Über das Buch:
Meine Mutter rastete natürlich total aus, als sie uns sah.
Ich konnte ihr keinen Vorwurf machen. Wir mussten ein komisches Bild abgeben: Lia in ihrem mittelalterlichen Kleid und ich, die aussah, als hätte sie mit einem Bären gekämpft – und verloren. Vor allem, weil uns zwei nicht gerade zimperliche Wachen in Dr. Maneros Zelt schleiften. „Es ist alles okay, Mum“, sagte ich und streckte die Hände aus, als sie auf uns zurannte.
Zurück in ihrer Zeit hat Gabi nur einen Wunsch: Sie will wieder zu Marcello, ihrem Ritter in glänzender Rüstung. Dabei weiß sie nur zu gut, welche Gefahren sie im mittelalterlichen Italien erwarten. Sie hat sich bei ihrem letzten Besuch Feinde gemacht. Und die sind auf Rache aus. Trotzdem überredet sie ihre Schwester Lia zu einer weiteren Zeitreise ins 14. Jahrhundert. Ihre Mutter nehmen sie diesmal kurzerhand mit. Doch kann das gutgehen? Haben Gabi und Marcello wirklich eine Chance?

Über die Autorin:
Lisa T. Bergren ist die Autorin von mehr als 30 Büchern. Früher selbst im Verlagswesen tätig, arbeitet sie heute als Beraterin und freiberufliche Lektorin. Zusammen mit ihrem Mann Tim und ihren drei Kindern lebt sie in Colorado.

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8. Kapitel




„Kniet nieder!“, rief einer der Ritter.

Ja, ich hatte mich echt tapfer und mächtig angehört, aber als Paratore sich hinknien und die Schwertstriche des Ritters ertragen musste, schloss ich die Augen. Mein Mageninhalt stieg mir in den Hals. Hatte ich wirklich gerade befohlen, dass jemandem die Ohren abgeschlagen werden sollten?

Lia nahm meinen Arm und führte mich schnell die Treppe runter und zurück in den Palazzo Publico, Luca folgte uns, Giovanni und Pietro schützten unsere Seiten. „Du hast getan, was getan werden musste, Gabs“, sagte sie leise. „Ich hätte nicht den Mut dazu gehabt, glaube ich. Aber es hieß er oder wir. Wenn du ihn hättest töten lassen, würden die Gefangenen nicht freigelassen werden. Und wenn du ihn nicht zum Schweigen gebracht hättest, hätten sich die Menschen gegen uns gewandt.“

Immer dieses wir oder sie. „Was ist mit uns passiert?“, fragte ich Lia und sah in den dunklen Flur. Luca winkte den Männern, dass sie sich im Abstand zu uns aufstellen sollten, um uns zu bewachen. „Seit wann können wir solche Sachen überhaupt? Andere töten? Sie verstümmeln?“

„Seitdem du uns wieder an diesen Ort gebracht hast, der keine andere Art der Gerechtigkeit kennt“, zischte sie.

Sie sah mich böse an. Und sie hatte recht. Wir würden nicht in diesem ganzen Mist stecken, wenn ich sie nicht dazu überredet hätte, wieder hierher zurückzukommen. Ich betrachtete Luca aus dem Augenwinkel und erwartete, dass ihn ihre harten Worte treffen würden, aber er sah eher aus, als wäre er zwischen Neugier und Beschützerinstinkt hin- und hergerissen. „Werden sie Paratores Beschuldigungen Glauben schenken?“ Ich stellte mir vor, wie ich in einem dunklen Raum im Licht einer grellen Glühbirne verhört würde. Mit gefesselten Händen. Wasserfolter. Was für ein Quatsch!

„Nein, Ihr wart weise, Gabriella“, sagte Luca sanft. „Hättet Ihr nicht unverzüglich reagiert, hätte es dazu kommen können. Doch Ihr habt seine Worte mit Eurer Entscheidung Lügen gestraft.“

Marcello kam mit Mum zu uns und ich flog in seine Arme – nicht ihre. Er küsste mich auf die Stirn und ich wünschte, ich könnte für immer in seinen Armen bleiben. „Beruhigt Euch, Gabriella. Seid Ihr wohlauf?“

„Jetzt schon, denke ich.“

Mum musterte uns, und sofort ließ Marcello seine Arme sinken, gerade so, als hätte man ihn mit den Fingern in der Keksdose erwischt. In dieser Epoche hatte man in der Öffentlichkeit einfach nicht so viel Körperkontakt. „Was ist passiert?“, fragte sie angespannt.

Stimmen kamen näher. „Ich hab Paratore zurück nach Florenz geschickt“, sagte ich und drehte mich weg von ihr. Wenn ich ihr jetzt alles erzählte, müsste ich mich wahrscheinlich übergeben. Niemand konnte einen so vorwurfsvoll ansehen wie Mum.

Ich würde mich morgen mit ihrer Enttäuschung und ihrem Ärger herumschlagen. Für heute war ich fertig. Alles, was ich jetzt noch wollte, war, mein tolles Kleid auszuziehen und endlich unter die Bettdecke zu schlüpfen. Ich wollte den Tag aus meinem Gedächtnis streichen, alles davon, auch die Höhepunkte. Auch Marcello. Ich wollte Conte Paratores Schreie vergessen und das Geräusch, als die Schwertklinge durch die Luft gezischt war.

