Durch die demographische Entwicklung rücken vermehrt Fragestellungen der Klinischen Psychologie in den Blick von alten Menschen, ihren Angehörigen sowie Ärzten, Psychologen, Sozialpädagogen und professionell Pflegenden. Etwa 25 % der Menschen über 65 Jahren leiden an einer psychischen Störung. Diese Prävalenz (Auftretenshäufigkeit) ist nicht höher als in anderen Altersgruppen, allerdings spielen bei alten Menschen demenzielle Erkrankungen eine herausragende Rolle, die bei Jüngeren kaum auftreten.
Im ersten Teil des Buches werden die gerontologischen Grundlagen der Klinischen Psychologie des Alterns und die häufigsten psychischen Störungen dargestellt. Im zweiten Teil werden zwei Psychotherapieschulen eingehend beschrieben, die psychodynamischen Verfahren und die kognitiv-behaviorale Verhaltenstherapie. Wir beschränken uns auf diese Psychotherapieformen, weil ihre Wirksamkeit gut belegt ist und sie deswegen von den Krankenkassen bezahlt werden.
Psychische Störungen werden bei alten Menschen in der Primärversorgung vielfach nicht richtig diagnostiziert und behandelt. Bestenfalls werden Psychopharmaka verordnet, obwohl die Effektivität von Psychotherapie auch bei alten Menschen mittlerweile gut dokumentiert ist. Die Autorinnen und der Autor dieses Buches sind alle approbierte Psychologische Psychotherapeuten, die erfolgreich mit älteren Patienten gearbeitet haben. Wir wünschen uns, dass alte Menschen vermehrt ihren Weg in psychotherapeutische Behandlung finden werden, und hoffen, mit diesem Buch einem breiten Leserkreis entsprechende Behandlungsmöglichkeiten nahezubringen.
Bedanken möchten wir uns bei Dipl.-Psych. Sonja Heidenblut, Dipl.-Psych. Ilga Opterbeck, Katy Schleicher und Denise Stein für ihre sorgfältige Unterstützung bei der Erstellung des Literaturverzeichnisses. Einen besonderen Dank schulde ich (SZ) Dipl.-Psych. Ingrid Heimbach für ihre außerordentlich engagierte Hilfe bei der Manuskripterstellung. Danken möchten wir auch Frau Reutter, Frau Merkel und Herrn Dr. Poensgen vom Kohlhammer Verlag, die geduldig, beruhigend und konstruktiv die Entstehung dieses Buches begleitet haben.
Siegen, Marburg und Jena im September 2009
Susanne Zank, Meinolf Peters und Gabriele Wilz
Es gibt keine bundesweit repräsentativen Studien zur Prävalenz von psychischen Störungen im Alter, aber es liegt eine Reihe von methodisch guten Arbeiten für begrenzte Regionen vor (Berlin, Göttingen, Mannheim und Oberbayern). Daraus ist ersichtlich, dass etwa ein Viertel der Altenbevölkerung an einer psychischen Krankheit leidet. Damit liegen die Werte in etwa in der Größenordnung des jungen und mittleren Erwachsenenalters. Allerdings spielen demenzielle Erkrankungen insbesondere im höheren Alter eine herausragende Rolle, eine Krankheitsgruppe, die im jungen und mittleren Alter kaum vorhanden ist. Die Verbreitung der wichtigsten Störungsbilder wird in den nachfolgenden Unterkapiteln dargestellt, eine ausführliche Darstellung zur Epidemiologie psychischer Störungen im Alter findet sich bei Weyerer und Bickel (2007). Die Symptomatik wird jeweils anhand des Diagnosesystems der World Health Organisation (WHO) dargestellt, der International Classification of Diseases (ICD-10). Das zweite wichtige Diagnosesystem »Diagnostical and Statistical Manual of Mental Disorders« (DSM) der amerikanischen psychiatrischen Vereinigung findet in dieser Darstellung keine Berücksichtigung, zwischen den beiden Diagnosesystemen herrscht jedoch weitgehende Übereinstimmung.
Demenzen sind Erkrankungen des Gehirns und verursachen eine Vielzahl von Beeinträchtigungen. Ein demenzieller Prozess hat meistens einen chronischen oder fortschreitenden Verlauf, der zu kognitiven Defiziten (z. B. Gedächtnis, Denkvermögen, Auffassungsgabe, Rechenfähigkeit, Orientierung) und häufig zu Veränderungen der emotionalen Kontrolle, der Motivation und des Sozialverhaltens führt. Das folgende Fallbeispiel schildert einen ganz normalen Demenzpatienten aus der gerontopsychiatrischen Praxis.
Kasuistik 2.1: Ein ganz normaler »Fall«
»Der 82jährige Herr A. kam kurz vor Weihnachten notfallmäßig in Polizeibegleitung aufgrund eines akuten Verwirrtheitszustandes in die Klinik. Die Polizisten waren von aufmerksamen Passanten geholt worden, denen der hilflos im Schlafanzug umherirrende Mann aufgefallen war. Er selbst konnte bei der Aufnahme keine zuverlässigen Angaben über seine eigene Situation und Lebenssituation machen. Er verstand nicht, warum er im Krankenhaus aufgenommen werden sollte und hielt sich für völlig gesund. Von einer Nachbarin war zu erfahren, dass Herr A. im letzten Jahr häufig verwirrt gewesen sein, mehrmals seinen Wohnungsschlüssel verloren habe und deshalb gezwungen gewesen sei, im Hausflur zu übernachten. Sie habe versucht, ihm zu helfen, weil er früher selbst ein so hilfsbereiter Mensch gewesen sei. Sie sei aber mit ihren Bemühungen gescheitert. Wegen dieser kritischen Situation habe sie auch die Hausärztin und den Sozialpsychiatrischen Dienst mobilisiert. Deren Besuch hatte Herr A. allerdings an der Tür abgewimmelt und niemanden in die Wohnung gelassen. Bei einem Hausbesuch der Sozialarbeiterin der Klinik befand sich die Wohnung in einem völlig verwahrlosten Zustand. Die Toilette war verstopft und schmutziges Geschirr, alte Zeitungen, Tüten mit verdorbenen Lebensmitteln und Kleidungsstücke für alle Gelegenheiten und Jahreszeiten bedeckten wahllos den Fußboden.
