Über das Buch:
Zweimal waren Gabi und Lia Betarrini jetzt schon im Iltalien des 14. Jahrhunderts. Sie haben dort in Burgen gewohnt, sind in gefährliche Kämpfe verwickelt worden ... und haben sich in gutaussehende Ritter verliebt, die jederzeit ihr Leben für sie aufs Spiel setzen würden.
Nun kehren sie zum dritten Mal ins mittelalterliche Italien zurück - diesmal mit der ganzen Familie. Aber für immer dortzuleben wäre ein großes Risiko. Um sie herum toben Kämpfe und der Ausbruch der Pest steht unmittelbar bevor. Die Betarrinis stehen vor der Entscheidung ihres Lebens: Sollen sie wirklich ihre sichere Zukunft für eine ungewisse Vergangenheit opfern?
Über die Autorin:
Lisa T. Bergren ist die Autorin von mehr als 30 Büchern. Früher selbst im Verlagswesen tätig, arbeitet sie heute als Beraterin und freiberufliche Lektorin. Zusammen mit ihrem Mann Tim und ihren drei Kindern lebt sie in Colorado.
7. Kapitel
Wir ritten hintereinander über die Brücke, die aus riesigen Steinbögen gebaut war, auf die Tore von Sansicino zu. Es hatte endlich aufgehört zu regnen und die Wolken hatten sich verzogen. In der pfirsichfarbenen Spätnachmittagssonne schimmerte und glänzte alles.
Es gab kein Anzeichen von den Florentinern. Ob sie schon hier waren?
„Während wir unsere Verhandlungen führen“, sagte Marcello, „kümmert Ihr und Eure Mutter Euch um Fortino?“
„Natürlich“, sagte ich.
„Vergesst nicht, dass ihm eine anstrengende Reise bevorsteht, wenn Ihr seine Wunden verbindet, und –“
„Ich weiß, Marcello. Wir tun unser Bestes, um ihn so gut wie möglich zu verbinden.“
Er streckte mir seine Hand entgegen und ich nahm sie. Wir sahen uns direkt in die Augen. „Bleibt nahe bei mir, Gabriella.“
„Wo sollte ich sonst sein als bei Euch?“
Okay, wenn das hier ein Film gewesen wäre und meine Schwester und ich ihn geguckt hätten, hätten wir an dieser Stelle laut losgelacht. Das war ja so was von kitschig! Aber ich schwöre, wenn man verliebt ist, erreicht man einen Status, in dem es sich genau richtig anfühlt, solche Dinge zu sagen. So richtig, dass man am liebsten weinen würde. Marcello auch nur anzuschauen, zu wissen, wie sehr ich ihn liebte und wie sehr er mich liebte, brachte mich wirklich fast zum Weinen.
Und ich wollte noch mehr von dieser Liebe. Ich merkte, wie ich still dafür betete, dass wir noch mehr Zeit miteinander hatten. Einen Monat, eine Woche, einen Tag mit Marcello.
Lass uns heute bitte nicht sterben, Gott. Lass uns morgen früh aufwachen – uns beide. Bitte lass uns eine Zukunft haben.
Die Wachen beobachteten, wie wir uns näherten. „Nennt Eure Namen und Euer Begehr“, rief einer.
Fast hätte ich laut losgelacht. Witzbold! Als ob du nicht ganz genau wüsstest, warum wir hier sind. Die Stadt ist schließlich nicht besonders groß … Ihr wisst doch alle seit Tagen Bescheid.
„Ich bin Conte Marcello Forelli“, rief mein Held respektvoll. „Wir befinden uns hier, um die Delegation der Florentiner zu treffen, wie es besprochen wurde.“
Die Wache musterte uns alle und ihr Blick streifte auch Lia und mich. Dann drehte der Mann sich um und rief etwas nach hinten. Knarrend öffneten sich die Tore.
Und wir ritten hinein.
* * *
Als der Letzte unserer Gruppe durch das Tor geritten war, wurden wir sofort umzingelt. Sie waren uns bestimmt eins zu vier überlegen.
Schockiert sahen wir uns um. Als die Sansicinoer darauf bestanden hatten, dass wir nur mit einer begrenzten Anzahl an Männern kamen, hatten wir nicht erwartet, angegriffen zu werden. In keiner der Verhandlungen zwischen den Florentinern und den Sienesen hatte Marcello so etwas bis jetzt erlebt – das konnte ich ihm vom Gesicht ablesen.
Ich traute mich gar nicht, mich nach Mum und Dad umzuschauen. Wahrscheinlich kriegten sie gerade voll die Krise. Mir ging es jedenfalls so.
„Conte Forelli“, sagte ein kleiner Adliger mit gestutztem Bart. „Ich bin Conte Ascoli.“
Er ritt um seine Soldaten herum und blieb während der Unterhaltung auf seinem Pferd sitzen, wahrscheinlich, damit er nicht zu Marcello hochschauen musste. Napoleon-Komplex, entschied ich. Der kleine Franzose hatte angeblich auch so seine Macken gehabt. Beziehungsweise wird sie noch haben, dachte ich verwirrt.
„Vergebt mir dieses ungewöhnliche … Willkommen, jedoch empfingen wir Eure florentinischen Freunde auf die gleiche Weise. Damit diese Verhandlungen so friedvoll wie nur möglich verlaufen, bitten wir Euch darum, Eure Waffen abzulegen.“
Die Muskeln in Marcellos Wangen spannten sich an und er wartete einen Moment, bevor er antwortete. „Als Verteidiger dieser Stadt dürfte Euch bekannt sein, wie schädlich es für einen Ritter sein kann, sein Schwert abzulegen. Umso mehr, wenn er einem langjährigen Feind gegenübertritt.“
Conte Ascoli bedachte ihn mit einem winzigen Lächeln und sah dann zu Lia und mir. „Uns ist nicht entgangen, dass dieser bevorstehende Handel besonderer Sicherheitsvorkehrungen bedarf. Fürwahr, Ihr habt bisher viel auf Euch genommen, um Eure Liebste aus den Händen Eures Feindes zu erretten. Wie ich hörte, habt Ihr sie soeben erst wieder willkommen heißen können, nachdem Ihr lange Zeit voneinander getrennt wart. Selbst Eure große Liebe zu Eurem Bruder kann nicht in den Schatten stellen, was Ihr für diese Dame empfindet.“ Er musterte mich ausgiebig und versuchte nicht einmal, seine Bewunderung zu verbergen. Es fiel mir wirklich ziemlich schwer, ruhig sitzen zu bleiben. Endlich wanderte sein Blick wieder zu Marcello hinüber. „Als Verwalter dieses Austausches muss ich sichergehen, dass alle Parteien sich friedvoll verhalten. Bitte händigt uns Eure Waffen aus. Man wird sie Euch bei Eurer Abreise wieder überreichen.“
„Woher soll ich wissen, dass man die Florentiner wirklich auf die gleiche Wiese empfangen hat?“, wollte Marcello wissen. „Immerhin habt Ihr ihnen während der letzten Schlacht gestattet, Euer Territorium zu durchqueren. Es wäre möglich, dass Ihr Euch auf ihre Seite schlagt und Eure neutrale Position als Vermittler nur vorgebt.“
Conte Ascolis Mund zuckte. Er wandte sich um und hob seinen Arm. „Folgt uns auf die Piazza.“
Wir ritten langsam hinter ihm her und ich wechselte einen besorgten Blick mit Lia und meinen Eltern. Konnte unser Plan überhaupt funktionieren, wenn unsere Leute wirklich dazu gezwungen wurden, ihre Waffen abzulegen? Wie sollten wir uns den Weg zu den Mauern freikämpfen? Während sich die Tore hinter uns schlossen, hatte ich das Gefühl, dass wir in eine Falle getappt waren, aus der wir viel schwerer als gedacht entkommen würden.
