Über das Buch:
Luke Baxter hat sich ausgeklinkt. Zum Kummer seiner Eltern kehrt er nicht nur der Familie den Rücken, sondern auch Gott. Mit seiner Freundin Lori führt er eine offene Zweierbeziehung, doch unter der Oberfläche brodelt es. Eines Tages landet Lori mit lebensbedrohlichen Krankheitssymptomen ausgerechnet auf der Station von Dr. Baxter, Lukes Vater. Der Befund überrollt Luke wie eine Lawine. Wo wird der „Verlorene Sohn“ Halt finden? Und welche Rolle spielt dabei die attraktive Reagan, seine große Liebe aus vergangenen Tagen? Sie hütet ein Geheimnis, von dem niemand wissen darf. Als sie endlich den Entschluss fasst, sich einem Menschen anzuvertrauen, stellt sie nicht nur für sich die Weichen ins Glück ...
Über die Autorin:
Karen Kingsbury war Journalistin bei der Los Angeles Times. Seit einiger Zeit widmet sie sich ganz dem Schreiben christlicher Romane. Sie lebt mit ihrem Mann, 3 eigenen und 3 adoptierten Kindern in Washington.
Kapitel 8
Reagan starrte auf die Uhr an der Wand ihres Krankenhauszimmers und beobachtete, wie der Sekundenzeiger sich langsam im Kreis bewegte.
Es war Viertel nach zehn, und die Schwestern hatten gesagt, sie könnte gegen Mittag ihr Baby im Arm halten, wenn seine Temperatur stabil war. Es hatte während Reagans Blutung einige Belastungen aushalten müssen, aber sein kleiner Körper hatte genau richtig auf dem Riss in ihrer Gebärmutter gelegen und so verhindert, dass sie verblutete. Damit hatte es ihnen beiden wahrscheinlich das Leben gerettet.
Das war bestimmt Gottes Plan. Er würde ihr nicht im selben Jahr ihren Sohn und ihren Vater wegnehmen. Nicht, wenn sie schon Luke verloren hatte. Gott wusste, dass sie nicht noch mehr ertragen könnte.
Ein leises Schnarchen kam aus der Zimmerecke, und Reagan schaute zur Seite. Ihre Mutter war die Nacht hiergeblieben und war wahrscheinlich erst vor ein paar Stunden eingeschlafen. Sie schlief jetzt tief und fest auf einem kleinen Sofa unter einer dünnen Schicht Krankenhausdecken.
Reagan schob sich im Bett hoch, zog aber vor Schmerz scharf die Luft ein. Man hatte sie genäht, aber die Schmerzen waren sehr stark und pochend. Sie müsste die Schwester um ein stärkeres Schmerzmittel bitten, wenn sie kräftig genug sein wollte, um Thomas Luke in ein paar Stunden auf den Armen zu halten.
Eine Bewegung an der Tür erregte ihre Aufmerksamkeit. Sie sah Landon Blake das Zimmer betreten. Er trug seine Uniform und hielt seinen Helm in den Händen. Reagan zwang sich zu einem Lächeln, aber sie fühlte, wie ihr Herz stockte. Woher wusste Landon, dass sie hier war? Wusste er von ihrem Baby? Hatte er es Luke verraten?
„Hallo.“ Er kam durch das Zimmer, warf einen Blick auf ihre Mutter und setzte sich dann auf den Stuhl, der neben ihrem Bett stand. Er sprach leise. „Wie fühlst du dich?“
Reagan schluckte und schüttelte schnell den Kopf. „Was ... was machst du hier?“
„Ich war gestern Abend bei dem Notfalleinsatz dabei.“ Er stützte die Ellbogen auf seine Knie und schaute ihr in die Augen. „Dir ging es ziemlich schlecht.“
Sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Sie lag auf der Wöchnerinnenstation, und wenn er einer der Feuerwehrleute gewesen war, die sie ins Krankenhaus gebracht hatten, wusste er von dem Baby. „Meine ... Gebärmutter war gerissen.“
„Ich weiß.“ Seine Augen schauten sie direkt an. „Ich weiß alles, Reagan.“
Kalte Angst machte sich in ihr breit, und sie hörte, wie ihre Zähne klapperten. Ein Gespräch wäre unmöglich, solange sie ihn nicht gefragt hatte. „Hast du mit Luke gesprochen?“
„Nein.“ Landon biss sich auf die Lippe, aber seine Augen stellten laut die Frage, die er nicht aussprach: Warum hatte sie ihm verheimlicht, dass sie schwanger war? „Ich habe es niemandem gesagt.“
Reagan schwieg und suchte verzweifelt nach den richtigen Worten. Aber im hellen Tageslicht des Vormittags ergab nichts einen Sinn. Ihr Blick sank auf ihre Hände, während eine weitere Schmerzwelle über ihren Unterleib rollte. „Kannst du die Schwester holen? Es tut so weh.“
Landon tat, worum sie ihn gebeten hatte, und zehn Minuten später, nachdem die Schwester ihr eine weitere Dosis Schmerzmittel gegeben hatte, konnten sie sich weiter unterhalten. Dieses Mal lehnte sich Landon auf dem Stuhl zurück und stellte die Frage, vor der ihr graute, seit er ins Zimmer getreten war. „Warum, Reagan? Warum hast du es ihm nicht gesagt?“
Auf der anderen Seite des Raumes rührte sich Reagans Mutter und drehte sich auf die Seite. Wenn sie aufwachte, könnte sie ihr vielleicht helfen, die Situation zu erklären. Jedes Mal, wenn sie und ihre Mutter darüber sprachen, ergab ihr Schweigen einen Sinn. Aber hier ... jetzt ... „Ich wusste nicht, was ich sonst hätte tun sollen.“ Ihre Stimme war leise, und sie drehte sich um und schaute aus dem Fenster.
