Über das Buch:
Michigan 1881, in einer Gemeinde von deutschen Auswanderern:
Annalisas Mann kommt auf mysteriöse Weise ums Leben. Da die junge Mutter die Farm allein nicht halten kann, lässt ihr Vater in der alten Heimat nach einem neuen Ehemann für sie suchen. Eines Tages erscheint der galante Carl Richards auf ihrer Farm. Er hat zwei linke Hände, doch mit seiner charmanten und fürsorglichen Art zieht er Annalisa in seinen Bann. Durch ihn begegnet Annalisa etwas von der Liebe Gottes, auf die sie schon nicht mehr zu hoffen wagte. In dieser Situation kommt die Ankunft von Annalisas Zukünftigem äußerst ungelegen. Und leider ist Carl nicht der, für den alle ihn halten …

Über die Autorin:
Jody Hedlund lebt mit ihrem Mann, den sie als ihren größten Fan bezeichnet, in Michigan. Ihre fünf Kinder werden zu Hause unterrichtet. Die Zeit, die ihr neben dieser Tätigkeit noch bleibt, widmet sie dem Schreiben.

Kapitel 8

Als sie vor dem Stall Pferdehufe hörte, zog sich Annalisas Magen vor Vorfreude zusammen.

Carl kam endlich vom Feld zurück.

Sie wischte ein Stück Stroh von dem sauberen Hemd, das sie für ihn bereitgelegt hatte. Dann tauchte sie den Finger in die Wanne mit Wasser. Es war nicht mehr so heiß wie vorher, als sie den letzten Kessel mit Wasser hineingekippt hatte, aber es war immer noch warm.

Die Laterne, die vom Mittelbalken hing, warf ein blasses Licht in die Ecke, die sie für ihn sauber gemacht hatte. Alles war bereit, von der körnigen Laugenseife über den Topf mit Salbe bis zu dem dünnen Handtuch.

Auf der anderen Seite der U-förmigen Scheune kaute die braunweiß gescheckte Kuh Mathilda ihren gemahlenen Mais und warf Annalisa über das Gatter hinweg fragende Blicke zu, als verstehe sie nicht, warum sie so spät nach dem Melken immer noch im Stall war.

Durch die Stallwand drang von draußen aus dem matschigen Schweinekober das Schmatzen der Sau, die den Rest ihres Fressens verschlang. Das Schwein schien es nicht zu stören, dass es seinen Stall hatte räumen müssen, damit Vaters Pferd bis zum Ende des Pflügens darin untergebracht werden konnte. Aber sie müsste die Sau bald in den Stall zurückbringen, um sie besser schützen zu können. Am Anfang des Frühlings hatte sie die Sau von einem Eber ihres Vaters decken lassen. Wenn alles nach Plan liefe, würde die Sau bald Ferkel werfen und bräuchte dann wieder ihren Stall.

Bis dahin wäre Carl mit dem Pflügen fertig, hoffte sie.

Obwohl er fleißig arbeitete und sich nicht beklagte, war er langsam und stellte sich mit den Pferden und den Geräten unbeholfen an. Er brauchte viel zu lange und Vater beschwerte sich schon, dass er sein Pferd wieder brauche.

Sie hatte Carl mehr darüber fragen wollen, was er in Deutschland gemacht hatte und wie es kam, dass er nicht einmal die grundlegendsten Sachen konnte – so wie Wasser aus dem Brunnen holen oder Fallen aufstellen. Aber sie wusste, dass sie nicht das Recht hatte, neugierig zu sein. Sie war für seine Hilfe dankbar, auch wenn er langsam arbeitete und sie immer weiter hinter den anderen Bauern zurücklag.

Wenigstens könnte sie bald aussäen.

Die Stalltür ging quietschend auf und die Kälte der aufziehenden Nacht wehte herein und verjagte die feuchte Wärme und den vertrauten Heuduft.

„Jammert bloß nicht, dass ihr Hunger hättet“, sagte Carl zu den Pferden. „Wenigstens habt ihr gestern nicht auf euer Abendessen verzichten müssen.“

Ihre Lippen zuckten und sie musste leicht lächeln. Er hatte eine Schwäche für die Tiere und die reizende Angewohnheit, mit ihnen zu sprechen.

„Ich habe meine leckere Wachtel nämlich dem Hund gegeben.“ Das Geschirr der Pferde klirrte, als sie in den Stall trotteten. Carl folgte hinter ihnen, seine dunklen Haare lockten sich um seine Hutkrempe.

Annalisas Magen kribbelte. Es war unglaublich freundlich von ihm gewesen, Schneewittchen sein Abendessen zu überlassen. Sie hatte ihm zwar etwas anderes zu essen geben wollen, aber er hatte darauf bestanden, ohne Essen schlafen zu gehen.

Als er fort gewesen war, hatte sie immer wieder daran denken müssen, wie er sie vor Ward beschützt und sie dann in den Armen gehalten hatte. Diese Gedanken hatten sie auch heute den ganzen Tag über nicht losgelassen. Besonders, als sie ihm mittags sein Essen gebracht hatte, und jedes Mal, wenn sie ihn auf dem Feld beobachtete, wurde sie wieder daran erinnert.

Seine Arme waren sanft gewesen und trotzdem gleichzeitig so stark. Und er hatte ihre Haare berührt. Noch nie zuvor hatte jemand ihre Haare berührt. Wenigstens nicht so zärtlich, wie er das getan hatte.