Ich wusste, dass unsere Verstärkung sich den Mauern bei Sonnenuntergang von unten nähern würde, aber die Männer konnten sie nicht stürmen oder die Tore angreifen. Nein, wir mussten zu ihnen kommen, über die Mauern, wenn wir unsere Freiheit haben wollten.
Die Stadt war so angelegt wie die meisten anderen toskanischen Hügelstädte, in denen ich bis jetzt gewesen war. Enge Kopfsteinpflasterstraßen und kleine Kalksteinhäuschen, die zwei oder drei Stockwerke hoch waren. Rote Ziegeldächer. Nicht die maschinell hergestellten Produkte, von denen eins exakt dem anderen glich, sondern handgefertigte, sonnengetrocknete Ziegel, von denen jeder einen eigenen Charakter hatte. Ich sah über die Ziegel hinweg zur Stadtmauer hin, wo Soldaten patrouillierten.
Wir hatten sie überwältigen wollen. Aber eigentlich nicht, bevor die Verhandlungen überhaupt stattfanden. Ich sah zu Marcello und erkannte sofort, dass er meine Angst teilte. Wenn wir erst einmal unsere Waffen abgegeben hatten, konnten wir rein gar nichts mehr tun.
Die Straße endete auf dem Marktplatz, der ziemlich klein war im Vergleich zu dem von Siena oder Florenz. Es handelte sich um einen rechteckigen Platz, mit einer Kirche auf der einen und öffentlichen Gebäuden auf der anderen Seite. Vier Palazzos bildeten die Längsseiten.
Etwa zwanzig Ritter erhoben sich wie ein Mann von den Stufen der Kirche, wo sie von Hunderten Sansicinoern bewacht wurden. Unter ihnen war Conte Greco. Nicht einer von ihnen trug ein Schwert am Gürtel.
„Wie Ihr seht, mein Herr“, sagte Ascoli, der sein Pferd angehalten hatte, „wurden die Florentiner genau wie Ihr gebeten, ihre Waffen auszuhändigen. Wir sind bestrebt, diese Verhandlungen wie abgesprochen durchzuführen. Um der Ehre willen, legt nun Eure Waffen ab.“
Marcello schob den Kiefer vor und er starrte Ascoli an. „Wo befindet sich mein Bruder? Die Florentiner sind der Contessas Betarrini gewahr geworden. Nun fordere ich einen Blick auf meinen Bruder, Conte Fortino.“
„Händigt Eure Waffe aus und wir geleiten Euch zu ihm.“
„Bringt ihn her“, knurrte Marcello, „oder wir erklären dies zu einer Falle und erheben das Schwert gegen Euch.“
Conte Ascoli hob eine Augenbraue. „Euer Bruder ist bei sehr schlechter Gesundheit. Ihn zu bewegen könnte lebensgefährlich sein.“
„Wie ich vernahm, ist es durchaus möglich, dass mein Bruder die Nacht nicht überstehen wird. Ich werde diese Frauen und meine Männer keinesfalls waffenlos ausliefern, ohne zu wissen, ob er sich tatsächlich in Eurer Obhut befindet.“
Ascoli starrte ihn kalt an, dann drehte er sich um und nickte zwei Wachen zu. Sofort liefen sie über die Piazza zu einem der Gebäude, das stark bewacht wurde, und verschwanden durch die Tür. Unsere Pferde tänzelten unruhig, angesteckt von der Anspannung, die um sie herum herrschte. Niemand sagte ein Wort. Jetzt erst merkte ich, dass die Stadtbevölkerung um den Platz herumstand, beobachtend, starrend, flüsternd.
Nach einer gefühlten Ewigkeit kamen die beiden Wachen mit zwei anderen aus dem Haus. Zwischen sich trugen sie ein Tuch mit einem Körper. Sie blieben im Eingang stehen und warteten.
„Schickt einen Eurer Männer hinüber, um zu bestätigen, dass es sich um Conte Fortino handelt und dass er noch unter den Lebenden weilt“, sagte Ascoli. „Doch alle anderen verharren hier.“
„Ich gehe“, sagte meine Mutter.
Marcello sah sie überrascht an, nickte dann aber, als er sah, dass sie schon den Korb mit den Verbandssachen in der Hand hatte.
Dad stieg ab und half Mum von ihrem Pferd. Sie lächelte Dad ermutigend zu und ging dann über die Piazza, als würde sie ihr gehören. Sie wusste genau, dass jeder hier sie beobachtete. Sie kniete sich neben den Mann auf der Decke, wobei sich ihre Röcke um sie herum ausbreiteten. Ich konnte sehen, dass sie seinen Puls fühlte. Dann sah sie über die Schulter und nickte Marcello zu.
Er war es. Fortino war hier. Und er lebte.
„Ruft sie zurück“, sagte Ascoli.
„Erlaubt ihr, bei ihm zu bleiben und für meinen Bruder zu tun, was sie vermag“, bat Marcello. „Sollte er sterben, stirbt auch die Vereinbarung.“
„Nun gut“, sagte der kleine Mann und winkte genervt. „Und Ihr händigt nun Eure Waffen aus, damit wir den Tausch vollziehen können. Ihr könnt die Stadt noch am heutigen Abend verlassen und bei Tagesanbruch zurück in Siena sein.“
„Ich habe einen anderen Vorschlag zu unterbreiten.“
„Dies überrascht mich nicht“, sagte Ascoli. „Doch seid gewarnt, dass es kaum etwas gibt, das Ihr anbieten könnt, um unsere Freunde aus Florenz von ihrer Mission abzubringen.“
„Es gibt einiges für sie zu bedenken“, beharrte Marcello auf seinem Standpunkt. „Und wir wären Euch, unserem Vermittler, äußerst dankbar, wenn Ihr die Verhandlungen leiten würdet. Natürlich sollt Ihr für Eure Arbeit reich entlohnt werden.“
Ascolis getrimmter Bart hob sich. „Ich verstehe. Nun denn, sollen wir die Große Halle betreten?“ Er deutete auf das entsprechende Gebäude. „Wir verhandeln wie Ehrenmänner.“
Natürlich. Nichts geht über Geld, was? War ja klar, dass das ein Anreiz für dich ist.
„Einverstanden“, sagte Marcello.