Bei der Aufnahme konnte er noch Namen und Geburtsdatum nennen, als Adresse gab er aber das Haus seiner Eltern an. Seine kognitive Leistungsfähigkeit war insgesamt massiv herabgesetzt. Nachdem die anfängliche durch die Aufnahmesituation verursachte Aufregung abgeklungen war, zeigte er sich freundlich und aufgeschlossen, erwies sich aber in allen lebenspraktischen Belangen als hilf- und ratlos. Herr A. war deutlich unterernährt und ungepflegt, was ihm offensichtlich außerordentlich peinlich war. Er zeigte alle Zeichen einer schweren Lungenentzündung und musste für drei Tage auf die Intensivstation verlegt werden. Trotz seiner sich schließlich einstellenden körperlichen Genesung bleiben seine kognitiven Defizite bestehen. Es handelte sich um eine mittel- bis schwergradige Demenz …« (Gutzmann & Zank, 2005, S. 12–13). Der Patient konnte stabilisiert und mit alltagspraktischen Übungen und ergotherapeutischen Angeboten gut in den Stationsalltag eingebunden werden. Obwohl ihm die zahlreichen Kontakte auf der Station gutgetan hatten und er keine Verwandte in der Nähe hatte, war Herr A. nicht zu bewegen, in ein Seniorenheim zu ziehen. Er wurde nach Hause entlassen, besuchte regelmäßig eine Tagesstätte und wurde durch eine Sozialstation betreut.
Es gibt eine Reihe von demenziellen Erkrankungen, deren Erscheinungsbild recht ähnlich ist. In Tabelle 2.1 sind die diagnostischen Kriterien für eine Demenz aufgeführt. Bei dem Syndrom, das den unterschiedlichen Demenzerkrankungen gemeinsam ist, werden kognitive Funktionen des Gehirns beeinträchtigt, aber auch Wahrnehmung, Affektivität, Willen und Persönlichkeit verändert. Eine Diagnose nach ICD-10 erfordert eine mindestens sechs Monate anhaltende Gedächtnisstörung, die zusätzlich durch Defizite im Urteils- und Denkvermögen ergänzt wird. Bewusstseinsstörungen (z. B. Verwirrtheitszustände) dürfen nicht vorliegen, können aber im weiteren Krankheitsverlauf auftreten.
Tab. 2.1: Diagnostische Kriterien für eine Demenz (nach ICD-10)
Das entscheidende Kriterium für die Diagnose ist das Nachlassen des Gedächtnisses, das zu einschneidenden Defiziten in den Aktivitäten des täglichen Lebens führt. Häufig fallen dem Patienten oder den Angehörigen zunächst Defizite in der Merkfähigkeit auf, also zunächst ist das Kurzzeitgedächtnis betroffen. Im Fortschreiten der Erkrankung wird auch das Langzeitgedächtnis in Mitleidenschaft gezogen.
Die Beeinträchtigung des Denkvermögens zeigt sich in Verlangsamung, Umständlichkeit, Zähflüssigkeit des Gedankenverlaufs sowie im Verlust des Abstraktionsvermögens und des Urteilsvermögens. Auch die zeitlich-räumliche Orientierung bereitet Probleme.
Unruhezustände treten bei fast jedem Demenzpatienten auf. Besonders häufig sind weiterhin depressive Symptome, mangelnde Affektkontrolle, herausfordernde Verhaltensweisen (z. B. verbale und handgreifliche Aggression), Verhaltensprobleme (z. B. Spielen mit Fäkalien) und stundenlanges Umherwandern. Die häufigsten nicht kognitiven Symptome sind in Tabelle 2.2 aufgeführt.
Tab. 2.2: Häufigkeit nicht kognitiver Störungen. Angaben in % (nach Finkel & Woodson, 1997).
Störung der Wahrnehmung |
|
Wahnvorstellungen |
20–73 |
Verkennungen |
23–50 |
Halluzinationen |
15–49 |
Affektive Störungen |
|
Depressionen |
bis zu 80 |
Manien |
3–15 |
Persönlichkeitsstörungen |
|
Wesensveränderung |
bis zu 90 |
Verhaltensprobleme |
bis zu 50 |
Aggression/feindseliges Verhalten |
bis zu 20 |
Im Krankheitsverlauf kann der völlige Verlust der Alltagskompetenz und damit vollständige Hilflosigkeit eintreten. Demenzen verursachen den größten Anteil von Hilfe- und Pflegebedarf im Alter, keine andere Erkrankung, die ein ähnliches Maß an Einschränkungen mit sich bringt, weist vergleichbare Prävalenzen auf.
Das Demenzsyndrom kann durch vielfältige Ursachen hervorgerufen werden, die behandelbar sind und möglicherweise zu einer vollständigen Genesung des Patienten führen. Deshalb ist eine sorgfältige Diagnostik erforderlich. Zu den behandelbaren Ursachen zählen
In Tabelle 2.3 sind die erforderlichen Untersuchungsmethoden aufgeführt.
