Über das Buch:
Anne Perrin Singleton und Mary Dobbs Dillard haben so gut wie nichts gemeinsam. Perri ist die Tochter eines vermögenden Bankers, begeistert sich für Fotografie und Partys und genießt es, zur feinen Gesellschaft von Atlanta zu gehören. Dobbs ist die Tochter eines Predigers, in armen Verhältnissen aufgewachsen, lehnt sich gegen jegliche Form von Ungerechtigkeit auf und stammt aus Chicago.
Doch die Weltwirtschaftskrise und ihre Folgen führen die beiden jungen Frauen zusammen. Plötzlich ist nichts mehr, wie es einmal war. In einer Zeit voller Turbulenzen müssen Perri und Dobbs um ihre Zukunft kämpfen – und werden einander zum einzigen Halt. Aber kann eine so ungleiche Freundschaft Bestand haben?
Über die Autorin:
Elizabeth Musser wuchs in Atlanta auf. Seit dem Abschluss ihres Studiums englischer und französischer Literatur an der Vanderbilt Universität in Tennessee ist sie als Missionarin tätig. Heute lebt sie mit ihrem Mann Paul in der Nähe von Lyon in Frankreich. Die beiden haben zwei Söhne.
Kapitel 8
Perri
Ich vermute, Dobbs betete heimlich dafür, dass Gott uns half – oder zumindest mir –, denn eines Tages drückte mir Mrs Carnes zwei Entwicklerwannen und ein Vergrößerungsgerät in die Hand und meinte, das Washington Seminary würde seine Ausrüstung erneuern. Und als ob das noch nicht genügte, wartete auf mich eine weitere Überraschung, als mich Jimmy ein paar Tage später zu den Chandlers brachte.
Red und Dynamite wieherten leise, als Dobbs und ich in die Scheune gingen. Ich tätschelte kurz ihre Nüstern und ging weiter zur Dunkelkammer. Als ich die Kerosinlampe entzündete, fiel mir die Kinnlade herunter. Die ganze Kammer war fertig eingerichtet! Die Entwicklerwannen standen in einem niedrigen Regal, das Vergrößerungsgerät daneben, auf der anderen Seite des Raums standen der Lichtkasten und die kleine Entwicklungsdose, die Wanne zum Eintauchen der Negative, eine helle Lampe und ein Tisch. Und oben auf dem Regal erblickte ich eine ganze Batterie von Filmrollen. Ich berührte ein Utensil nach dem anderen und merkte, wie mir die Tränen kamen.
„Ist das nicht toll?“, jubelte Dobbs. „Tante Josie hat Hosea losgeschickt, er solle den Rest der Sachen kaufen. Sie meinte, das wäre kein Almosen, weil die Kammer ja auf ihrem Grund und Boden ist und sie will keine Widerrede hören.“
Mrs Chandler kannte mich gut. Wie mein Vater war auch ich zu dickköpfig, um Almosen anzunehmen. Wir hatten uns nichts schenken lassen, sondern uns unseren gesellschaftlichen Stand lang und hart erarbeitet. Aber jetzt lächelte ich Dobbs einfach nur an und meinte: „Danke. Ich weiß, dass das deine Idee war. Und jetzt kann ich fotografieren. So viel ich will.“
Dobbs spürte wohl, dass ich am liebsten allein sein wollte, und ging zurück zum Haus. Ich nahm meine Eastman Kodak, die ich mitgebracht hatte, und dachte an Daddy. Schon früh hatte er mir beigebracht, dass von nichts nichts kommt. Nach einem langen Arbeitstag hatte mich Daddy oft mit in sein Arbeitszimmer genommen und ich war auf seinen Schoß geklettert. „Du arbeitest zu hart“, hatte ich Mama nachgeahmt.
„Harte Arbeit ist der Grund, warum es uns gut geht, Perri.“ Dann holte er einen Penny heraus. „Wer den Penny nicht ehrt, ist den Dollar nicht wert. Dein Großvater hatte als Junge keinen Penny, aber er hat sich selbst das Medizinstudium erarbeitet und ist ein angesehener Arzt geworden. Und er hat sich auch selbst beigebracht, wie man Dinge baut. Wenn er nicht bei seinen Patienten war, baute er dieses Haus für deine Großmutter und ich war mit dabei, habe Stein auf Stein gesetzt und Mörtel angemischt. Er war ein tüchtiger Mann, dein Großvater.“
„Aber so hart sollst du nicht arbeiten, Daddy. Grandpa hat sich kaputt gearbeitet und ist mit dreiundfünfzig gestorben.“ Auch das hatte ich von Mama aufgeschnappt.
„Ich weiß, Perri-Maus, aber ich bin anders. Nach einem langen Tag in der Bank komme ich nach Hause, das Essen steht auf dem Tisch, meine wundervolle Frau ist da und wenn ich Glück habe, krabbelt nach dem Abendessen ein kleiner Engel auf meinen Schoß.“ Er drückte mich an sich. „Wer kann schon lange müde sein, wenn er einen Engel auf dem Schoß hat?“
Ich dachte an uns als Familie, bevor meine Geschwister geboren worden waren. Nach der Arbeit hatte sich Daddy eine Latzhose angezogen und war entweder in die Scheune oder zum Basteln in die Garage gegangen. Daddy schaffte es, die praktischen Dinge des Lebens kindgerecht zu vermitteln. Deswegen beobachtete ich gespannt, wie er Zahlen auf das klein karierte Buchhaltungspapier schrieb, den Wasserhahn reparierte oder das Öl im Buick wechselte.
Egal, was er tat, er tat es akribisch genau und fehlerlos – ob in der Bank oder zu Hause. Die körperliche Arbeit, das Sägen und Hämmern und Graben schien seine düstere Stimmung zu vertreiben und ihn abzulenken. „Man braucht Gleichgewicht im Leben, Perri“, sagte er oft. „Wenn dir alles über den Kopf wächst, dann brauchst du irgendetwas, das dich wieder klar denken lässt.“
Warum war dann sein ganzes Leben ins Wanken geraten?