Aber der Mann bewegte sich nicht. „Mein Herr“, sagte er stattdessen wie ein genervter Vater, der sein Kind ermahnte. „Wir werden nun Eure Waffen an uns nehmen.“
Marcello verzog das Gesicht. Wahrscheinlich hatte er gehofft, dass Ascoli das vergessen würde. Nach einem Moment des Zögerns zog er sein Schwert vorsichtig aus der Scheide und gab es dem nächststehenden Ritter. Man konnte ihm ansehen, wie schwer es ihm fiel. Dann nickte er nach hinten und befahl seinen Männern, das Gleiche zu tun.
Lia und ich blieben still und hofften, dass sie nicht daran dachten oder sich nicht trauten, uns nach Dolchen zu durchsuchen. Sie durchsuchten die Männer, aber nachdem ich ihnen mein Schwert und Lia ihren Bogen und die Pfeile gegeben hatte, waren sie zufrieden. Marcello bemerkte es auch und musste sich merklich ein Lächeln verkneifen.
„Steigt ab, Freunde“, sagte Ascoli. „Meine Männer sorgen dafür, dass Eure Pferde Wasser und Hafer erhalten.“
Die Männer folgten Marcello und gaben ihre Zügel an die Sansicinoer ab. Luca und Marcello halfen Lia und mir beim Absteigen. „Bleibt nahe bei mir“, sagte Marcello und bot mir seinen Arm an.
„Jetzt und für immer“, antwortete ich.
Wir gingen in das Gebäude, auf das Ascoli gedeutet hatte, und dort durch eine lange Halle. An der anderen Seite öffneten sich zwei massive Türen, die mit Schnitzereien von Kampfszenen dekoriert waren. Dad war sofort fasziniert von ihnen und schaute sie sich an. Als ich Mum neben der Tür erblickte, wo sie sich um Fortino kümmerte, lief ich sofort zu ihnen. Die Männer gingen währenddessen zu den Tischen, auf denen Früchte, Fleisch, Käse und Brot angerichtet worden waren.
Nur Marcello folgte mir zu seinem Bruder, doch er blieb stehen, als er einen jungen Priester sah, der eine braune Robe anhatte. Der nickte und trat einen Schritt zurück. Ich sah den Fremden an. Warum war Marcello stehen geblieben? Kannte er den Priester?
Aber da war mein Geliebter auch schon bei mir und kniete sich neben meine Mutter. Ich musste mich dazu zwingen, Fortino ins Gesicht zu sehen. Sein Kopf war so bandagiert, dass sein fehlendes Auge verdeckt wurde. Er war schrecklich dünn – hatten sie ihm überhaupt etwas zu essen gegeben? – und seine Haut hatte die gleiche graue Farbe wie damals, als wir ihn fast verloren hatten. Und der Gestank … Fast hätte ich gewürgt. Der Verwesungsgeruch sagte mir, dass er eine schlimme Infektion haben musste.
„Er wird eine Reise nicht überstehen“, sagte meine Mutter leise zu Marcello. Ihre blauen Augen trafen seine braunen und sie schüttelte leicht den Kopf.
Marcello nahm die Hand seines Bruders und drückte sie an seine Brust.
„Fortino“, sagte er leise, „wir sind hier, Bruder.“
Fortino öffnete mit letzter Kraft sein Auge. „Marcello … ihr … ihr hättet nicht kommen dürfen.“
„Wir hatten keine andere Wahl. Wir mussten es versuchen.“
„Ich bin schon tot.“ Er sah mich an, dann schloss er vor Schmerzen die Augen.
Ich sah Mum an, bat sie still um Unterstützung. Sie hatte seinen Bauch abgetastet.
„Ich vermute, dass er innere Blutungen hat“, sagte sie auf Englisch. „Seine Bauchdecke ist angespannt und hart wie ein Stein. Sie haben ihn übel verprügelt.“ Sie wechselte wieder ins Italienische. „Ihr dürft diesen Männern meine Töchter nicht überlassen.“ Jetzt, wo sie Fortino sah, wurde ihr wahrscheinlich erst richtig bewusst, worum es hier ging. Es war eine Sache, in einen Käfig geworfen und öffentlich zur Schau gestellt zu werden. Aber das Ergebnis monatelanger Folter zu sehen … Auf Mums Gesicht zeigte sich Angst – teilweise um Fortino, teilweise um uns. Dad trat neben sie und legte seine Hand auf ihre Schulter.
„Ich werde mit aller Macht darum kämpfen“, versprach er meinen Eltern.
„Mein Herr“, sagte Ascoli und kam näher. „Sollen wir beginnen?“
„Einen Moment noch.“
Offensichtlich verwirrt wandte sich der kleine Mann um und ging an Luca und Lia vorbei, die mittlerweile auch bei uns standen.
„Fortino“, sagte Marcello sanft und drückte seine Hand.
Fortino zuckte zusammen, als wäre er kurz eingeschlafen gewesen. Wieder öffnete er sein Auge. „Du warst mir immer ein guter Bruder, Marcello. Einen besseren hätte man sich nicht wünschen können.“
Marcello starrte ihn an und schluckte schwer. „Genau wie du“, sagte er endlich.
„Bereite dem Namen unseres Vaters Ehre.“
„Mit all meiner Kraft“, versprach Marcello. Wieder musste er schlucken. „Ich werde dich vermissen, Bruder.“
Ein kleines Lächeln hob Fortinos Mundwinkel und er sah zu mir. „Gabriella wird für dich da sein. Sie war immer für dich bestimmt.“
„Dessen bin ich mir mehr als bewusst.“ Jetzt musste auch Marcello lächeln.
Aber dann fiel Fortinos Auge zu. War er eingeschlafen? Ohnmächtig? Marcello zögerte kurz, dann legte er sein Ohr an Fortinos Gesicht. „Noch atmet er“, flüsterte er. Innerhalb von nur einer Sekunde wandelte sich sein Gesichtsausdruck von Besorgtheit zu eiserner Bestimmtheit. Er erhob sich, half mir beim Aufstehen und flüsterte dann etwas in Lucas Ohr.
Anschließend gingen wir alle zu dem langen Tisch hinüber.
„Man wird erwarten, dass Ihr hinter meinem Stuhl steht“, sagte Marcello leise.
Ich nickte und ignorierte die Stimme in meinem Kopf, die laut protestieren wollte. Also werden die Jungs stundenlang verhandeln und wir Mädels sollen die ganze Zeit stehen? Aber ich hatte versprochen, an seiner Seite zu sein … also tat ich, was von mir erwartet wurde. Nachdem sich alle gesetzt hatten, gab es noch einen freien Stuhl. Aber bot mir den jemand an? Natürlich nicht.
Tja, nicht alles hier im Mittelalter war cool. Von Gleichberechtigung hatten sie hier noch nie etwas gehört. Und sie würden es auch noch ein paar Hundert Jahre lang nicht.
Meine Augen folgten einer auffordernden Geste von Conte Ascoli.
Die Wachen öffneten die großen Türen und durch sie hindurch schritt Cosmo Paratore.
Ich starrte ihn an. Für ein paar Sekunden stand mir der Mund offen, dann überwältigte mich die Panik und ließ mein Herz immer schneller schlagen.