Tab. 2.3: Instrumentarium zur Demenzdiagnostik
Anamnese des Patienten (wenn möglich, vgl. Kasuistik 2.1)
Fremdanamnese (z. B. mit Angehörigen zur Symptomatik und Vorerkrankungen)
Psychiatrisches Interview
Bildgebende Verfahren (CT, MRT, PET)
Laboruntersuchungen (Serum, Liquor)
Neurologische Diagnostik
Psychometrische Diagnostik (Testpsychologie)
Diese umfangreichen Erhebungen dienen zum einen zur Abklärung der behandelbaren Ursachen eines Demenzsyndroms. Zum anderen sind sie erforderlich, um die leichte kognitive Beeinträchtigung (mild cognitive impairment, MCI) sowie unterschiedliche Demenzarten voneinander zu unterscheiden. Die häufigste Demenzerkrankung ist die Alzheimer-Erkrankung (AD) mit etwa 54 %, es folgen die vaskulären Demenzen (VD) mit etwa 16 % und die Mischformen von AD und MD mit zirka 25 % (Lobo et al., 2000). Für eine ausführliche Beschreibung der Demenzen, der Krankheitsverläufe sowie medizinischer und psychosozialer Interventionsmöglichkeiten siehe Gutzmann und Zank (2005).
Aus mehreren methodisch gut angelegten Studien ist bekannt, dass die Prävalenzrate von über 65-Jährigen aus den westlichen Industrienationen bei etwa 5 bis 8 % liegt. Diese Schätzungen beziehen sich auf Demenzen des mittleren und schweren Schweregrades, bei Einbezug der leichteren Stadien steigt die Prävalenz auf 10 %. Demenzerkrankungen sind stark alterskorreliert, d. h., die Erkrankungen werden mit zunehmendem Alter häufiger. Im Alter zwischen 60 und 65 Jahren kann von einer Verdoppelung der Fälle in Altersintervallen von fünf Jahren gesprochen werden. Berechnungen für Deutschland auf der Grundlage der großen Feldstudien und Metaanalysen ergeben zwischen 900 000 und 1,2 Millionen Erkrankte mit einem durchschnittlichen Krankenbestand von etwa 1 Million. Eine genauere Aufstellung findet sich in Tabelle 2.4.
Die Gesamtprävalenz ist bei Frauen deutlich höher als bei Männern. Dies liegt hauptsächlich daran, dass mehr Frauen als Männer das vierte Alter und die Hochaltrigkeit erreichen. Allerdings belegen mehrere Studien, dass eine höhere Bildung bei Frauen einen Präventionsfaktor bedeutet (Weyerer & Bickel, 2007). Bei der großen Zunahme von gut ausgebildeten Frauen könnte dies eine Verringerung der Erkrankungsraten bewirken.
Insgesamt kann die Bedeutung der demenziellen Erkrankungen für die gesellschaftliche Entwicklung nicht hoch genug geschätzt werden. Nachdem es für die meisten Demenzen keine kausalen Behandlungsmöglichkeiten gibt und die vorhandenen Pharmaka bestenfalls eine Verlangsamung des Verlaufs bewirken, bedeutet die Zunahme insbesondere der Hochaltrigen, dass eine menschenwürdige Versorgung von Millionen Erkrankten in den Familien und Institutionen sichergestellt werden muss.
Tab. 2.4: Mittlere Prävalenzrate und geschätzte Zahl der Demenzkranken in Deutschland zum Ende des Jahres 2002 (nach Bickel, 2002)
Altergruppe |
Mittlere Prävalenzrate |
Geschätzte Krankenzahl |
65–69 |
1,2 |
55 700 |
70–74 |
2,8 |
100 200 |
75–79 |
5,8 |
165 700 |
80–84 |
13,3 |
254 300 |
85–89 |
22,6 |
197 300 |
90 + |
33,5 |
193 800 |
65 und älter |
7,1 |
967 000 |
Demenzielle Erkrankungen bedeuten aufgrund ihrer Symptomatik eine große Belastung für die Patienten, für ihre Angehörigen und für professionelle Pflegepersonen im ambulanten und stationären Bereich. Sie stellen die häufigste psychiatrische Erkrankung im Alter dar, und ihre Verbreitung wird aufgrund der demographischen Entwicklung weiter zunehmen. Die meisten der Erkrankten werden hilfs- und pflegebedürftig, so dass der Gestaltung einer demenzfreundlichen Umgebung, die die Defizite behutsam kompensiert, große Bedeutung zukommt.
Fragen zur Selbstüberprüfung (Kapitel 2.1)
American Psychiatric Association (2003). Diagnostisches und Statistisches Manual Psychischer Störungen. Textrevision (DSM-IV-TR). Göttingen: Hogrefe.
Gunzelmann, T. & Oswald, W. D. (2005). Gerontologische Diagnostik und Assessment (Grundriss Gerontologie, Bd. 15). Stuttgart: Kohlhammer.
Gutzmann, H. & Zank, S. (2005). Demenzielle Erkrankungen. Medizinische und psychosoziale Interventionen (Grundriss Gerontologie, Bd. 17). Stuttgart: Kohlhammer.
Weltgesundheitsorganisation (2000). Internationale Klassifikation psychischer Störungen. ICD-10 Kapitel V (F) – Klinisch-diagnostische Leitlinien. Bern: Huber.
Weyerer, S. & Bickel, H. (2007). Epidemiologie psychischer Erkrankungen im höheren Lebensalter (Grundriss Gerontologie, Bd. 14). Stuttgart: Kohlhammer.
Eine gedrückte Stimmung, der Verlust an Freude sowie Energiemangel oder eine starke Ermüdbarkeit stellen die Hauptmerkmale depressiver Störungen dar. Auch Schlafstörungen, Appetitverlust und Konzentrationsstörungen sind typische Begleiterscheinungen. Treten die beschriebenen Symptome im Alter auf, werden diese nicht selten von den betreffenden Personen selbst, aber auch von Ärzten oder Therapeuten als normale Reaktionen auf die Verluste und Beeinträchtigungen des Alters bewertet. Es wird geschätzt, dass 30 bis 40 % der depressiven Störungen bei Älteren, die Allgemeinarztpraxen aufsuchen, nicht adäquat diagnostiziert werden (Hautzinger, 2000). Studien zur Lebenszufriedenheit im Alter zeigen jedoch, dass trotz zunehmender Beeinträchtigungen nicht automatisch eine Abnahme eintritt, sondern die Lebenszufriedenheit sogar als verbessert erlebt werden kann. Dieses »Zufriedenheitsparadox« wird mit einer stabileren Affektregulation und erfolgreichen Lebensbilanzierung im Alter erklärt (Stoppe, 2008).