Er trat neben Hektor und begann, das Halfter an seinem Hals zu lösen. Offensichtlich hatte er sie im schwachen Stalllicht noch nicht entdeckt. „Ich sage es ja nur ungern, alter Junge“, fuhr er fort und strich mit der Hand über Hektors Widerrist, als er dem Wallach das Zaumzeug über den Kopf hob und das Gebiss aus seinem Maul holte, „aber ich glaube, ihr Tiere bekommt mehr in den Bauch als eure Besitzer.“

„Das liegt daran, dass die Tiere für uns überlebenswichtig sind.“ Sie trat aus dem Schatten. „Wenn sie verhungern, verhungern wir auch.“

Er fuhr auf. „Ich habe dir doch gesagt, dass du nach Einbruch der Dunkelheit in der Hütte bleiben und die Tür verriegeln sollst.“

„Ward würde es nicht wagen, zwei Tage hintereinander hierherzukommen.“ Bei Hans hätte sie sich Sorgen gemacht, dass er wegen ihres Ungehorsams wütend werden und sie bestrafen würde. Aber Carl traute sie zu, dass er ihr vergeben würde, wenn er sähe, warum sie seine Anweisungen nicht befolgt hatte.

Trotzdem trat sie zögernd auf Hektor und Betty zu. Sie zog einen getrockneten Maiskolben aus ihrer Manteltasche und hielt ihn Hektor hin. Das Pferd schob sich den ganzen Kolben auf einmal ins Maul und bewegte ihn mit einem zufriedenen Schmatzen hin und her. Die Maiskolben waren eine besondere Belohnung. Annalisa wusste, dass das Pferd ihn erst wieder hergäbe, wenn es jedes einzelne Maiskorn abgenagt hätte.

Annalisa ging zu Betty und nahm die Zügel. „Ich striegle und füttere die Pferde.“

Carl, der noch auf der anderen Seite von Hektor stand, zog erstaunt die Brauen hoch.

Jetzt, da er die Tiere selbst versorgen konnte, war es ungewöhnlich, dass Annalisa im Stall war, wenn er vom Feld zurückkam. Und es war noch ungewöhnlicher, dass sie anbot, seine Arbeit zu übernehmen.

Ein Anflug von Verlegenheit regte sich in ihr. Hatte sie das Richtige getan? Oder hatte sie die Grenzen des Anstands überschritten?

„Meine Dame, es ist sehr nett von Ihnen, dass Sie anbieten, meine Arbeit zu erledigen“, sagte er schließlich mit einem halben Grinsen. „Aber ich habe in der letzten Woche einiges über Pferde gelernt und ich glaube, ihnen missfallen meine Dienste nicht mehr so sehr wie am Anfang.“

Sie strich mit den Fingern durch Hektors Mähne und dann in seine Stirnlocke hinein. „Ich glaube auch, dass sie dich inzwischen halbwegs ertragen können.“

Sein Grinsen wurde breiter. „Halbwegs?“

„Nur ein wenig.“ Eine Wärme breitete sich in ihrem Herzen aus, wie immer, wenn sie sich auf ein verspieltes Wortgeplänkel mit ihm einließ.

Seine dunkelbraunen Augen funkelten. „Wenn ich sie jedes Mal, wenn ich in den Stall komme, mit Maiskolben füttern würde, würden sie mich vermutlich auch lieber mögen.“

„Vermutlich.“

„Vielleicht reagieren sie aber auch gar nicht so sehr auf den Mais, sondern vielmehr auf das hübsche Gesicht, von dem sie es bekommen.“

Ja, sie hatte richtig gehandelt. Sie hätte es viel früher tun sollen. Sie lächelte und deutete dann zu der Wanne, die auf dem frischen Stroh stand, das sie in der leeren Ecke ausgebreitet hatte. „Ich habe dir heißes Wasser zum Baden gebracht.“

Er warf einen Blick zu der Blechwanne, in der sie sonst ihre Wäsche wusch. Obwohl sie groß war, wäre sie für einen Mann wie ihn trotzdem sehr eng. Dampf stieg kräuselnd über dem Wasser auf und sie konnte nur beten, dass es noch eine Weile warm bliebe.

„Offenbar bin ich nicht der Einzige, der meinen furchtbaren Geruch nicht mehr ertragen kann.“

„Nein“, sagte sie schnell, „ich wollte damit nicht sagen, dass …“

„Ich gebe es gern zu.“ Sein Grinsen wurde breiter. „Ich stinke schlimmer als Schwefelwasserstoff.“

Sie hatte keine Ahnung, was Schwefelwasserstoff war. Das war wieder eines seiner seltsamen Wörter, die in ihr den Wunsch weckten, ihn nach seiner Vergangenheit zu fragen.

„Glaubst du, die Pferde würden mich mehr mögen, wenn ich nicht so furchtbar stinken würde?“

„Ja.“ Sollte sie mitspielen? Und wenn sie das Falsche sagte?

Er beobachtete sie, als warte er darauf, dass sie mehr sagte, als wolle er sie einladen, sich genauso locker und zwanglos zu verhalten wie er. Aber diese Art war sie nicht gewohnt, und schon gar nicht im Umgang mit einem Mann.

„Hektor“, sagte sie langsam, „hat mich in den letzten Tagen gebeten, etwas wegen deines Geruchs zu unternehmen.“

Er lachte und der tiefe Klang aus seiner Kehle lockerte ihre angespannten Muskeln.

Aber dann verschwand sein Lächeln und sein Blick wurde ernst. „Danke“, sagte er. Die Dankbarkeit in seinen Augen rührte sie an. Aber es lag noch etwas anderes darin, das Gleiche, das ihr gestern Abend aufgefallen war, als sie nebeneinander vor dem Bett gekniet hatten. Sie konnte nicht sagen, was es war, sie wusste nur, dass es in ihr den Wunsch geweckt hatte, näher bei ihm zu sein und seine Arme wieder um sich zu fühlen.