Sobald Marcello ihn sah, sprang er auf und stellte sich zwischen mich und den Mann, der sich nichts sehnlicher wünschte als meinen Tod. „Conte Ascoli“, platzte es aus ihm heraus. „Wie könnt Ihr solchen – solchen – Abschaum in Euren Mauern dulden?“ Er richtete die Frage an unseren Gastgeber, aber seine Augen waren auf Conte Greco gerichtet, der am Ende des Tisches saß und genüsslich aß. Hatte er es gewusst? Oder war Paratores Anwesenheit für ihn genauso eine Überraschung wie für uns?
„Welch eine Begrüßung, Marcello“, sagte Paratore. Er setzte sich und deutete auf Marcellos Stuhl. „Kommt, lasst uns ein für alle Mal beschließen, was getan werden muss.“
Marcello stemmte die Fäuste auf den Tisch und beugte sich zu dem Mann vor. Hart und unerbitterlich starrte er ihn an. „Befehlt die Freilassung meines Bruders sowie die Herausgabe meines rechtmäßigen Erbes. Erkennt die Grenzen an, die von unseren Großvätern festgelegt wurden. Das ist es, was getan werden muss.“
Paratore hob eine Augenbraue und griff nach einer Dattel; dann richtete er zum ersten Mal seine Augen auf mich. Er hatte seine Haare wachsen lassen, um die fehlenden Ohren zu verdecken. Die Ohren, die ich ihm hatte abschlagen lassen. Seine grünen Augen strahlten vor Neugier. Er presste die Lippen zusammen. „Wie ich hörte, bittet Ihr in Euren Forderungen nicht um die Hand Eurer Geliebten oder ihre Sicherheit“, sagte er beißend.
Marcello war verwirrt, verlegen. Das war alles nicht Teil des Plans. Ich wusste das. Ich wusste es! Und trotzdem traf mich Paratores Kommentar. Genau, wie er es beabsichtigt hatte. Irgendwas stimmte hier nicht und Paratore wusste das. Genau wie Ascoli. Mein Herz schlug noch schneller. Wir steckten in Schwierigkeiten. Großen Schwierigkeiten.
„Wir sind nur hier“, sagte Marcello verspätet, „um über Fortinos Freilassung zu verhandeln.“ Er hielt inne, atmete tief ein und sah wieder zu Greco. Jetzt wirkte er wieder wie ein Mann, nicht wie ein Junge, der um Beistand bat. „Ich bin befugt, Florenz eine Truhe voller Gold im Tausch für meinen Bruder anzubieten“, sagte Marcello. „Und unserem Vermittler zehn Prozent des Wertes für seine Mühen.“ Er sah Ascoli an. Der Mann nickte ihm anerkennend zu und man sah, dass er ein Grinsen unterdrücken musste.
„Inakzeptabel“, sagte Paratore.
„Euch wurde mitgeteilt, dass wir Euren Bruder einzig gegen die Contessas Betarrini eintauschen“, sagte ein anderer Conte. Ich versuchte, mich an seinen Namen zu erinnern. Er war einer der Grandi, die ich in Florenz getroffen hatte.
„Sicher werdet Ihr nicht annehmen, dass ich sie Euch überlasse? Mein Bruder ist kaum noch am Leben, so schlecht habt Ihr ihn behandelt!“, knurrte Marcello.
Conte Barbato, fiel mir der Name wieder ein. Er war klein und ungepflegt. Der stachelige Bart hing über sein rundes Kinn. Ich erinnerte mich daran, dass ich an einen Terrier hatte denken müssen, als ich ihn das erste Mal gesehen hatte. Klein und struppig. Aber es war besser, sich auf ihn zu konzentrieren als auf Paratore. Den Feind.
„Fortinos Inhaftierung hat Eurem Volk lange Zeit Frieden geschenkt“, sagte Barbato einfach. „Und der Zorn unseres Volkes konnte durch seine Bestrafung besänftigt werden.“
„Der Zorn des Volkes oder der der Grandi?“
„Sowohl als auch“, antwortete Barbato kalt.
Marcello atmete tief ein und stemmte seine Hände auf den Tisch. „Dies war der hohe Preis, den einer der unseren bezahlen musste“, sagte er vorsichtig. „Fortino war sich dessen ebenso bewusst wie ich. Doch nun nehmt mein Gold, genug Gold, um tausend Familien ein Jahr lang zu nähren, und überlasst mir dafür meinen Bruder, damit er in seinem Heim sterben kann. Die Contessas Betarrini sind nicht länger Teil dieser Abmachung.“
Barbato musterte ihn, dann sah er den Tisch entlang. Alle Florentiner schüttelten langsam den Kopf, Conte Greco eingeschlossen. Paratore grinste mich einfach nur breit an. Sein Selbstvertrauen jagte mir einen kalten Schauer über den Rücken. Waren die Sansicinoer wirklich neutral? Oder hatten sie die ganze Zeit auf der Seite der Florentiner gestanden? Barbato sah wieder zu Marcello. „Wir müssen auf die ursprüngliche Vereinbarung dieses Handels bestehen.“
Ascoli räusperte sich. „Die ursprüngliche Vereinbarung, Conte Forelli, lautete: Euer Bruder im Austausch gegen Contessa Gabriella und Contessa Evangelia Betarrini.“
Marcello schnaubte laut. „Es verhielte sich anders, wäre mein Bruder wohlauf. Wäre er im letzten Jahr wie ein Adliger behandelt worden.“ Er senkte die Stimme. „Doch Ihr habt mir kaum mehr als seine Leiche gebracht.“
Ich zuckte zusammen und sah zu Fortino. Meine Familie stand immer noch bei ihm. Hoffentlich hatte er Marcello nicht gehört. Obwohl, er selbst hätte es wahrscheinlich nicht anders ausgedrückt. Außerdem hatte Marcello ja recht. Er war mehr tot als lebendig.
Die Florentiner warfen sich bedeutsame Blicke zu. Barbato sah Paratore und Greco an, dann nickte er Ascoli zu. Das war irgendein Zeichen. Mein ganzer Körper verkrampfte sich.
„Sie verstehen Eure Verstimmtheit“, sagte Ascoli gespielt mitfühlend. „Und deshalb fordern sie ausschließlich Contessa Gabriella, um den Austausch zu besiegeln.“ Bei seinem Tonfall hätte es in der Verhandlung auch um einen Korb Pfirsiche gehen können.
Ich brauchte nur einen Blick auf Paratore werfen, damit sich mein Magen umdrehte. Er grinste.
„Wir hätten in der Tat alle drei Contessas fordern können“, sprach Barbato weiter. „Doch wir sind bescheidene Menschen. Vergesst nicht, einst waren wir Freunde.“
Ja, aber die Zeiten sind lange vorbei …
„Wir erkennen an, dass es sich um ein großes Opfer handelt, uns Contessa Gabriella zu übergeben“, sagte er mit einem Nicken in meine Richtung, „und nicht weniger bedeutet dieser Handel für uns. Die Menschen von Florenz würden es uns nicht verzeihen, wenn wir Euch Conte Fortino einfach überließen. Auge um Auge, wie es so schön heißt.“
„Dies habt Ihr bereits zu ernst genommen“, schnappte Marcello. „Jede dieser drei Frauen stellt einen zu großen Gegenwert für das dar, was Ihr von meinem Bruder übrig ließt, und dessen seid Ihr gewahr.“
„Nehmt Euren Bruder mit nach Hause, wo er seinen letzten Atemzug tun kann“, presste Conte Greco hervor.