„Hör zu ...“ Landon berührte ihren Arm. „Ich bin als Freund hier, nicht als Reporter. Du brauchst keine Angst davor zu haben, mit mir zu sprechen.“
Reagan holte langsam mit zusammengebissenen Zähnen Luft und schaute Landon wieder an. „Nach dem 11. September war alles so kompliziert.“
Landon nickte langsam. „Für uns alle.“ Er zögerte. „Es tut mir leid um deinen Vater.“
„Danke.“ Reagans Augen wurden feucht, und sie blinzelte, damit ihr nicht die Tränen über die Wangen liefen. „Luke und ich waren so gut, Landon. Wir hatten Pläne, Absichten. Wir ... wir haben Regeln aufgestellt, um auch ganz bestimmt alles richtig zu machen.“
„Regeln?“
„Ja.“ Sie schniefte und ballte die Hände zu Fäusten. „Wir wollten eigentlich nie allein in meiner Wohnung sein, aber am 10. September ...“
Landons Augen verrieten, dass ihm das Datum etwas sagte. „Ein Montag ...“
„Der erste Tag der Footballsaison, glaube ich.“ Reagan klang müde, und in ihr zog sich alles zusammen, als sie zu erzählen begann. Aber sie musste darüber sprechen, sie brauchte jemanden, der ihr zuhörte und der sie mochte und der sie nicht verurteilte. „Wir wollten Softball spielen, aber Luke hatte keine Lust. Deshalb gingen wir hinauf, um ein Footballspiel anzuschauen. Ich weiß nicht mehr, die Giants gegen irgendwen.“
„Denver.“ Traurigkeit lag in Landons Lächeln. „Ich habe das Spiel im Feuerwehrhaus angeschaut.“
„Eines führte zum anderen, und dann ...“ Ihre Stimme versagte.
„Ist schon gut, Reagan, du brauchst es mir nicht erzählen.“ Landons Gesicht war freundlich und ohne die Spur einer Verurteilung.
„Nein, ich will es erzählen.“ Sie hatte ihr ganzes Leben lang viel Sport getrieben, aber kein Sport hatte solche Schmerzen bei ihr ausgelöst wie die, die sie jetzt fühlte. Sie atmete mit zusammengebissenen Zähnen langsam aus. „Wir saßen auf dem Sofa, und mein Vater rief an. Mitten in der schlimmsten Entscheidung, die ich je in meinem Leben getroffen habe. Aber weißt du was?“
Landon schwieg und wartete.
„Ich ging nicht ans Telefon. Ich dachte ...“ Ein Ton, der mehr ein Schluchzen als ein Lachen war, kam aus ihrem Mund. „Ich dachte, ich könnte ihn am nächsten Tag zurückrufen. Ich hatte ja alle Zeit der Welt, nicht wahr? Was würde da ein einziger Tag schon ausmachen?“
Er schüttelte langsam den Kopf. „Am nächsten Morgen starb er.“
Reagan rieb sich mit den Fingerspitzen die Stirn und schwieg einen Moment. Wenn ihr Vater nur nicht gestorben wäre. Er wäre jetzt hier, würde ihre Hand halten und ihr versprechen, dass alles wieder gut werden würde. „Ich habe nie wieder mit ihm gesprochen. Er ...“ Sie schniefte, und eine Träne rollte ihr über die Wange. „Er starb, ohne dass ich mich von ihm verabschieden konnte.“
Landon berührte noch einmal ihren Arm, und dieses Mal ließ er seine Hand dort liegen. „Das tut mir leid.“
„Ja.“ Sie wischte sich mit dem Handrücken über das Gesicht. „Mir auch.“ Sie griff nach dem Wasser auf ihrem Nachttisch und nahm einen Schluck. Danach schaute sie Landon wieder in die Augen. „Ich dachte, sein Tod sei Gottes Strafe für mich. Du weißt schon, dass ich mich in der Wohnung meiner Eltern verstecken und so tun sollte, als hätte ich Luke Baxter nie kennengelernt.“
„Du standst unter Schock.“ Landon zuckte die Achseln. „So ging es uns allen.“
„Hast du deinen Freund, den Feuerwehrmann, je gefunden?“
„Ja.“ Landon schob die Lippen zu einer harten Linie zusammen. „Fast drei Monate später fanden wir seine Leiche.“
Reagan spürte, wie ihre Schultern nach unten sackten. „Das tut mir leid.“ Ihr Blick wanderte wieder zum Fenster. „Es war so ... so eine furchtbare Zeit.“
„Ja, das war es.“
„Woche für Woche verging, und wir konnten nichts anderes tun als zu warten.“ Reagan schaute zu, wie eine Taube draußen auf dem Fenstersims landete. „Eine Schaufel voll Schutt und Erde nach der anderen, und wir gaben die Hoffnung immer noch nicht auf. Wir hofften, ihn in einer Lufthöhle zu finden, verschüttet, unversehrt unter dem Schutthaufen, wo er nur darauf wartete, gerettet zu werden. Tag für Tag.“
„Luke hat dich angerufen, oder?“
„Ständig.“ Sie lehnte sich an die Kissen zurück und starrte zur Decke hinauf. „Anfangs war es Teil der Bestrafung. Ich war der schrecklichste Mensch auf der Welt, und deshalb war mein Vater gestorben. Ich würde mir auf keinen Fall das Recht zugestehen, mit Luke zu sprechen. Nachdem ich mich ein paar Monate so gefühlt hatte, wusste ich, dass es zu spät war. Luke rief immer noch an, aber ich war nicht mehr das Mädchen, in das er sich verliebt hatte. Ich war nicht mehr Jungfrau, und ich war schwanger. Ich hatte ja gesehen, wie er Ashley behandelte, seit sie aus Paris zurückgekommen war.“ Sie brach ab. „Ich redete mir ein, dass ein Mann wie Luke mit mir nichts zu tun haben wollte.“
Landon nickte. „Ich schätze, in dieser Zeit drehte er durch.“
„Ja.“ Sie senkte das Kinn, und sie schauten sich wieder an. „Schließlich nahm ich vor zwei Monaten meinen ganzen Mut zusammen und rief ihn an. Vielleicht hatte ich mich ja geirrt. Was wäre, wenn er sich doch etwas aus mir machte, wenn er immer noch unsere Beziehung retten wollte?“ Ihre Stimme wurde leiser. „Und ich dachte, er hätte ein Recht, von dem Baby zu erfahren.“
„Und dabei hast du von dem anderen Mädchen gehört?“
Sie nickte. „Seine Mutter hat es mir erzählt. Sie sagte, er hätte sie an der Uni kennengelernt, und jetzt wohnten sie zusammen, und dass ... dass er seinen Glauben aufgegeben hatte, seine Überzeugungen. Sogar seine Familie.“
Ein längeres Schweigen breitete sich zwischen ihnen aus. Die Reihe von Ereignissen seit jenem Abend in ihrer Wohnung war wie eine furchtbare Kette, die sie zu tragen gezwungen worden war, eine Kette, die Glied für Glied wuchs und es ihr manchmal schwer machte zu gehen, ohne auf die Knie zu fallen. Die Wahrheit über Luke und die Möglichkeit, dass seine Entscheidungen ihre Schuld sein könnten, waren der Teil dieser Kette, der am schwersten wog.
