch ich bin nicht mehr daran gewöhnt. Ich schlafe unruhig, schrecke hoch und verfolge die Schatten, die rastlos über die Betonwände flackern. Die Luft ist heiß, durchzogen von den Gespenstern der Vergangenheit und dem Dunst von Petroleum.