Jenny B. Jones
Scheinbar verliebt
Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.
ISBN 978-3-86827-997-9
Alle Rechte vorbehalten
Originally published in English under the title: Save the Date
by Jenny B. Jones
Copyright © 2011 by Jenny B. Jones
All Rights Reserved. This Licensed Work published under license.
Published by Thomas Nelson, Inc.
German edition © 2012 by Verlag der Francke-Buchhandlung GmbH
35037 Marburg an der Lahn
Deutsch von Rebekka Jilg
Umschlagbilder: Natallia Khlapushyna / © Dreamstime.com
© iStockphoto.com / Arand
Umschlaggestaltung: Verlag der Francke-Buchhandlung GmbH /
Christian Heinritz
Satz: Verlag der Francke-Buchhandlung GmbH
Datenkonvertierung E-Book: Satz & Medien Wieser, Stolberg
www.francke-buch.de
Über die Autorin:
Jenny B. Jones lebt als Highschool-Lehrerin in Arkansas. Der Durchbruch als Autorin gelang ihr mit einer erfolgreichen Jugendbuchserie. „Ein Sommer am See“ ist ihr erster Erwachsenenroman.
Es war eine gute Nacht, um sich zu verloben.
Der Mond stand rund und voll am Himmel. Die Kerzen waren entzündet. Und Lucy Wiltshire trug ein neues schwarzes Kleid, das Audrey Hepburn vor Neid hätte erblassen lassen. Ihre Freundinnen hätten bestimmt gesagt, dass es nur einer von vielen weiteren Funden aus dem Secondhandladen war, doch Lucy hatte vom ersten Augenblick an gewusst, dass dieses Kleid etwas ganz Besonderes war. Sie hatte es eingeklemmt zwischen einem avocadofarbenen Mantel und einem ausgebleichten Jeanskleid gefunden, das zu viele Bon Jovi-Konzerte miterlebt hatte. Das Kleid hatte sofort zu ihr gesprochen. Kauf mich. Ich bin dein. Wir gehören zusammen.
Und gekauft hatte sie es. Abgesehen davon, dass die Taille ein bisschen eng gewesen war und sie ein paar Zentimeter Stoff hatte herauslassen müssen, fühlte sich das Kleid perfekt an. Es brachte Lucy dazu, vor Freude in ihrer kleinen Küche herumzuwirbeln.
Es war das perfekte Outfit, um einen Heiratsantrag entgegenzunehmen. Sie hatte von diesem Tag geträumt, seit sie sechs Jahre alt gewesen war und eine Hochzeit für ihre Barbie-Puppe geplant hatte. Und nun stand ihr eigener Ken nur ein paar Meter von ihr entfernt und war so nervös, als stünde er schon vor dem Traualtar und hätte einen Ring in der Jackentasche.
Matthew lockerte seine dunkelblaue Krawatte und setzte sich an den Küchentisch.
„Hattest du einen schönen Tag?“, fragte Lucy, während sie das Knoblauchbrot in den Ofen schob und vor sich hin summte.
„War in Ordnung.“ Seine Stimme klang abwesend und sein Blick war auf den Stapel ungeöffneter Post gerichtet, den sie noch nicht angerührt hatte. „Was ist das?“ Er hob eine mit Gold verzierte Karte hoch.
Sie sah in seine Richtung, wandte sich dann aber schnell wieder ab. „Das ist nichts.“
„Sieht aus wie eine Einladung zum Klassentreffen oder sowas. Ich dachte, du hättest deinen Abschluss nicht in Charleston gemacht.“
Ihre Kindheit und Jugend in South Carolina war das Letzte, was sie heute Abend diskutieren wollte. Was sie überhaupt jemals diskutieren wollte. „Ganz offensichtlich ist da irgendjemandem ein Fehler unterlaufen.“ Oder ein gemeiner Witz. Als Tochter eines Hausmädchens war Lucy an der elitären Montrose Academy in der Hackordnung ganz weit unten gewesen. Ihre Mutter hatte die Häuser ihrer Mitschüler sauber gehalten. Und sie hatten Lucy niemals vergessen lassen, dass sie nicht zu ihnen gehörte. Aber jetzt, hier in Charleston, hätte es nicht schöner sein können.
„Oder sie wollen dich aus einem anderen Grund sehen.“
Lucy setzte sich und starrte den Mann an, der sie heute vor einem Jahr zum ersten Mal ausgeführt hatte. Matts Finger trommelten neben seinem Teller auf die Tischplatte und momentan entsprach er überhaupt nicht dem ruhigen Typ, der er sonst war. Sein sandblondes Haar war wie immer ordentlich links gescheitelt. Sein weißes Hemd gestärkt und die Ärmel hatten eine klare Bügelfalte.
Der Timer am Ofen klingelte und Lucy sprang auf, um das Brot herauszunehmen. „Ich hoffe, du bist hungrig. Ich hab dein Lieblingsessen gemacht.“
„Hab ich gemerkt.“
Lucy warf das Brot in einen Korb und stellte ihn auf den Tisch. Nachdem sie Matts Teller genommen hatte, schaufelte sie selbstgemachte Nudeln, ihre geheime Soße und Salat – mit seinem Lieblingsdressing – darauf. Lucy konnte sich schon jetzt vorstellen, wie sie in dreißig Jahren hier sitzen, zusammen essen und sich von ihrem Tag erzählen würden.
„Vielleicht solltest du hingehen. Zu dem Klassentreffen meine ich.“ Matt legte gewissenhaft seine Serviette auf den Schoß. „Wenn du wirklich dieses Mädchenheim gründen willst, musst du dich bei den Schönen und Reichen bekannt machen.“
Lucy beobachtete ihn, während sie sich hinsetzte. „Ich werde die finanziellen Mittel schon irgendwie anders aufbringen. Wofür gibt es denn Bundeszuschüsse. Und außerdem ist das Treffen am gleichen Abend wie deine feierliche Preisverleihung.“
Matt würde für seine Wohltätigkeitsarbeit unter älteren Mitbürgern geehrt werden. Als Buchhalter hatte er zahllose Stunden für die Senioren in Charleston geopfert und ihnen in Steuerfragen kostenlos mit Rat und Tat zur Seite gestanden. Jeden Tag dankte Lucy Gott dafür, dass er ihr Matt über den Weg geschickt hatte. Er war … einfach perfekt.
Zweimal die Woche telefonierte er mit seiner Mutter. Er leitete einen Bibelkreis und spielte Baseball im Team ihrer Kirchengemeinde. Er las Autobiographien und sah sich im Fernsehen den Wirtschaftskanal an. Der Mann fuhr einen Volvo und keinen protzigen Geländewagen. Was konnte sie sich sonst noch wünschen?
„Lucy?“ Matts Gesicht war ernst, als er ihre Hand ergriff.
Das war es. Sie würde Mrs Matthew Campbell werden. Sie hoffte, dass ihr Lipgloss noch saß. Und wo hatte sie nur die Kamera hingelegt? Wenn es einen Moment gab, den man festhalten musste, dann doch einen Heiratsantrag.
Er schluckte und umschloss ihre Hand mit seinen Fingern. „Es gibt etwas, über das ich gerne mit dir reden würde.“
Lucys Gedanken rasten. Sie würden einen Sohn und eine Tochter bekommen. Ihre Tochter würden sie Anna nennen, nach Lucys Mutter. Matt konnte ruhig den Jungennamen aussuchen. Ihr war egal, wie ihr Sohn heißen würde, solange es nicht Maynard war. Wie der Onkel, den Matt so sehr liebte.