„Du hast ja keine Ahnung, wie oft ich mir gewünscht habe, den Schmutz der letzten Wochen von mir abzuwaschen.“

„Entschuldige, dass ich dir nicht früher ein Bad gemacht habe.“

„Mir ein Bad zu machen war nicht Teil unserer Abmachung.“

Es war auch nicht Teil der Abmachung, einen kleinen Welpen zu retten oder sie vor Wards hinterhältigen Machenschaften zu beschützen. Sie rieb sich die Schulter. Der Mann hätte ihr fast den Arm ausgekugelt. Sie hatte furchtbare Schmerzen gehabt, aber noch schlimmer war die Angst gewesen, dass Gretchen Zeugin eines Mordes werden könnte und ihr ganzes Leben lang mit dieser Erinnerung leben müsste.

Sie wusste nicht, was sie getan hätte, wenn Carl nicht genau im richtigen Moment in die Hütte gekommen wäre. Sie hatte sich geweigert, die Verkaufsurkunde zu unterschreiben, bis Ward ihr schließlich den Arm auf den Rücken gedreht und sie gezwungen hatte, sich auf den Stuhl zu setzen. Sie wollte gar nicht daran denken, was der Mann als Nächstes getan hätte.

„Ich habe dir noch nicht für das gedankt, was du gestern Abend getan hast“, sagte sie.

„Das ist nicht nötig.“

„Ich wollte mich erkenntlich zeigen …“ Sie wandte den Blick von seinen durchdringenden Augen ab. „Du musst dich jetzt beeilen, bevor das Wasser abkühlt.“

Er ging auf die Wanne zu und zog dabei seinen Mantel aus.

„Bearbeite deine Haare kräftig mit der Laugenseife. Wenn du sie ausgewaschen hast, musst du die Salbe auftragen, die ich dir hingelegt habe.“

Er begann sein Hemd aufzuknöpfen. Sie wandte den Blick ab und konzentrierte sich darauf, Betty abzuzäumen. Aber ihr Gesicht begann trotzdem zu glühen.

„Ich trage die Salbe also auf meine Haare auf?“

„Ja. Schmiere sie dir überall auf die Haare. Dass alle gut bedeckt sind.“

„Dann bin ich geheilt?“

„Lass sie eine Weile einwirken, bevor du sie wieder auswäschst.“

„Wenn nötig, würde ich sie eine ganze Woche auf dem Kopf lassen. Ich tue alles, um von diesem Ungeziefer frei zu werden.“

Ein Lächeln umspielte ihre Lippen. „Nur eine Weile. Dann wirst du heute Nacht friedlich schlafen können.“

Er schwieg einen Moment.

Als sie einen weiteren kurzen Blick in seine Richtung wagte, merkte sie zu spät, dass er gerade dabei war, sein Unterhemd über den Kopf zu ziehen. Als sie seinen wohlgeformten Rücken sah, hielt sie für einen Moment die Luft an und wandte sich dann schnell wieder Betty zu. Plötzlich hatte sie es eilig, so bald wie möglich mit den Pferden fertig zu werden und ins Haus zu kommen. Sie wollte Carl die Privatsphäre ermöglichen, die er brauchte.

Als sie das leise Plätschern von Wasser vernahm, zwang sie sich, schneller zu arbeiten und auf keinen Fall einen Blick zu ihm in die im Schatten liegende Ecke des Stalles zu werfen.

Nachdem sie die Pferde versorgt hatte, blieb sie an der Stalltür stehen und lehnte verwirrt die Stirn an das harte Holz. Sie verstand die ungewohnte Sehnsucht nicht, die sich in ihr regte. Sie hatte nie in Hans’ Nähe sein wollen. Sie hatte immer darauf geachtet, so viel Abstand wie möglich zu ihm zu haben. Was hatte Carl an sich, das in ihr den Wunsch weckte, bei ihm zu bleiben?

„Carl?“, sagte sie leise.

„Ja?“

In seiner Stimme lag eine unüberhörbare Sehnsucht. Fühlte er das Gleiche wie sie? Sie wusste, dass sie gehen musste. Sie durfte sich nicht erlauben, noch länger an ihn zu denken.

„Ich habe saubere Kleidung für dich hingelegt.“

„Ich sehe sie. Gehörten die Sachen deinem Mann?“

Es war die einzige Ersatzkleidung, die Hans besessen hatte. Er hatte die Sachen zu ihrer Hochzeit getragen. Sie hätte sie nach seiner Beerdigung fast verbrannt, denn sie hatte jede Erinnerung an ihn loswerden wollen. Aber zum Glück hatte sie es dann doch unterlassen, etwas so Verschwenderisches zu tun.

„Ich hoffe, die Sachen passen“, sagte sie.

Er schwieg lange und war in Gedanken offenbar ganz bei seinem Bad.

Sie schob die Stalltür auf und trat in die kühle Luft hinaus. Die Dunkelheit wurde nur vom Schein des Laternenlichts durchbrochen, das aus dem Inneren des Stalls kam.

„Annalisa“, erklang seine Stimme hinter ihr.

Sie blieb stehen und hielt die Luft an. „Ja?“

„Danke.“

„Bitte.“ Dieses Mal reichte das Lächeln, das sich auf ihren Lippen bildete, bis in ihr Herz hinein. Er hatte nur ein Wort gesagt, aber sie konnte darin seine Freude über alles, was sie für ihn getan hatte, hören.