Ich wollte einfach ein paar Stunden lang nichts machen, nichts denken müssen.

„Gabriella“, sagte Marcello und legte seinen Finger unter mein Kinn, sodass ich ihn ansehen musste. Er erkannte sofort, wie es mir ging. „Ich bringe Euch unverzüglich in Eure Gemächer. Bleibt bei mir.“

Bleibt bei mir. Als würde ich gleich umfallen oder so was. Meine Sinne waren schärfer als sonst, als würde ich alles zehnmal so stark spüren. Und genau in diesem Moment wurde mir schwindelig, meine Knie knickten weg und ich stürzte.

„Gabi!“, schrie Mum.

Aber Marcello hatte schon seinen Arm um mich gelegt. Er sah sie an, schenkte ihr einen zuversichtlichen Blick und beugte sich dann zu mir. „Kommt, Geliebte“, murmelte er. „Ich bringe Euch in Sicherheit. Alles wird gut.“ Er führte mich eine Treppe hinunter, dann durch einen dunklen, engen Gang.

Vor uns ging Luca, der in gewissen Abständen Fackeln anzündete. Wir waren anscheinend in einem geheimen Gang unter der Piazza. Plötzlich war mir das alles ziemlich peinlich. Guck mal, die Wölfin läuft im Dunkeln davon. Versteckt sich. Je tiefer wir kamen, desto mehr konnten wir über uns hören. Gedämpfte Rufe und Gesang.

„Sie singen“, sagte ich zu Marcello. Ich fand es toll, dass er immer noch meine Hand hielt, obwohl wir mittlerweile hintereinander gehen mussten.

„Singen? Ja. Aufgrund unseres Sieges.“

„Ein mühsamer Sieg, der im Endeffekt nichts bringt.“ Die Worte waren mir rausgerutscht, bevor ich wirklich darüber nachdenken konnte, und Marcello blieb stehen und sah mich an.

„Nichts bringt?“

„Also, ja“, sagte ich und trat von einem Fuß auf den anderen. Er sah mich mit zusammengezogenen Augenbrauen an. „Ich meine, nein. Verzeiht, ich bin so schrecklich erschöpft, dass meine Gedanken ganz wirr sind“, redete ich mich raus. Ich hatte keine Ahnung, was passieren würde, wenn ich ihm Dinge über die Zukunft erzählte. Zum Beispiel, dass in Siena in ein paar Jahren die Pest ausbrechen würde. Und dass Florenz Siena irgendwann beherrschen würde. Was würde passieren, wenn mir diese Infos herausrutschten? Vielleicht würde diese ganze Raum-Zeit-Kontinuum-Sache zusammenbrechen? Oder vielleicht auch nicht.

Ich hätte als Kind mehr Star Trek gucken sollen.

Ich musste wirklich mit Mum reden. Rausfinden, wie sie darüber dachte. Sie würde logisch nachdenken und wissenschaftliche Antworten finden. Seit wir wieder hier waren, war ich vor allem mit Marcello beschäftigt gewesen und Mum hatte all das Neue kennenlernen müssen, sodass wir kaum Zeit miteinander verbracht hatten.

Aber jetzt gerade war ich todmüde. Endlich erreichten wir das Ende des Tunnels und gingen eine enge, gewundene Treppe hoch. Oben angekommen, klopfte Marcello dreimal, und nach einem kurzen Moment hörten wir, wie ein Riegel aufgeschoben wurde. Die Tür öffnete sich und goldenes Kerzenlicht fiel in den Gang.

Marcello schob mich vor in ein kleines Wachhaus, das von ein paar Rittern besetzt war. Luca legte ein Ohr an die Tür und wartete, bis auf der Straße vor dem Häuschen keine Menschen mehr vorbeigingen, dann öffnete er die Tür und sah schnell hinaus. Wir waren auf der Via di Banchi, gerade mal ein paar Schritte entfernt vom Stall des Rossi-Palazzos. Innerhalb von Sekunden waren wir im Gebäude. Marcello küsste erleichtert meine Hand und wünschte mir eine gute Nacht. Nachdem ich schnell meine Mutter und meine Schwester umarmt hatte, trennten wir uns und jede ging auf ihr Zimmer. Im Palazzo Rossi gab es viel mehr Räume und Diener als im Castello Forelli. Meine Zofen halfen mir, mich auszuziehen, mein Haar zu kämmen, mich zu waschen und in ein Nachthemd zu schlüpfen.

Mir konnte das alles gar nicht schnell genug gehen. Ich redete kaum mit den Mädchen und war unglaublich froh, als ich endlich ins Bett fallen konnte. Die Seidenlaken schmiegten sich an meine Haut. Ich fühlte mich sauber und frisch. Sicher. Ich schloss die Augen und war eingeschlafen, bevor die Zofen das Zimmer verlassen hatten.

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Ich erwachte und merkte sofort, dass ich nicht allein im Zimmer war.

Ruckartig setzte ich mich auf, presste die Decke an mich und starrte in die Dunkelheit. Ich versuchte, die dunkle Silhouette vor dem Fenster zu erkennen. Aus dem Augenwinkel sah ich, dass mein Schwert nicht mehr da war, wo ich es hingelegt hatte, sondern ein paar Meter weiter weg an der Wand stand.