„Lucy, wir sind jetzt schon seit einer Weile zusammen.“
„Ein Jahr“, sagte sie. „Heute vor einem Jahr war unser erstes Date.“ Was natürlich Teil seines ausgeklügelten Planes war.
Sein Griff um ihre Hand lockerte sich. „Und es war großartig. Ich habe unsere gemeinsame Zeit genossen. Du bist eine ganz unglaubliche Frau.“
Matt griff in seine Tasche.
Der Ring. Er suchte nach dem Ring. Diamant, Schliff, Karat – das alles war ihr vollkommen egal.
„Matt“, schniefte Lucy, „du sollst wissen, dass ich Gott mehr als dankbar dafür bin, dass er dich in mein Leben gebracht hat und –“
Er öffnete seine Hand.
Und legte eine Visitenkarte auf den Tisch.
Lucys Lippen wurden schmal. Das waren mit Sicherheit keine Hochzeitsglocken, die sie gerade läuten hörte.
„Was ist das?“ Sie nahm die Karte in die Hand. „Matthew Campbell, Chefbuchhalter, Digby, Wallace und Hinds?“
Sein Lächeln war zögerlich. „Ich habe ein Jobangebot.“
„Angebot?“ Sie fuhr mit dem Finger über den schön geprägten Namen auf der Visitenkarte – seinen Namen. „Sieht so aus, als wärst du darüber längst hinaus. Wann wolltest du es mir sagen?“
„Ich habe es versucht.“ Er schob seinen Teller beiseite. „Du warst so beschäftigt mit dem Kinderhort.“
„Wohnheim“, korrigierte sie ihn. „Saving Grace ist ein Wohnheim.“
„Du warst so beschäftigt mit den ganzen Planungen, dass ich in letzter Zeit kaum noch deine Aufmerksamkeit erregen konnte.“
„Jetzt hast du sie.“ Irgendetwas lief hier völlig falsch. „Was ist los? Ich habe noch nie etwas von diesen Leuten gehört. Digby? Wallace? Sind die neu?“
Seine grünen Augen fokussierten sich auf die Kerze in der Mitte des Tisches. „Nein. Eher alteingesessen, würde ich sagen. Sehr renommiert.“
„Und wo sind sie alteingesessen und renommiert?“ Sie konnte nicht umziehen. Das wusste er. Nicht jetzt, wo das Mädchenheim nur wenige Monate vor der Eröffnung stand. Würde er umziehen? Ohne sie?
„In Dallas.“
Lucys Herz sank auf die Höhe ihrer Schuhe. „Wann gehst du?“
Er schloss seine Augen. „Es tut mir leid, Lucy.“
„Da musst du dir schon ein bisschen mehr Mühe geben.“
„Ich glaube, wir beide hätten es einfach langsamer angehen lassen sollen.“
Lucy dachte an die Hochzeitsmagazine unter ihrem Bett. „Dann lass es uns langsamer angehen. Das ist in Ordnung für mich. Ich glaube, wenn wir nur –“
„Ich gehe schon nächste Woche. Das ist eine Gelegenheit, die ich mir nicht entgehen lassen kann.“ Er sprach leise und geduldig, so als rede er mit einem Kind. „Ich glaube, dass wir eine Pause machen müssen. Mein Umzug ist die perfekte Gelegenheit, um ein bisschen Abstand zueinander zu gewinnen. Dann sehen wir einfach, was passiert.“
Ihre Träume fielen in sich zusammen. War es zu viel verlangt, Gott? War es zu viel, sich nach einer Familie zu sehnen? Danach, endlich ein Zuhause zu haben? Zum ersten Mal in ihrem Leben hatte sie sich dazu verleiten lassen, zu glauben, dass alles möglich war.
Ihr Lachen klang sogar in ihren eigenen Ohren jämmerlich und gezwungen. „Kannst du dir vorstellen“ – Tränen schnürten ihr fast den Hals zu – „dass ich dachte, du würdest mir heute einen Heiratsantrag machen?“
Matt stand auf, kam zu ihr herüber und küsste sie auf die Stirn. „Ich glaube, ich sollte jetzt gehen.“
Sie ergriff seine Hand, als er sie zurückziehen wollte. „Liegt es an mir?“ Lag es denn nicht immer an ihr?
Sanft strich er eine Strähne hinter ihr Ohr. „Nein. Ich weiß, dass du bereit für die Bindung fürs Leben bist. Aber ich muss erst meine Karriere vorwärtsbringen – ob ich will oder nicht.“
„Ich kann warten. Wir könnten es mit einer Fernbeziehung versuchen.“
„Es tut mir leid.“ Er schnappte sich seine Jacke von der Stuhllehne. „Ich glaube, dass du die Richtige sein könntest. Aber es ist einfach nicht der richtige Zeitpunkt.“
Zwei Minuten später stand Lucy im Wohnzimmer, sah aus dem Fenster und beobachtete, wie Matt davonfuhr.
Kein Ring. Keine Verlobung.
Kein Glücklichsein bis ans Lebensende.
Sie ging nach oben ins Schlafzimmer.
Ganz langsam zog sie den Reißverschluss des Audrey-Hepburn-Kleides auf.
Sie ließ das Kleid auf den Boden fallen.
Dann schüttelte sie den Kopf und warf es aus dem Fenster.
Zwei Jahre später
Draußen vor dem Fenster sangen die Vögel ihre fröhlichen Lieder in Bäumen, die alt genug waren, um schon Abraham Lincoln Schatten gespendet zu haben. Eine kräftige Maisonne schwebte über den Baumwipfeln und Hausdächern und trieb die Menschen von Charleston nach drinnen ins Kühle. „Saving Grace“ befand sich in einem alten Stadthaus im Zentrum von Charleston, direkt neben einem italienischen Restaurant, das Tag und Nacht den Duft von Basilikum und gebackenem Pizzateig verströmte. Aber im Haus selbst saß Lucy in ihrem Bürostuhl und fragte sich, wie oft eine Welt eigentlich zusammenbrechen konnte.
„Es tut mir leid, ich glaube, ich habe Sie nicht richtig verstanden?“ Sie starrte die schlanke Frau an, die ihr gegenübersaß.
„Sinclair Hotels wird die Finanzierung für Saving Grace mit sofortiger Wirkung um vierzig Prozent zurückschrauben.“
Lucy hatte kaum die Möglichkeit gehabt, ihren Morgenkaffee zu trinken, da hatte schon die PR-Verantwortliche von Sinclairs an ihre Tür geklopft. Während sie den leichten Seidenschal um ihren Hals noch weiter lockerte, fragte sie sich, was sie tun konnte.