„Seinen allerletzten“, flüsterte Paratore immer noch grinsend und zupfte eine unsichtbare Fluse von seinem Ärmel.
„Ihn mit nach Hause nehmen?“, sagte Marcello zu Greco. „Dann müsste ich ihn ins Castello Forelli bringen.“
Barbato zögerte. „Wir sind befugt, Euch sowohl das Castello Forelli als auch Conte Fortino im Austausch für Contessa Gabriella zu bieten.“
Marcello erstarrte.
Echt jetzt? Im Austausch für mich? Ich knurrte innerlich. Diese Mistkerle wollen mich wirklich um jeden Preis. Noch mehr, als wir es erwartet hatten. Nicht, dass mich das wirklich überraschte. Es gab nur einen Grund, warum sie mich haben wollten – um Marcello und Siena zu demütigen.
Marcello winkte ab. „Behaltet das Castello. Im Palazzo des Verräters habe ich einen durchaus angenehmen Ersatz gefunden.“
Richtig so. Bring sie durcheinander. Sie sollen denken, das Castello interessiert uns nicht mehr.
Conte Barbato beugte sich vor und verschränkte die Hände. „Uns ist durchaus bewusst, dass Eure Gefühle für Contessa Gabriella stark sind.“
Marcello musterte ihn kurz, dann sah er zu mir und bot mir seine Hand an. Ich legte meine Finger in seine. „Es ist kein Geheimnis, dass die Dame mein Herz besitzt“, sagte er zu ihnen.
„Ist es also Eure Angst, dass die Contessa gefoltert wird, wie es mit Eurem Bruder geschah?“
„Dies ist nur ein Teil meines Zögerns, sie Euch zu überlassen.“ Er zögerte die Verhandlung heraus, zog sie immer weiter in die Länge, damit wir bei Sonnenuntergang die Chance zur Flucht bekommen konnten.
„Wir sind Ehrenmänner“, sagte Paratore und winkte ab. „Man wird sie mit Respekt behandeln.“
Fast hätte ich laut losgelacht. Es kostete mich all meine Kraft, so zu tun, als wäre ich tatsächlich eine edle Dame, die ihren Platz kannte.
„In Florenz musste ich sie aus einem Käfig erretten“, schnappte Marcello und starrte die Männer böse an. „Ihr Ehrenmänner habt sie dort dem Tode preisgegeben – Ihr, Conte Barbato und Ihr, Conte Greco – ohne Wasser und Nahrung. Des Nachts war sie der Kälte ausgesetzt. Eine grenzenlose Demütigung! Dennoch erwartet ihr, dass ich auch nur ein Wort glaube, wenn Ihr behauptet, sie mit Respekt behandeln zu wollen?“
Die Florentiner schwiegen einen Augenblick.
„Für diesen Konflikt gibt es eine Lösung“, sagte Barbato vorsichtig.
„Und diese wäre?“
Barbato sah zu Greco. „Conte Rodolfo Greco hat großzügigerweise angeboten, die Hand der Contessa zu nehmen und sie zu ehelichen.“
Wir alle erstarrten. Alle außer Dad. „Scusa un’attimo …“, polterte er los und trat an den Tisch.
„Ben!“, rief Mum.
Aber es war zu spät. Innerlich seufzte ich. Dad hatte sich auf unseren wilden Austauschplan eingelassen, aber eine Hochzeit … Das war zu viel für ihn.
Zwei bullige Wachen schnappten sich seine Arme und eskortierten ihn auf ein Nicken von Ascoli hin nach draußen. „Ich habe genug gehört!“, rief er über die Schulter. „Ich allein bin befugt, die Hand meiner Tochter zu vergeben! Sie ist kein Gewinn, den jemand –“
Die Türen schlossen sich hinter ihm und dämpften sein Rufen. Mum stand neben der Tür und hatte sich die Hand vor den Mund geschlagen. Na großartig, jetzt müssen wir auch noch Dad aus einer Zelle befreien.
Barbato runzelte die Stirn und sah seine Begleiter an. „Diese Normannen … Man sollte meinen, sie seien mittlerweile mit den Erfordernissen des Krieges vertraut.“
Paratore lachte. „Contessa Gabriella ist wohl kaum die jungfräuliche Tochter von Adel, die darauf wartet, von ihrem Ehemann –“
Marcello sprang so abrupt auf, dass sein Stuhl schlagartig nach hinten kippte und mich fast umriss. Luca und seine Männer standen innerhalb eines Sekundenbruchteils hinter ihm.
Auch die Florentiner sprangen auf und die Wachen der Sansicinoer kamen näher. Dann starrten sich alle still und hasserfüllt an. Die Stimmung war wie bei einem Eishockeyspiel kurz vor dem Anpfiff – nur, dass es hier um Leben und Tod ging.
„Meine Herren, meine Herren“, beruhigte Conte Ascoli die Männer. „Ich bin mir sicher, Conte Paratores Absicht war es nicht, die Unangetastetheit der Contessa infrage zu stellen. Er bezog sich nur auf die Tatsache, dass sie auf dem Schlachtfeld eine ernst zu nehmende Gegnerin ist und damit nicht die Art Frau, mit der wir es sonst zu tun haben.“
Marcello sah mich an und fragte wortlos, ob alles in Ordnung war. Das war es natürlich nicht. Mein Gesicht musste mittlerweile die Farbe einer Tomate angenommen haben. Trotz all der Dinge, mit denen ich mich hier in der mittelalterlichen Toskana schon herumgeschlagen hatte, hätte ich nie erwartet, dass meine Jungfräulichkeit einmal vor hundert Männern infrage gestellt und debattiert werden würde.
Ich winkte ab. Lass es gut sein. Bitte, bitte lass es einfach gut sein.
Marcello schüttelte den Kopf und setzte sich widerstrebend wieder hin.
„Conte Forelli“, sagte Rodolfo einen Moment später, „ich weiß, welch großes Opfer es für Euch und Contessa Gabriella bedeuten würde. Doch unter meinem Dach, an meinem Arm, würde ihr kein Übel geschehen. Sie würde als Dame behandelt werden. Vielleicht könnte es auch der Anfang eines neuerlichen Friedens zwischen unseren Provinzen sein.“
Marcello starrte ihn lange an und trommelte unterdessen mit dem Daumen auf die Tischplatte. Auch ich versuchte mir darüber klar zu werden, was das sollte. War dies Grecos Art und Weise sicherzustellen, dass ich in Sicherheit war, falls ich wirklich nach Florenz musste? Oder wollte er uns einfach nur helfen, die Gespräche bis zum Einbruch der Dunkelheit auszudehnen, damit wir entkommen konnten?