Seine Dankbarkeit begleitete sie noch, als sie sein Abendessen aufwärmte und Gretchen zum Schlafengehen fertig machte.

„Und dann ließ Rapunzel ihre langen Zöpfe hinab und die Zauberin kletterte zu ihr hinauf.“ Annalisa kämmte Gretchens seidige Haare.

„Sind meine Haare so lang wie Rapunzels Haare, Mama?“

„Ja, sie werden sehr lang.“

Das Mädchen saß in seinem Nachthemd mitten auf dem Bett und hatte Schneewittchen auf dem Schoß liegen. Der Schein des Feuers verlieh ihren Haaren einen goldenen Glanz, der durch das Kämmen noch intensiver wurde.

„Weitererzählen, bitte“, sagte Gretchen, die es nie müde wurde, dieselben Geschichten immer wieder zu hören.

Manchmal fragte sich Annalisa, ob es richtig war, dass sie Gretchen so viele Märchen erzählte. Das Mädchen sollte nicht glauben, dass ein Mann und eine Frau wirklich glücklich und zufrieden zusammenleben könnten. Wenigstens wurde in ihrer Welt und bei den Menschen, die sie kannte, Zuneigung selten erwähnt oder gezeigt. Ob so etwas im Privaten geschah, konnte sie nicht sagen.

Annalisa zog den Kamm wieder durch die Haare des Mädchens und erzählte weiter. „Als der Prinz sah, wie die Zauberin an Rapunzels Zöpfen zu ihr hinaufstieg, beschloss er, dass er das auch versuchen würde. Deshalb ging er am nächsten Tag, als es anfing, dunkel zu werden, zum Turm und rief: „Rapunzel, Rapunzel, lass mir dein Haar herunter.“

„Rapunzel, lass mir dein Haar herunter.“ Gretchen wiederholte die Worte mit Inbrunst, wie jedes Mal, wenn Annalisa ihr das Märchen erzählte.

In ein paar Monaten würde das Mädchen drei werden, ungefähr zur selben Zeit, in der das Baby auf die Welt käme. Und jeden Tag klammerte sich Annalisa an die Hoffnung, dass sie Ende Oktober das Darlehen abzahlen könnte, dass sie mit genug harter Arbeit eines Tages vielleicht ihren Kindern ein besseres Leben ermöglichen könnte. Ein besseres Leben, als sie selbst es je haben würde.

Sie beugte sich nach unten und küsste ihre Tochter auf den Kopf.

„Was ist mit dem Prinzen, Mama?“

„Mit dem Prinzen?“

Die Hüttentür ging quietschend auf und Annalisa warf einen Blick hinter sich.

Carl trat ein. Seine dunklen Haare glänzten von der Salbe und dem Bad. Die Enden lockten sich und müssten dringend geschnitten werde. In Hans’ selbst gesponnener Kleidung sah er mehr wie ein Bauer und weniger wie ein Schullehrer aus.

Sie wollte von ihrem Platz auf der Bettkante aufstehen, da sie wusste, dass es höchste Zeit für sein Abendessen war und dass er einen Bärenhunger haben musste.

Aber er bedeutete ihr, sich wieder zu setzen. „Entschuldigung, dass ich eure Geschichte störe. Bitte erzähl das Märchen zu Ende.“

Sie zögerte. „Aber dein Essen …“

„Ich bestehe darauf.“ Er zog den wackeligen Stuhl vor die Feuerstelle und setzte sich darauf. Seine dunklen Augen richteten sich erwartungsvoll auf sie. „Ich kann warten.“

Ihr Magen zog sich zusammen. Wenn sie Gretchen zu Bett brachte und ihr ihre Gutenachtgeschichte erzählte, war er sonst immer schon fort. Sie war es nicht gewohnt, andere Zuhörer als eine Zweijährige zu haben.

„Ich verspreche, dass ich kein Wort sage“, sagte er, als spüre er ihre Scheu. Er drückte die Lippen zusammen, tat, als verschließe er sie mit einem Schlüssel, und steckte dann den nicht vorhandenen Schlüssel in seine Tasche.

Gretchen kicherte über dieses Schauspiel.

Er grinste und beugte sich gespannt mit den Ellenbogen auf den Knien vor. Jetzt sah er eher wie ein Schuljunge aus, der etwas ausheckte.

Annalisa verkniff sich ein Lächeln und konzentrierte ihre Aufmerksamkeit wieder auf Gretchen. „Ich erzähle nur noch ein bisschen weiter. Der Rest muss bis zum nächsten Mal warten.“

Gretchen nickte.

„Wo waren wir stehen geblieben?“ Annalisa fühlte seine Blicke in ihrem Nacken, aber sie versuchte, sie zu ignorieren. „Der Prinz kletterte an Rapunzels Haaren hinauf und kam durchs Fenster. Zuerst erschrak Rapunzel sehr, als sie den Mann sah.“

Annalisa versuchte sich einzureden, dass es ihr nichts ausmache, wenn er ihr zuhörte. Aber der starke Laugengeruch, der mit ihm in die Hütte gekommen war, sowie der süße Duft der Holunderblüten, die ein wichtiger Bestandteil der Salbe waren, lenkte sie ab.

Wie sollte sie sich konzentrieren, wenn ihre Sinne jedes Detail seiner Anwesenheit wahrnahmen?

„Rapunzel wusste nicht, was sie von dem fremden Mann halten sollte“, fuhr sie fort, „aber er begann, wie ein Freund mit ihr zu sprechen. Er sagte ihr, dass sein Herz vom süßen Klang ihres Gesanges angerührt worden sei und dass er keine Ruhe hatte finden können, solange er sie nicht gesehen hatte.“

„Freundschaften sind immer gut, nicht wahr?“, fragte Carl.