Ein Teil, der sie in bestimmten Augenblicken fast zu ersticken drohte.
„Du solltest es ihm sagen, Reagan.“ Landon legte die Hände zusammen und stützte das Kinn auf seine Finger. „Das Baby ist auch sein Kind.“
„Ich weiß.“ Reagan bedeckte die Augen mit ihren Fingern. „Aber er wohnt mit einer anderen Frau zusammen. Was soll ich denn tun? Ihn zwingen, diesen ... diesen Lebensstil, den er gewählt hat, aufzugeben? Und wozu? Wegen der Unterhaltszahlungen für das Kind? Um ihm Schuldgefühle zu machen?“ Sie ließ die Hände sinken und schaute Landon an. „Das könnte ich ihm nicht antun. Es ist besser, so wie es jetzt ist. Mein Name wird der einzige auf der Geburtsurkunde sein, und er wird nie etwas davon erfahren.“
„Bis es ihm jemand sagt.“
Reagan fühlte, wie ihre Wangen zu glühen begannen. Sie spürte, wie das Blut in ihr kochte. „Das ist nicht deine Sache, Landon.“ Ihr Tonfall war halb entsetzt, halb wütend. „Das kannst du nicht machen.“
„Ich nicht, aber jemand anders. Die Leute werden es erfahren, Reagan. Du kannst das Baby nicht für immer verstecken. Und eines Tages wird dein Sohn wissen wollen, wer sein Vater ist.“
Sie atmete schwer durch die Nase ein und starrte auf ihren Schoß. „Es gibt viele Entscheidungen, die ich treffen muss, aber diese Entscheidung ist bereits getroffen. Ich werde es Luke nicht sagen, und ich will nicht, dass es ihm jemand anders erzählt.“ Die Gefühle, die sie erfüllten, waren zum ersten Mal klar. Sie war wütend auf Luke, weil er so schnell nach ihrer Trennung mit einer anderen Frau zusammengezogen war. Wenn sie ihm so wenig bedeutete, dann hatte er kein Recht, von dem Kind zu erfahren. Sie legte den Kopf schief und hob das Kinn. „Das Baby gehört mir.“
„Okay.“ Er schaute auf die andere Seite des Raums auf Reagans Mutter, aber sie schlief noch. „Ich bin nicht dein Feind, Reagan. Ich werde kein Wort sagen. Aber ich hoffe und bete, dass du deine Entscheidung nicht irgendwann bereust.“
„Das werde ich nicht.“ Ihre Antwort kam, ohne zu überlegen, und sie zwang sich, sich zu entspannen. Ihr ganzer Körper tat weh. „Entschuldige, dass ich mich aufgeregt habe.“
„Ist schon okay.“ Landon fuhr mit der Zunge über seine Unterlippe und räusperte sich. „Es gibt noch etwas, das ich dir sagen muss. Deine Mutter hat mich darum gebeten.“
Reagan starrte ihn mit unbeweglicher Miene an. Irgendwo tief in ihrer Seele war sie sich einer Sache sicher: Es konnte nichts Gutes sein. Sonst hätte ihre Mutter es ihr selbst gesagt und nicht Landon gebeten, das zu übernehmen. Sie wartete und konnte kaum atmen.
Landon ließ den Kopf einen Moment hängen und rieb sich den Nacken. Als er aufschaute, waren seine Augen tiefer als vorher, und eine neue Traurigkeit lag darin. „Du weißt, was mit dir passiert ist, nicht wahr? Ein Riss in der Gebärmutter?“
„Ja.“ Reagans Mund war trocken. Sie wollte mit Landon nicht über medizinische Details sprechen. In einer halben Stunde würde man ihr ihren Sohn bringen, und alles wäre in Ordnung. Sie setzte sich anders hin und bemühte sich, nicht vor Schmerzen das Gesicht zu verziehen. „Ich habe ziemlich stark geblutet; wenigstens hat das die Schwester gesagt.“
„Sehr stark. Wir ... wir hatten Angst, wir würden dich verlieren, Reagan. Das Baby saß genau richtig, sonst hätten wir dich wahrscheinlich auch verloren.“ Als er die Augen zusammenkniff, hatte sie den Eindruck, dass er versuchte, sie auf das vorzubereiten, was nun käme. Er atmete langsam ein. „Als die Ärzte versuchten, deine Gebärmutter zu flicken, stellten sie fest, dass die Haut zu stark eingerissen war, um sie nähen zu können.“
Zu stark eingerissen? Die Worte rollten in Reagans Kopf wie schlecht geschobene Bowlingkugeln hin und her. Was meinte er mit „zu stark eingerissen“? Sie war genäht worden – das war aufgrund der Schmerzen in ihrem Unterleib offensichtlich. Außerdem hatte die Krankenschwester gesagt, dass sie wegen der Naht keine abrupten Bewegungen machen sollte.