Was die anderen Florentiner sich von einer Heirat versprachen, war mir jedenfalls klar. Ich konnte schon das Gerede der Leute hören. Die Wölfin hat Siena verraten! Sie hat Greco gewählt, anstatt Marcello, der sie unsterblich liebt!
„Der Preis ist trotz allem zu hoch“, sagte Marcello.
„Kommt, mein Herr“, sagte Ascoli. „Wenn Ihr sie wahrhaft liebt, zeigt es. Schenkt ihr Sicherheit, Gesundheit und eine Zukunft, indem ihr Conte Greco gestattet, sie zu ehelichen. Es wäre ein reiner Akt der Selbstaufopferung. Und wie er schon sagte, womöglich entsteht daraus eine neue Allianz zwischen unseren Provinzen.“
Marcello rutschte auf seinem Stuhl hin und her und sah mich an. „Ich würde ohne zu zögern mein Leben für Gabriella geben. Doch es geht um ihr Glück. Wenn ich ihr Herz besitze, wie sie meines besitzt, würde uns eine Trennung vergehen lassen. Doch ich überlasse ihr die Entscheidung.“
Ich sah ihn ungläubig an. Was? Jetzt soll ich das machen?
Ich legte eine Hand auf mein Herz. „Es handelt sich um einen großen Beschluss, meine Herren. Eine Dame kann so eine Entscheidung nicht leichtfertig treffen.“
Paratore schnaubte. „Ihr habt auf dem Schlachtfeld Hunderte Entscheidungen innerhalb weniger Augenblicke getroffen. Was ist nun anders?“
„Es ist eine Sache, ums Überleben zu kämpfen. Den Entschluss zu fällen, sich auf ewig an einen anderen Menschen zu binden, ist eine ganz andere.“ Ich sah zu Rodolfo, aber der vermied den Blickkontakt mit mir.
„Gebt uns eine Stunde, dies zu besprechen“, sagte Marcello.
„Bitte, nehmt Euch mehr Zeit“, sagte Ascoli. Er schnipste mit den Fingern und sofort stürmte eine Gruppe Soldaten in den Raum. Plötzlich wurde jeder von uns von zwei Wachen gehalten, auch die Florentiner.
„Was hat dies zu bedeuten?“, rief Marcello und wehrte sich gegen den eisernen Griff seiner Bewacher.
„Ich stelle sicher, dass unsere Verhandlung den Ausgang nimmt, den ich bevorzuge“, sagte Ascoli. „Vielleicht hilft eine Nacht im Verlies der Contessa, die richtige Entscheidung zu treffen.“
„Das wagt Ihr nicht“, knurrte Marcello.
„Und ob“, erwiderte Ascoli und hob eine Augenbraue. „Wir setzen unsere Unterhaltung am morgigen Tag fort. Wenn wir unser Morgenmahl einnehmen, kann Contessa Gabriella uns berichten, zu welcher Entscheidung sie gekommen ist.“
Er wusste es. Irgendwie hatte er von unserem Plan erfahren. Waren unsere Männer entdeckt worden? Hatte Greco uns verraten?
„Und sollte mein Bruder in dieser Nacht sterben?“, fragte Marcello. „Dann gibt es keine Grundlage mehr für diesen schändlichen Handel.“
„Da habt Ihr recht. Wenn Fortino stirbt, sind unsere Gespräche beendet“, sagte Ascoli. „Dann sende ich Euch mit seiner Leiche nach Hause, damit Ihr sie beim Castello Forelli begraben könnt. Und die Contessa sende ich nach Florenz, wo sie keinen Schutz haben wird. Ihr Schicksal liegt also nur so lange in ihren Händen, wie Conte Fortino zwischen Leben und Tod schwebt.“
8. Kapitel
Sie schubsten mich nach vorn und ich stolperte in die kleine Zelle. Sofort wirbelte ich herum und rannte zur Tür, aber die beiden Wachen versperrten sie. „Bitte“, bettelte ich. „Tut dies nicht. Conte Forelli wird euch königlich entlohnen, solltet Ihr mir helfen.“
Die Wachen sahen sich kurz an, ignorierten mich dann aber und nahmen ihre Plätze rechts und links der Tür ein. Ich umklammerte die rostigen Stäbe, lehnte die Stirn dagegen und schloss die Augen. Was hatte ich mir nur gedacht? Warum hatte ich Marcello dazu überredet? Und meine Schwester … Jetzt waren wir alle in Gefahr.
Ich hatte mir vorgestellt, wie wir uns hier rauskämpften, Mann gegen Mann. Dabei hätten wir in Gefahr geraten können. Aber doch nicht, weil wir übertölpelt wurden!
„Gabriella“, sagte eine vertraute Stimme.
Ich hob den Kopf und starrte in die Dunkelheit.
Es war Dad. Er war zwei Zellen weiter eingesperrt.
„Ich bin hier“, sagte er auf Englisch.
Ich ging auf die andere Seite meines Eisenkäfigs. „Es tut mir so leid, Dad. Ich wusste nicht, dass das alles so ausgehen würde“, sagte ich.
„Das weiß ich doch.“ Er zögerte. „Dass du hier bist, heißt wohl, dass du dich gegen Bachelor Nummer zwei entschieden hast?“
Ich lachte leise. „Sie benutzen mich, um Marcello unter Druck zu setzen. Ascoli will, dass ich meine Optionen überdenke. Tolle Optionen! Entweder kann ich in ihrem Gefängnis verrotten oder Rodolfos Frau werden.“
Dads Blick wanderte zu den Wachen. „Würdest du dadurch geschützt?“, fragte er auf Englisch. Es sah ganz danach aus, als wollte er herausfinden, ob die Männer uns verstanden.
„Ich … ich glaube schon. Es ist alles so kompliziert“, sagte ich und legte die Hand an die Stirn.
„Hat dieser Freund …“, er vermied es, Rodolfos Namen zu benutzen, „Gefühle für dich, Gabi?“
Ich sah ihn verwirrt an, dann schüttelte ich den Kopf. „Ich glaube nicht. Er ist ein alter Freund von Marcello. Er weiß, dass Marcello mich liebt.“
„Das heißt nicht, dass er nicht in dich verliebt –“
Laute Schritte im Gang ließen uns verstummen. Wachen kamen und trugen etwas Schweres zwischen sich. Sie hatten Fortino dabei!
„Nein!“, schrie ich und wechselte wieder ins Italienische. „Nein! Lasst ihn oben in der Halle, wo er es warm hat!“
Sie ignorierten mich, legten Fortino ziemlich unsanft auf dem Boden der Zelle zwischen der meines Vaters und meiner ab und verriegelten sie, als könnte Fortino jeden Moment aufspringen und sich auf sie werfen. Fortino stöhnte und war dann still.
„Ihr könnt Euer Ritual durch das Gitter abhalten“, sagte eine der Wachen zu dem Priester, der im Dunkeln stand. Ich hatte ihn bis jetzt noch gar nicht bemerkt, aber es war der gleiche Mann wie oben in der Halle. Er war etwa in Marcellos Alter und hatte ein rundliches Gesicht.
Der Priester kniete sich hin und fühlte durch die Stäbe nach Fortinos Puls.