„Miss Pierson“, sagte Lucy nun. „Vor nicht einmal sechs Monaten wurde mir dieser Betrag zugesichert.“
„Leider erfordert die momentane wirtschaftliche Situation Budgetkürzungen. Ich bin sicher, Sie werden das verstehen.“ Miss Pierson bedachte Lucy mit einem herablassenden Blick, den sie sich sicher schon in der Highschool zugelegt hatte. Sofort fühlte Lucy sich in ihre Jugend zurückversetzt. Die Blicke. Der Spott. Ihre Mitschüler hatten alles dafür getan, dass sich die arme Stipendiatin immer darüber im Klaren war, dass sie nicht zu ihnen gehörte. „Marcus Sinclair und der Vorstand sind natürlich untröstlich wegen dieser Entscheidung. Deshalb haben sie mich auch persönlich geschickt, um es Ihnen mitzuteilen.“
„Dafür bin ich sehr dankbar“, zwang sich Lucy zu einer Antwort. „Sinclair war bisher immer sehr großzügig. Aber wenn ich die private Unterstützung nicht aufbringen kann, werde ich auch die staatliche Förderung verlieren.“
„Wie Sie bestimmt gelesen haben, hat Sinclair Hotels in den vergangenen drei Jahren schwere Einbußen hinnehmen müssen. Der Geschäftsführer war sein Geld leider nicht wert. Also ist Mr Sinclair persönlich aus seinem mehr als wohlverdienten Ruhestand zurückgekehrt und kümmert sich nun wieder um die Belange des Unternehmens.“
Miss Pierson trug höchstens Size Zero, Größe 32. Was für eine Schande, dass der heldenhafte Mr Sinclair ihr nicht einmal genug bezahlte, damit sie sich ordentlich ernähren konnte. Im Gegensatz dazu schnitt Lucys Rock in Größe 38 mittlerweile unangenehm in ihre Hüfte.
„Gibt es denn gar nichts, was ich tun kann?“ Herr, hilf mir, ruhig zu bleiben. Schenk mir deinen Frieden. Ich atme ein. Und aus. Und ein. Und aus – also ehrlich, ihre Arme sind dünner als Zahnstocher.
„Es war eine Vorstandsentscheidung.“
„Vielleicht könnte ich persönlich mit Mr Sinclair reden?“
„Das wird leider nicht möglich sein. Er ist von seinen Verpflichtungen im Unternehmen im Moment sehr in Anspruch genommen. Außerdem kümmert er sich auch rührend um die Kampagne seines Sohnes.“
Lucy wollte nicht über Alex Sinclair nachdenken. Alleinerbe des Familienvermögens. Nicht, dass er das Geld eines anderen gebraucht hätte. Er hatte als erfolgreicher Quarterback bei den New York Warriors sein eigenes Vermögen angehäuft. Lucy war mit ihm zur Schule gegangen. Sie war eine Klasse unter ihm gewesen. Wenn er die Menschen in seiner Umgebung immer noch so behandelte wie früher, war es ein Wunder, dass ihn noch niemand im Schlaf erdrosselt hatte.
„Zu der Gala am Freitag sind Sie natürlich immer noch herzlich eingeladen.“ Miss Piersons Augen flogen über die Wände von Lucys Büro. Die vielen Schwarz-weiß-Fotos der früheren und momentanen jungen Bewohnerinnen waren nicht direkt Kunst, aber für Lucy waren sie schöner als jeder Van Gogh.
Morgen war das jährliche Ereignis, an dem sie eigentlich offiziell den Spendenscheck überreicht bekommen hätte. Es wäre die Sicherheit gewesen, dass Saving Grace noch mindestens ein weiteres Jahr hätte bestehen können. Mädchen hätten ihre Ausbildung bekommen. Wären aufs Arbeitsleben vorbereitet worden. Hätten ein Dach über dem Kopf gehabt. Doch jetzt wusste Lucy nicht einmal, wie sie den Winter überstehen sollten.
Miss Pierson erhob sich elegant von dem knarrenden Holzstuhl. „Im Namen von Sinclair Hotels möchte ich mich bedanken, dass wir dank Ihnen unserer Gesellschaft einen Dienst erweisen konnten.“ Mit einem schlaffen Händeschütteln verabschiedete sich Miss Pierson, nahm ihre Handtasche und ging.
Lucy legte den Kopf auf ihren Schreibtisch. „Warum ich?“ Es musste doch etwas geben, das sie tun konnte. Sie konnte nicht einfach hier sitzen und Saving Grace wegen einer einzigen Spende sterben lassen, so wichtig sie auch war. Herr, was soll ich tun? Ich brauche ganz dringend deine Hilfe.
Sie ließ ihren Kopf wieder auf den Schreibtisch sinken und murmelte vor sich hin.
„Ist das ein privater mentaler Zusammenbruch oder kann ich mitmachen?“
Lucys blonde Locken sprangen auf und ab, als sie sich hektisch aufsetzte. „Hey.“ Ihre beste Freundin Morgan zu sehen, hätte ihr ein Trost sein sollen. Doch das junge Mädchen an Morgans Seite sagte Lucy, dass sie ihr Herz vorerst nicht würde ausschütten können.
„Ich habe Marinell hier gerade noch erzählt, was du für eine vernünftige, zuverlässige Person bist.“ Morgan ließ sich in den Stuhl fallen, auf dem vor Kurzem noch Miss Pierson gesessen hatte und bot auch dem Mädchen einen Platz an. „Aber das natürlich erst, wenn du deine allmorgendliche Dosis Koffein intus hast.“
Lucy konnte dem Blick ihrer lächelnden Freundin kaum standhalten. „Ich versuch’s heute mal mit ein bisschen Verrücktheit. Und bisher … gelingt es mir eigentlich ganz gut.“ Lucy wandte sich dem Mädchen zu, das sie an eine junge Selma Hayek erinnerte. „Hallo, Marinell. Ich bin froh, dass du dich dazu entschieden hast, dich mit mir zu treffen.“
Als Sachbearbeiterin in der Pflegeeinrichtung hatte Morgan ihre Freundin Lucy mit allen wichtigen Details der Akte des Mädchens vertraut gemacht. Achtzehn Jahre alt. Hatte die letzten eineinhalb Jahre in vier verschiedenen Heimen verbracht und war aufgrund der schlechten Zustände im letzten Heim ausgerissen. Bereitete sich darauf vor, den Schulabschluss nachzuholen und war im Moment obdachlos.
„Ich hab Miss Morgan versprochen, Ihnen zuzuhören, aber ich will hier nicht einziehen“, sagte Marinell. „Es geht mir da gut, wo ich bin.“
„Und wo ist das noch gleich?“, fragte Lucy.
„Bei einem Verwandten.“
Den meisten Mädchen ging es so schlecht, dass sie nicht zu hoffen wagten, dass ihr Leben für sie noch etwas Gutes bereit hielt. Lucy wusste, dass Marinell in Charleston außer ihrer Mutter keine Familie hatte. Und der war das Sorgerecht schon lange entzogen worden. Ihr jüngerer Bruder war in einem Jungenheim untergebracht worden. „Ein Verwandter, ja?“
Sie zuckte die Schultern „Ein Freund.“
„Dann ist es wohl mein Job, dich davon zu überzeugen, dass du hierbleiben solltest.“ Was genau das Richtige wäre, wenn Saving Grace nicht kurz vor dem Aus stehen würde. „Morgan hat mit dir schon die Erwartungen durchgesprochen, richtig?“ Marinell starrte sie nur an. „Wir sind eine Organisation, die auf dem christlichen Glauben basiert. Du müsstest einfach nur zur Schule gehen und bereit sein, hart zu arbeiten und unsere Regeln zu befolgen.“ Es gab auch Ausgehverbote, Bibelstudien, Sozialkundeunterricht und Aufgaben, die die Mädchen im Haus zu übernehmen hatten. Lucy und die beiden anderen Erwachsenen, von denen immer mindestens einer im Haus war, sorgten dafür, dass alle Regeln eingehalten wurden.