Mr Robinson hatte uns kürzlich noch mehr schlechte Nachrichten überbracht, während er die ganze Zeit mit seiner Brille herumgespielt hatte. Daddys Versicherungsscheine und Aktien waren wertlos, das Sparkonto unauffindbar und das Haus längst noch nicht abbezahlt. Ich konnte kaum glauben, wie hart es uns traf, war Daddy doch der weiseste, achtsamste Banker überhaupt gewesen. Die Aktienkurse waren wegen der Wirtschaftskrise in den Keller gerauscht, aber was war mit all dem Geld passiert, das er so sorgfältig beiseitegelegt hatte?
Mit meiner Rainbow Hawk-Eye im Schoß und dem Geruch von frischem Heu und Hobelspänen aus Dynamites Stall in der Nase schloss ich die Augen. Ich dachte an „White Angel Breadline“ und wie Dorothea Lange den verzweifelten Ausdruck auf dem Gesicht des Mannes eingefangen hatte. Ich fragte mich, ob ich eines Tages durch den Sucher gucken und genau den Augenblick einfangen könnte, an dem jemand aufhörte, an das Gute im Leben zu glauben. Irgendwie war ich das meinem Vater schuldig.
* * *
Zwei Tage später kam Mama abends in mein Zimmer. Ich lernte gerade Geschichte und arbeitete an einem Artikel für Facts and Fancies. Barbara und Irvin waren schon im Bett. Mama gab mir einen Kuss auf den Kopf und setzte sich in meinen Sessel. So dünn hatte sie noch nie ausgesehen. Ausgemergelt. Ich bekam Angst. Was, wenn Mama eine Lungenentzündung bekam wie Macon Fergusons Mutter, nachdem sie in der Flaschenfabrik angefangen hatte? Sie hatte eine schreckliche Bronchitis bekommen, war ins Krankenhaus eingewiesen worden und fast gestorben. Als sie sich wieder erholt hatte, war ihr Platz in der Fabrik längst neu vergeben gewesen.
„Perri.“ Mama nahm meine Hand. Ihre war knöchrig und kalt. „Ich habe mit Bill – mit Mr Robinson – gesprochen und wir mussten eine schwere Entscheidung treffen.“
Meine innere Reaktion ließ nicht lange auf sich warten. Wie könnt ihr nur ohne mich entscheiden? Ich habe hier den besten Überblick! Aber Mama redete einfach weiter.
„Wir werden das Haus verkaufen.“
„Nein, Mama!“
„Wir haben keine Wahl. Wir müssen uns etwas Kleineres suchen. Wenn wir das Haus verkaufen, können du und Barbara weiter aufs Washington Seminary gehen, wir können das Auto behalten und Dellareen und Jimmy. Es wird alles gut werden.“
„Und wie willst du jemanden finden, der das Haus kauft? Jetzt, mitten in der Wirtschaftskrise?“
„Die Bank kauft es uns ab. Mr Robinson hat alles geklärt. Sie machen uns ein sehr faires Angebot, Perri. Mehr als fair.“
„Oh, Mama. Wir können doch nicht unser Haus verkaufen. Das geht doch nicht!“
„Ich weiß, wie viel es dir bedeutet. Das geht mir ja nicht anders.“ Sie schniefte und wandte sich ab und mir fiel auf, wie grau ihre dunkelblonden Haare schon geworden waren. „Manchmal hat man einfach keine Wahl.“
Ich wollte nicht weinen. Ich wollte stark sein für Mama. Aber ich konnte nicht. Mir schoss der Gedanke durch den Kopf, dass ich mich in diesem Moment selbst hätte fotografieren können und genau das Foto gehabt hätte, das ich wollte: von dem Augenblick, in dem jemand aufhört, an das Gute im Leben zu glauben.
Nachdem Mama gegangen war, stellte ich mich vor die vier eingerahmten Bilder unseres Hauses. Dobbs hatte sie künstlerisch wertvoll genannt und mir Talent bescheinigt. Auch wenn unser Haus kleiner war als das Anwesen der Chandlers, fanden es die Leute doch genauso schön. Oft kamen irgendwelche Menschen vorbei und liefen oder fuhren die lange Einfahrt herauf, um einen Blick auf das Haus zu erhaschen. Das Grundstück hatte „Jimmys Genie“ gestaltet, wie Daddy meinte, „damit die Leute stehen bleiben und gucken und am liebsten auf die Veranda gehen und sich einfach hinsetzen wollen.“ Ich hatte noch genau in den Ohren, wie Daddy das gesagt hatte, und mir kamen die Tränen.
Ich stellte mir vor, wie Daddy mit seinem Vater zusammengearbeitet hatte, der abwechselnd von der Heilkunst und vom Bauen sprach. Die beiden hatten zusammen mit den besten Bauleuten unser Haus entworfen und errichtet. Später, nachdem Grandpa gestorben und meine Großmutter in eine Wohnung gezogen war, waren Daddy und Mama hier eingezogen. Daddy hatte nach Feierabend weitergebaut, errichtete eine Terrasse, die Scheune, in die er fünf Vollblutpferde stellte, und baute einen Schuppen für das Werkzeug. Seine Freunde hatten ihn „den Banker mit den Bauarbeiterhänden“ genannt.
Wenn wir das Haus verkauften, würden wir auch einen Teil von ihm aufgeben.
* * *
Vor dem Schlafengehen holte ich die Finanzbücher von unten, legte sie auf meinen Schreibtisch und nahm Daddys kleine Handschrift unter die Lupe. Ich hatte mir die Zahlen schon oft angesehen, aber eine Position hatte ich nie weiter beachtet. Jimmys und Dellareens Gehalt. Da stand es, auf der Seite mit dem monatlichen Budget. Sie verdienten elf Dollar die Woche.
Daddy hatte mir schon als kleines Mädchen den sparsamen Umgang mit Geld beigebracht. „Wer den Penny nicht ehrt, ist den Dollar nicht wert“, hatte er oft Benjamin Franklin zitiert. Er hatte mir sogar eine kleine Spardose geschenkt, in die ich jahrelang treu meine Pennys gesteckt hatte.
Ich ging auf die Knie und griff unters Bett. Vor Jahren war die Spardose zu klein geworden und ich hatte sie durch eine Blechbüchse in der Größe einer Hutschachtel ersetzt, die mir damals viel zu groß vorgekommen war. Jetzt bekam ich sie kaum unter dem Bett hervorgezogen, so schwer war sie.