„Hast du deine Lippen so schnell wieder aufgesperrt?“ Sie wollte ihn nicht anschauen, konzentrierte sich vielmehr auf Gretchen und kämmte sie hingebungsvoll.

„Du hast recht“, sagte er. Aus dem Augenwinkel konnte sie sehen, wie er seinen Fantasieschlüssel wieder aus der Tasche zog und seine Lippen erneut verschloss, was ihm ein weiteres Kichern von Gretchen einbrachte.

Annalisa tat, als beachte sie ihn nicht. „Der Prinz und Rapunzel haben sich lange unterhalten. Schließlich verlor Rapunzel ihre Angst vor ihm. Sie begann, ihn sogar sehr lieb zu gewinnen, und eines Tages fragte er sie, ob sie ihn heiraten wolle.“

„Wenn das Reden hilft, Zuneigung zu entwickeln“, bemerkte Carl, „dann muss ich viel mehr reden.“

„Pscht.“ Gretchen legte den Finger an ihre Lippen und versperrte sie, als wolle sie ihn an sein Spiel erinnern.

In Annalisas Bauch tanzten Schmetterlinge. Wollte er etwa ihre Zuneigung? Verglich er sie mit Rapunzel und sich selbst mit dem Prinzen? Wollte er wirklich eine Freundschaft mit ihr, einer einfachen Frau?

Sie erzählte das Märchen noch ein wenig weiter, deckte Gretchen dann mit der dicken Wolldecke zu und küsste sie auf die Stirn.

Während Annalisa damit beschäftigt war, Carl sein Abendessen zu servieren, versuchte sie, ihn nicht ihr Gesicht sehen zu lassen. Sie befürchtete, er würde darin ihr Interesse bemerken.

„Es sieht so aus, als könnte ich bald mit dem Säen anfangen“, sagte er während des Essens. „Uli hat gesagt, dass er am ersten Tag kommt und mir zeigt, wie es geht.“

Er strich sein Brot über den Blechteller und ließ keinen Tropfen der verdünnten Soße, die von der Wachtel übrig geblieben war, übrig. Er steckte sich den letzten Rest Rinde in den Mund und schob sich dann vom Tisch zurück. „Danke für das Essen.“

Sie gewöhnte sich allmählich an seine tägliche Dankbarkeit. Sie wünschte nur, sie hätte die Mittel, um ihm etwas wirklich Leckeres zu kochen. Ihm zum Beispiel einen Kuchen zu backen.

Aber es würden noch viele Wochen vergehen und es dauerte mindestens bis zum Juni, bis sie frische Beeren finden würde. Bis dahin wäre er längst fort. Und an seiner Stelle säße ihr Bräutigam hier am Tisch.

Carl stand auf und nahm seinen Hut und Mantel.

Sie nahm den Kamm, mit dem sie Gretchen die Haare gekämmt hatte. Die dünnen Holzzinken bohrten sich in ihre Handfläche.

Er legte den Mantel an, zögerte aber noch. „Ich weiß gar nicht, wie ich dir für deine Freundlichkeit heute Abend danken soll. Ohne dieses teuflische Jucken werde ich heute Nacht genauso friedlich schlafen wie Gretchen.“ Er deutete mit dem Kopf zu dem kleinen Mädchen, das mitten auf dem Bett lag und schlief.

Annalisa hielt den Kamm hoch. „Wir sind noch nicht fertig.“

Er warf einen kurzen Blick auf den Kamm, zog seinen Mantel wieder aus und setzte sich auf den Stuhl. „Ah, ja, ich nehme an, wir müssen sichergehen, dass auch alle Nissen entfernt sind.“

Ihr Magen zog sich zusammen. Konnte sie ihm wirklich die Haare kämmen?

Er fuhr mit den Fingern durch die feuchten Locken auf seiner Stirn. Dann richtete er den Blick auf sie, als warte er darauf, dass sie die Sache hinter sich brächte.

Sie verdrängte ihre Zweifel und trat auf ihn zu. Sie hob die Hand mit dem Kamm über seine dunklen, dichten Haare, die sie so bewunderte. Ihre Finger zitterten und waren noch nicht dazu zu gebrauchen, seine Haare nach Resten von Läusen oder Nissen zu durchsuchen, die dem Bad und der Salbe entkommen waren. Wagte sie es, ihn zu berühren?

Obwohl das Feuer im Kamin niedrig flackerte und nicht viel Hitze verbreitete, war ihr plötzlich viel zu warm.

Bevor der Mut sie noch ganz verließ, zog sie den Kamm kräftig durch seine Haare.

Er atmete scharf ein.

Sie zuckte mit der Hand zurück. „Entschuldigung.“

„Dafür besteht kein Grund.“ Seine Stimme war leise.

In ihrem Magen flatterte es wieder.

„Ich verspreche, dass ich still sitze und ein braver Junge bin.“ Er bedachte sie mit einem schiefen Grinsen.

Sie machte sich weniger Sorgen darum, was er tun würde, als vielmehr darum, wie sie auf ihn reagierte. Vorsichtig berührte sie erneut seine Haare. Dieses Mal begann sie bei seiner Kopfhaut und arbeitete sich bis zu den Spitzen vor.

Seine Haare waren sehr viel weicher, als sie erwartet hatte. Sie ließ die Finger auf den federweichen Spitzen liegen. Dann zog sie den Kamm wieder durch die Haare, folgte ihm mit den Fingern und suchte nach Spuren von Läusen. Obwohl sie wusste, dass sie sich konzentrieren müsste, um die winzigen Nissen zu finden, wollte sich ihr Verstand auf nichts anderes konzentrieren als darauf, dass sie die Finger durch die Haare dieses seltsamen Mannes bewegte.