Sie und Morgan arbeiteten eng zusammen. Als Sozialarbeiterin für das Land hatte Morgan viele Kontakte zu Mädchen, die durch das Heimsystem fielen. Wenn sie die Schule beendet hatten und achtzehn waren, sah der Staat sie als Erwachsene an. Saving Grace bot denen ein Dach über dem Kopf, die keinen Ort hatten, wo sie sonst hingehen konnten. Obwohl der Staat bis zum einundzwanzigsten Lebensjahr noch eine kleine Unterstützung anbot, nutzten das die wenigsten, sondern versuchten, selbst über die Runden zu kommen. Und da es sowieso viel mehr Heimkinder als Pflege- oder Adoptivfamilien gab, landeten immer mehr Kinder auf der Straße. Es war eine nationale Epidemie, von der die meisten Menschen nichts wussten. Diese Ungerechtigkeit entfachte immer wieder Lucys Ärger.
Morgan erwartete, dass Lucy dem Mädchen nun überzeugende Argumente bot, um sich doch für einen Aufenthalt hier zu entscheiden. „Warum machen wir nicht einfach einen kleinen Rundgang?“
„Warum nicht.“
Lucy und Marinell ließen Morgan im Büro zurück und gingen durch die Eingangshalle. Zuerst zeigte Lucy das große, lichtdurchflutete Wohnzimmer. „Wir hatten große Unterstützung von der Kirchengemeinde hier, die uns bei der Einrichtung geholfen hat. Hier hängen die Mädchen abends rum, schauen Filme oder machen Hausaufgaben. Jeden Mittwochabend haben wir hier unseren Bibelkreis.“ Während sie selbst ihren Blick durch den Raum schweifen ließ, musste sie den beängstigenden Gedanken verdrängen, dass sie all das bald verlieren könnte. „Wir haben zwei Flure mit Schlafzimmern. Jeder Raum wurde von einem Gemeindemitglied ausgestattet. Das heißt, kein Raum gleicht dem anderen.“
Lucy knipste das Licht in einem der Zimmer an und betrat den Raum.
Marinell konnte ihre Überraschung nicht verbergen. „So etwas habe ich noch nie gesehen.“
„Es ist cool, oder? Das ist unser letztes freies Zimmer.“
Marinell fuhr vorsichtig mit der Hand über die cremefarbene Tagesdecke auf dem Bett, dann über die bedruckten Kissen.
„Erzähl mir von deiner Familie.“ Jedes Mädchen, das durch Lucys Tür kam, hatte seine eigene Geschichte.
Marinell betrachtete ein Bild an der Wand. „Meine Mutter ist vor ein paar Jahren hierher gezogen. Mein Bruder ist krank geworden und sie hat ihren Job verloren. Als einer von meinen Lehrern rausgefunden hat, dass wir kein Haus mehr haben, hat uns der Staat einkassiert.“
„Und wo ist dein Vater?“
„Weg.“ Marinell zuckte mit den Schultern, als mache es ihr nicht sonderlich viel aus. „Bekommen wir hier auch Essen?“
„Ja. Und ihr lernt, wie man kocht.“ Dank einiger Freiwilliger hatten die Mädchen die Chance, wichtige Dinge zu erlernen, wie zum Beispiel Kochen oder wie man mit seinem Geld umging.
Als sie zurück in den Flur gingen, konnte Lucy sich kaum auf das Gespräch konzentrieren. Ihr Verstand ratterte. Sie brauchte Zeit. Sie musste Telefonate führen, Unternehmen kontaktieren. Sie musste neue Spender finden. Und das alles sehr schnell.
Lucy führte Marinell zurück in ihr Büro, doch das Mädchen blieb erstaunt stehen. „Was ist das?“ Marinell zeigte auf eine gleichmäßige Reihe von leichten Vertiefungen im abgenutzten Holz des Fußbodens.
„Saving Grace war bis vor ein paar Jahren ein Konvent.“ Bei diesem Gedanken wurde ihr immer wieder warm ums Herz. „Hier haben die Nonnen gebetet. Diese Vertiefungen sind durch die vielen Stunden entstanden, die die Frauen auf ihren Knien verbracht haben.“
„Ehrlich?“
Lucy nickte. „Ich mag den Gedanken, dass die Schwestern sich sicher über das gefreut hätten, was wir hier tun. Diese Vertiefungen erinnern mich daran, dass auch ich nichts erreichen kann, wenn ich mich nicht immer wieder auf Gott besinne.“
„Meine Eltern sind katholisch. Ähm, meine Mutter, meine ich.“
„Aber du nicht?“, fragte Lucy.
Marinell wandte ihren Blick vom Boden ab. „Ich bin gar nichts.“
Lucy tauschte einen raschen Blick mit Morgan aus, bevor sie dem Mädchen ihre Karte gab. „So kannst du mich erreichen. Wenn du irgendetwas brauchst, ruf mich an – Tag und Nacht.“ Als sie Marinell die Karte in die Hand drückte, spürte sie die warme Haut und das junge Leben, das in dem Mädchen pulsierte. Bitte hilf mir, sie zu retten. „Wir würden uns freuen, wenn du hier einziehen würdest, Marinell.“ Lucy lächelte. „Und wir würden uns freuen, deine neue Familie zu sein.“
„Wissen Sie, wie viele Leute das schon zu mir gesagt haben?“ Marinell hob herausfordernd ihr Kinn. „Ich brauche jemanden, der mich aushält, wie ich bin. Es bringt mir nichts, wenn das hier nur wieder ein Ort mehr ist, der mich irgendwann fallen lässt.“
Morgan lächelte. „Dann habe ich dich genau an den richtigen Ort gebracht.“ Lucy lauschte den Worten ihrer besten Freundin und gab sich Mühe, nicht in Tränen auszubrechen. „Ich verspreche dir, dass Lucy dich nicht im Stich lassen wird.“
„Du solltest wirklich nicht zu dieser Gala gehen, Lucy.“ Morgan steckte zum fünften Mal ihren Kopf zur Badezimmertür herein. Lucys Apartment füllte sich langsam mit Freunden, die alle für eine lange Filmnacht mit „Dr. Who“, einer Science-Fiction-Serie, gekommen waren. Obwohl Morgan heute die Gastgeberin war, trafen sich die Hobbits wie immer an ihrem Heimatstandort – Lucys Wohnung. Offiziell trafen sie sich zweimal im Monat, um die neusten Bücher, Filme und alles andere zu besprechen, was mit Fantasy oder Science- Fiction zu tun hatte. Inoffiziell aber hingen sie ohnehin die ganze Zeit gemeinsam herum.
„Sie hat recht.“ Chuck, Morgans Verlobter, kam aus dem überfüllten Wohnzimmer herüber und lehnte sich in den Türrahmen. „Es gibt einen kleinen Unterschied zwischen Nachfragen und Stalking.“
Lucy schloss das Hängeschränkchen mit einem Schnappen und betrachtete die beiden. „Ich verstecke mich doch nicht heimlich auf jemandes Rücksitz oder so. Ich will nur eine ruhige, zivilisierte Unterhaltung mit ein paar Vorstandsmitgliedern führen.“
Sie waren ein komischer Haufen – Morgan, Chuck und die anderen, die im Wohnzimmer Pizzabrötchen aßen. Morgan war Lucys erste Freundin gewesen, nachdem sie vor drei Jahren nach South Carolina zurückgekommen war. Und als Morgan ihre neue Freundin den Hobbits vorgestellt hatte, hatte sich Lucy zum ersten Mal in ihrem Leben nicht fehl am Platz gefühlt.