Ich kippte die Dose auf die Seite und zog den Deckel ab. Ein Schwall Kupferpennys ergoss sich donnernd daraus. Mehrere kullerten unters Bett und einer rollte durch das ganze Zimmer bis zum Bodengitter der Heizung. Ich holte ihn schnell zurück, bevor er durch das Gitter fallen konnte. Mit klopfendem Herzen lauschte ich, ob meine Mutter oder Geschwister aufgewacht waren. Als alles still blieb, seufzte ich erleichtert und fing an, meine Pennys zu zählen und in Häufchen à hundert Stück aufzuteilen. Manche waren neu und glänzend, andere matt und abgenutzt, einige mit Grünspan bedeckt.
Im Laufe der Jahre hatte ich viele Träume gehabt, was ich mir mit diesem Geld einmal kaufen würde – ein Falbenpony mit hellem Langhaar, als ich neun war, bis hin zur teuersten Kodakkamera letztes Jahr. Aber ich hatte immer wieder beschlossen, das Geld zu sparen. Jetzt war ich dankbar dafür.
Als ich mit dem Zählen fertig war, musste ich weinen. Es waren zweitausendfünfhunderteinunddreißig Pennys in der Blechdose. Damit konnte man Jimmy und Dellareen noch nicht einmal einen Monat lang bezahlen! All die Jahre des eisernen Sparens, und was hatte ich davon?
Ich stand auf, ging zu meinem Schminktisch und sank auf die samtbezogene Bank davor. Der vergoldete ovale Spiegel zeigte ein rot geweintes Gesicht. „Wir werden trotzdem überleben“, zischte ich durch die Zähne. „Daddy hat mir einen Überlebensinstinkt eingepflanzt.“ Da fiel mir Dobbs’ bizarre Geschichte von den hungernden Menschen ein, die ihre Haustiere gegessen hatten. „Nein“, rebellierte es in mir. „Wir werden nicht nur überleben. Ich finde einen Weg, wie die Singletons jedes Stückchen Respekt und Ansehen behalten, das ihnen in Atlanta gebührt.“
Mit diesen Worten ging ich wieder zu meinem Bett, ließ mich auf die gelbe Steppdecke fallen und starrte Löcher an die Decke.
Mit meinen Schulfreundinnen redete ich nicht über die finanziellen Probleme meiner Familie, obwohl Mae Pearl, Emily und Peggy sicher ahnten, wie schlecht es uns ging. Sie hatten schließlich alle schlimme Zeiten durchgemacht. Aber dieses Thema war bei uns tabu. Ich überlegte, ob ich Dobbs davon erzählen sollte, aber dann dachte ich mir, auch wenn sie vielleicht mitfühlen könnte, könnte sie doch nie wirklich verstehen, was ich alles verloren hatte.
Wenn Spalding mir einen Besuch abstattete, tat ich so, als würde ich die Situation gut meistern, und sorgte dafür, dass Dellareen immer seinen Lieblingskuchen servierte. Aber ich hatte jedes Mal einen Knoten im Magen und fragte mich, ob Spalding Smith mich immer noch für lustig, wild und hübsch halten würde, wenn er wüsste, dass meine Familie keinen Penny mehr besaß.
* * *
Dobbs
Eines Sonntags ging ich mit Perri in ihre Kirche – ihre Familie ging in die St. Luke’s, die Chandlers in die St. Philip’s – und war anschließend bei ihr zum Mittagessen eingeladen. Ihre Mutter machte einen hervorragenden Schmorbraten und während ich jeden Bissen Fleisch und Kartoffelbrei mit Soße, die grünen Bohnen und die selbst gemachten, buttrig-herzhaften Biskuits genoss, dachte ich an das, was bei meiner Familie auf dem Tisch stand – oder nicht. Die Singletons mochten sich vielleicht arm fühlen, aber in Wirklichkeit waren sie ziemlich reich. Steinreich. Sie wohnten in einem prächtigen Haus, hatten rund um die Uhr zwei Diener und einen Stall voller Pferde. Ihr Haus war wie ein Museum und Mutter wäre mit „Oh!“ und „Ah!“ vor den antiken Möbelstücken und dem teuren Stoff auf Sofa und Sesseln stehen geblieben. Während ich aß und zusah, wie Perri Irvin neckte und Barbara finster dreinblickte und lustlos in dem mit Soße ertränkten Kartoffelbrei herumstocherte, stellte ich mir vor, meine Familie wäre reich, und für einen kurzen Augenblick gefiel mir die Vorstellung.
Gegen zwei Uhr nachmittags kamen die ersten jungen Herren zur Stippvisite vorbei. Perri bat mich, nach unten zu kommen und ihr Gesellschaft zu leisten, aber ich blieb lieber oben in ihrem Zimmer, las und sah mir das Ganze vom Fenster aus an. Ich konnte es nicht glauben. Da standen tatsächlich fünf junge Männer in ihren Sonntagsanzügen auf der Veranda, lachten und unterhielten sich mit Perri, die auf ihrer gepolsterten Bank saß und ein blaugrünes Kleid trug, das ihre Augen betonte. Sie hatte rote Wangen und nickte und plauderte und sah aus wie das blühende Leben, doch ich wusste, dass sie sich die ganze Zeit Sorgen um den angeschlagenen gesellschaftlichen Status ihrer Familie machte.
Als der letzte Besucher gegangen war, kam Perri die Treppe hinaufgestürmt. „Dobbs Dillard! Du ungezogenes Ding!“ Sie stemmte die Hände in die Hüften. „Du hättest wenigstens den Anstand haben können, nach unten zu kommen und dich den Jungs vorzustellen. Himmel, du hast mich bis auf die Knochen blamiert!“
„Oh, Perri. Du warst so elegant und locker. Was hätte ich denn zu den jungen Männern sagen sollen? Ich habe doch Hank und kein Interesse daran, jemand anderen kennenzulernen. Ist das so schlimm?“
Perri seufzte und zuckte die Schultern. „Nein. Aber ich möchte doch, dass du dich hier in Atlanta wohlfühlst.“
„Das tue ich, Perri. Ich habe ein Dach über dem Kopf, ein eigenes Zimmer, nette Verwandte, gehe auf eine gute Schule, habe Kleider und Essen und eine liebe Freundin, mit der ich Abenteuer erlebe. Mehr brauche ich nicht.“
Perri schien zufrieden zu sein und wollte gerade etwas erwidern, da rief Mrs Singleton von unten: „Perri! Spalding Smith ist gerade gekommen.“
Perris Wangen glühten sofort wieder und sie griff nach meiner Hand. „Bitte komm mit und sag Spalding Hallo. Das würde mir so viel bedeuten! Wir machen nachher eine Spazierfahrt und er kann dich bei den Chandlers absetzen.“
Um Perris willen willigte ich ein.