Sie konnte sich nicht vorstellen, dass sie etwas so Intimes bei Hans gemacht hätte.

„Erzähl mir von Hans“, sagte Carl, als hätte sie den Namen laut ausgesprochen. Seine Stimme klang angespannt.

Sie hielt inne. „Ich tue dir nicht weh, oder?“

„Ich leide starke Schmerzen. Aber es ist sehr angenehm.“ Er lehnte sich zurück, verschränkte die Arme vor der Brust und schloss die Augen. „Wie war dein Mann? Er war hoffentlich nicht so ein Grobian wie Irenes Mann?“

„Nein. Er hat mich nicht geschlagen.“ Sie kämmte weiter, und nicht einmal die Sorge um ihre Schwester, die ihr seit Irenes letztem Besuch keine Ruhe ließ, konnte in diesem Moment ihre Gedanken von Carls Haaren ablenken. Ihre Finger wurden kühner und gruben sich tiefer.

„Dann war er ein netter Ehemann?“

„Nicht viele Männer interessieren sich für die Gefühle oder die Meinung einer Ehefrau.“ Carl musste die Gesetze, die in der alten Heimat galten, doch kennen: die Gesetze, die Männern große Macht über ihre Frauen gaben, die ihnen erlaubten, eine Frau so zu behandeln, wie sie wollten.

Hans hatte zwar nie die Fäuste gegen sie erhoben, aber sie könnte nicht behaupten, dass er je nett zu ihr gewesen wäre.

„Es war nicht leicht, mit ihm zusammenzuleben“, sagte sie.

„Es war also keine Liebesehe?“

„Ach! Wahre Liebe und Glück bis ans Lebensende, das gibt es nur in den Märchen.“

„Wir müssen wahre Liebe nicht auf Märchen beschränken.“

„Aber sonst habe ich noch nirgends eine solche Liebe und Zuneigung gesehen.“ Ja, der Herr und die Frau Pastor schienen eine herzlichere und respektvollere Beziehung zueinander zu haben als die meisten anderen Ehepaare, aber eine solche Liebe kam selten im wahren Leben vor.

„Nur weil viele Ehen lieblos sind, heißt das nicht, dass Gott es so gewollt hat.“

„Ich glaube nicht, dass Gott das interessiert.“ Ihre Worte klangen bitterer, als sie beabsichtigte. Soweit sie es beurteilen konnte, war Gott genauso wie alle anderen Männer in ihrem Leben. Er interessierte sich nicht für sie. Sie war zu unbedeutend, um seine Aufmerksamkeit zu verdienen.

„Natürlich interessiert er sich dafür.“ Carl sagte das mit einer so festen Zuversicht, dass sie aufhorchte. „Gott weist Ehemänner an, ihre Frauen so sehr zu lieben, dass sie bereit sind, ihr Leben für sie zu geben und für ihre Frauen zu sterben. Wenn das keine leidenschaftliche, märchenhafte Liebe ist, weiß ich nicht, was sonst wahre Liebe sein sollte.“

Ihre Finger hielten inne und verloren sich in seinen Locken.

„Erinnerst du dich an die Geschichte von Jakob und Rahel aus der Bibel?“

Sie nickte.

„Jakob war so sehr in Rahel verliebt, dass er bereit war, sieben Jahre für seinen Onkel Laban zu arbeiten, um den Brautpreis zu bezahlen. Und da seine Liebe zu ihr so groß war, kamen ihm die sieben Jahre nur wie ein paar Tage vor.“

Wie war es möglich, dass ein Mann eine Frau mit einer solchen Hingabe lieben konnte?

„In unserer Sündhaftigkeit“, fuhr Carl fort, „halten wir uns zwar nicht an Gottes ursprünglichen Plan für die Liebe und die Ehe. Aber das bedeutet nicht, dass wir die Liebe ganz aufgeben müssen.“

Vielleicht hatte sie es aufgegeben, an die Liebe zu glauben. Vielleicht hatte sie die Liebe in die Märchen verbannt, die sie Gretchen erzählte. Aber so war es sicherer. Sie hatte in den ersten Tagen mit Hans zu viel Enttäuschung und Frustration erlebt. Sie würde sich nur neuen Verletzungen aussetzen, wenn sie anfinge, wieder an die Liebe zu glauben.

„Vielleicht hast du in Bezug auf Jakob und Rahel und Gottes Absichten recht.“ Sie begann, wieder seine Haare zu kämmen. „Aber für mich gibt es so eine Beziehung nicht. Und auch für niemanden sonst, den ich kenne.“

Er schwieg einen Augenblick lang. Sie ließ ihre Finger in seinen Haaren liegen.