Reagan schaute auf ihre Hände. Sie zitterten, und ihr Herz schlug in einem wilden Rhythmus, den sie nicht kannte. Wenn die Gebärmutter zu stark gerissen war, dann ... Sie steckte ihre Gedanken dorthin zurück, woher sie kamen. „Ich ... wurde genäht. Das weiß ich.“
„Ja.“ Landon rutschte näher an ihr Bett heran und ergriff ihre Hand. „Reagan, sie konnten deine Gebärmutter nicht retten. Sie war zu sehr beschädigt. Sie mussten sie entfernen, um dein Leben zu retten.“ Er schaute ihr forschend ins Gesicht, und wieder warf er einen kurzen Blick über seine Schulter auf Reagans Mutter. „Deine Mutter wollte, dass ich es dir sage.“ Er biss sich auf die Lippe und zog eine Schulter hoch. „Es tut mir so leid, Reagan.“
Der Boden im Zimmer zitterte. Vielleicht kam das Zittern auch von ihr. Die Gegenstände wirkten verschwommen und unklar, und ein schwarz-weißes Muster tauchte alle paar Sekunden vor ihren Augen auf. Die Geräusche um sie herum wurden leiser, und alles, was sie hören konnte, war das fremde, unregelmäßige Schlagen ihres Herzens und das unablässige, laute Surren der Maschinen in ihrem Zimmer.
Was hatte er gesagt?
Man hatte ihre Gebärmutter nicht retten können? Das konnte unmöglich wahr sein. Landon musste etwas anderes gemeint haben. Dass irgendeine Operation durchgeführt worden war, die die Ärzte nicht geplant hatten, oder dass sie deshalb jetzt länger brauchte, um sich zu erholen. Er konnte nicht gemeint haben, dass man ihre Gebärmutter entfernt hatte, denn in diesem Fall ...
Landon hielt immer noch ihre Hand, aber er schaute jetzt nach unten auf einen Punkt auf dem Krankenhausboden.
„Ich ... ich verstehe nicht.“ Reagan hasste es, ihre Gedanken auszusprechen, aber das war die einzige Möglichkeit, wie die Wahrheit zu ihr durchdrang. Sie konnte nicht noch länger hier sitzen und raten, was er gemeint haben könnte. „Du meinst, sie mussten ... meine Gebärmutter operieren?“
Landon hob langsam den Kopf und schüttelte leicht den Kopf. „Nein, Reagan. Sie konnten sie nicht retten. Du ... kannst keine Kinder mehr bekommen.“
Reagan atmete schnell ein und schloss die Augen. Sie stand am Rand eines Abgrunds, und Landons Worte stießen sie über die Kante. Jetzt stürzte sie brutal in die Tiefe. Es gab keine Möglichkeit, den Sturz aufzuhalten, keine Möglichkeit, sich festzuhalten. Sie war bei der Geburt von Lukes Sohn nicht gestorben, aber ein Teil von ihr war gestorben. Thomas Luke würde keine Geschwister bekommen. Keine Brüder, mit denen er Ball spielen konnte. Kein kleines Mädchen, mit dem er Softball oder Volleyball spielen konnte. Keine Familie, die um den Esstisch zusammensaß. Wenn sie irgendwann vielleicht den richtigen Mann traf und sich wieder verliebte, könnte sie nie ein Kind mit ihm bekommen.
Gott, das kann ich nicht ertragen. Warum ... wenn du doch weißt, wie sehr ich mir eine Familie wünsche, Herr. Warum?
Tochter, meine Gnade ist neu jeden Morgen. Auch nach der längsten Nacht kommt immer ein neuer Morgen.
Die Worte waren ein schwaches Flüstern in ihrer Seele und legten tröstend die Arme um Reagan und umgaben sie mit einem Frieden, den sie seit Monaten nicht mehr erlebt hatte. Seit neun Monaten.
Es stimmte, nicht wahr? Kam diese Verheißung aus den Klageliedern nicht direkt aus der Bibel? Auch wenn die Nacht lang und dunkel war, würde immer ein neuer Morgen kommen, weil Gott treu war. Seine Treue war etwas Wunderbares.
Aber trotzdem ...
Keine Kinder mehr? Niemals? Der Schlag war zu groß, als dass sie alles auf einmal verarbeiten konnte. Als sie die Augen aufschlug, drückte sie Landon die Hand. Diese Nachricht hatte ein klaffendes Loch in ihr Herz gerissen und Wunden hinterlassen, mit denen sie für den Rest ihres Lebens kämpfen müsste. Aber wenigstens hatte ihr Sohn überlebt. Das hatte Gott ihr in seiner großen Gnade geschenkt, und im Moment müsste das Baby ihr genügen.
Ihr Blick wanderte zu Landon. Sie streichelte seine Finger. Obwohl sie ihn durch ihre erneuten Tränen kaum sehen konnte, brachte sie ein Lächeln zustande. „Danke, dass du es mir gesagt hast.“
Er hob seine andere Hand und legte sie auf ihre Hand. „Deine Mutter wollte nicht, dass du es von einem Fremden erfährst.“
„Sei mein Freund, Landon. Ich könnte einen brauchen.“
„Okay.“ Landon legte den Kopf schief. „Du hast einen.“
Reagan beschäftigte noch eine andere Frage. „Hast ... hast du Kontakt zu Ashley?“
„Seit mehreren Monaten nicht mehr.“ Landons Augen wurden weicher. „Aber ich hoffe, ich sehe sie bald.“
„Du wirst es ihr nicht verraten?“
Für einen Moment schob Landon die Lippen vor. Die Muskeln an seinem Kinn arbeiteten. Dann wurde seine Miene weicher. „Nein, Reagan. Ich verspreche es dir. Das ist deine Sache.“
Ein Geräusch an der Tür veranlasste sie beide, den Kopf zu drehen und zu schauen. Eine Krankenschwester steckte grinsend den Kopf herein. „Sind Sie bereit für Ihr Baby?“
Ein Teil ihrer Traurigkeit verschwand, und Reagan musste lächeln. „Ja ... bitte.“
Sie schaute Landon an und drückte wieder seine Hand. „Bleibst du? Willst du ihn auch sehen?“
Landon räusperte sich und lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. „Das möchte ich auf keinen Fall verpassen.“
Bevor die Schwester zurückkam, erwachte Reagans Mutter und setzte sich auf. „Wie spät ist es?“
„Fast Mittag.“ Über Reagans Gesicht zog ein trauriges Lächeln. „Du wachst genau zum richtigen Augenblick auf.“
„Wieso?“ Ihre Mutter blinzelte verschlafen, faltete die Decken zusammen, stand auf und schaute sie fragend an. „Reagan, ist alles in Ordnung? Das Baby?“
„Alles ist gut, Mama.“ Reagan warf Landon einen traurigen Blick zu. „Landon hat mir von ... von der Operation erzählt.“
„Oh, Schatz.“ Ihre Mutter trat neben Landon. Dann beugte sie sich über das Krankenbett und umarmte Reagan. „Es tut mir leid, Liebes. So leid.“
„Ich komme schon klar.“ Reagans Worte klangen dumpf an der Schulter ihrer Mutter. Sie zog den Kopf zurück und bemühte sich, das Schluchzen, das sich in ihrem Herzen aufbaute, zu unterdrücken. „Ich habe meinen Sohn.“
In diesem Moment schob die Krankenschwester ein winziges Bett ins Zimmer. Darin lag ein Baby, dessen Gesicht Reagan nicht genau sehen konnte. Landon schob seinen Stuhl zurück, damit das Babybett neben Reagans Bett passte. Sie schaute hinein und konnte weder sprechen noch atmen.