Spalding Smith trug Leinenhosen, weiße feine Schuhe und einen blauen Blazer. Er überreichte Perri einen riesigen Blumenstrauß, der ein Vermögen gekostet haben musste, gab ihr ein Küsschen auf die Wange und wandte sich mir zu.
„Das ist Mary Dobbs Dillard“, erklärte Perri. „Aus Chicago. Sie ist die Nichte von Robert und Josephine Chandler.“
„Schön, dich kennenzulernen – Mary Dobbs.“ Er nahm meine Hand und drückte leicht zu. Gut aussehend war er, das konnte ich nicht bestreiten. Seine schwarzen Haare waren akkurat nach hinten gekämmt und auf die Seite gelegt, er hatte ein kantiges, männliches Gesicht und Grübchen beim Lächeln, und perfekt geschwungene Augenbrauen, die er genau einzusetzen wusste. Aber die Art, wie er sie leicht nach oben zog, verdutzte mich. Ich hatte sofort Vorbehalte. Irgendetwas kam mir komisch vor. Spalding Smith wirkte zu selbstsicher, zu glatt, zu überzeugt von sich selbst und seiner Anziehungskraft auf das weibliche Geschlecht. Es sprang mir geradezu ins Gesicht und ich fragte mich, wie Perri das entgehen konnte.
Nach dem ersten Schock darüber, dass er meine Hand länger als nötig hielt und mich ansah, als wäre ich sein Mädchen, wurde mir klar, was mich am meisten störte. Seine Augen. Ich konnte seinen Augen nicht trauen. Sie waren tiefbraun – „sagenhaft“, würden die Mädchen vom Washington Seminary schwärmen – mit einem verführerischen Funkeln darin. Seine Augen zogen einen förmlich in ihren Bann. Aber etwas fehlte in seinem Blick.
Freundlichkeit. Ein Blick in Hanks Augen dagegen und ich schmolz dahin. Hank hatte freundliche Augen. Augen, in die man sich fallen lassen konnte.
Mein Gefühl sagte mir, dass man Spalding Smith nicht trauen konnte. Dummerweise merkte ich aber auch, dass Perri sich längst in ihn verliebt hatte.
* * *
Mir wollte der Kontrast zwischen Spaldings und Hanks Augen einfach nicht aus dem Kopf gehen. Als ich abends einen Spaziergang zum See der Chandlers machte, musste ich daran denken, wie Hank mich, Coobie und Frances einmal spätabends nach einem Zeltgottesdienst nach Hause gebracht hatte. Plötzlich war ein Mann mit einem völlig vernarbten Gesicht hinter uns hergelaufen und hatte gerufen: „Hey, Mister Reverend! Ich hab Sie über Gott reden hören. Und was habe ich davon?“ Seine Stimme war schrill und hoch und seine Augen stierten wie die eines Verrückten.
Coobie fing an zu weinen.
Hank kniete sich vor Coobie hin und meinte: „Bleib hier bei deinen Schwestern. Ich regle das. Vertrau mir.“
Sie versteckte sich hinter mir und Frances und lugte hinter unseren Beinen hervor. Hank ging derweil auf den Verrückten zu und sprach mit ihm, als wären sie Nachbarn.
„Sagen Sie mir, was Sie brauchen, Sir.“
„I-ich b-brauch nur bisschen Geld für was zu essen, n-nur was zu essen“, stammelte der Mann verblüfft.
Hank gab ihm einen Dollarschein – ich glaube, das war sein letztes Geld – und meinte: „Kaufen Sie sich was. Und wenn Sie morgen Abend zur Zeltevangelisation kommen, bringe ich Ihnen noch mehr mit.“
Ich war erstaunt, als der Mann tatsächlich am nächsten Abend auftauchte. Hank überreichte ihm einen Beutel mit Nahrungsmitteln und der Mann sah ihn wieder überrascht an. Dann bekam er feuchte Augen und raunte: „Sie sind der Erste, der seit Langem mir gegenüber sein Wort gehalten hat.“
Jetzt vermisste ich Hank noch mehr.
Kapitel 9
Perri
Ich durchwühlte vor dem Schlafengehen am Sonntag drei Mal meinen Kleiderschrank, bevor ich es mir eingestand: Ich hatte nichts zum Anziehen zum SAE-Ball. „Daddy“, flüsterte ich, „wenn du wüsstest, dass wir nicht genug Geld haben, um ein Kleid zu kaufen ...“
Schnell kniff ich die Augen zu, um die grässliche Erinnerung fortzuscheuchen, die immer dann kam, wenn ich sie am wenigsten gebrauchen konnte – Daddys Beine, die über mir baumelten. Mit einem betrübten Seufzer ging ich zu meinem Schminktisch und nahm das kleine Hochzeitsfoto von meinen Eltern in die Hand. Am liebsten hätte ich hinter das Glas gegriffen und das Gesicht meines Vaters berührt. „Ach, wenn du noch hier wärst, Daddy! Dann wäre es mir egal, ob wir umziehen oder nicht. Wir würden alles zusammen machen. Wir würden die Pferde verkaufen und alles in Kisten packen und dann einen anderen Ort zum Leben finden. Und alles wäre gut.“ Ich stellte das Bild ab, ballte die Fäuste und suchte nach etwas, woran ich meine Wut auslassen konnte.