Kasuistik 2.2: Entwicklung einer depressiven Episode
Nach dem Tod ihres Ehemanns ein halbes Jahr zuvor verließ die 74-jährige Frau L. ihre Heimatstadt und zog in eine Seniorenresidenz in die Nähe ihres Sohnes. Zunächst schien es, als würde sich Frau L. dort gut einleben. Sie nahm Kontakt zu ihrer Nachbarin auf und nutzte das Freizeitangebot der Einrichtung. Vor drei Monaten stürzte Frau L. schwer und musste für längere Zeit ins Krankenhaus. Seit ihrer Rückkehr aus dem Krankenhaus hat sich Frau L. verändert. Sie klagt über starke Schmerzen in Beinen und Rücken sowie über andauernde Schlaflosigkeit. Die Schmerzen würden dazu führen, dass sie jede Nacht stundenlang wach liege. Zudem könne sie sich schlechter konzentrieren und sei vergesslich. Mehrere Vorschläge ihrer Nachbarin, gemeinsam etwas zu unternehmen, lehnte sie mit der Begründung ab, sie sei zu erschöpft und könne sich aufgrund der Schmerzen nur schlecht bewegen. Auch die Freizeitangebote der Seniorenresidenz nimmt sie nicht mehr wahr. Auf Nachfrage der Ergotherapeutin äußerte sie, sie fühle sich zu abgeschlagen und wolle sich lieber ausruhen. Tatsächlich verbringt Frau L. einen Großteil des Tages liegend auf dem Sofa. Ihr Appartement verlässt sie nur noch für dringende Einkäufe im nahe gelegenen Supermarkt. Dabei vermeidet sie es, mit anderen Hausbewohnern in Kontakt zu kommen. Auch zum täglichen Mittagessen, das in der Seniorenresidenz angeboten wird, geht sie aus Appetitmangel nicht mehr. Die Leiterin der Einrichtung hat Frau L.’s Sohn und deren Schwiegertochter, die Frau L. regelmäßig besuchen oder sie zu sich einladen, bereits auf das starke Rückzugsverhalten angesprochen. Sohn und Schwiegertochter machen sich ebenfalls große Sorgen. Seine Mutter wirke kraftlos und niedergeschlagen. Sie weine wieder häufiger, wenn sie an ihren verstorbenen Ehemann erinnert werde und mache sich selbst Vorwürfe, dass sie eine schlechte Ehefrau und Mutter gewesen sei. Sie mache sich große Sorgen um ihre Zukunft und befürchte ihren Sohn finanziell zu belasten, wenn sie weiter körperlich und geistig abbaue. Wenn sie ein Pflegefall werden würde, wolle sie nicht mehr weiterleben.
Die Diagnosestellung gestaltet sich in der Regel schwieriger als im jüngeren Erwachsenenalter, da Depressionen bei Älteren oft im Kontext somatischer Erkrankungen auftreten. Häufig wird bei älteren Patienten eine Abwesenheit der typischen depressiven Grundstimmung festgestellt, und Symptome wie körperliche Beschwerden (z. B. Schmerzen, Appetitverlust), Schlafstörungen, Interesselosigkeit, Energielosigkeit, neuropsychologische Symptome (z. B. Gedächtnisschwäche, Ablenkbarkeit) oder das Klagen über Konzentrations- und Antriebsstörungen stehen im Vordergrund (vgl. Tab. 2.5). Weiterhin werden die Symptome oft verkannt und als natürliche Folge des Alterungsprozesses (Abbau körperlicher und geistiger Kräfte) interpretiert (Lebowitz et al., 1997). Viel häufiger als im jüngeren Erwachsenenalter ist die maskierte Depression anzutreffen, deren Kennzeichen das Klagen über körperliche Beschwerden ist. Weiterhin findet sich bei älteren Patienten häufiger die psychotische Form der Depression, deren Wahninhalte sich besonders auf Themen wie Schuld, Hypochondrie und Eifersucht beziehen.
Zur Prognose sind unterschiedliche Angaben vorzufinden. So besteht eine größere Gefahr der Chronifizierung, vor allem aufgrund der somatischen Komorbidität und der häufig nicht angemessenen Therapie. Weiterhin gibt es Hinweise auf einen längeren Phasenverlauf, eine häufigere Therapieresistenz und eine erhöhte Rückfallhäufigkeit bei Depressionen im Alter. Unter der sogenannten Dysthymia versteht man eine chronische Form der depressiven Störung, die wenigstens mehrere Jahre durch eine andauernde depressive Verstimmung gekennzeichnet ist, »die weder schwer noch hinsichtlich einzelner Episoden anhaltend genug ist, um die Kriterien einer schweren, mittelgradigen oder leichten rezidivierenden depressiven Störung zu erfüllen« (ICD-10, S. 150).
Die vorhandenen Diagnoseverfahren zur Depression sind in der Mehrzahl an Personen des jüngeren und mittleren Erwachsenenalters überprüft worden, so dass derzeit keine ausreichende Beurteilung der Anwendbarkeit für ältere Menschen möglich ist. Eine Ausnahme bildet die speziell für ältere depressive Menschen konzipierte Geriatrische Depressionsskala (GDS, Yesavage et al., 1983), ein Fragebogen zur Selbstbeurteilung des Schweregrads der depressiven Symptomatik. Die Testgütekriterien sind mit einer internen Konsistenz von Cronbachs Alpha von .91, einer Sensitivität von 84 % und einer Spezifität von 89 % (bei einem Summenwert von 13 Punkten) als gut zu bezeichnen. Weiterhin liegen für diese Skala altersentsprechende Normwerte vor. Das Inventar Depressiver Symptome (siehe Hautzinger, 2003) ist ein Fremdbeurteilungsverfahren mit guten psychometrischen Kennwerten (Cronbachs Alpha zwischen .87 und .92) und hohen Korrelationen zu etablierten Depressionsverfahren und wurde bereits bei älteren Menschen eingesetzt.