Ihr Sohn war schön und klein und perfekt gebaut. Und das erstaunlichste Wunder war: Sie konnte ihn in ihrer Seele fühlen. Sie konnte fühlen, wie er in ihrem Herzen Wurzeln schlug. Dies geschah mit einer so starken Liebe, wie sie sie bis zu diesem Tag noch nie erlebt hatte. Die Krankenschwester stand neben ihr, während Reagans Mutter ihr Thomas Luke in die Arme legte und sie ihn nahe an ihr Herz drückte.
„Hallo, Tommy. Ich bin deine Mama.“ Reagan berührte mit der Nase liebevoll seine kleine Stupsnase.
„Er ist so klein.“ Landon spähte über Mrs Deckers Schulter. „Herzlichen Glückwunsch, Reagan.“
„Danke.“ Sie konnte den Blick nicht von ihrem neugeborenen Sohn losreißen, und irgendwie wusste sie, dass dieser kleine Junge ihr Leben mit atemberaubenden Momenten erfüllen würde. Sein erstes Lächeln, seine ersten Schritte, sein erster Schultag. Das alles – jeder Augenblick – wäre ein Abenteuer, das sie auf keinen Fall verpassen wollte.
Und sie wusste noch etwas anderes. Er würde ein schöner Junge werden, wie sein Vater. Blonde Haare ... blaue Augen ... ein Grübchen am Kinn und eine Persönlichkeit, die einen ganzen Raum in seinen Bann ziehen konnte. Sie wusste das genauso deutlich, wie sie ihn jetzt sehen konnte, zum ersten Mal in seinem jungen Leben.
Genauso wie ihre Mutter und Landon es anscheinend wussten. Denn selbst als Neugeborenes mit seinen Babyfalten sah Thomas Luke ganz genauso aus wie sein Vater. Und obwohl dieser Moment der großartigste in ihrem ganzen Leben war, obwohl er unauslöschlich in ihr Herz geschrieben war, konnte Reagan eine andere traurige Erkenntnis nicht verdrängen.
Luke hatte die Entscheidung für sein Leben getroffen, und darin spielte sie keine Rolle. Er würde dieses Gefühl nie erfahren, nie dieses kostbare, wunderbare Kind in den Armen halten und in der Tiefe seiner Seele diese neue Liebe erleben, die sie noch nie zuvor gekannt hatte. Luke würde nie die Liebe zwischen Vater und Kind erfahren. Und obwohl ihr diese Wahrheit das Herz brach, war eine andere Tatsache noch trauriger:
Auch ihr Sohn würde diese Liebe nie erfahren.
Kapitel 9
Luke rannte sie fast zu Boden.
Sein Kurs in Medienrecht war zu Ende, und er eilte aus dem Südausgang des Gebäudes, als eine Frau ihm, ohne aufzupassen, vor die Füße lief. Sie schaute auf ihr Handy hinab. Als sie aufblickte, war es zu spät, und sie stießen mit vollem Schwung zusammen. Der Aufprall warf ihr das Handy aus der Hand und ließ es über den Boden schlittern – das Handy in die eine Richtung, den Akku in die andere.
Er berührte den Arm der Frau, um sicherzugehen, dass sie das Gleichgewicht nicht verlor. „Tut mir leid, ich habe ...“
Erst jetzt erkannte er, dass die Frau seine Schwester war.
Brooke starrte ihn an, als sähe sie ein Gespenst. „Ist schon in Ordnung.“ Sie kniff fragend die Augen zusammen und betrachtete ihn über die Schulter, während sie die Teile ihres Handys einsammelte und den Akku wieder hineinsteckte. „Luke?“
„Du hast mich nicht erkannt, was?“ Er zwang sich zu einem Lachen, aber er konnte selbst hören, wie angespannt und unsicher es klang.
„Deine Haare ... sie sind so lang.“ Sie steckte das Handy in ihre Handtasche und schob eine Haarsträhne in den losen Haarknoten in ihrem Nacken zurück. Ihre Stimme klang nervös und ein wenig zu freundlich. „Und der Schnurrbart ... der Bart an deinem Kinn. Nein, ich habe dich wirklich nicht erkannt. Wie geht es dir?“
„Gut ... wirklich gut.“ Er trat einen Schritt zurück und steckte die Hände in seine Jeanstaschen. Was machte Brooke hier an der Uni? Und warum musste er von den vielen Leuten, die heute hier unterwegs waren, ausgerechnet mit seiner Schwester zusammenstoßen? Fünf Monate waren vergangen, seit er sie oder irgendeine andere seiner Schwestern gesehen hatte. Außer Ashley. Und auch sie hatte er seit April nicht mehr zu Gesicht bekommen.
Ein unsicheres Schweigen stand wie eine Mauer zwischen ihnen.