„Aber du bist nicht da! Du hast dich einfach umgebracht!“ Ein Gefühl der Hilflosigkeit übermannte mich. „Wir müssen bald hier raus, Daddy, weißt du das? Ich habe Mama gesagt, dass ich es Barbara und Irvin schonend beibringe, aber ich weiß nicht, wie ich das machen soll. Ich weiß es nicht. Du solltest mal sehen, wie ängstlich Irvin jetzt schon ist, und wie traurig. Barbara hat sich völlig in ihr Schneckenhaus zurückgezogen. Und Mama erst. Oh Daddy, ich komme nicht einmal mehr zu Mama durch.“
Es tat gut, die Dinge auszusprechen, die Wahrheit beim Namen zu nennen. Selbst wenn mein Vater mich dort, wo auch immer er war, nicht hören konnte, stellte ich mir vor, dass er bei mir wäre. „Und alles, woran ich denken kann, ist, woher ich ein Kleid bekomme. Was ist schon ein lächerliches Kleid? Ich habe ganz andere Sorgen! Aber weißt du, Daddy, es ist mir trotzdem wichtig, und es muss das perfekte Kleid sein. Ich muss einen schimmernden Traum von einem Kleid tragen und hübsch und lustig sein, wenn ich Spalding Smith und seine Studentenverbindung beeindrucken will. Und das will ich, Daddy. Du hältst mich bestimmt für verrückt. Ich habe mich nie auf einen jungen Mann festgelegt. Aber jetzt muss ich das, um unserer Familie willen. Er ist eine gute Partie, Daddy. Er hat genug Geld für uns alle.“
Ich wusch mir das Gesicht, schlüpfte in mein Nachthemd, krabbelte ins Bett und fiel in einen traumlosen Schlaf.
* * *
Am nächsten Morgen hatte sich meine Laune gebessert, aber ich konnte mich in Geschichte überhaupt nicht konzentrieren. Ich malte Strichmännchen mit langen Kleidern in mein Heft, anstatt mich auf Miss Spencer zu konzentrieren, die über den neu gewählten Machthaber namens Hitler in Deutschland redete, einen Mann, von dem ich noch nie gehört hatte. Dobbs, die wie immer eifrig mitschrieb, stupste mich an. „Was ist los?“, flüsterte sie.
„Ich habe kein Kleid für den Ball, kein Geld für ein neues und in den alten Dingern kann ich nicht gehen.“
Miss Spencer schnalzte mit der Zunge und wir setzten uns sofort gerade hin und hörten zu. Aber nach dem Unterricht nahm mich Dobbs beiseite. „Ich habe da eine Idee, aber ich muss erst noch etwas klären. Morgen sage ich dir Bescheid.“
Am nächsten Tag kam sie von hinten an mich herangehüpft: „Wenn du kein Kleid kaufen kannst, dann mach doch eins!“ Sie sagte das so beiläufig, als würde sie mich auffordern, auf der Wiese hinter unserem Haus Löwenzahn zu pflücken.
„Ich habe aber nicht die leiseste Ahnung vom Nähen.“
„Hm. Das könnte ein Problem sein.“ Aber sie strahlte immer noch. „Ach Quatsch. Ich habe dir doch gesagt, dass ich eine Idee habe.“
Nach der Schule schaffte ich es nicht zu Jimmy ins Auto. Dobbs zog mich geradewegs zu Hosea und dem Pierce Arrow und kurz darauf standen wir schon in Becca Chandlers Zimmer und spähten in die geräumige Ankleidekammer. Auf der einen Seite hingen reihenweise Abendkleider.
„Du meine Güte, sind das viele!“ Ich befühlte den seidigen Stoff eines kirschroten Kleids. „Das sieht ja traumhaft aus.“
„Tante Josie meinte, die seien alle für Beccas Sommer als Debütantin gewesen. Sie musste auf siebenundvierzig Bälle und Feste und hat sich natürlich geweigert, zweimal in demselben Kleid zu gehen.“ Dobbs’ Empörung war nicht zu überhören.
„Das ist nun mal ein ungeschriebenes Gesetz für Debütantinnen. Man darf nie dasselbe zweimal tragen. Becca soll eine ziemliche Primadonna gewesen sein, habe ich gehört. Sie hat so ziemlich allen Jungs den Kopf verdreht und ihre Tanzkarte war schon Wochen im Voraus gefüllt.“
„Woher weißt du das?“
„Mae Pearl und Peggy und Lisa haben alle ältere Schwestern, die mit Becca gemeinsam in die Gesellschaft eingeführt wurden.“
Dobbs sah mich mit diesem überraschten, aber beherrschten Blick an. „Also, ich habe Tante Josie jedenfalls von deinem Dilemma erzählt, und sie meinte, du darfst dir ruhig eins aussuchen.“
„Oh, das könnte ich nicht tun.“
„Du liebe Zeit, Perri. Sie meinte, sie würde sich freuen, wenn sie dir weiterhelfen könnte. Jedes Kleid wurde nur einmal getragen!“
„Aber jemand könnte es als Beccas Kleid erkennen.“
„Na, du hast Ansprüche. Kennst du nicht den Ausdruck: ‚In der Not schmeckt jedes Brot?‘“
Ich sah sie empört an.
Dobbs verdrehte die Augen. „Becca ist achtundzwanzig – es ist fast ein ganzes Jahrzehnt her, seit sie Debütantin war. So ein gutes Gedächtnis hat niemand.“
„Wenn du dich da mal nicht irrst ... Und außerdem hat sich die Mode doch völlig geändert.“
„Du bist versnobt und unmöglich und das steht dir überhaupt nicht gut!“
Ich wollte fast etwas erwidern, aber dann musste ich lachen. Sie hatte recht.
Dobbs bestand darauf, dass ich alle Kleider anprobierte, und ich muss zugeben, es war ein großes Vergnügen und meine Laune besserte sich jedes Mal, wenn ich aus dem Ankleidezimmer in Beccas Zimmer trat und eine Pose einnahm.
Dobbs musterte mich mit kritischem Blick und sagte ihre Meinung – „zu kurz“, „etwas altmodisch“, „zu tiefer Ausschnitt“ – bis sie irgendwann ein Kleid für „exquisit“ befand, weil es „den perfekten Blauton“ und einen „wunderschönen Schnitt“ hatte.
Aber was wusste Dobbs schon von Mode?