„Ich wünsche dir, dass du echte Liebe finden kannst, Annalisa“, sagte er schließlich leise. „Vielleicht ist dein Bräutigam ein Mann, der dir die Liebe schenkt, die du verdienst.“

„Das erwarte ich nicht. Außerdem habe ich gelernt, dass das nicht nötig ist, dass zum Überleben andere Dinge wichtiger sind.“

„Aber das Überleben wird viel erträglicher, wenn Freude und Liebe zu unserem Leben gehören.“

Sie schüttelte den Kopf. „Hast du jemals eine solche Liebe gesehen? Vielleicht in der Ehe deiner Eltern?“

Er lachte schallend. „Meine Mutter war eine zarte, schöne Frau mit einem wachen, klugen Geist. Sie wurde als Teil eines Geschäftsabschlusses meinem Vater zur Frau gegeben. Er kannte sie nicht und er liebte sie nicht. Und er nahm sich nie Zeit, um eine Zuneigung zu ihr zu entwickeln.“

„Eine solche Verbindung ist nicht ungewöhnlich.“ Sie musste nur an ihre Ehe mit Hans denken. Er hatte eine Frau gebraucht, die ihm helfen würde, die Arbeit auf dem Hof zu bewältigen, den Gemüsegarten anzulegen, sein Essen zu kochen, die Kuh zu melken und ihm Söhne zu gebären, die ihm bei der Feldarbeit helfen könnten. „Viele Menschen müssen aus praktischen Gründen heiraten.“

„Ah ja!“ Sarkasmus lag in seinem Tonfall. „Die Zweckehe. Ich würde eher für den Rest meines Lebens unstet über die Erde wandern, als jemanden zu heiraten, den ich nicht kenne oder liebe.“

Seine Worte trafen sie. Verachtete er sie, weil sie einen Fremden heiraten musste? „Was ich brauche, ist nicht mehr wichtig. Ich muss jetzt an meine Kinder denken.“ Sie begann, die Finger von ihm zurückzuziehen.

Aber er hob schnell die Hand und hielt ihre Finger fest. Dann drehte er sich um und sah sie an. „Es tut mir leid.“

Seine Hand hielt die ihre mit einer Wärme und Sanftheit fest, die ihr eine Gänsehaut über den Arm jagte.

„Ich hätte das nicht sagen sollen. Ich war gedankenlos und unsensibel angesichts der Lage, in der du dich befindest.“ Eine widerspenstige Haarsträhne hing ihm in die Stirn. „Kannst du mir vergeben?“

Der Art, wie er fragend den Kopf schief legte, der Aufrichtigkeit in seinen Augen und seinem attraktiven Gesicht konnte sie nicht widerstehen.

„Bitte. Wenn du mir nicht vergibst, setzt du mich ewigen Qualen aus.“

Sie betrachtete seine Finger und sah die vertrauten Spuren von Erde, die noch in den Falten seiner Hand klebten. „Ich denke, ich kann dir vergeben. Ich will schließlich nicht der Grund für deine ewigen Qualen sein.“

Sein ihr mittlerweile vertrautes Grinsen zog über seine Lippen. „Du bist zu gütig.“

„Du bist zu überzeugend.“ Und zu unwiderstehlich. Bevor sie wusste, was sie tat, hob sie ihre freie Hand an seine Stirn und strich die Haarsträhne zurück.

Sein Lächeln verblasste und seine Augen verdunkelten sich.

Schockiert über ihre Kühnheit trat sie etwas zurück.

Aber er schien ihre Verlegenheit nicht zu bemerken. Stattdessen hob er ihre Hand, die er immer noch festhielt, an seinen Mund und strich mit seinen weichen Lippen über ihre Finger.

Sie wusste, dass sie die Hand zurückziehen sollte, dass sie einen größeren Abstand zu ihm aufbauen müsste. Sie hatte sich nie körperlich zu Hans hingezogen gefühlt, aber sie wusste, wohin solche Gefühle führen konnten, wenn man nicht aufpasste.

Er küsste ihr Handgelenk. Die Wärme seines Atems löste ein Flattern in ihrer Magengegend aus.

Wie würden sich seine Lippen wohl auf ihrem Mund anfühlen? Hans hatte sie ein einziges Mal geküsst. An ihrem Hochzeitstag. Aber die kurze, trockene Berührung hatte keine Gefühle bei ihr ausgelöst, ganz anders als Carls Handküsse das taten. Wenn ein bloßer Kuss auf ihrer Hand ihre Knie schon weich werden ließ, was würde dann sein Kuss auf ihre Lippen bei ihr auslösen?

Seine Augen wurden größer und nahmen eine dunkle Tiefe an, als denke er gerade an das Gleiche wie sie.

Ein entsetztes Quieken durchdrang die Stille.

Annalisa zuckte zusammen und zog ihre Hand zurück. Sie riss ihren Kopf herum und sah zu Gretchen, die aber mit geschlossenen Augen friedlich schlummernd unter der Decke lag. Dann wanderte ihr Blick zum Kamin, wo Schneewittchen ruhte.

Der Welpe hob langsam den Kopf und sah zur Tür. Er knurrte leise.

Annalisa atmete trotz ihres hämmernden Herzens erleichtert auf. Alles, was zählte, war die Sicherheit von Gretchen.

Ein weiteres, schrilles Quieken ertönte, das eindeutig von draußen kam.

Carl erhob sich abrupt vom Stuhl und nahm seinen Mantel.

Schneewittchen stand auf und knurrte wieder, dieses Mal drohender.

Das Quieken wurde aufgeregter und vermischte sich mit einem Knurren und Fauchen. Carl zog die Brauen hoch.

„Ich glaube, das ist die Sau.“ Annalisa ging zur Tür und nahm das Gewehr vom Haken. „Etwas greift die Sau an.“

Aber noch bevor sie die Tür öffnen konnte, versperrte Carl ihr den Weg. „Lass mich bitte hinausgehen und nachsehen, was los ist.“

Sie schüttelte den Kopf. „Ich darf sie nicht verlieren. Sie ferkelt bald. Ich brauche die Ferkel.“

Er hielt mit seiner Stiefelspitze die Tür zu.