Er sah über seine Schulter. „Ihr habt doch nicht geglaubt, ich wäre so töricht und hätte Euch Eure Waffe gelassen.“

Conte Rossi. Kleiner als ich, aber sehr stark. Ich umklammerte meine Decke noch fester.

Er drehte sich zu mir um, blieb aber beim Fenster stehen. „Wer seid Ihr, Contessa Betarrini? Wer?“

Seine Stimme war leise. Aber ich konnte die Drohung in ihr hören. Ihm gefiel es nicht, dass er nicht auf Paratores Anschuldigung gefasst gewesen war. Er war hier, um herauszufinden, ob da vielleicht was dran war.

„Es ist so, wie ich sagte. Wir stammen aus der Normandie. Wir kamen hierher, um unsere Mutter zu finden und haben es endlich geschafft.“

Er wartete fünf, sechs Sekunden. „Eine Mutter, die keiner meiner Männer aufspüren konnte.“

„Es war Gott selbst, der sie uns zurückgebracht hat“, sagte ich und schob in meiner Verzweiflung Gott vor. „Edler Herr, Eure Anwesenheit hier in meinem Zimmer ist wohl kaum angemessen, vielleicht –“

Er kam auf mich zu, schneller, als ich es ihm zugetraut hätte. „Mitnichten. Was unangemessen ist, ist, dass Ihr die Verbindung zwischen meiner Tochter und Marcello zerstört habt. Solch eine Beleidigung hat ein Familienmitglied eines der Neun noch nie zuvor erleiden müssen.“

„Aber Fortino –“

„Es ist Euer Glück, dass sich seine Gesundheit verbessert hat und er deshalb der rechtmäßige Conte Forelli ist.“

Ich schwieg kurz. Was wollte der Kerl hier? „Darüber bin ich mir im Klaren. Ich hatte niemals die Absicht –“

„Aber Ihr habt es getan! Eine Verbindung, die seit Jahren vereinbart war. Nur Fortino konnte die Reputation meiner Tochter noch retten.“

„Wie ich schon sagte … Ich hatte niemals die Absicht, dass dies geschieht, edler Herr.“

Jetzt schwieg er. Er hob das Kinn und ging zurück zum Fenster. Spielte nicht länger den harten Kerl. Ließ mir etwas Raum. Ich schielte zur Tür. Konnte ich es schaffen? Und nach irgendjemandem rufen? Aber nach wem überhaupt? Der Herr des Palazzos war in meinem Zimmer. Jeder, der ihn sehen würde, würde sich sofort umdrehen und behaupten, nichts gesehen zu haben. Außer Marcello. Oder Luca.

Aber das würde die Sache nur noch schlimmer machen.

„Ihr solltet mir sagen, wer Ihr seid“, sagte Conte Rossi und sah aus dem Fenster hinaus über den leeren Platz. Die Freudenfeuer waren fast erloschen – ich konnte ihre Überreste in der leichten Brise riechen. „Heraus damit. Die Wahrheit, bitte.“

Ich antwortete nicht, überlegte mir, was ich tun sollte. War Schweigen nicht die beste Verteidigung? Das hatte ich zumindest immer in den Folgen von Law and Order gesehen.

„Conte Rossi, ich bin keine Gefahr für Euch“, sagte ich so freundlich wie möglich. „Ich wünsche nur das Beste für Euer Haus, das Haus Forelli und Siena. Ich bitte Euch, dass Ihr mir glaubt.“

Er sah mich lang über die Schulter hinweg an. „Ihr werdet sie mir also nicht sagen? Die Wahrheit?“

Ich schluckte. „Ich habe Euch bereits alles gesagt, was ich kann.“

„Ihr werdet mir alles erzählen, Contessa. Eines Tages. Wenn Ihr verzweifelt seid. Ich werde Euch meine Unterstützung versagen, bis Ihr mir gebt, was ich verlange. Und sollte ich etwas herausfinden –“, er drehte sich um und deutete mit dem Zeigefinger auf mich – „irgendetwas, das mich glauben lässt, dass Ihr eine Bedrohung für mich oder die Meinen darstellt, werde ich nicht zögern, Euren Tod zu befehlen.“ Er schwieg kurz und ließ seine Worte wirken. „Verstehen wir uns, Contessa Betarrini?“

„Das tun wir“, sagte ich und hasste mich für das leichte Zittern in meiner Stimme.

Ein Klopfen erklang an der Tür, leise, aber bestimmt. „Gabriella?“

Es war Marcello, der nach mir sehen wollte. Hatte er uns gehört?

„Und Ihr werdet auch verstehen“, sagte Conte Rossi, der Marcello komplett ignorierte, jetzt wieder zu mir kam und sich über mich beugte, „dass, wenn Ihr etwas gegen die Verbindung zwischen Romana und Fortino unternehmt, ich keine andere Wahl habe als … Schritte gegen Euch einzuleiten.“

Marcello klopfte wieder, wurde jetzt ungeduldiger. „Gabriella?“

„Ich verstehe“, sagte ich schnell. Ich wollte, dass Rossi endlich verschwand. Wie hatte ich ihn nur als Vaterfigur sehen können, als ich das letzte Mal hier gewesen war? Einen Kerl, der, wie ich jetzt wusste, irgendetwas mit dem Anschlag auf mich zu tun gehabt haben musste? Der mich ohne mit der Wimper zu zucken bedrohte? Mann, Gabi, du hast Dad echt ziemlich vermisst.