Nachdem sie in Florida ihren Schulabschluss gemacht hatte, war Lucy dort geblieben, um für das Gesundheitsministerium zu arbeiten. Drei Jahre in diesem Job und ein Routinebesuch hatten sie in ein Heim geführt, das wie Saving Grace aufgebaut war. Sie hatte diesen Ort als Sozialarbeiterin betreten, war jedoch als Frau daraus hervorgegangen, die einen ganz klaren Ruf für ihr Leben verspürte. Und auch, wenn sie nie geplant hatte, zurück nach Charleston zu kommen, hatte Gott alles vorbereitet und sie persönlich ins Flugzeug geschubst.
Mit einem Blick auf ihr Handy sah Lucy nach der Uhrzeit. „Ich muss los.“ Sie drückte sich an ihren Freunden vorbei und betrat das kleine Wohnzimmer.
„Lucy, du siehst heute fantastisch aus.“ Sanjay, ein Mitglied der Hobbits, stand ein bisschen zu nah an ihrer Seite und schnupperte an ihrem parfümierten Hals. Tagsüber arbeitete Sanjay als IT-Fachmann. Aber mindestens zweimal im Monat entwickelte er sich zu Lucys privatem harmlosem Stalker.
„Ich kann leider nicht bleiben.“ Sie lächelte in die Runde. „Ich habe … etwas zu tun.“
„Ich bin genau der Richtige, um … etwas zu tun.“ Sanjay hob vielsagend eine seiner dunklen Augenbrauen.
„Überleg es dir doch noch mal, Lucy. Oder lass uns wenigstens mitkommen“, sagte Morgan und stieß Chuck an.
„Ähm, genau.“ Er hörte sich genauso interessiert an, wie Lucy es wäre, wenn jemand über Sport reden würde. „Wir würden gern mit dir auf diese elitäre Party gehen.“
„Nichts für ungut, aber ihr wärt mir nur im Weg.“ Lucy zupfte an der Taille ihres Kleides, das in letzter Zeit zusammengeschrumpft zu sein schien. „Ich habe eine Strategie. Ich schulde es den Mädchen, diesen letzten Versuch zu unternehmen und dafür muss ich mich konzentrieren.“
Sanjay war ein nicht leicht abzuschüttelnder Verehrer. „Und mein Sexappeal würde sie zu sehr ablenken.“
Lucy verdrehte die Augen und schob ihn zur Seite.
Morgan folgte Lucy zur Tür. „Hast du dir zumindest ein klein wenig überlegt, was du denen überhaupt sagen willst?“
„Etwas in der Art, dass sie gerade dabei sind, zwölf junge Mädchen auf die Straße zu setzen.“ Lucy tippte auf ihr Handy. „Ich will ihnen auch ein paar Fotos zeigen. Sie sollen wissen, wen sie obdachlos machen.“
Chuck nickte langsam. „Diese Situation schreit förmlich nach Säbelrasseln.“
„Du hättest mir die ganze Sache erzählen sollen, bevor ich Marinell ein Zimmer bei dir angeboten habe“, sagte Morgan.
Darüber konnte Lucy sich jetzt keine Gedanken machen. Wenn sie erfolgreich wäre, könnte sie noch heute Abend eine Lösung herbeiführen.
In Augenblicken wie diesen wünschte sie sich, sie könnte das Telefon in die Hand nehmen und ihre Mutter anrufen. Lucy war achtzehn gewesen, als ihre Mutter starb und ein schmerzendes Loch in ihrem Herzen hinterlassen hatte. Manchmal fragte sie sich sogar, wie ihr Leben verlaufen wäre, wenn ihr Vater noch leben würde. Lucy hatte ihn nie kennengelernt. Sie besaß nur zwei Fotos von ihm, aber sie konnte sich vorstellen, dass er sie geliebt und ihr ein gutes Zuhause geboten hätte. Wenn er noch leben würde, hätte er sie heute vielleicht zum Barbecue eingeladen und ihr gute Ratschläge über seinen Kugelgrill hinweg gegeben.
„Lass mich für dich beten – für den Fall, dass du nicht lebendig zurückkommst.“ Chuck legte einen Arm um ihre Schulter, während er sich räusperte und seine Jugendpfarrerstimme fand. „Herr, wir bitten dich, dass du Lucy heute Abend beistehst, wenn sie mit den Vorstandsmitgliedern redet. Hilf ihnen, ihre Meinung zu ändern. Und wenn das nicht möglich ist, bitten wir dich, dass du Saving Grace eine andere Tür öffnest, die bis jetzt nur du alleine kennst. Oh … und sorg dafür, dass Lucy ruhig bleibt. Und nicht verhaftet wird. Amen“
Lucy hob ihren Kopf. „Ich verspreche euch, dass ich anrufe, wenn ich Unterstützung brauche.“
„Zeig es ihnen, Mädchen.“ Chuck umarmte Morgan und Lucy mit seinem großen Big-Mac-Körper. „Und möge die Macht mit dir sein.“
* * *
Lucys Hände zitterten, als sie ihr kurzes schwarzes Kleid glatt strich, ein Taftdesign mit perlenbesetzten Trägern, das sie in einem gerade neu eröffneten Wiederverkaufsladen entdeckt hatte. Die klassische A-Linie hatte einen schlank machenden Effekt und schien nicht zu schreien: „Ich bin allergisch gegen Sport!“
Okay, Lucy. Jetzt geht’s los. Es gibt Arbeit. Ein Mädchenheim retten. Vorstandsmitglieder nerven. Herr, ich brauche wirklich deine Hilfe.
Als sie sich in dem eleganten Ballsaal umsah und ihren Blick über die Crème de la Crème von South Caroline schweifen ließ, bekam sie kaum Luft. Sie war ein unförmiger Zirkon in einem Meer von geschliffenen Diamanten.
Lucy drängte sich durch die Menge, den Kopf voller Gedanken an ihre Mädchen, die Geldsorgen und den neusten Star-Wars-Roman, der auf ihrem Nachtschrank auf sie wartete.
„Lucy Wiltshire.“
Sie drehte sich zu der nasalen Stimme um.
Oh nein. Nicht jetzt. Dafür hatte sie keine Zeit. „Hey, Bianca.“
Bianca Drummond segelte auf Lucy zu. Ihr Designerkleid funkelte im Licht der Saalbeleuchtung. Sie war eine feste Instanz auf allen gesellschaftlichen Ereignissen in Charleston und konnte den Stammbaum ihrer reichen Familie bis zurück zur Mayflower verfolgen. Sie sorgte dafür, dass es niemals jemand vergaß.
„Wie geht es dir?“ Sie setzte einen Schmollmund auf, während sie ihr platinblondes Haar von der perfekt gerundeten Brust schnipste. „Ich habe schon gehört, dass die Spenden dieses Jahr kläglicher ausfallen als sonst. Schrecklich. Deine kleine gemeinnützige Sache wird doch sicher darunter leiden? Ich wollte meine Spende persönlich abgeben.“
„Oh, gut. Danke. Wir freuen uns über die Hilfe.“
„Ich will nicht helfen.“ Bianca reichte ihr einen Scheck. „Das ist für die Umzugskosten. Dein Haus steht auf dem Land, das für einen großen Parkplatz ausgeschrieben ist. Mein Daddy ist im Stadtrat und es ist nur eine Frage der Zeit, bis das Gebäude abgerissen wird.“ Wieder schürzte sie die pinken Lippen. „Hast du es denn noch nicht gehört?“
Manche Verbindungsmädchen wurden einfach nie erwachsen. „Ich habe einen sicheren Pachtvertrag, der so schnell nicht gekündigt werden kann. Ich bin sicher, du hast da was falsch verstanden.“
Bianca lachte. „Was die Stadt will, bekommt sie auch. Vor allem, wenn die Zukunft eines Mieters so ungewiss ist. Die Besitzer des Hauses waren bisher sehr kooperativ.“ Plötzlich blickte sie an Lucy vorbei. „Ich muss jetzt mit dem Sohn des Bürgermeisters reden. Schick mir bitte eine Quittung.“ Mit einem letzten Blick musterte sie Lucy von oben bis unten und verschwand.