„Nein“, hielt ich dagegen. „Es ist zu lang und ich fülle es obenherum nicht aus.“
Dobbs ignorierte meinen Protest, holte ein Maßband und ein Nadelkissen und machte sich an die Arbeit, als wäre sie gelernte Näherin. „Ach was, das kriegen wir hin. Das wird hinreißend an dir aussehen.“
„Was soll denn das jetzt schon wieder werden?“
„Meine Mutter kann nähen wie ein Weltmeister und ich habe oft zugesehen, wie sie Ballkleider für reiche Damen geändert hat. Sie hat mir einiges beigebracht. Lass nur, ich werde aus diesem Kleid einen echten Hingucker machen.“
Und so war es auch. Dobbs Dillard war immer für eine Überraschung gut.
* * *
Wie sich herausstellte, passten Spalding und ich hervorragend zusammen. Er nannte mich die Ballkönigin und raunte mir schon bei der Begrüßung zu, dass alle Augen auf mich gerichtet sein würden, wenn ich in meinem schulterfreien saphirblauen Kleid in den Ballsaal im Georgian Terrace treten würde.
Ich berauschte mich an den Komplimenten, bis mir ganz schwindlig von all der Aufmerksamkeit wurde. Ein Mann nach dem anderen wollte mit mir tanzen und immer wieder drängte sich Spalding dazwischen und ich schwebte in seinen Armen über das Parkett.
Donnerwetter, konnte er tanzen! Ich war froh über jedes Mal, das Mae Pearl eine Platte auf den Victrola-Phonographen aufgelegt oder einen Musiksender im Radio gefunden und mir die neusten Tanzschritte beigebracht hatte. Sie lernte zwar klassisches Ballett, hatte aber ein ausgezeichnetes Rhythmusgefühl für Standardtänze.
Das entging Spalding nicht. „Du kannst gut tanzen, Perri. Wo hast du das gelernt?“ Er zog mich so nah an sich, dass es mir den Atem verschlug. „Von anderen Jungs? Von deinen ganzen anderen Schönlingen?“
Ich kicherte beschwipst. „Oh nein, überhaupt nicht. Mae Pearl McFadden hat es mir beigebracht.“
„Mae Pearl. Das ist ja erstaunlich.“
Wir tanzten bis spät in die Nacht. Ich ließ mich von Spalding übers Parkett wirbeln, genoss seine feurigen Blicke und vergaß all meine Sorgen.
* * *
Das Maifest kam und war wie immer pompös und bombastisch. Es wurde im großen Hof hinter dem Washington Seminary ausgerichtet und Familienmitglieder, die Jungs von den umliegenden Schulen und viele wichtige Personen aus Atlanta nahmen teil. Mae Pearl tanzte als Märchenprinzessin und zehn von uns aus der elften Klasse waren ihr Hofstaat.
Dobbs blieb sich wieder einmal treu und saß als Zuschauerin brav neben ihrer Tante und ihrem Onkel, die schwarzen Haare zu langen Zöpfen geflochten und mit einer hübschen goldenen Klemme hochgesteckt, die ihre Tante ihr gegeben hatte. Sie trug ein entzückendes Kleid in Blassrosa, das über und über mit Spitze besetzt war und ihr bis zu ihren Knöcheln ging. Ich erkannte es als eins von Beccas Debütantinnenkleidern wieder.
„Du warst großartig“, meinte sie nach dem Finale und drückte mir die Hände, so wie nur sie das konnte. Dobbs strahlte vor Begeisterung und Schönheit.
„Das Kleid kommt mir doch irgendwie bekannt vor“, sagte ich augenzwinkernd.
„Ja, und wie gefällt es dir?“ Sie drehte sich zweimal um die eigene Achse und wir kicherten wie kleine Mädchen.
Spalding kam mit zwei Punschgläsern auf uns zu. „Ts, ts. Ihr seht aus, als hättet ihr die Prohibition vergessen und dem Punsch ein paar Umdrehungen verpasst.“
Dobbs funkelte ihn wütend an. „Wie kannst du uns unterstellen, Alkohol zu trinken! Siehst du nicht, dass wir einfach berauscht sind vom Leben?“
Spalding wurde rot, lachte leise und gab jedem von uns ein Glas.
„Nein, danke“, sagte Dobbs und machte einen leichten Knicks. Dann drückte sie mich kurz. „Bis später.“
Spalding sah ihr nach und in seinen Augen spiegelten sich Argwohn, Missfallen und Misstrauen. „Ein komisches Mädchen.“
„Sie ist das komischste Mädchen, dem ich je begegnet bin. Und ich liebe sie wie eine Schwester, ach was, noch mehr. Ich weiß nicht, wieso, aber Mary Dobbs ist mir näher als irgendein anderer Mensch auf der ganzen Welt.“ Ich glaube, das sollte eine Art Warnung an Spalding sein, unser kleines Beziehungspflänzchen nicht mit Kritik an meiner besten Freundin zu zerstören.
„Du bist sicher froh, so eine Freundin zu haben“, stellte er fest, aber es klang eher wie ein beiläufiger Kommentar, der die Stille überbrücken sollte.
Ich nippte an meinem Punsch. „Ja, bin ich. Das bin ich wirklich.“
Als er mich am Ellbogen galant zu dem Tisch führte, wo das Teegebäck und die kleinen Appetithappen standen, ließ ich es in der fröhlichen Gewissheit geschehen, dass Spalding Smith die perfekte Rolle in meinem Überlebensplan spielte.
* * *
Dobbs
Ich hätte nie gedacht, dass mein Nähtalent mir in Atlanta etwas nützen würde. Was für ein großer Spaß es war, Becca Chandlers Kleiderkammer zu durchwühlen und die schönste Robe für Perris Ball auszuwählen! Als Tante Josie gesehen hatte, wie gut ich meine Sache machte, durfte ich mir selbst ein Kleid für das Maifest aussuchen. Den ganzen Samstag vor dem Fest änderte ich ein leichtes, rosafarbenes Kleid ab – ich musste in der Oberweite zehn Zentimeter abnähen – und trug es mit Vergnügen. Kleider machen Leute, sagt man, aber trotzdem fühlte ich mich fehl am Platz.
Es war ein schöner Tag und die Mädchen vom Washington Seminary waren ganz aufgekratzt von den Vorbereitungen, dem wenigen Schlaf und der erfolgreichen Zeremonie. Nach den Aufführungen verschwand Spalding Smith mit Perri. Ich hielt es in seiner Gegenwart nicht aus und ging zu Mae Pearl, der frechen Emily, der versnobten Peggy und der kleinen Lisa. Kurz darauf schlich die große, dürre Macon heran. „Was macht ihr Pinks denn hier? Ich schnappe mir jetzt erst einmal einen Gent!“ Sie zwinkerte uns zu und eilte davon.