Brooke räusperte sich und schwang ihre Handtasche wieder über ihre Schulter. „Ich treffe mich mit einer Freundin zum Mittagessen. Sie ist Soziologieprofessorin.“
Luke biss sich auf die Lippe und versuchte, sich zu erinnern. Was hatte Ashley gesagt? Obwohl sie jahrelang nicht an Gott geglaubt hatten, kauften Brooke und Peter den anderen jetzt auch die Sache mit Gott ab? Oder waren sie immer noch skeptisch? Vielleicht war er zurzeit der einzige Zweifler in der Familie. Er konnte sich nicht mehr genau erinnern, deshalb zuckte er die Achseln. „Soziologieprofessoren haben ziemlich viel drauf.“
„Sami Baker ist Christin. Maddie und ihre kleine Tochter gehen miteinander in den Kindergottesdienst.“
Luke knirschte mit den Zähnen und starrte auf den Boden. Okay, Brooke war jetzt also auch Christin. Schön. Er musste sowieso in seinen nächsten Kurs. Er wollte Brooke viel Glück wünschen und schnell wieder verschwinden.
„Darf ich eine Beobachtung machen?“ Brookes Tonfall klang fast herablassend, genauso wie sie damals oft mit ihm gesprochen hatte, als sie noch Kinder gewesen waren. Brooke war die Älteste, und manchmal hatte seine Mutter sie zurechtweisen müssen, sie solle Luke in Ruhe lassen und ihn nicht so viel herumkommandieren.
Er blickte auf und schaute seiner Schwester in die Augen. „Was?“
„Du sagst, dir gehe es gut, aber deine Augen sagen etwas ganz anderes.“ Sie trat einen Schritt näher und senkte die Stimme. „Du lässt uns links liegen, Luke. Uns alle. Und du glaubst, das wäre Erleuchtung? Du glaubst, das wäre freies Denken?“ Ärger zog über ihr Gesicht. „Ich sage dir, was das ist, Luke: Es ist ein Haufen Mist.“
Die Haare in seinem Nacken standen hoch. „Moment mal. Ich habe dich nicht um eine Moralpredigt gebeten. Davon bekomme ich von Vater genug.“
„Komm mit.“ Brooke packte ihn am Arm und zog ihn zu einer Bank, die ein paar Meter abseits vom Strom der vielen Studenten stand, die alle in ihre Vorlesungen eilten. Sie schüttelte ihn leicht. „Was ist nur in dich geraten, Luke Baxter?“
Er riss sich von ihr los. „Das Gleiche könnte ich dich auch fragen. Das Letzte, was ich von dir wusste, war, dass du nicht an Gott glaubst, und jetzt gehst du zur Kirche? Was soll das für ein Witz sein, Brooke? Terroristen lenken Flugzeuge in mehrere Gebäude, einige Tausend Leute sterben, und plötzlich ergibt Gott einen Sinn?“ Er schnaubte und verschränkte die Arme vor der Brust. „Das ist ein Haufen Mist.“
Brooke atmete tief aus. „Tut mir leid. Ich hätte dich nicht anschreien sollen.“
„Ja.“
„Aber schau doch, was du machst, Luke. Siehst du das denn nicht? Gott ist das Einzige, was jetzt einen Sinn ergibt.“
Luke hielt einen Finger hoch. „Du irrst dich, große Schwester.“ Er lachte leicht. „Ich habe diesen engstirnigen Unsinn früher geglaubt, aber dann habe ich eine völlig neue Welt gefunden. Eine Welt, in der freies Denken etwas Gutes ist und in der Liebe nicht durch starre Regeln oder einen zweideutigen Gott definiert wird. Beziehungen sind offen, der Verstand ist offen, und es steht einem frei, das Leben so zu leben, wie man es selbst für das Beste hält. Und das ...“ Er bewegte den Finger. „Das ergibt einen Sinn.“
„Schlimme Dinge passieren jeden Tag, Luke.“ Brookes Stimme klang jetzt versöhnlicher. Sie streckte den Arm aus und versuchte, seine Hand zu berühren. Als er seine Hand wegriss, gab sie trotzdem nicht auf. „Jemand bekommt Krebs, jemand wird von einem Auto überfahren, jemand stirbt bei einem Terroranschlag. Schlimme Dinge passieren. Welchen Sinn hat also das Freidenken? Es bringt keine Ordnung ins Leben.“
„Und Gott schon?“
„Ja.“ Brooke warf die Hände in die Luft. „Ja. Hundertmal ja. Wenn das alles wäre, was es gibt, wozu dann das Ganze? Wenn es Gott nicht gibt, dann gibt es nichts Absolutes. Nichts Richtiges, nichts Falsches, keinen moralischen Kompass. Warum dann noch leben, Luke? Nur um der Erfahrung willen? Das muss doch sogar für einen Freidenker wie dich hohl klingen.“
„Das Problem bei euch Christen ist, dass ihr bereit seid, euer ganzes Leben auf einem Glauben aufzubauen, der unmöglich bewiesen werden kann. Das solltest du doch am besten wissen, Brooke. Das waren deine eigenen Worte, weißt du noch? Damals, bevor die Welt aus den Angeln geriet.“
Brooke zuckte bei dieser Erinnerung zusammen. „Es tut mir leid, dass ich das jemals gesagt habe.“ Etwas von ihrer Kampfeslust verschwand, und ihr Blick war jetzt so tief, wie er ihn noch nie bei ihr gesehen hatte. „Ich habe mich geirrt.“
„Woher willst du das wissen?“ Er knirschte mit den Zähnen. Warum führten sie überhaupt dieses Gespräch? Er kam zu spät in seinen Wirtschaftskurs, und sein Professor würde das sicher notieren. „Was macht dich so sicher, Brooke? Wenn du so viele Jahre lang nicht geglaubt hast?“
Sie schaute zu den Bäumen hinauf, die den Rand des Hofes säumten. „Eine Ulme, die sich im Wind bewegt.“ Sie drehte den Kopf und starrte den Himmel an. „Das endlose Blau des Himmels.“ Sie schaute ihn direkt an. „Der Umstand, dass du und ich heute hier sind. Dass ich von den vielen Leuten hier ausgerechnet mit dir zusammengestoßen bin.“
Er schwieg einen Moment zu lang.