Panik stieg in Lucy auf und hätte sie fast gelähmt. Als hätte sie noch mehr schlechte Neuigkeiten gebrauchen können. Jetzt musste sie nicht nur hunderttausende von Dollar organisieren, sondern vielleicht auch ein neues Haus suchen, wenn Biancas Informationen stimmten.
Wie viel schlimmer konnte es jetzt noch werden?
* * *
Alex Sinclair warf einen Blick auf seine TAG Heuer-Armbanduhr, obwohl es eigentlich keinen Zweck hatte. Heute würde er sich nicht einfach davonstehlen können, denn er war nicht nur als Repräsentant von Sinclair Hotels hier. Heute Abend warb er um Stimmen im ersten Distrikt von South Carolina. Der Raum summte wie ein Bienenkorb und war voll von Würdenträgern und Beziehungen, die er dringend brauchen konnte. Die Wahl war in weniger als drei Monaten. Er spürte, dass ihm langsam die Zeit davonlief.
„Ich habe Sie gestern im Fernsehen gesehen.“ Bürgermeister Blackwell legte seine Hand auf Alex’ Schulter. „Gute Arbeit. Aber die Sache mit dem Artikel neulich in der Gazette ist einfach zu schade.“
„Mein Team versucht gerade herauszufinden, wo das Leck ist. Ich kann mir nicht vorstellen, wie so geheime Informationen nach außen dringen konnten.“ Die Zeitung hatte die Höhen der Spenden einiger seiner einflussreichsten Unterstützer veröffentlicht. Mächtige Leute, die ihre Parteizugehörigkeit verständlicherweise lieber für sich behalten hätten. Bürger, die nun sehr unzufrieden mit Alex waren. Ein weiterer Schlag gegen seine ohnehin recht farblose Kampagne.
Als der Kongressabgeordnete Patton unerwartet an einem Herzinfarkt gestorben war, hätte niemand damit gerechnet, dass Alex plötzlich auf der Bildfläche erscheinen würde. Ein kaputtes Knie hatte ihn dazu gezwungen, den Football schon mit zweiunddreißig Jahren aufzugeben. Und obwohl der Wahlkampf sich härter als jede seiner sportlichen Herausforderungen entpuppt hatte, würde er nicht aufgeben.
Sein Vater gesellte sich zu ihnen. „Mein Sohn ist die beste Option auf dem Zettel. Er hat so viele Ideen für eine Erneuerung des Gesundheitssystems, Ausgabensenkungen des Staates und Steuersenkungen für die mittlere und untere Schicht, da wären die Leute von South Carolina verrückt, wenn sie ihn nicht wählen würden.“
Alex lachte widerwillig. „Ich denke darüber nach, meine Wahlkampfmanager zu feuern und stattdessen meine Eltern zu engagieren.“
Obwohl die Medien auch in seinem Privatleben herumschnüffelten, würde er nicht aufgeben. Es war ein fremdes Gefühl – zu verlieren. Er war ein Eroberer. Ein Gewinner. Genau wie auf dem Spielfeld wollte er auch auf der politischen Bühne in der Lage sein, seine Schwäche zu überwinden, um seinen Gegner zu besiegen. Aber irgendwie funktionierte es nicht so recht. Jeder Tag hielt einen weiteren Rückschlag für ihn bereit. Erst letzte Woche hatte das People Magazine einen seitenlangen Artikel über jede seiner frustrierten Exfreundinnen gebracht. Allein ihr Gruppenfoto hatte eine komplette Doppelseite eingenommen. Aber nur ein Bruchteil des Artikels hatte auch tatsächlich der Wahrheit entsprochen. Das meiste waren Lügen und haltlose Behauptungen gewesen. Doch eine Handvoll unehrlicher Frauen zu verklagen, würde ihm bei den Wählern auch nicht mehr Sympathien einbringen. Heute hatte die Gazette einen Artikel darüber veröffentlicht, dass er bei seinem letzten Super Bowl-Spiel gegen seine Mannschaft gewettet hatte. Wie konnte er den Wählern beweisen, dass er nicht der Mensch war, für den ihn alle hielten? Durch sein früheres Verhalten hatte er den Ruf bekommen, ein Frauenheld zu sein und auf jede Party zu gehen. Seine Eskapaden hatten ihm den Spitznamen Playboy eingebracht. Aber die Dinge hatten sich geändert. Er hatte sich geändert. Der Tod des eigenen Bruders hatte einen anderen Menschen aus ihm gemacht.
Im Moment fühlte er sich machtlos und hatte den Eindruck, dass er seinen Abstieg in der Wählergunst nicht mehr vermeiden konnte. Zwar hatte er die Vorwahlen für sich entscheiden können, die Parlamentswahl war jedoch eine ganz andere Hausnummer. Der achte August rückte immer näher und die Prognosen sahen ihn ganz unten in der Gunst der Wähler. Enttäuschungen kannte er bisher nicht, deshalb musste ihm endlich etwas einfallen. Schleunigst. Er hatte sich sogar dabei ertappt, dass er wieder betete, etwas, das er seit dem Verschwinden seines Bruders immer mal wieder getan hatte.
Alex wandte den Blick von seinen Gesprächspartnern ab und seine Augen trafen die einer Frau, die ihn aus der Ferne finster anstarrte. Wenn Blicke töten könnten, wäre er jetzt bereits gevierteilt, erhängt und erschossen.
Er stieß seinen Vater an. „Wer ist das?“
Sein Vater warf einen kurzen Blick in die Richtung, die Alex ihm mit seinen Augen wies. „Ach, Lucy Wiltshire. Leitet eine dieser wohltätigen Organisationen, für die wir heute Abend spenden. Tolles Mädchen. Leistet gute Arbeit. Es ist eine Schande, dass wir ihr die Unterstützung kürzen mussten.“
Lucy Wiltshire. Der Name kam ihm irgendwie vertraut vor.
Ihr blondgelocktes Haar umrahmte zarte Wangen und ein empört in die Luft gerecktes Kinn. Ihr Kleid mit der schmalen Taille und dem ausgestellten Rock erinnerte ihn an eine moderne Doris Day. Der schwarze Stoff bildete einen deutlichen Kontrast zu ihrer zarten porzellanfarbenen Haut. Ihre Hände machten ausladende Gesten, während sie mit Ruth Ellington, Vorstandsmitglied von Sinclair Hotels, diskutierte. Er sah, dass Ruth den Kopf schüttelte und sich abwandte.