„Einen Gent?“, fragte ich.
Die Mädchen lachten. „Die höheren Klassen am Washington Seminary nennt man die Pinks und die Jungs, die uns den Hof machen, nun, die heißen Gents … so wie in Gentleman. Und davon gibt es hier heute jede Menge!“
Ich nickte, als wäre das das Normalste von der Welt und hörte zu, wie sie über das nächste Kentucky Derby sprachen, das große Diner im Piedmont Driving Club und über einen Kinofilm, der King Kong hieß und in ganz Amerika für Begeisterungsstürme sorgte.
Als der Titel King Kong fiel, quiekten Mae Pearl und Lisa euphorisch. „Ist das nicht der tollste Film aller Zeiten?“ Die beiden liefen zum Tisch mit den Erfrischungen und schnatterten aufgeregt über einen riesigen Gorilla, der auf dem Empire State Building stand, Flugzeuge wie Fliegen zerquetschte, und dass sich Fay Wray ausgerechnet in einen Riesenaffen verliebte.
Emily zupfte an ihrem Rock herum. „Ich werde mir bestimmt keinen Gent anlachen. Ich will nur dieses Ding loswerden und in mein Tennisoutfit schlüpfen. Mir reicht’s.“ Ich musste lächeln. Ein langes weißes „Feenkleid“ passte wirklich nicht zu ihrem stämmigen Körper und den kurzen braunen Haaren.
Damit blieben nur Peggy und ich übrig. Peggy sah in ihrem eng geschnittenen, cremeweißen Frühlingskleid und dem dazu passenden Hut noch eleganter aus als sonst. Ihre braunen Haare wellten sich leicht und sie kniff effektvoll ihre großen braunen Rehaugen zusammen. Sie nahm mich am Ellbogen und führte mich zu einer abgelegenen kleinen Bank.
Dort angekommen stemmte sie plötzlich die Hände in die Hüfte. „Du bist unmöglich, weißt du das?“, zischte sie. „Kommst aus Chicago und versuchst Perri ihren Freundinnen auszuspannen. Sie von den Leuten zu trennen, denen sie etwas bedeutet! Hast du überhaupt eine Ahnung, wer Perri Singleton ist? Das Mädchen mit den tausend Verabredungen! Eintausend Verabredungen im letzten Jahr, das beliebteste Mädchen von ganz Atlanta! Ich begreife einfach nicht, wieso sie sich überhaupt mit so jemandem wie dir abgibt. Also hör auf, dich in unsere Kreise einzuschleichen. Du passt nicht hierher und das weißt du.“
Ich war viel zu sehr vor den Kopf gestoßen, um etwas zu erwidern. „Ich habe nie …“, setzte ich an, aber Peggy fiel mir ins Wort.
„Fang gar nicht erst an dich zu rechtfertigen, Mary Dobbs. Ich weiß, wie meine Freundin war, bevor du gekommen bist, und wie sie jetzt ist. Du und dein vorlautes Maul, ihr werdet sie noch ins Verderben stürzen wie ihren Vater! Das lasse ich nicht zu!“ Sie zeigte mit ihrem Finger im weißen Handschuh auf mich. „Lass sie in Ruhe! Hast du mich verstanden? Lass sie in Ruhe.“
Bevor ich etwas antworten konnte, hatte sie schon auf ihren Stöckelschuhen kehrtgemacht und lief auf die Menge fröhlicher Menschen mit Punschgläsern in der Hand zu. Ich zitterte am ganzen Leib und trat hinter die Bank in die Azaleenbüsche, um mich zu sammeln.
Ich hatte mich kaum beruhigt, da kam ein junger Mann und setzte sich auf die Bank. Ich war halb verdeckt und wollte ihn nicht erschrecken, also hustete ich zweimal etwas lauter als üblich, bevor ich herauskam und verlegen lächelte.
„Verstecken Sie sich?“, fragte er.
„Nein, ich bewundere nur die Schönheit dieses Ortes“, erwiderte ich und suchte nach der nächsten Fluchtmöglichkeit. Am liebsten wäre ich nach Hause gegangen, aber Onkel Robert hatte uns hergefahren und er und meine Tante unterhielten sich angeregt mit ihren Freunden und machten nicht den Eindruck, als wollten sie gehen.
„Ich beiße nicht.“ Der junge Mann hatte noch irgendetwas anderes gesagt. Ich drehte mich um und sah, wie er die Bank neben sich tätschelte. „Setzen Sie sich. Ich beiße nicht.“
„Oh.“ Ich wurde rot. „Ich … ich wollte gerade …“
„Gehen? Ich bin Andrew Morrison.“
Ich setzte mich neben ihn. Er hatte blonde Locken, dunkelblaue Augen und einen flott aussehenden Anzug. „Ich gehe auf die Georgia Tech. Euer Maifest hat mir wirklich gut gefallen“, sagte er mit einem Lächeln.
„Von der Georgia Tech hört man Gutes“, antwortete ich und war noch immer ganz benommen von Peggys Anschuldigungen. „Eine gute Schule.“
„Und Sie heißen?“
Ich wurde rot. „Verzeihung. Ich bin Mary Dobbs Dillard. Vor Kurzem bin ich aus Chicago hier nach Atlanta gekommen.“
„Wunderbar. Und wie gefällt Ihnen unsere kleine Stadt?“
Wir betrieben vielleicht zehn Minuten Small Talk. Zuerst konnte ich mich kaum auf das konzentrieren, was er sagte, aber allmählich wich die Anspannung und ich erfuhr, dass er gern Maschinenbauer werden und damit den Armen in der Stadt helfen wollte. Plötzlich sah er mich betreten an. „Ich rede hier viel zu viel von mir selbst. Erzählen Sie mir doch etwas von sich.“
„Tut mir leid, ich muss wirklich gehen. Aber es hat mich gefreut, Andrew Morrison.“
Er schmunzelte. „Gleichfalls, Mary Dobbs. Vielleicht sehen wir uns ja irgendwo wieder.“
„Vielleicht.“ Ich nickte und ging schnellen Schrittes auf Onkel Robert und Tante Josie zu, die mit ihren bunten Zahnstochern kleine Fleischbällchen aufspießten, sie sich in den Mund steckten und dabei lachten, als wäre das Leben eitel Sonnenschein.