„Du kannst weiterhin an deinem New-Age-Kram festhalten, Luke, dir weiter einreden, dass wir alle nichts zählen, dass es das Geheimnis zum Glück sei, mit diesem ... diesem Mädchen, das du da kennengelernt hast, zusammenzuleben. Aber eines Tages wird es zu spät sein. Menschen sterben, das Leben geht weiter, und manchmal bleibt uns nichts anderes als ein tiefes Bedauern.“ Sie stand auf und rückte ihre Jacke zurecht, ohne den Blick von seinen Augen abzuwenden. „Eines Tages wirst du eine Familie haben, Luke. Und wenn du zum ersten Mal dein Kind in den Armen hältst, wirst du wieder glauben. Und du wirst wissen, wie sehr dein abweisendes Verhalten Mama und Papa verletzt.“
Lukes Fragen waren verschwunden. An ihrer Stelle kochte eine unübersehbare Wut in ihm. Er stand auf und berührte kurz Brookes Arm. „Danke für den Vortrag, Schwester. Man sieht sich.“
Ohne sich noch einmal umzuschauen, ohne sich für sein Verhalten zu entschuldigen oder auch nur eine Minute über ihre Worte nachzudenken, drehte er sich um und lief in sein Seminar. Erst als er auf seinem Stuhl saß, stellte er fest, dass er ganz vergessen hatte, Brooke etwas zu fragen. Er war nicht sicher, warum es ihm wichtig war. Schließlich war Familie ein loser Begriff, und nur weil Menschen das gleiche Blut hatten, bedeutete das nicht notwendigerweise, dass sie lebenslang miteinander verbunden waren. Wenigstens hatten ihm das die Leute beim Freidenkerbund erklärt.
Trotzdem wollte er es plötzlich unbedingt wissen – so sehr, dass er, wenn er sicher sein könnte, dass er sie noch erwischen würde, zurückliefe, um Brooke zu suchen und sie zu fragen, ob sie inzwischen herausgefunden hatten, warum Maddie so oft krank war.
* * *
Ashley bestieg am 10. Juni kurz vor sieben das Flugzeug der American Airlines.
In den letzten Tagen hatte Landon zwei Nachrichten auf ihrem Anrufbeantworter hinterlassen, aber jedes Mal, wenn sie versuchte, ihn zurückzurufen, meldete sich bei ihm auch nur der Anrufbeantworter. Dann fand sie einen günstigen Hin- und Rückflug zum Flughafen La Guardia in New York. Und ihr kam eine Idee.
Sie wollte mit ihren Bildern nach Manhattan fahren und Landon überraschen. Sie hatte ihm noch nicht von dem Anruf aus der Galerie erzählt, und auch nicht, dass die Galerie tatsächlich drei von ihren Bildern ausstellen wollte. Sie würde nach New York fliegen, ihr Hotel beziehen und dann zu seiner Feuerwehrwache fahren. Wenn er nicht arbeitete, würde sie zu seiner Wohnung fahren. Sie war zwar noch nie dort gewesen, aber sie wusste die Adresse, und jeder Taxifahrer könnte sie dorthin bringen.
Ihre Eltern hatten angeboten, Cole zu nehmen, und jetzt, achtundvierzig Stunden später, bestieg sie ein Flugzeug.
Ashley ging durch den Mittelgang und fand ihren Platz. Ein Fensterplatz. Gut. Ein Fensterplatz gab ihr Zeit nachzudenken, Zeit, den Himmel anzuschauen und sich Gott ein wenig näher zu fühlen. Zeit, sich zu fragen, was Gott damit vorhatte, dass er ihr diese Gelegenheit in New York schenkte. Und Zeit, über Landon nachzudenken und darüber, wie herrlich es wäre, ihn wiederzusehen.
Ashley hatte Mrs Wellington Fotos von ihren Bildern als E-Mail geschickt. Diese hatte ihre drei Lieblingsbilder ausgewählt – Lieblingsbilder, von denen sie sich trennen konnte.
„Sie sind perfekt“, hatte die Frau zu ihr gesagt. „Ich kann es nicht erwarten, sie im Original zu sehen.“
Das erste Bild zeigte das Haus ihrer Eltern – es war nicht das Bild, das sie an jenem kalten Wintertag gemalt hatte, als Landon aufgetaucht war und sie überrascht hatte. Sondern ein anderes, auf dem das Haus im kühlen Herbstlicht badete und die Blätter an den Bäumen im Wind flatterten.
Das zweite war eines der Bilder, die sie von Irvel gemalt hatte. Auf diesem Bild schaute Irvel durch das Fenster auf die Veranda vor dem Pflegeheim. In ihrer Hand hielt sie eine Porzellantasse mit Pfefferminztee, und in ihren Augen lag eine Sehnsucht nach einem Mann, der nie wieder zu ihr zurückkommen würde. Etwas an den Linien auf Irvels Gesicht, an den zusammengekniffenen Augen, die über den Garten von Sunset Hills schauten, ließ sie fast leuchtend aussehen. Als wüsste sie tatsächlich für einen kurzen Moment die Wahrheit über Hank, und als wüsste sie auch, dass sie eines Tages wieder zusammen sein würden.
Das dritte Bild zeigte Landon. Es war eines der wenigen Bilder, die sie nach seiner Zeit am Ground Zero gemalt hatte. Sie hatte die Nachrichten im Fernsehen verfolgt und die Fotos in den Zeitschriften während jener Zeit betrachtet. Mehrere ihrer jüngsten Bilder zeigten persönliche Blicke auf die Menschen, die geholfen hatten, den riesigen Schutthaufen abzutragen. Einige Male hatte sie einem Feuerwehrmann Landons Gesicht, seine schlaksige Figur und seine klaren, blauen Augen gegeben. Dieses Bild war eines davon. Landon saß auf einer Parkbank, den Kopf gebeugt, während in der Ferne die Arbeiter am Ground Zero zu erkennen waren.