„Sieht aus, als würde sie deine Vorstandsmitglieder belästigen“, sagte Alex, als er sah, dass die Frau schon auf das nächste Opfer zusteuerte. „Vielleicht solltest du sie davon abhalten.“
„Ja, ich –“ In diesem Moment klingelte das Handy und sein Vater verzog das Gesicht. „Ich muss rangehen. Kannst du dich um Lucy Wiltshire kümmern? Halt sie vom Vorstand fern.“
Alex unterdrückte ein Seufzen, bis sein Vater verschwunden war. Der Mann war in den letzten zwölf Monaten um zehn Jahre gealtert und im Moment gab es wohl nichts, was Alex ihm abgeschlagen hätte.
„Entschuldigen Sie mich, Gentlemen.“ Alex tauschte ein paar Höflichkeiten aus, während er zielsicher auf Lucy zusteuerte. „Mrs Rindquist, Sie sehen wunderbar aus heute Abend! Mr Ruiz, vergessen Sie nicht unser Golfspiel am Samstag.“
Er sah, dass Lucys blaue Augen groß wurden, als er sich ihr näherte. Dann kam das Feuer zurück und sie hob ihr Kinn, wie um ihm zu zeigen, dass sie nicht weichen würde.
Alex spürte das erste echte Lächeln des heutigen Abends in sich aufsteigen. Er wusste nicht, was Lucy Wiltshire vorhatte, aber er war ein Kämpfer.
Und es gab mehr als eine Art, mit einem Gegner fertigzuwerden.
Der Playboy kam auf sie zu.
Das Letzte, was Lucy jetzt wollte, war, mit einem verwöhnten Sportler zu reden, der Verehrung zum Leben brauchte wie andere den Sauerstoff. Schon in der Schule war er so gewesen. Der Kerl erinnerte sich wahrscheinlich nicht einmal mehr an sie.
Sein volles, dunkles Haar war so gestylt, dass die Welt sehen konnte, dass er Vergnügen und Geschäft vereinte. Ein Designerhemd bedeckte seinen athletischen Körper, doch Lucy wusste, was daruntersteckte. Die ganze Welt wusste es. Auf der Höhe seiner Karriere als Quarterback hatte er jede Werbetafel in knapper Markenunterwäsche geziert – vom entlegensten Dorf bis zum Times Square in New York. Aber das hatte Lucy nie besonders interessiert.
Sie versuchte, sich auf Mr und Mrs Carter zu konzentrieren, die neusten Mitglieder des Vorstandes, aber das gelang ihr kaum, während Alex sie beobachtete. Mit all seinen Muskeln hätte er sich eigentlich ungelenk wie ein Nashorn bewegen müssen. Stattdessen wirkte er wie ein Panther, der sich an seine Beute anschlich. Geschmeidig. Raubtierhaft. Und er kam direkt auf sie zu.
„Guten Abend“, sagte Alex, als er bei ihrer kleinen Gruppe angekommen war. „Schön, Sie alle heute Abend hierzuhaben.“ Seine Augen schienen sie zu durchbohren, doch Lucy würde ihm nicht die Genugtuung gestatten und den Blick abwenden. Er sollte sie von ihrem Ziel abbringen, das war ihr klar, aber sie konnte reden, mit wem sie wollte.
„Es ist eine wundervolle Gala“, sagte Mr Carter. „Ich bin froh, dass wir dieses Jahr dabei sein können.“
„Ich habe ihnen gerade von Saving Grace berichtet.“ Selbst in ihren Ohren klang ihr Tonfall mehr als bestimmt. Die Familie Sinclair war in den letzten zwei Jahren mehr als großzügig gewesen. Aber die Angst brachte Lucy dazu, aggressiver vorzugehen, als es die Höflichkeit verlangt hätte. Und dieser Mann – diese Sportskanone – glaubte doch wirklich, er könnte sich in die Politik schleimen. Er war kein bisschen erwachsen geworden. Er dachte anscheinend immer noch, dass ihm die Welt gehörte.
Alex war einen Kopf größer als Lucy und in seinen Augen stand eine Warnung. „Es tut uns allen sehr leid, dass Sinclair Hotels die Gelder für Ihre Organisation kürzen musste. Aber wir sind froh, Sie auch weiterhin unterstützen zu können.“
„Es war ein hartes Jahr.“ Mr Carter sah sich um und streckte sein leeres Weinglas einem sich nahenden Kellner entgegen.
„Vielleicht haben Sie nächstes Mal wieder mehr Grund zum Feiern“, sagte Alex.
„Ich befürchte, dass es für uns kein nächstes Mal mehr geben wird“, sagte Lucy. „Wenn wir nicht neue Sponsoren finden, müssen wir im Herbst schließen.“
Als sie Mrs Carters mitleidigen Blick sah, trat Lucy einen Schritt auf sie zu, doch Alex schob sich zwischen sie und ihre Gesprächspartner. „Ms Wiltshire, warum besprechen wir das nicht in Ruhe und lassen die Carters diesen Abend genießen?“
Mrs Carter tätschelte Alex’ Schulter und ihr Blick war voller Bewunderung. „Ich bin sicher, dass Alex gute Beziehungen hat.“
„Zu anderen Unterwäschemodells?“
Alex’ volle Lippen zuckten, als er Lucy anlächelte. „Ich glaube, mir gefällt Ihr Tonfall nicht. Im Namen aller Unterwäschemodells der Welt –“
„Alex! Da sind Sie ja.“ Ein weiteres Vorstandsmitglied gesellte sich zu ihnen.
Dasjenige, das Lucy bisher mit voller Absicht gemieden hatte.
Clare Deveraux, die frühere First Lady von South Carolina, trug ein schimmerndes langes Kleid mit dem dazu passenden Jäckchen. Obwohl man sie wegen ihrer stoischen Art und ihrem Oberschicht-Gehabe immer noch als Queen Elizabeth des Südens bezeichnete, konnte Lucy sich niemanden vorstellen, der noch tiefer gesunken war als sie. Einen ganzen Sommer lang hatte Clare Deveraux dafür gesorgt, dass ihre Mutter nirgendwo einen Job bekam, indem sie Anna Wiltshire auf die schwarze Liste gesetzt hatte. Wer würde eine arme, alleinerziehende Mutter so ruinieren?
Lucy war Mrs Deveraux schon ein paar Mal auf dieser Gala begegnet, doch nie hatte sie mehr als feindselige Blicke der älteren Frau geerntet. Wahrscheinlich sprach sie nur mit Menschen, in deren Adern blaues Blut floss.
„Clare, Sie sehen bezaubernd aus.“ Alex nahm ihre Hände in die seinen und küsste ihre unnatürlich straffe Wange. „Wie geht es Ihnen?“
„Es ist kaum zu glauben, dass Steven erst drei Monate tot ist.“ Clare ließ ihren Blick schweifen. „Meinem Sohn hätte es heute Abend hier gefallen. Ich bin froh, dass ich meine Arbeit habe, die mich ablenkt.“
Lucy öffnete ihren Mund, um etwas zu sagen, doch Alex legte seine Hand auf ihre Schulter und seine Finger drückten warnend zu. Dieser Mann musste definitiv seine bestimmende Art und seine Hände bei sich behalten!
„Sie haben mein Mitgefühl.“
Lucy hatte in der Zeitung von Steven Deverauxs Tod gelesen. Krebs mit vierundfünfzig.
„Mir tut es auch leid“, sagte Lucy, als ihr ihre Manieren wieder einfielen.