Er schlenderte zur Tür, entriegelte sie und sah dann zu mir zurück, während das Kerzenlicht vom Flur auf mich fiel, Marcello ins Zimmer rannte und uns verwirrt anschaute. Als er mich im Nachthemd sah, schaute er schnell zu Boden, dann zornig zu Conte Rossi.

„Höchst ungewöhnlich, ich weiß, Signore Forelli“, sagte Rossi steif. „Aber dies trifft ja auch auf dieses Mädchen zu, das Euch so zu faszinieren scheint“, sagte er und sah mich wieder an. „Seid vorsichtig, Signore. Ich fürchte, sie ist äußerst … bezaubernd.“

Und damit verschwand er. Marcello lief zu mir und umarmte mich. Ich klammerte mich zitternd an ihn. Das war eine unverhohlene Drohung gewesen. Bezaubernd. Wenn ich nicht aufpasste, würde er mich als Hexe verbrennen lassen. Das hatte Conte Rossi klargemacht.

Ich konnte Lucas Schatten in der Tür sehen, wo er jetzt Wache stand.

„Gabriella, hat er Euch verletzt?“

„Mich verletzt? Conte Rossi? Nein. Er hat mir nur gedroht“, sagte ich mit einem humorlosen Lachen. Ich wischte mir die Tränen aus den Augen. Wo kamen die denn jetzt auf einmal her? „Ich weiß auch nicht, warum ich weine.“

„Ihr habt viel durchgemacht.“ Er kniete sich neben das Bett und streichelte meine Wange.

„Marcello, Ihr solltet nicht hier sein. Wenn Euch jemand sieht –“

„Schhh. Überlasst mir den Palasttratsch. Ich kenne das schon mein ganzes Leben, wisst Ihr nicht mehr?“ Er nahm mein Gesicht in seine Hände und wartete darauf, dass ich ihm in die Augen sah. „Was wollte er, Gabriella?“

„Er wollte wissen, wer ich bin. In Wirklichkeit“, flüsterte ich. „Nach Paratores Beschuldigung wird er nicht der Einzige sein, der Fragen stellt.“

Marcello schüttelte den Kopf. „Paratore ist ein Feind der Republik. Keiner außer den Neun würde es wagen, Euch oder Eure Herkunft infrage zu stellen. Conte Rossi ... hat andere Gründe.“

Ich nickte. Romana. Fortino.

„Was habt Ihr ihm gesagt?“

„Nichts“, sagte ich. „Ich habe versucht, ihn zu beruhigen. Aber er ist besorgt, dass ich mich zwischen Fortino und Romana drängen könnte.“

Marcello lachte leise. „Nur eine Woche vor ihrer Heirat? Warum solltet Ihr?“

Ich schwieg.

„Gabriella.“

„Ich traue ihr nicht, Marcello.“ Ich sah ihm in die Augen. „Ihr etwa?“

„Romana? Ja. Ja!“

„Selbst mit den Florentinern? Hier? In diesem Haus?“

Seine Lippen wurden zu einer schmalen Linie. „Es ist die Art und Weise der Neun, nach Frieden zu streben, genau wie sie für das kämpfen, was gut für uns ist. So führen sie nun einmal unsere Republik.“

„Und zu welchem Preis?“, murmelte ich. „Dem Glück Eures Bruders?“

Ich wusste, dass es unangebracht war, so etwas zu sagen. Marcellos Gesichtsausdruck bestätigte das. „Es ist nur, dass …“ Ich machte eine kurze Pause und sprach dann doch weiter. „Nach allem, was er durchgemacht hat, verdient Fortino“ – ich zeigte zwischen Marcello und mir hin und her – „so etwas. Was wir haben. Liebe. Nicht eine befohlene Verbindung, bei der Fremde dazu benutzt werden, eine Allianz zu schließen.“

Marcello lehnte sich zurück und seufzte. „Fürwahr, die Heirat ist ein Sakrament, eine gesegnete Verbindung. Und ich gebe zu, sie ist in der heutigen Zeit zu einer Art der politischen Absicherung geworden.“ Er zuckte mit den Schultern. „Aber so ist das nun einmal. Die Heirat unserer Eltern entstand auf die gleiche Weise. Mit der Zeit fanden mein Vater und meine Mutter zusammen. Auch Fortino und Romana wird dieses Glück zuteilwerden. Ihr habt sie doch zusammen gesehen, oder etwa nicht? Lasst uns hoffen und beten, dass aus diesen zarten Keimen der Zugeneigtheit Liebe entsteht.“

Ich schenkte ihm ein trauriges Lächeln. „Ja, lasst uns das hoffen. Ich vermute, die Tücken meiner eigenen Zeit haben mich misstrauisch gemacht“, sagte ich langsam. „Bei uns endet jede zweite Ehe in der Scheidung.“

„Scheidung?“, sagte er und legte die Hand aufs Herz, als wäre er verletzt worden. „Jede zweite Heirat? Unmöglich.“