„Amerikana“, hatte die Frau von der Kunstgalerie diese Bilder genannt. Es waren tatsächlich Bilder, die das typische amerikanische Leben darstellten – auch wenn Ashley sich vor einigen Jahren nicht hätte vorstellen können, etwas anderes als impressionistische Bilder zu malen. Seit sie die Arbeit in Sunset Hills angenommen hatte und ihr Herz und ihren Glauben an Gott wiedergefunden hatte, malte sie am liebsten Porträts von den Menschen, die sie liebte, und von ihrer Umgebung, in der sie zu Hause war.
Ashley lehnte sich zurück und schaute aus dem Fenster. Sie machte sich wegen Landon jetzt nicht mehr so viele Sorgen, nachdem er sie in den letzten Tagen zweimal angerufen hatte. Er hatte offenbar viel zu tun, und vielleicht sah er ihre Situation immer noch so wie damals, als er am Ground Zero gearbeitet hatte. Was hatte er gesagt, als sie sich nach dieser furchtbaren Zeit endlich wiedergesehen hatten? Dass er sie nicht hatte anrufen können; hatte er es nicht so ausgedrückt? Sonst hätte ihn nichts davon abhalten können, sich in das nächste Flugzeug zu setzen und nach Bloomington zurückzukehren.
Sie hatte keinen Grund zu glauben, dass es ihm jetzt irgendwie anders ging. Ja, er hatte die Freiheit, andere Freunde zu finden und sich sogar mit Frauen zu verabreden oder sich zu verlieben. Aber Ashley erinnerte sich daran, wie er sie an jenem Abend im letzten Sommer angeschaut hatte, als sie ihm erzählt hatte, was in Paris passiert war. Den Blick in seinen Augen würde sie ihr Leben lang nicht vergessen.
Nein, Landon hatte nichts mit einer anderen Frau. Er hatte nur viel zu tun. Zwölf-Stunden-Schichten, Basketballspielen und ehrenamtliche Arbeit im Krankenhaus. Eine Stunde jeden Tag Joggen und Training im Kraftraum. Wahrscheinlich hatte er darüber hinaus keine Zeit für etwas anderes. Und wenn sie Landon so gut kannte, wie sie glaubte, dachte er wahrscheinlich genauso oft an sie, wie sie an ihn dachte.
Das wirklich Verrückte war, dass sie nicht früher erkannt hatte, wie sehr sie ihn liebte. Sie hatte immer gedacht, er führe ein zu langweiliges und zu geregeltes Leben, und er wäre nur glücklich, wenn er eine nette kleine gläubige Frau hätte, die ehrenamtlich beim Frauenbasar mitarbeitete und Kuchen für das Gemeindefest backte.
Ja, Ashley liebte Gott jetzt. Er war seit fast einem Jahr das feste Fundament ihres Lebens. Aber sie würde nie eine konservative Kirchgängerin werden. Denn sie saß viel lieber in der freien Natur und zauberte ein wunderbares Bild auf eine Leinwand.
„Wollen Sie etwas zu trinken?“
Die Stimme der Flugbegleiterin riss Ashley aus ihren Gedanken. Sie drehte sich vom Fenster weg. „Ja, bitte ein Wasser.“ Sie schaute auf ihre Armbanduhr. Sie würde in La Guardia landen und Landon auf seiner Wache besuchen. Damit würde sie ihn überraschen, und dann könnte sie mit ihm essen gehen und es feiern, dass ihre Bilder in der Öffentlichkeit gezeigt wurden.
Ashley nahm ein kleines Glas Wasser von der Flugbegleiterin und trank es in vier großen Schlucken leer. Das Flugzeug war nicht einmal halb voll, und die Plätze neben ihr waren frei. Das war gut. Sie wollte diesen Moment mit keinem Fremden teilen – und auch mit sonst niemandem. Mit niemandem außer mit Landon Blake. Er hatte schon immer an ihre Kunst geglaubt, solange sie zurückdenken konnte. Schon vor Paris, als sie noch gemeinsam zur Schule gegangen waren.
„Deine Bilder sind so gut, Ash“, hatte er damals zu ihr gesagt. Er hatte ein Bild bewundert, das sie für den Kunstunterricht gemalt hatte. „Du wirst eines Tages bestimmt berühmt.“
Komisch, dass sie einen großen Teil ihrer Kindheit aus ihrem Denken ausgesperrt hatte, aus der Zeit, als sie sich als schwarzes Schaf der Familie gefühlt hatte. Selbst Bilder aus Paris waren bestenfalls verschwommen, in die hintersten Winkel ihres Denkens verdrängt. Aber das Bild von Landon, wie er ihre Zeichnung bewundert und ihr versichert hatte, dass sie eines Tages berühmt würde ... dieses Bild stand ihr so real und lebendig vor Augen wie an dem Tag, an dem es geschehen war.
Sie dachte an Cole. Sie und ihr kleiner Sohn hatten jetzt ein herzliches Verhältnis zueinander. Auch das verdankte sie Landon. Er hatte sie daran erinnert, dass ihr Sohn das Gute war, das sie aus Paris mitgebracht hatte. Damit hatte er Ashley geholfen, ihr Denken über ihre Vergangenheit zu ändern. Jetzt genoss sie Cole so sehr, dass sie sogar überlegt hatte, ihn mit nach New York zu nehmen. Aber Manhattan war kein Ort für einen kleinen Jungen, und schon gar nicht, wenn Ashley geschäftliche Dinge erledigen musste.
Sie musste gähnen und schloss die Augen. Sie war um drei Uhr morgens aufgestanden, um ihr Flugzeug zu erwischen, und ein kleines Nickerchen wäre wunderbar. Sie schaute aus dem Fenster auf die Wolken in der Ferne. Wem machte sie hier eigentlich etwas vor? Sie könnte bestimmt nicht schlafen, denn ihr Körper bebte vor Vorfreude. Nicht, weil sie davor stand, einen lebenslangen Traum Wirklichkeit werden zu lassen.
Sondern weil sie das alles mit Landon Blake teilen könnte.