Clare verengte die Augen zu Schlitzen und musterte Lucy von oben bis unten. „Schwarz ist nicht Ihre Farbe.“
Und Höflichkeit war nicht Clares Stärke. „Ich bin aber froh, Sie hier zu treffen, Mrs Deveraux. Ich finde, wir haben uns früher öfter auf dem falschen Fuß erwischt.“ Obwohl Lucy bisher wohl kaum mehr als zehn Worte mit ihr gewechselt hatte. „Wenn ich etwas getan haben sollte, mit dem ich Sie beleidigt habe, tut es mir leid. Oder wenn Sie etwas nicht verstehen, was mit Saving Grace zu tun hat –“
„Ich verstehe alles, was ich wissen muss“, sagte Claire kalt.
„Ich hätte gerne die Chance, mit Ihnen über das zu reden, was zwischen uns steht.“ Hatte Clare gegen Lucy gestimmt, weil sie ihre Mutter nicht hatte leiden können? „Meine Mädchen sind diejenigen, die die Konsequenzen unserer Unstimmigkeiten tragen müssen. Würden Sie vielleicht über Ihren Schatten –“
Der Druck auf ihrer Schulter erhöhte sich. „Lucy, hatten Sie nicht erwähnt, dass Sie gerne tanzen würden?“
„Vielleicht möchten Sie sich einmal persönlich davon überzeugen, was wir in dem Heim leisten, wie wir –“
„Nicht nötig“, schnappte Clare.
„Hören Sie doch, Lucy.“ Alex legte scheinbar lauschend seinen Kopf schief. „Sie spielen gerade Ihr Lieblingslied.“
„Was haben Sie gegen mich?“, fragte Lucy. „Erst haben Sie versucht, meine Mutter zu sabotieren, und jetzt –“
„Okay, Sie haben mich überredet. Aber nur ein paar Runden.“ Mit Schwung zog Alex sie an sich. „Sie wissen ja, wie empfindlich mein Knie ist.“
„Nein, ich muss –“
„Tanzen. Jetzt.“ Er nahm Lucy an der Hand und zog sie an Clare und den verdutzt dreinschauenden Carters vorbei.
„Was machen Sie?“, fragte Lucy, als sie mitten auf der Tanzfläche standen.
„Vermeidung.“ Er legte seine Hand auf ihre Hüfte und fasste sanft ihre Hand. „Eine Taktik, die ich bei euch Frauen regelmäßig anwende.“
„Ich war kurz davor, Antworten zu bekommen.“
„Sie waren kurz davor, Clares Chardonnay ins Gesicht zu bekommen.“
„Mrs Deveraux hat meine Mutter praktisch ruiniert. Diese Frau ist pures Gift und ich hätte gedacht, dass Ihr Vater von seinen Vorstandsmitgliedern wenigstens ein geringes Maß an moralischer Integrität erwartet.“
„Würden Sie bitte aufhören zu führen?“ Er sah sie ernst an. „Sie können hier nicht herumlaufen und die Leute stören. Wenn Sie hierbleiben wollen, entspannen Sie sich einfach und tun so, als würden Sie den Abend genießen. Heute Abend wird niemand mit Ihnen verhandeln.“
Die Band spielte eine Jazzversion eines Sinatra-Songs, doch alles, was Lucy hören konnte, war das Rauschen des Blutes in ihrem Kopf. Obwohl Alex ein übergroßer Sportler war, misslang ihm kein einziger Schritt. Er wirbelte sie mit einem Dreh seines Handgelenkes herum und fing sie wieder auf. „Nebenbei, ich bin Alex Sinclair.“
Oh, wenn sie doch nur die Arroganz aus seinem Gesicht wischen könnte. „Wir sind zehn Jahre auf die gleiche Schule gegangen. Ich weiß, wer Sie sind.“ Abgesehen davon, dass sein Grinsen regelmäßig irgendwelche Zeitschriften zierte.
Alex hob eine dunkle Augenbraue. „Ich glaube, daran würde ich mich erinnern.“
„Ach wirklich? Erinnern Sie sich daran, wie Sie und Ihre Freunde meinen Sportbeutel als Fußball benutzt haben, bis er aufgeplatzt ist und mein Sport-BH auf den Hallenboden fiel?“
„Nein, daran kann ich mich nicht erinnern.“ Immerhin sah er aus, als wäre es ihm unangenehm.
„Und Sie erinnern sich bestimmt auch nicht mehr daran, dass Sie mich zu Ihrer Sommerpoolparty eingeladen haben, damit ich Sie und Ihre Freunde wie ein Dienstmädchen bedienen sollte?“
Er wandte den Blick ab. „Ich war schrecklich früher. Mein Bruder war der Heilige.“
Lucy wusste, dass Will Sinclair nicht nur als Reporter in Indien gearbeitet, sondern dort auch eine Schule gegründet hatte. Wie er und Alex verwandt sein konnten, entzog sich ihrem Verstand. Einer hell und freundlich, der andere dunkel und bösartig. Sie konnte sich kaum an den Will aus der Schulzeit erinnern, doch sie wusste, dass er nie zu Alex’ Clique gehört hatte. Das alleine hob ihn in Lucys Ansehen.
„Also, was haben Sie getan, um sich Clares Abneigung zu verdienen?“ Sein Lächeln war wieder da.
„Ich habe geatmet. Das reicht, denke ich“, sagte Lucy. „Meine Mutter hat früher für sie gearbeitet. Es lief nicht gut.“
Das Lied war zu Ende, doch er verstärkte seinen Griff. „Tanzen Sie einfach weiter. Denken Sie nicht mal dran, hier wegzugehen.“
Sie reichte ihm kaum bis zum Kinn und musste sich zurücklehnen, um ihn anzuschauen. „Wenn Sie zu Ihren Cheerleaderfreundinnen auch so waren, ist es kein Wunder, dass die alle sauer auf Sie sind.“ Ihre Finger verkrampften sich auf seinem dunklen Smoking.
„Sie sind nur sauer, weil sie mich nicht alle haben können.“
Doch Lucy wusste, dass dieser Artikel seiner Kampagne stark geschadet hatte. War es falsch, dass sie eine gewisse Befriedigung bei dem Gedanken verspürte, dass Alex Sinclair sich doch nicht alles kaufen konnte, was er wollte? Während er noch Football gespielt hatte, hatte er die Männer durch sein Spiel und die Frauen durch sein Aussehen gewonnen. Aber die Menschen in South Carolina waren offensichtlich intelligent genug, um zu erkennen, dass er darüber hinaus keinerlei Qualifikation besaß.
„Lebt Ihre Mutter noch in Charleston?“, fragte er, als die Musiker ein langsames Lied anstimmten.
„Nein. Sie ist … tot.“ Der Schmerz, der früher wie ein Schrei in ihr getobt hatte, war nun weniger geworden und zu einem Flüstern verklungen, das die Jahre überdauert hatte. „Ich bin vor meinem Abschlussjahr nach Florida gezogen.“ Ihre Mutter hatte sich in einen Mann aus Tallahassee verliebt und Lucy hatte sich endlich ihren Wunsch erfüllen können und Charleston verlassen. „Es war ein Autounfall.“ Lucy schüttelte die traurige Stimmung ab, die sich in ihr ausbreiten wollte. „Es ist lange her. Wichtig ist, was heute passiert. Ich muss mit den Vorstandsmitgliedern reden. Ich muss irgendwie ihre Meinung wegen dieser drastischen Kürzung ändern.“
„Das wird nichts“, sagte er. „Unser ehemaliger Geschäftsführer hat so viel gespendet, dass er Sinclair Hotels fast in den Ruin getrieben hätte. Mein Onkel war viel zu großzügig.“
„Ich habe das immer an ihm geschätzt.“