„Jede zweite.“

Er schwieg und dachte nach. „Eure Mutter? Euer Vater …“

„Nein, sie haben sich geliebt. Wirklich geliebt. Mehr als ich es von anderen Paaren kenne. Aber mein Vater starb vor sechs Monaten bei einem Unfall.“

„Ich trauere mit Euch, Geliebte“, sagte er und legte wieder seinen Arm um mich. „Glaubt Ihr, er hätte unsere Verbindung gebilligt?“

„Ich weiß es nicht“, sagte ich. „Aber glaubt mir, mein Herr, meine Mutter zu überzeugen wird viel schwieriger.“

Marcellos Augen wurden groß und er rückte etwas von mir weg. „Warum? Findet sie mich … nicht zufriedenstellend?“

Ich schnaubte und schüttelte den Kopf. „Nein, Signore. Wie könnte Euch jemand nicht zufriedenstellend finden?“ Ich seufzte. Wie könnte ich Mum nur davon überzeugen, dass sie ihr komplettes Leben hinter sich ließ, um mit mir hierzubleiben? „Können wir später weitersprechen? Ihr müsst jetzt wirklich gehen, bevor Euch jemand hier sieht.“

Er lächelte mich an. „Ihr seid so klug wie Ihr schön seid, Gabriella Betarrini. Verschließt die Tür hinter mir, wenn ich gegangen bin.“ Er küsste mich auf den Kopf. „Kein anderer Besucher soll Euch behelligen. Ich werde über Euch wachen.“

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9. Kapitel




Ich wusste nicht, wie ich nach dieser ganzen Sache wieder einschlafen sollte, doch ich tat es, gerade so, als hätte mir jemand warme Milch gegeben und mir eine Gutenachtgeschichte vorgelesen. Ich wachte erst auf, als die Zofe klopfte. Sie kam rein und plapperte sofort los, wie viele Einladungen wir erhalten hätten. Sie erzählte aber auch, dass Marcello hatte verkünden lassen, dass wir sofort abreisen, jedoch pünktlich zur Hochzeit wiederkommen würden. Sie sagte, er habe wichtige Dinge im Castello zu erledigen, da Fortino „anderweitig beschäftigt“ sei, aber ich wusste, dass er nur meine Familie und mich aus der Schussbahn holen wollte, indem er uns nach Hause brachte.

Nach Hause. Empfand ich das Castello wirklich als mein Zuhause?

Es war zumindest eher ein Zuhause als Siena, vor allem jetzt, wo Conte Rossi sich als Mistkerl entpuppt hatte. Wenn Marcello sich vom Acker machen wollte, würde ich ihn nur zu gern begleiten. Und wenn meine Mum und meine Schwester mit von der Partie waren, umso besser.

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Zumindest hatte ich das geglaubt.

Aber als wir durch die Tore ritten und die Pferde zu einer Geschwindigkeit antrieben, die uns bis zum Abend zum Castello Forelli bringen würde, merkte ich, dass meine Mutter dachte, dies wäre genau der richtige Zeitpunkt für ein Mutter-Tochter-Gespräch. Wir ritten immer zu zweit nebeneinander und Marcello war gerade an die Spitze unseres kleinen Zuges galoppiert, als sie sich zu mir umdrehte. „Gabi, kann ich kurz mit dir reden?“, fragte sie leise und sah in Lias Richtung.

„Oh-oh“, flüsterte Lia. „Der siebte Tag.“

Unsere Mutter war nicht die typische besorgte, beschützende, alles-wissen-wollende Mum. Sie redete mit uns, wenn es nötig war. Wir diskutierten mit ihr. Und wir wussten ganz sicher, dass sie uns auf ihre verrückte Art liebte. Aber wir waren damit aufgewachsen, dass sie zu abgelenkt war, um sich wirklich um uns zu kümmern – mindestens an sechs von sieben Tagen. Aber manchmal passierte es dann eben doch, dass sie sich um uns sorgte, und das nannten Lia und ich dann den siebten Tag – auch wenn es wörtlich genommen auch mal der fünfte oder zehnte sein konnte. Dann verhielt sie sich so, als müsste sie die ganze verlorene Zeit wieder aufholen.

Lia ließ ihr Pferd langsamer werden und ritt neben Luca, während Mum zu mir kam. Sie ließ ihren Blick über die Landschaft wandern, die Hügel, das Gras, das jetzt fast schon ganz braun war. „Meinst du, wir sind hier sicher, Gabriella?“

Ich sah mich auch um und zuckte mit den Schultern. „So sicher, wie man sein kann, wenn einen hundert Männer begleiten, die ihr Leben für einen opfern würden.“

„Das ist ziemlich ritterlich.“

„Ja. Wenn man ein paar Kämpfe auf Leben und Tod mitgemacht hat, kommt einem das hier wie ein Ausflug vor“, sagte ich. „Oder wie ein Urlaub so wie jedes andere Mal, wenn wir in der Toskana waren. Ich meine, nur ohne … also, du weißt schon.“

Ihre Augen wanderten weiter in die Ferne und dann beugte sie sich schnell nach unten, um ihrem Pferd den Hals zu tätscheln.