„Ich bin keine schwache Frau. Und ich kann mit dem Gewehr umgehen.“

„Das weiß ich. Aber wie du schon sagtest, du musst an deine Kinder denken.“ Er schaute vielsagend auf ihren hervortretenden Bauch. „Und ich habe niemanden. Wenn mir etwas passiert, spielt das keine Rolle.“

Sie zögerte.

Das Schwein quiekte wieder. Dieses Mal klang es wütend.

Seine Finger legten sich über ihre Hand, die das Gewehr umklammerte. Sein sanfter Blick flehte sie an. Wie konnte sie Nein sagen, wenn er sie mit einer solchen zärtlichen Fürsorge anschaute? Sie überließ ihm das Gewehr und trat zurück.

Er klemmte es sich unter den Arm, nahm die Laterne und öffnete die Tür.

Ein kalter Luftstoß drang herein und jagte ihr eine Gänsehaut über den ganzen Körper.

Er nickte ernst und trat dann in die Dunkelheit hinaus.

„Sei vorsichtig“, rief sie ihm nach.

Er grinste sie über die Schulter hinweg an. „Wenn ich nicht zurückkomme, kannst du versichert sein, dass ich deinem Schwein das Leben gerettet habe und an seiner Stelle das Abendessen eines wilden Tieres geworden bin.“

„Nein. Lieber verliere ich das Schwein als dich.“ Noch während sie diese Worte sagte, wünschte sie, sie könnte sie wieder zurücknehmen.

Er war schon halb über den Hof gelaufen und hielt die Laterne hoch. Vielleicht hatte er ihre gedankenlose Äußerung nicht gehört.

„Bleib in der Hütte!“, rief er. „Ich verliere auch lieber das Schwein als dich.“

Aufgewühlt kehrte sie in die Hütte zurück. Sie schloss die Tür und lehnte sich daran. „Was ist nur mit mir los?“

Sie konnte die Gefühle nicht verstehen, die sie so durcheinanderbrachten. Sie wusste nur, dass sie aufhören musste, sich von solchen Gefühlen überwältigen zu lassen.

Das Knallen des Gewehrs hallte in der klaren Nachtluft wider, gefolgt von einem aufgeregten Quieken und Carls Rufen. Dann wurde alles still.

Sie drückte das Ohr an die Holztür und lauschte, aber das laute, besorgte Hämmern ihres Herzens übertönte alles andere.

War er verletzt? Sie riss die Tür auf. „Carl?“

Die Laterne stand auf einem Baumstumpf neben dem Stall. Die Strahlen warfen ein gespenstisches, schwaches Licht auf den Hof. Aber den Schweinekober konnte sie nicht erkennen.

Hatte das wilde Tier Carl weggeschleppt?

Sie strengte ihre Augen an, um in der Dunkelheit etwas zu sehen. Sie konnte kaum atmen. Die kalte Luft und die unnatürliche Stille jagten ihr ein Schauern über den Rücken.

Die Sau gab ein unglückliches Grunzen von sich und teilte Annalisa damit mit, dass sie überlebt hatte, aber von dieser nächtlichen Störung nicht begeistert war.

„Carl?“, rief sie noch einmal und jetzt lauter.

„Ich dachte, ich hätte dir gesagt, dass du in der Hütte bleiben sollst.“ Er kam um die Ecke des Stalls. Das Licht beleuchtete sein Gesicht und verriet seine Frustration.

„Ich habe deine Stimme nicht mehr gehört.“ Ihre Schultern sackten erleichtet nach unten und entspannten sich. „Ich dachte, du wärst vielleicht verletzt.“

„Das war der größte Bär, den ich je gesehen habe.“ Er blickte in die dunklen Schatten hinein und hielt das Gewehr immer noch schussbereit in den Händen.

„Du bist also unverletzt?“

„Außer, dass ich vor Angst fast gestorben wäre, geht es mir bestens.“ Er warf ihr einen schnellen Blick zu. „Warum bist du nicht in der Hütte? Geh wieder hinein, damit dir nichts passiert.“

„Wir haben jetzt nichts mehr zu fürchten. Der Bär ist fort. Du hast ihn für heute Nacht verjagt.“

Er suchte den Rand der Dunkelheit ab, als wollte er sich vergewissern, dass sie recht hatte. „Wenn ich gerade anfange zu glauben, Amerika sei erträglich, wird mir erneut bewusst, dass ich hier völlig fehl am Platz bin.“

Seine Worte erinnerten sie daran, dass er anders war als die anderen Männer, nicht einmal wie die Schullehrer, die sie kennengelernt hatte. „Vermisst du deine Heimat sehr?“

„Sagen wir es so: Dort, woher ich komme, musste ich nie riesige Bären vertreiben, um Schweine zu retten.“

„Dann gefällt dir das Leben als Bauer nicht?“

Er stieß ein kurzes Lachen aus, dem seine übliche Belustigung fehlte. „Ich bin kein Bauer und ich werde nie einer sein.“

Bei seinen Worten regte sich eine leise Enttäuschung in ihr. Sie wusste nicht, warum es ihr etwas ausmachte, ob er gerne Bauer war oder nicht. Er würde bald weggehen und sich irgendwo anders ein eigenes Leben aufbauen. Sie würde ihn nie wiedersehen.

Selbst wenn er sich entscheiden sollte zu bleiben, könnte es nie etwas zwischen ihnen geben. Sie war einem anderen Mann versprochen, einem Mann, der alles verließ und nach Amerika kam, um ihr zu helfen, ihr Land zu retten.

Es hatte keinen Sinn, von etwas anderem zu träumen. Ihr Leben war immer von irgendeinem Mann bestimmt worden und daran würde sich nie etwas ändern.

Für sie würde kein Märchen je Wirklichkeit werden.