„Ist er noch am Leben?“, flüsterte ich rau.
„Gerade noch“, antwortete er. Als er mich ansah, stand in seinen Augen Sorge geschrieben. „Er liegt auch Euch am Herzen?“
Ich nickte und sank langsam in die Knie, um Fortino so nah wie möglich zu sein. „Warum, Vater? Warum lässt Gott es zu, dass ein so guter Mann einen solchen Tod stirbt?“
Er wartete, bis ich ihn wieder anschaute. „Es ist nicht Gott, der ihn so zugerichtet hat. Gott lässt den Menschen ihren freien Willen“, sagte er mit einem Nicken.
Ich starrte Fortino an. „Er war nach Jahren der Krankheit endlich wieder gesund. Er wollte sogar heiraten …“ Meine Stimme brach. Fortino hatte so viel Schmerz erleiden müssen. Viel zu viel.
„Contessa Rossi“, sagte der Priester leise.
Das ließ mich aufhorchen. Ich sah ihn wieder an. Hatte er Fortino gekannt, als es ihm noch besser gegangen war? War er vielleicht sogar ein Verbündeter? Aber andererseits hatte so ziemlich jeder etwas von dieser Verlobung gewusst …
Fortino stöhnte und zuckte. Ich schloss die Augen und dachte an alles, was er ertragen hatte. Die Peitschenhiebe, die Schläge, die ihm innere Verletzungen zugefügt hatten … das Auge, was man ihm genommen hatte. Conte Barbato und Conte Ascoli hatten ihn bestimmt in diese Zelle bringen lassen, damit ich sehen konnte, was mich erwartete, wenn ich mich falsch entschied.
Ich starrte den Priester an, der angefangen hatte, auf Latein zu beten und eine kleine Tasche öffnete, aus der er eine Phiole Öl, ein Holzkreuz, trockenes Brot und eine kleine Flasche Wein herausnahm. „Durch diese heilige Salbung helfe dir der Herr in seinem reichen Erbarmen, er stehe dir bei mit der Kraft des Heiligen Geistes: Der Herr, der dich von Sünden befreit, rette dich, in seiner Gnade richte er dich auf.“
„Die letzte Ölung“, sagte Dad langsam, als der Priester die Phiole nahm und sie entkorkte.
Ich sah Dad überrascht an. Ich war so in Gedanken gewesen, dass ich ihn völlig vergessen hatte. Was dachte er wohl? Wir waren nicht katholisch, aber wir hatten genug Zeit in Italien verbracht, um zu wissen, was die letzte Ölung war. In unserer Zeit nannte man sie nur Krankensalbung.
Der Priester nahm also an, dass Fortino nicht mehr lange leben würde. Das hätte mich nicht schockieren sollen. Sogar Marcello hatte sich oben in der Halle schon von seinem Bruder verabschiedet. Aber hier zu sein, auf diesem kalten Steinboden, und diese Worte zu hören, machte alles plötzlich schrecklich real.
„Nein, nein, nein“, jammerte ich. „Das darf einfach nicht wahr sein“, fügte ich auf Englisch hinzu.
Der Priester machte eine kurze Pause und sah mich an. Er wusste, was meine Worte bedeuteten, auch wenn er mich nicht verstanden hatte. Wie viele andere Trauernde hatte er begleitet?
„Es wird eine Erlösung für ihn sein“, sagte er sanft. „Sein Kampf war lang und geht endlich dem Ende entgegen. Im Himmel wird ihn seine Belohnung erwarten.“
„Belohnung?“ Ich schnaubte. „Alles, was Fortino jemals wollte, war Gesundheit … Liebe … Freude!“
„Und ebendies liegt vor ihm“, sagte der Priester freundlich. Er wandte sich wieder Fortino zu, benetzte seine Finger mit Öl und machte ein Kreuzzeichen auf seine Stirn. „Quidquid deliquisti …“
Ich ließ mich gegen die Stäbe sinken, beobachtete, wie der Priester seine Gebete sprach und gab meinen Kampfwillen auf. Es wäre eine Erlösung für Fortino, wenn er jetzt starb. Er hatte so lange gekämpft …
Ein Schauder lief mir über den Rücken, als Fortino auf einmal anfing zu husten und dann wieder schrecklich still lag. Der Priester war gerade beim Vaterunser und fing an, schneller zu sprechen. Hatte er Angst, dass Fortino starb, bevor er fertig war? Zählte dann dieses ganze Ritual nicht mehr?
Eine Wache kam mit einer Fackel die Treppe runter und zündete ein paar Kerzen an der Mauer an. Dann verschwand sie wieder. Ich hatte bis jetzt gar nicht gemerkt, dass es hier unten fast komplett dunkel war. In dem flackernden Licht starrte ich auf Fortinos Profil, das mich so sehr an Marcellos erinnerte. Was, wenn ich anstatt Fortino Marcello auf Wiedersehen sagen müsste? Tränen flossen mir über die Wangen.
„Standet ihr euch nah, Gabi?“, fragt Dad leise.
„Er war … wie ein Bruder“, sagte ich und schnappte weinend nach Luft.
Endlich war der Priester fertig und legte ein kleines Stückchen Brot auf Fortinos Zunge, dann benetzte er mit einem winzigen Schluck Wasser seine Lippen. Fortino schaffte es, zu schlucken. Der Priester machte das Kreuzzeichen über ihm in der Luft, erhob sich und bekreuzigte sich selbst. Aber er ging nicht weg. Er stellte sich nur an die Wand und senkte den Kopf. Betete er? Bat er Gott darum, seinen Sohn zu sich zu nehmen?
Ich sah an die Decke und die Steine verschwammen vor meinen Augen. Hastig wischte ich die Tränen weg.