Plötzlich hatte ich schreckliche Schuldgefühle. Sie dachte an Dad. Ich wusste es. Wie er gestorben war. Und ich hatte sie wieder daran erinnert. Dieses Jahr war nichts so wie sonst, auch schon bevor wir die Zeitreise gemacht hatten. Vielleicht war es gemein von mir, so zu tun, als würde es mir nichts ausmachen. „Ich, ähm, kann wirklich nicht so viel darüber nachdenken. Ich meine, ich mache es ab und zu, na klar. Aber wenn ich immer an die Gefahren und den Tod denke, kann ich es nicht genießen, hier zu sein.“ Meine Augen flogen zu Marcello und sie folgte meinem Blick.

„Ist es das, Gabi? Die perfekte Gelegenheit, um wegzulaufen?“

„Nein“, sagte ich. „Ich bin nicht hierhergekommen, um wegzulaufen. Es ist einfach passiert. Aber jetzt, wo ich hier bin … jetzt, wo Marcello ein Teil meines Lebens ist … Es ist schwer zu beschreiben. Aber es ist irgendwie eher so, als würde ich zu etwas hinlaufen und nicht vor etwas weg.“ Ich sah sie von der Seite an. „Hätte ich Lia und dich mit hierhergebracht, wenn ich hätte weglaufen wollen?“

„Nicht, dass du eine Wahl gehabt hättest.“

Ich lächelte sie an. „Das stimmt. Aber Mum, auch wenn ich Lia nicht gebraucht hätte, um wieder hierherzukommen, hätte ich euch beide niemals zurückgelassen.“

Eine Weile lang ritten wir schweigend nebeneinander her. Dann fing sie irgendwann wieder an zu reden. „Dein Dad hat den Moment gelebt“, sagte sie. Ihre Stimme klang schwer, als müsste sie versuchen, ein Seufzen zu unterdrücken. „Er wäre stolz auf dich, Gabriella. Das weißt du, oder?“

Ich dachte an ihn und plötzlich trafen mich Gefühle, die ich nicht erwartet hatte. Schnell blinzelte ich, um die Tränen zu vertreiben. Ich vermisste ihn. Ich wünschte, er wäre hier. Bei uns. Genau so, wie ich es mir schon eine Million Male in unserer Zeit gewünscht hatte. Es war nur, dass … Für eine Weile hatte ich diese Gefühle verdrängen können. Die Traurigkeit verdrängen können. Hier war alles so anders. Und jetzt, ganz plötzlich, war alles wieder da. Wie eine schwere Decke, die sich über mich legte.

Meine Mutter streckte ihre Hand aus und berührte meinen Arm – und machte damit alles nur noch schlimmer. So war es immer, wenn ich verletzlich war und jemand Mitleid mit mir hatte. Ich musste schnell weggucken, mich auf den Horizont konzentrieren, an irgendwas anderes als Dad denken. Dann, als ich bemerkte, dass sie mich nicht vom Haken lassen würde, schaffte ich ein schwaches: „Ich weiß, Mum.“

Anscheinend wollte sie mir unbedingt meine Anspannung nehmen. „Er wäre unheimlich stolz auf dich, wenn er dich mit dem Schwert sehen würde.“

Ich grinste zur Antwort. Während meiner ganzen Trainingszeit war Dad nie davon ausgegangen, dass ich das Schwert irgendwann mal als wirkliche Verteidigungswaffe einsetzen müsste.

„Allerdings bin ich mir nicht sicher, ob er das gutheißen würde, was du gestern Abend getan hast.“

Also … hatte sie es gehört. Von Marcello? Ich musste das erst mal kurz sacken lassen. „Und du?“

„Ich glaube, du hast getan, was du tun musstest.“

Ich nickte. „Du solltest wissen, Mum … dass dieser Mann nicht einen Moment gezögert hätte, Lia oder mir den Hals aufzuschlitzen, wenn er die Chance dazu gehabt hätte.“ Ich zitterte und erinnerte mich wieder daran, wie anzüglich er Lia angeguckt hatte, als sie seine Gefangene gewesen war.

„Marcello hat es mir erzählt.“

Ich nickte und schluckte meine bösen, zornigen Worte herunter. Allein der Gedanke an Conte Paratore ließ mich fast ausrasten.

„Und jetzt, wo er wieder frei ist, ist er keine Bedrohung für euch?“

„Marcello denkt, dass er verbannt und aus Florenz weggeschickt wird. Er ist so gut wie tot.“

Sie schwieg kurz. „Das hoffe ich.“ Ich bemerkte, dass sie wieder zu Marcello hinübersah. „Erzähl mir von Marcello, Gabi. Was du von ihm weißt.“

Ich hob eine Augenbraue und lächelte. Auf einmal fühlte ich mich ganz schüchtern. „Er ist einfach erstaunlich, Mum.“

„Das habe ich bemerkt. Obwohl ich ihn erst eine Woche kenne. Aber sag mir, Gabi, warum glaubst du, dass du ihn liebst?“

Ich blinzelte ein paarmal. Ihre direkte Frage brachte mich ein bisschen durcheinander. Sie hatte es nicht so abweisend gesagt wie Lia. Sie nahm es ernst. Ich wusste, was sie dachte. Sie ist zu jung … Wie kann sie es wissen? Aber Tag für Tag wurde es mir klarer und klarer. Ich liebte Marcello.