* * *
Perri
An jenem Abend war ich wegen des großen Erfolgs unserer Aufführung und meiner Zeit mit Spalding so aufgekratzt, dass ich Mama fragte, ob ich bei Dobbs übernachten dürfe. Sie war nämlich irgendwann einfach verschwunden.
Mama hatte gute Laune und nichts dagegen, weil sie für das Maifest von der Zulassungsstelle freibekommen hatte. Ich saß neben ihr auf dem Beifahrersitz, während Barbara und Irvin hinten nach Leibeskräften die diesjährige Hymne des Festes sangen, ein Lied, das Gloria Swanson in einem Musical der Zwanzigerjahre berühmt gemacht hatte. Ich war so erleichtert, die beiden fröhlich zu sehen, nachdem ich ihnen zwei Tage zuvor die Hiobsbotschaft mit dem Haus überbracht hatte und beide stundenlang geweint hatten.
An der Einfahrt der Chandlers ließ Mama mich aussteigen. Ich lief eilig am Haus vorbei in die Scheune und holte meinen Fotoapparat aus der Dunkelkammer. Was ich fotografieren wollte, wusste ich nicht, ich spürte nur, wie mich neue Kreativität durchströmte und ich wollte – nein, musste – das sofort ausnutzen. Mir fiel das schöne Foto vom Sternenhimmel in Hinter den Wolken ist der Himmel blau ein. Aber leider war der Frühlingsabend alles andere als dunkel und die Sterne wohl erst in ein paar Stunden zu sehen. Also stürzte ich durch die Küchentür ins Haus, rannte durch die Küche und winkte Parthenia, die gerade Zwiebeln schnitt und dabei weinte.
Ich sprang die Treppe zu Dobbs’ Zimmer hoch und konnte es kaum erwarten, mit ihr über Spalding zu reden und sie zu fragen, was ich fotografieren sollte. Sie lag unbeweglich auf ihrem Bett und starrte zum Baldachin hinauf. Noch immer trug sie das rosafarbene Kleid, nur ihre Zöpfe hatte sie entflochten und ihr schwarzes Haar floss über die Bettkante. So wie sie ausgestreckt dalag und sich von dem aufregenden Tag erholte, sah sie aus wie ein Filmsternchen oder eine fremdländische Prinzessin. Bevor sie mich überhaupt bemerkte, war das Foto schon im Kasten.
Sie hörte das Klicken der Blende und drehte den Kopf zur Tür. „Was machst du da?“
„Ich fotografiere. Das musste ich einfach festhalten. War das nicht himmlisch heute – der ganze Tag? Ich bin so beseelt, ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll.“
Zum ersten Mal ließ meine Begeisterung sie kalt. Sie setzte sich auf und warf einzelne Haarsträhnen über ihre Schulter. „Ich hatte ja keine Ahnung“, flüsterte sie mit zugeschnürter Kehle.
„Keine Ahnung wovon?“
„Dass ich deine Trauer noch schlimmer mache, weil ich dir deine Zeit stehle.“
Ich sah sie verwirrt an und war mit meinen Gedanken ganz woanders. „Bist du verrückt? Was redest du da? Du hast mir das Leben gerettet, Dobbs Dillard.“
„Deine Freundinnen sehen das anders. Vor allem Peggy.“
„Natürlich“, stimmte ich zu. „Aber sie sind nur neidisch. Und was soll ich ihnen sagen? Dass ich dich lieber mag als sie? Sie werden sich schon daran gewöhnen.“ Ich setzte mich aufs Bett, legte den Fotoapparat vorsichtig beiseite und strich über mein weißes Kleid. „Du hast das wirklich fabelhaft hingekriegt. Und deins auch.“
Das Kompliment perlte völlig an ihr ab.
„Ach komm. Vergiss Peggy.“ Ich schnappte mir den Fotoapparat und ging ans andere Ende des Zimmers. „Schau mal hierher. Ich mache ein Foto von dir.“
Da musste sie lächeln und verdrehte die Augen. Ich drückte ab und fing Dobbs genauso ein, wie sie war, mit ihren langen schwarzen Haaren, der olivfarbenen Haut und dem verschmitzten Lächeln im Gesicht. Aber dann war es wieder verschwunden. „Stimmt es, was Peggy sagt? Dass du eintausend Verabredungen in einem Jahr hattest? Eintausend?“
Ich wurde rot. „Das hat Peggy gesagt?“
„Ja. Sie meinte, du seist das beliebteste Mädchen in ganz Atlanta.“
„Also das ist Blödsinn. Und das Ganze ist doch nur ein Spaß. Dummes Zeug. Wir haben in unseren Tagebüchern aufgeschrieben, welche Jungs bei uns vorbeigekommen sind, und letztes Jahr hatte Peggy die Idee, sie zu zählen.“
„Also stimmt es? Eintausend Verabredungen in einem Jahr? Das ist ja unglaublich.“
„Ich habe dir doch gesagt – das ist nur albernes Zeug. Du weißt schon, Stippvisiten – mehr nicht. Alle Mädchen kriegen dauernd Besuch. Und der einzige Grund, warum sie zu mir kamen, war, dass Dellareen die besten Brownies der Welt macht.“
„Der einzige Grund, alles klar.“
„Auf jeden Fall ist das jetzt auch egal, denn niemand wird mich mehr besuchen, wenn wir erst umgezogen sind.“
Und damit war es endlich raus. Zum Glück ersparte Dobbs mir ihre Sprüche über Gott und dass er für uns sorgen würde.
„Das tut mir sehr leid, Perri“, war alles, was sie sagte. „Das muss unerträglich sein, nach allem, was du durchgemacht hast.“
Wir legten uns beide auf ihr Bett. Sie fing an, irgendetwas über Gottes Gnade, die jeden Morgen neu ist, aufzusagen. Ich erkannte es als Bibelverse.
Sie trug es leise vor, aber voller Überzeugung, und ich weiß nicht warum, aber hinterher ging es mir besser.