Differenzialdiagnostisch ist bei Depressionen im Alter vor allem die Abgrenzung zu demenziellen Erkrankungen, zur komplizierten Trauer und zu depressiven Begleitsymptomen im Kontext schwerer chronischer Erkrankungen (z. B. Tumorerkrankungen, kardiovaskulären Erkrankungen) zu beachten. So liegt in der Regel eine komplizierte Trauer vor, wenn die Trauer länger als zwei (DSM-IV) bzw. sechs (ICD-10) Monate anhält und depressive Symptome wie deutliche Wertlosigkeitsgefühle, Verlangsamung, Suizidgedanken, starke Schuldgefühle, psychotische Symptome sowie deutliche Funktionsbeeinträchtigungen bestehen.
Tab. 2.5: Diagnosekriterien der depressiven Episode nach ICD-10
Zentrale Merkmale |
|
Symptome |
(mindestens zwei der folgenden, alle drei bei schwerer depressiver Episode)
|
(mindestens zwei der folgenden, je nach Schweregrad mehr)
|
|
(»mit somatischem Syndrom«, wenn zusätzlich mindestens vier der folgenden)
|
|
Mindestdauer |
zwei Wochen |
Ausschlusskriterien |
|
Eine Vielzahl von Studien zu depressiven Störungen im Alter zeigte einen deutlichen Zusammenhang mit Störungen der exekutiven Funktionen (Verhaltenssteuerung wie das Setzen von
Zielen, Planung, Entscheidung für Prioritäten, Impulskontrolle, emotionale Regulation), der Abnahme von Gedächtnisfunktionen und einer verlangsamten Informationsverarbeitung. Nach Haupt (2004) treten kognitive Beeinträchtigungen bei Depressionen im Alter bei ca. 30 % der Patienten auf. Diese werden jedoch meistens subjektiv als Konzentrationsschwierigkeiten oder verlangsamtes Denken erlebt und sind nicht immer in Leistungstests objektivierbar.
Etwa 30 bis 60 % der Demenzkranken weisen komorbid eine Depression auf. Demnach muss überprüft werden, ob eine Depression ohne Demenz besteht, eine Demenz ohne Depression, beide Störungen gleichzeitig bestehen oder eine Demenz mit einzelnen depressiven Begleitsymptomen vorliegt. Hinweise für das Vorliegen einer Demenz sind ein eingeschränktes Defizitbewusstsein, der Versuch, die kognitiven Störungen zu verbergen, das Vorliegen einer labilen eher wechselnden Stimmung und ein schleichender Beginn. Weiterhin schätzen Demenzkranke im Gegensatz zu depressiven Patienten in der Regel ihre Leistungsfähigkeit besser ein, als diese tatsächlich ist, und weisen objektivierbare Defizite in kognitiven Leistungstests auf.
Insgesamt steigt die Prävalenz der Depression im Alter nicht an, es ist jedoch eine deutliche Zunahme der leichteren Formen, insbesondere der subklinischen affektiven Beeinträchtigungen (subklinische Depression) festzustellen. So leidet die Mehrzahl mit 15 % unter depressiven Symptomen, die nicht die Kriterien einer Diagnosekategorie erfüllen (Beblo, Schrader & Brand, 2005). Die Prävalenzraten von Depressionen in einer geriatrischen Population liegen für die Major Depression (schwere depressive Episode) etwa bei 1,8 % (Weyerer & Bickel, 2007). Etwa 2 % der älteren Menschen leiden an einer Dysthymie und 4 % an einer Anpassungsstörung mit depressiven Symptomen. Höhere Prävalenzen von 15 bis 20 % für die Major Depression (schwere depressive Episode) sind in Altenpflegeheimen vorzufinden; werden in diesen alle dysphorischen Zustände mit einbezogen, erhöht sich die Prävalenz auf 40 bis 50 % (Ernst & Angst, 1995).
Wichtig ist zu beachten, dass die Suizidrate der über 65-Jährigen höher ist als im jüngeren Erwachsenenalter, insbesondere bei den über 85-Jährigen wurden die höchsten Suizidraten festgestellt (Stoppe, 2008). Dieser Befund ist weltweit vorzufinden, wobei vor allem die über 75-jährigen Männer betroffen sind (Geschlechterverhältnis 4:1; http://www.who.int). Die erhöhten Suizidraten können u. a. mit der höheren Rate an vollzogenen Suiziden im Verhältnis zu den Suizidversuchen erklärt werden (Conwell, 2001). Ein besonderes Risiko haben ältere Menschen ohne Partner, nach dem Versterben des Lebenspartners und ältere Menschen mit einer Depression. So lag bei etwa 90 % der älteren Menschen, die einen Suizid verübten, eine diagnostizierte Depression vor (Conwell, 2001).
Mehr als drei Viertel der Älteren, die einen Suizid verübt hatten, suchten innerhalb der letzten vier Wochen vor dem vollzogenen Suizid ihren Hausarzt wegen medizinischer oder somatischer Beschwerden auf (Conwell, 2001). Etwa 39 % taten dies sogar eine Woche vor dem Suizid. Daher sollten ältere Menschen, die sich in Behandlung begeben, nach Suizidgedanken oder -absichten befragt werden.