„Weil er … Marcello Forelli ist“, sagte ich einfallslos, als würde das alles erklären.

Ein kleines Lächeln bog die Lippen meiner wunderschönen Mutter nach oben. „Und wer ist Marcello Forelli? Erzähl es mir. Tu so, als hätte ich ihn noch nie getroffen.“

Ich sah zu ihm und seufzte. „Er ist … einfach so vieles, Mum. Mutig. Stark. Aufopferungsvoll. Intelligent. Sanft – manchmal – auf eine Art, die mich immer wieder überrascht. Liebevoll. Und das Verrückteste ist …“ Ich wartete, bis sie mich wieder ansah. „Er ist total in mich verliebt.“

Ihr Lächeln wurde breiter und sie nickte. „Es war nur eine Frage der Zeit, bis ein Mann, der es wert ist, meine Tochter zu lieben, auftaucht.“

Mein Herz raste. „Also ist es okay für dich?“

Ihr Lächeln ließ etwas nach. „Es ist okay für mich, Gabi. Aber hier, in dieser Zeit, nehmen sie Romantik sehr ernst.“ Sie sah mich bedeutsam an. „Marcello hat das auch schon anklingen lassen. Er glaubt, dass eure Romanze auf etwas sehr Ernstes hinausläuft. Etwas ziemlich Dauerhaftes.“

Eine Ehe, meinte sie. „Ja“, sagte ich. „Ich weiß.“ Er hat seinen politischen Selbstmord riskiert, als er mich Romana vorgezogen hat.

„Eine Ehe“, sagte sie mit einem Seufzen. „Dafür bin ich noch nicht bereit. Du bist siebzehn, Gabi –“

„Fast achtzehn“, sagte ich. „In ein paar Monaten.“

„Selbst mit achtzehn“, sagte sie und schüttelte den Kopf. „Das ist viel zu jung, um so ein Versprechen abzulegen.“

Mein Mund wurde trocken. Ein Teil von mir hoffte, dass sie Marcellos Hochzeitspläne blockieren würde. Oder zumindest dafür sorgte, dass er sich mehr Zeit ließ.

Der andere Teil von mir zitterte bei dem Gedanken. Nichts, gar nichts, konnte sich zwischen Marcello und mich stellen! Nicht hier. Nicht jetzt. Ich konnte den Gedanken, nicht mehr jeden Tag bei ihm zu sein, nicht ertragen.

„Bitte. Denk darüber nach“, sagte Mum. „Wir können nicht für immer hierbleiben.“

Ich schwieg. Da war ich mir nicht so sicher. Tatsache war, dass ich jeden Morgen, den ich hier erwachte, sicherer wurde, dass ich hierbleiben würde. Aber konnte ich Mum und Lia dazu bringen? Das wäre nicht fair.

Sie musterte mich ganz genau. „Er bedeutet dir so viel?“

„Ja. Ziemlich viel“, sagte ich elend und fühlte mich gefangen.

„Dann … lass es wenigstens langsam angehen, Kleines, okay?“

„Ich tu mein Bestes“, sagte ich mit hochgezogenen Augenbrauen. „Aber die Menschen hier sind ziemlich gut darin, sich jung festzulegen.“ Man musste kein Anthropologe sein, um zu erkennen, dass viele Mädchen in meinem Alter schon ein oder zwei Kinder hatten. Das Castello und die Umgebung waren voll von ihnen. Giacinta, meine rothaarige Zofe, war selbst schon Mutter.

„Na ja, mit einer durchschnittlichen Lebenserwartung von vierzig Jahren“, murmelte meine Mutter mehr zu sich selbst und war jetzt wieder im Wissenschaftsmodus, „müssen sie das auch.“

Vierzig Jahre. Das hieß, dass Marcellos Leben vielleicht schon halb vorbei war. Er hatte vielleicht nur noch zwanzig Jahre vor sich. Das ließ mein Herz schneller schlagen. Zwanzig Jahre waren mir früher wie eine Ewigkeit vorgekommen. Diese Sache mit den Zeitreisen machte mich noch ganz verrückt.

Aber eine Sache war mir völlig klar: Jeder Tag, den ich mit Marcello hatte, war es wert, darum zu kämpfen.

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Die Späher berichteten Marcello, dass keine feindlichen Truppen in der Nähe waren, und in Anbetracht des momentanen Friedensabkommens und der Truppen, die zwischen Florenz und uns stationiert waren, entschieden wir uns dazu, noch mal nach Signora Giannini zu sehen. Luca und Lia ritten mit uns, aber Mum wollte es sich lieber in Fortinos Bibliothek bequem machen und die lateinischen Texte lesen. Es war, als wollte sie sie auswendig lernen. Ein bisschen irritierte es mich, dass sie die Bücher uns vorzog. Aber ich war auch irgendwie dankbar für die Atempause, die ich dadurch bekam. Meine Mum und ich hatten in der letzten Woche mehr Zeit miteinander verbracht als zu Hause in den letzten drei Monaten. Ein bisschen Abstand würde uns ganz guttun.