„Wie ist das möglich, Gabi?“, fragte Dad auf Englisch. „Wie kannst du innerhalb so kurzer Zeit so verbunden mit den Menschen hier sein?“
„Warte noch eine Woche, Dad, dann verstehst du es. Es ist nicht immer so wie jetzt gerade“, antwortete ich. „Aber das hier gehört auch dazu. Diese tiefe, dunkle Traurigkeit. Sie lässt dich dein Leben mehr schätzen und lieben. Sie öffnet dein Herz.“
„Mit der Sanftheit einer Brechstange“, sagte er. „Ich sitze im Gefängnis, Gabi. Eigentlich hatte ich mir vorgenommen, dass das nie passieren würde.“
Ich grinste ihn schuldig an. „Witzig. Aber wann haben Vater und Tochter schon mal die Gelegenheit, zusammen im Gefängnis zu sein? Ist doch viel besser als ein Vater-Tochter-Ball, oder nicht?“
Er lächelte zurück. „Wenn du nur ein bisschen Zeit mit mir verbringen wolltest, hätten wir das bestimmt auch anders einrichten können.“
Ich schüttelte den Kopf. „Es tut mir leid, Dad. Dass ich dich hier mit reingezogen habe …“
„Irgendwie hat diese Zeit dich ausgewählt. Uns alle. Aber sag mir, Gabs: Woher … woher weißt du, dass du hierher gehörst?“
Ich sah wieder an die Decke und erhob mich dann mit einem leisen Stöhnen, damit ich ihn anschauen und gleichzeitig Fortino im Blick behalten konnte. „Es ist irgendwie … Was wünschst du dir am meisten, wenn du todmüde bist?“
„Mein Bett.“
Ich nickte. „Und was, wenn du hungrig bist?“
„Essen. Und zwar so schnell wie möglich.“
„Noch mehr als das“, forderte ich, damit er merkte, dass ich auf etwas anderes hinauswollte. „Denk an Survivor, diese Reality-TV-Show. All diese endlosen Tage, wo die Campbewohner nur Reis hatten. Was haben sie sich am meisten gewünscht?“
„Die Challenge um das Festessen zu gewinnen.“
„Richtig“, sagte ich. „Steaks, Hamburger, kalte Getränke, Früchte, Gemüse.“ Ich griff durch die Gitterstäbe und öffnete und schloss meine Faust, um zu erklären, was ich fühlte. „Ich glaube, ich war in unserer Zeit eingeschlafen, habe mich durchs Leben treiben lassen. Ich war sozusagen auf einer Reisdiät. Ich hatte genug Essen, aber keine wirkliche Nahrung. Weißt du, was ich meine? Das …“, ich sah traurig zu Fortino, der kaum noch atmete, „… das Leben hier ist voll, auch wenn es voller Schmerz ist. Es gibt auch Freude. Es ist Leben, wie ich es nie zuvor gespürt habe. Ich fühle mich, als hätte ich früher nur zu zwanzig Prozent gelebt und lebte jetzt endlich zu hundert.“ Ich sah zu Dad. „Ergibt das irgendeinen Sinn?“
Er starrte mich an. „Ich verstehe.“ Er machte eine Pause. „Deine Mutter hatte recht.“
„Womit?“
„Du bist erwachsen geworden. Eine Frau. Du denkst Erwachsenengedanken.“
Ich lächelte ihn an.
„Gabi, es tut mir leid, dass wir uns in den letzten Jahren so wenig um euch gekümmert haben. Ich meine, bevor …“
Bevor du gestorben bist. Ich nickte.
„Wir hatten so viel zu tun und als ihr dann alt genug wart, um euch um euch selbst zu kümmern …“
Ich schüttelte den Kopf und wandte ihm den Rücken zu. „Dad, können wir später darüber reden?“, fragte ich und hob eine Hand. Ich konnte jetzt nicht damit umgehen. Nicht, wo Fortino im Sterben lag. Wenn Dad weiterredete, würde ich wieder weinen, das wusste ich. Eigentlich wünschte ich mir jetzt gerade nichts sehnlicher als eine Umarmung von ihm.
„Na klar“, sagte er leise. „Ich will nur, dass du weißt, dass ich stolz auf dich bin, egal was noch kommt. Und ich liebe dich, Gabriella.“
Ich nickte schweigend, weil ich meiner Stimme nicht traute. Der Kloß in meinem Hals hatte mittlerweile die Größe einer Orange angenommen.
„Ich vertraue dir“, sagte er. „Du wirst die richtige Entscheidung treffen.“
Dad hatte schon immer gesagt, dass man die beste Entscheidung für den Augenblick treffen sollte, in dem man gerade lebte. Sich nachher darüber Gedanken zu machen, brachte nichts. Das war Teil seiner Lebensphilosophie. Dass er mir in diesem Moment, wo ich eine so schwerwiegende Entscheidung zu treffen hatte, sagte, dass er mir vertraute, berührte mich.
Aber wie sollte ich so etwas allein entscheiden? Ich drehte mich wieder zu ihm um. „Aber Dad … du musst mir sagen, was ich machen soll. Wenn …“ Ich sah die Wachen und den Priester an, der immer noch betete. „Wenn nicht alles so läuft wie geplant, was soll ich dann machen? Soll ich einen Mann heiraten, den ich nicht liebe? Oder den Rest meines Lebens im Gefängnis verbringen?“
Sein Blick wurde hart. „Wir werden dich befreien, Gabi. Wie ich Marcello kenne, wird er alles tun, um dich zu retten, und ich werde an seiner Seite sein.“
„Solange er am Leben bleibt – und du auch. Du bist mir schon einmal zu oft gestorben …“
„Hey, denk nicht so negativ, Gabriella. In Stellung!“
Automatisch machte ich einen halben Schritt zurück, wie wir es beim Sparring immer gemacht hatten, und musste dann lächeln. Er wollte, dass ich mich innerlich vorbereitete. Für das, was noch auf mich zukam. Er lächelte zurück.
„Ja!“, sagte Fortino.
Dad und ich sahen ihn überrascht an und ich ließ mich neben ihm auf die Knie fallen, berührte ihn durch das Gitter. „Fortino?“
„Gabriella, seht Ihr sie?“, fragte er voller Verwunderung. Seine Stimme klang kräftig und sein Auge strahlte hell.
Ich folgte seinem Blick und sah an die Steindecke. Aber ich sah nichts als Moos und ein paar ziemlich dicke Spinnen.
„Hört Ihr sie? Sie singen. Oh, solch lieblichen Klang habe ich noch nie vernommen. Sie sind wunderschön, Gabriella. Wunderschön“, sagte er und man konnte aus seinen Worten heraushören, wie wunderschön sie waren.
Ich musste wieder anfangen zu weinen, als ich verstand, dass er etwas sah, das ich nicht wahrnehmen konnte.
„Le porte sono aperte“, sagte der Priester und kniete sich wieder neben Fortino. Die Tore sind offen. Ich hatte den Mann beinahe vergessen.
„Sagt mir, Fortino“, sagte ich. „Was seht Ihr?“
„Fragt ihn nicht“, befahl der Priester. „Gott wird es Euch offenbaren, wenn Eure Zeit gekommen ist.“
„Engel“, sagte Fortino, als hätte er den Priester nicht gehört. „Gabriella, sind sie nicht die wundersamsten Geschöpfe, die Ihr je saht? Ihre Schwingen … ihre Schwingen …“
Er streckte seine Hand aus und es sah aus, als würde er etwas streicheln. Sein Gesicht war erhellt. Glühte richtig.
Anders kann ich es nicht beschreiben. Er strahlte Herrlichkeit aus, als würde sein Körper vor meinen Augen zum Himmel gehoben. Als wäre er schon ein Teil davon.
Es fühlte sich an, als wären die Zellen plötzlich elektrisch aufgeladen. Mir standen die Haare zu Berge. Ich fühlte mich aufgewühlt, warm, seltsam erfüllt.
Und im selben Moment spürte ich, dass Fortino wegging. „Fortino“, sagte ich und wischte mir die Tränen weg. „Noch nicht.“
Aber er antwortete nicht mehr. Er lächelte und sein Auge war erfüllt von einer Vision, die ich nicht sehen konnte. Aber ich hatte sie gespürt.
Ich weinte. Weil das das Ende war.
Weil Marcello nicht hier gewesen war, um es zu sehen.
Weil Fortino etwas so Perfektes erleben durfte und ich ein Teil davon war.
Und dann machte er einen Atemzug.
Seinen letzten.