Neben demenziellen Erkrankungen treten auch bei anderen chronisch körperlichen Erkrankungen im Alter komorbid depressive Störungen auf. Insbesondere nach einem Schlaganfall, einer der häufigsten Erkrankungen in Deutschland (jährlich 250 000), sind bei über 30 % der Patienten Depressionen festzustellen (Hackett & Anderson, 2005). Etwa ein Drittel aller Patienten ist durch Langzeitfolgen wie Sensibilitätsstörungen, Lähmungen, Sprachstörungen, kognitive Störungen und psychische Störungen beeinträchtigt (Brainin, Dachenhausen & Steiner, 2003). Die Poststroke Depression (PSD) stellt hierbei die häufigste Langzeitkomplikation dar. Liegt eine PSD vor, verlängert sich die Verweildauer im Krankenhaus, und es besteht eine geringere Verbesserung der funktionellen Beeinträchtigung sowie eine höhere Mortalität. Meist bleiben Depressionen nach einem Schlaganfall unentdeckt, und psychotherapeutische Interventionen in der Rehabilitation von Schlaganfallpatienten stellen bisher noch eine Ausnahme dar (Young, Murray & Forster, 2003).
Ein hoher Anteil der älteren Menschen leidet an chronischen Schmerzen. So berichten Gunzelmann, Schumacher und Brähler (2002b), dass bei den über 60-Jährigen 23 % der Befragten an starken Kreuzschmerzen, 23 % an starken Gliederschmerzen und 18 % an starken Nackenschmerzen litten. Bei den über 76-Jährigen waren mehr als 90 % von Gelenk-, Glieder- oder Rückenschmerzen betroffen. Werden nur erhebliche oder starke Schmerzen berücksichtigt, so liegt der Anteil der Betroffenen bei etwa einem Drittel der über 76-Jährigen. Bei 44 % der über 65-Jährigen wurden Spannungskopfschmerzen und bei 11 % wurde Migräne festgestellt.
Unbehandelte chronische Schmerzen in dieser Altersgruppe können zu Depressivität, einer beeinträchtigten Lebensqualität, Schlafstörungen, sozialem Rückzug, reduzierter körperlicher Leistungsfähigkeit, einer verringerten Muskelstärke und Beeinträchtigungen in den Alltagsaktivitäten führen. Das Ausmaß an Schmerzen und körperlichen Beeinträchtigungen bestimmt somit die Teilhabe alter Menschen am sozialen Leben und an deren Fähigkeit zur selbstständigen Lebensführung.
Obwohl keine grundlegenden Unterschiede zwischen den Altersgruppen hinsichtlich des Schmerzerlebens und der Effektivität psychologischer Schmerztherapie gefunden wurden, werden chronische Schmerzen im Alter selten adäquat diagnostiziert und behandelt (Wilz, Schumacher & Brähler, 1995). Eine adäquate Behandlung chronischer Schmerzen ist jedoch auch vor dem Hintergrund bedeutsam, dass diese meist mit depressiven Symptomen assoziiert sind und ein Zusammenhang zwischen kognitiver Beeinträchtigung, Depressivität und chronischen Schmerzen besteht (Brown, Glass & Park, 2002).
Depressionen gehören zu den im Alter häufig anzutreffenden psychischen Störungen, die jedoch meist unerkannt und unbehandelt bleiben. Auch wenn die Erkrankung erkannt wird, erhalten nur etwa die Hälfte der Betroffenen eine angemessene Behandlung. Diese wird jedoch meist nicht langfristig genug und in ausreichender Frequenz angeboten (Beblo, Schrader & Brand, 2005). Zusammenfassend wurden in diesem Kapitel die Diagnosekriterien und die Symptomatik depressiver Störungen und deren Besonderheiten im Alter erläutert. Zudem wurden die Prävalenzen von Depressionen im Alter und differenzialdiagnostische Hinweise, wie die Abgrenzung zur Trauer oder zu Demenzerkrankungen, thematisiert.
Fragen zur Selbstüberprüfung (Kapitel 2.2)
Beblo, T., Schrader, S. & Brand, C. (2005). Diagnostik depressiver Störungen im Alter. Zeitschrift für Gerontopsychologie & -psychiatrie, 18 (4), 177–187.
Hautzinger, M. (2000). Depressionen im Alter. Weinheim: Beltz.
Maercker, A. (2002). Alterspsychotherapie und klinische Gerontopsychologie. Berlin: Springer.
Der Eintritt in den Ruhestand, der Verlust von nahen Angehörigen, eine möglicherweise notwendige Pflegebedürftigkeit, der Verlust von Autonomie sowie die Auseinandersetzung mit körperlichen Erkrankungen oder dem Thema Tod und Sterben können herausfordernde und bedrohliche Veränderungen des Alterns darstellen und Ängste auslösen. Somit können diesbezügliche Ängste und Sorgen als normale Reaktion auf altersentsprechende Veränderungen betrachtet werden, welche von den klinischen Angststörungen im Alter abzugrenzen sind.
Ängste im Alter werden häufig nicht als klinische Symptomatik erkannt. Die Angst wird mit Erkrankungen, Behinderungen oder sozialer Isolation in Verbindung gebracht und als normale Reaktion auf diese Belastungen im Alter betrachtet. So kann beispielsweise aufgrund einer als alterstypisch interpretierten zunehmenden Immobilität und einem damit verbundenen sozialen Rückzug eine agoraphobische Symptomatik unerkannt bleiben.
Weiterhin sprechen ältere Menschen seltener über Ängste als Menschen jüngeren Alters, und eine diagnostische Einordnung wird erschwert durch die Tendenz älterer Menschen, emotionale Probleme körperlich auszudrücken oder zu erleben (Flint, 1994). Häufig wird auch eher eine Art »besorgte Unruhe« beschrieben, die als Angst bewertet werden könnte, allerdings von den Betroffenen nicht als solche eingeordnet wird. Zudem kann die bei älteren Patienten häufig vorzufindende Polymedikation zu medikamenteninduzierten Ängsten führen.