Nicht, dass wir viel Privatsphäre gehabt hätten. Trotz des Friedensabkommens, das Conte Greco und die anderen Männer aus Florenz ausgehandelt hatten, die bei Conte Rossi gewesen waren, ritten zwanzig Soldaten mit uns. Mein Schatz war vorsichtig, wachsam, fast ein bisschen zu besorgt, wenn es nach mir ging. Ich trieb meine Stute zum Galopp an und ritt mit einem herausfordernden Grinsen an ihm vorbei. Auch er gab seinem Pferd die Sporen und bald galoppierten wir nebeneinander her, die Köpfe an den Hals der Pferde gelegt. Ich warf einen Blick zurück. Zehn Soldaten folgten uns, die anderen blieben bei Lia und Luca, die anscheinend ihren gemütlichen Schritt beibehalten wollten.

Marcellos Grinsen ließ auch mich lächeln. Innerhalb von wenigen Minuten kamen wir am Haus der Gianninis an. Ich sah Signora Giannini neben der Hütte stehen. Die Kinder spielten zu ihren Füßen. Ich winkte zum Gruß. Aber sie sah gar nicht in unsere Richtung, sondern starrte nach Norden.

Ich folgte ihrem Blick den Hügel hinunter. Ein Mann stieg von seinem Pferd ab und humpelte auf die Hütte zu.

Signora Giannini schrie auf. Ich runzelte die Stirn und griff nach Marcellos Arm. „Marcello –“

„Nein“, sagte er ruhig. „Alles ist gut. Es handelt sich um Signore Giannini, ihren Ehemann.“

Die Frau schrie noch einmal, dann löste sie sich von ihren Kindern und lief mit wehenden Röcken den Hügel hinunter. Ihr Ehemann kam auf sie zu. Er kämpfte mit seiner Krücke, humpelte aber so schnell er konnte. Sie trafen sich und sie flog in seine Arme. Dann umarmten und drehten sie sich, küssten sich und weinten.

Die Männer um uns herum johlten fröhlich und riefen Dinge, die ich nur aus Piratenfilmen kannte. Aber sie meinten es gut.

„Ihr habt dies vollbracht“, sagte Marcello.

„Was?“

„Dies“, sagte er, legte seinen Arm um meine Hüfte und nickte in Richtung der Gianninis. „Ihr habt sie wieder zusammengeführt.“

Da fiel es mir auf einmal wieder ein. Dieser Mann war einer der hundert, die gegen Paratore ausgetauscht worden waren. Ich grinste und stellte mir vor, dass genau diese Szene sich gerade auch in neunundneunzig anderen Familien abspielte. Wie hatte ich auch nur eine Sekunde lang über eine andere als diese Möglichkeit nachdenken können?

Die Kinder rannten jetzt auch zu ihrem Vater und umarmten ihn. Er hob das Kleinste in die Luft und wirbelte es herum. Nach ein paar Minuten bemerkten sie uns und winkten uns zu sich. Inzwischen waren auch Lia und Luca und die anderen Soldaten angekommen. Wir waren natürlich gespannt, seine Geschichte zu hören.

Aber sobald wir näherkamen, wusste ich, dass irgendetwas nicht stimmte. Die Augen des Mannes waren rot gerändert und seine Beine waren auf jeden Fall verletzt. Sein Hals war so geschwollen, dass man ihn kaum ansehen konnte. Was hatte der Mann in den florentinischen Gefängnissen alles erleiden müssen?

„Contessa, ich schulde Euch mein Leben“, sagte er und küsste meine Hand.

Ich versuchte, höflich zu sein, ihn anzulächeln und ihm in die Augen zu schauen, doch am liebsten hätte ich meine Hand weggezogen. Seine Finger sahen aus, als hätte man sie in Öl getaucht, waren schwarz wie die Nacht. Als er von mir wegging, sah ich mir seinen Hals genauer an. Man hatte ihn nicht geschlagen oder so, nein, er hatte dunkel verfärbte Schwellungen. Eine von ihnen sah so aus, als würde sie bald aufplatzen. Marcello schüttelte seine Hand und stellte ihn gerade Lia und Luca vor, als ich es endlich kapierte.

„Nein! Nicht! Geht weg von ihm!“, schrie ich. Ich schubste Marcello von ihm weg.

Die Gianninis starrten mich verwirrt an.

„Er ist krank! Ihr seid krank, nicht wahr?“, fragte ich und versuchte, meine Panik zu unterdrücken. Beruhig dich, Gabi. Ganz ruhig. Vielleicht ist es nicht so, wie es aussieht.

„Ich habe viel erlitten, Contessa. Sicher geht es mir nicht allzu gut, aber –“

Ich sah zu Lia und bemerkte, dass auch sie sich Sorgen machte. „Signore Giannini, was fehlt Euch?“

„Ich habe Fieber“, sagte er und wischte sich die Stirn ab. „Aber es kommt und geht. Nur nachts schwitze ich.“ Er zwang sich zu einem Lächeln. „Wenn ich erst einmal die gute Suppe meiner Frau und die Gesellschaft meiner Kinder genießen kann, wird sich alles fügen.“

Er irrte sich. Ganz schrecklich. Ängstlich sah ich Marcello an.

„Was hat er, Gabriella?“, fragte er besorgt.

„Die Pest“, sagte ich leise.