Die häufig anzutreffende Komorbidität mit körperlichen Erkrankungen erschwert die Einschätzung körperlicher Begleitsymptome von Angst bei älteren Patienten. So besteht eine Komorbidität insbesondere mit Nikotinabhängigkeit und somatischen Erkrankungen wie Herzerkrankungen, Inkontinenz, Lungenerkrankungen, Arteriosklerose und Schlaganfall. Weiterhin wurde festgestellt, dass Angst im Alter mit einer erhöhten Mortalität und einem erhöhten Risiko für kardiovaskuläre Erkrankungen bei älteren Männern assoziiert ist. Der Zeitverlauf der Symptome sowie Faktoren, die die Symptomatik beeinflussen, können Hinweise für die diagnostische Einordnung von körperlichen Angstsymptomen sein. Häufig entwickeln ältere Menschen nach Herzinfarkten und Herzoperationen auch halluzinatorische oder wahnhafte Symptome, die in der Regel keinen Hinweis auf ein hirnorganisches Syndrom darstellen, sondern eher als eine Ausdrucksform von Angst aufgrund der als lebensbedrohlich erlebten Erkrankung bzw. Operation betrachtet werden können.
Die generalisierte Angststörung ist durch anhaltende Sorgen und Ängste gekennzeichnet, die mindestens seit sechs Monaten an den meisten Tagen bestehen. Die Sorgen und Ängste betreffen Probleme des alltäglichen Lebens in verschiedenen Bereichen wie Finanzen, Gesundheit, Familie oder Beruf. Die Betroffenen können die Sorgen nicht kontrollieren und leiden an mindestens drei der folgenden Symptome: u. a. Schlafstörungen, Unruhe, Irritierbarkeit oder Konzentrationsschwierigkeiten (siehe Tabelle 2.6). Diese Symptome können durch eine andere Störung nicht besser erklärt werden und verursachen einen deutlichen Leidensdruck oder Beeinträchtigungen.
Tab. 2.6: Diagnosekriterien der Generalisierten Angststörung (ICD-10)
Zentrale Merkmale |
|
Symptome |
(mindestens vier von sechs, davon mindestens ein vegetatives Symptom)
|
Mindestdauer |
sechs Monate, vorherrschend |
Ausschlusskriterien |
|
Die beschriebene Symptomatik scheint sich zwischen älteren und jüngeren Patienten nicht deutlich zu unterscheiden (Beck, Stanley & Zebb, 1996), dennoch können einige Spezifika für die GAS im Alter benannt werden. Generell ist im Alter eine Zunahme an Sorgen festzustellen, die um die eigene Gesundheit, Erkrankungen, die finanzielle Situation und um den Tod kreisen, so dass eine sorgfältige Abgrenzung normaler Sorgen im Alter von den pathologischen Sorgen im Kontext einer GAS erfolgen muss. Die Schwere und Häufigkeit von Schlafstörungen ist deutlich stärker ausgeprägt als bei gesunden Älteren. Weiterhin erleben ältere Menschen die emotionalen Zustände von Unruhe oder Besorgnis weniger stark und weniger häufig als jüngere GAS-Patienten. Möglicherweise hängt diese verminderte emotionale Intensität der Symptomatik mit altersbezogenen physiologischen Veränderungen oder einer Abnahme der neurochemischen Aktivität zusammen (de Beurs et al., 1999). Nach Borkovec und Matthews (1988) erleben Ältere Angst und Sorgen weniger häufig. Die Autoren führen dies auf lebenslange Habituationsprozesse, umfassendere Copingstrategien oder geringere Ängste bezüglich eigener Zukunftsperspektiven zurück. Gross et al. (1997) ergänzen diese Annahmen durch die Überlegung, dass ältere Menschen über mehr Übung bezüglich der emotionalen Regulation verfügen und dies mit einem geringeren emotionalen Ausdruck zusammenhängen könnte. Diese Annahmen stehen jedoch in Widerspruch zu den Ausführungen von Hunt, Wisocki und Yanko (2003). So sorgen sich Ältere weniger als Jüngere, versuchen jedoch in geringerem Ausmaß die Sorgen zu kontrollieren und verfügen über weniger Strategien der Sorgenkontrolle und erfolgreichen Bewältigung (Hunt et al., 2003). Weiterhin wird in einigen Studien berichtet, dass ältere Menschen sich zunehmend Sorgen um ihre eigene Gesundheit, Verletzungen und Tod machen sowie sich stärker um ihre Angehörigen und politische Krisen sorgen (Hunt et al., 2003). Sorgen bezüglich des Berufs, familiärer und finanzieller Fragen sind eher bei jüngeren Personen vorzufinden. In der Gruppe der Älteren wurde festgestellt, dass die über 75-Jährigen weniger Sorgen angaben als die Gruppe der jüngeren (55 bis 64) oder mittleren (65 bis 74) Älteren. Zusammenfassend können die altersbezogenen Spezifika dazu führen, dass eine GAS im Alt er schwerer zu erkennen und zu diagnostizieren ist. Insbesondere die Abgrenzung einer GAS von den im Alter häufig vorkommenden subklinischen Angstsymptomen ist besonders schwierig vorzunehmen.
Kasuistik 2.3: Generalisierte Angststörung im Alter
Der 70-jährige Herr G. ist verheiratet und arbeitet noch stundenweise in der von ihm aufgebauten und in der Zwischenzeit vom Sohn übernommenen Firma. Er berichtet, schon immer ein sorgenvoller Mensch gewesen zu sein, ohne dass dies jedoch zu nennenswerten Beeinträchtigungen im Berufs- oder Familienleben geführt habe. Seit ungefähr neun Monaten jedoch würde er unter einem quälenden Gefühl innerer Anspannung und Unruhe leiden. Seine ihn begleitende Ehefrau beschreibt, dass ihr unverständlich sei, weshalb sich ihr Mann über Routineabläufe, die immer gut geklappt hätten, übermäßig sorgen würde. Sie seien früher an den Wochenenden gern gemeinsam verreist, jetzt sei dies jedoch trotz körperlich guter Verfassung und mehr Freizeit kaum noch möglich, da sich ihr Mann tagelang vorher Sorgen machen würde, jemand könne auf der Reise krank werden oder sich verletzen, er könne die Fahrtstrecke falsch herausgesucht haben oder etwas könne mit der Hotelbuchung schiefgehen. Herr G. berichtet, besonders seiner Arbeit nur noch unter enormer Angst und Anspannung nachgehen zu können. Er führe das auf sein Alter zurück. Er zermartere sich den Kopf um den Fortbestand der Firma, wenn er sich aus Altersgründen noch mehr aus der Arbeit zurückziehen müsse als bisher. Der Sohn könne dann überlastet sein oder Fehler machen. Außerdem mache er sich Sorgen, ob seine Rente zukünftig ausreichen werde und ob seine Frau und seine beiden Kinder genügend abgesichert seien, falls ihm etwas zustoßen würde. Er leide unter Verdauungsbeschwerden, häufiger Übelkeit und Schlafstörungen. Nachts würde er häufig wach liegen und an die Zimmerdecke starren und über die Zukunft grübeln, besonders darüber, wie seine Kinder wohl ohne ihn klar kommen würden. Er sei immer gern mit seinen beiden Enkelkindern zusammen gewesen, wolle mit dem Kleinsten jedoch nicht mehr allein sein, weil er Angst habe, er könnte mit dem Kleinen auf dem Arm hinstürzen oder ihn fallen lassen. Körperlich sei er ständig stark angespannt und sehr leicht ermüdbar. Seine Ehefrau beklagt neben der übermäßigen Besorgtheit ihres Mannes vor allem auch seine ständige Reizbarkeit. Er würde sogar häufig seinen Sohn anschreien. So etwas kenne sie von ihm von früher nicht. Herr G. berichtet abschließend, er fühle sich häufig »wie vor einem Nervenzusammenbruch«, Wertlosigkeitsgefühle oder Lebensüberdrussgedanken habe er jedoch keine.
Angststörungen und Angstsymptome sind für ältere Menschen mit spezifischen negativen Konsequenzen verbunden. So können diese zu einer Zunahme an körperlicher Beeinträchtigung und Inaktivität führen (Abnahme der ATL- und IATL-Fähigkeiten) und wie auch bei jüngeren Angstpatienten zu einer Abnahme des Wohlbefindens und der Lebensqualität (Brenes et al., 2005).
Bisher liegen nur wenige Studien zu Prävalenz, Symptomatik, Verlauf und Behandlung von Angststörungen im Alter vor. Weiterhin variieren die geschätzten Prävalenzraten für Angststörungen im Alter beträchtlich. Als Erklärung hierfür können die Heterogenität der älteren Population (Altersspanne von 60- bis 100-jährig) sowie die Anwendung unterschiedlicher Messverfahren und Kriterien zur Diagnosestellung herangezogen werden. Nach Kessler, Berglund, Demler, Jin und Walters (2005) kann von einer Prävalenzrate von etwa 10 % für Angststörungen im Alter ausgegangen werden. Bei älteren Personen mit körperlichen Erkrankungen wurden jedoch deutlich höhere Prävalenzraten festgestellt. Auch die Prävalenz von klinisch relevanten Angstsymptomen, die jedoch nicht die Kriterien einer spezifischen Angststörung erfüllen, ist mit etwa 20 % deutlich höher. Im Einzelnen berichten Beekman et al. (1998) von einer Prävalenzrate für die Panikstörung von 0,04 bis 3 %, für die generalisierte Angststörung (GAS) von 1,0 bis 3,7 % und für phobische Störungen von 0,6 bis 10 %. Diese Zahlen divergieren jedoch je nach Studie beträchtlich. So berichtet Flint (1994) für die GAS bei Älteren Prävalenzraten von 0,71 bis 7,10 %.
Bei etwa 38 bis 46 % der älteren Menschen mit einer Depression liegt komorbid eine Angststörung vor (Beekman et al., 2000), und etwa 15 bis 30 % der älteren Angstpatienten weisen die zusätzliche Diagnose einer Depression auf. Mulsant et al. (1996) konnten feststellen, dass bei älteren depressiven hospitalisierten Patienten über die Hälfte ängstliche Symptome aufwiesen. Die Diagnose »Angst und Depression« gemischt wird somit häufiger bei älteren als bei jüngeren Erwachsenen gestellt (Flint, 1994). Die Patienten beschreiben sich eher als ängstlich oder nervös und sprechen in der Regel nicht von einer depressiven Verstimmung. Weiterhin haben depressive Patienten mit einer komorbiden Angststörung häufiger stärkere somatische Beschwerden. Treten Depression und Angst gemeinsam auf, liegen in der Regel ein stärkerer Schweregrad der depressiven Symptomatik und eine höhere Suizidalität und Suizidrate vor. Meist geht der Entwicklung einer Depression eine generalisierte Angststörung voraus (Lenze et al., 2005). In einer Studie mit Altenheimbewohnern war die Verbesserung der GAS-Symptomatik direkt mit der Reduktion der depressiven Symptomatik assoziiert. Eine starke GAS-Symptomatik hat zudem einen negativen Einfluss auf die Behandlung der Depressivität und kann das Suizidrisiko erhöhen sowie die Beeinträchtigungen in den Alltagsfähigkeiten verstärken. Insgesamt ist aufgrund der Ähnlichkeiten in der Symptomatik bei Älteren eine Abgrenzung zwischen einer Depression und GAS besonders schwierig. Nach Beblo et al. (2005) spricht eine allgemeine Ängstlichkeit, die sich nicht auf bestimmte Umgebungsfaktoren beschränkt, für eine depressive Störung. Tritt die Ängstlichkeit jedoch auch unabhängig von den depressiven Symptomen auf, sollte nach DSM-IV zusätzlich eine generalisierte Angststörung diagnostiziert werden.
Generell ist die Prognose beim gemeinsamen Auftreten von depressiven und Angstsymptomen ungünstig hinsichtlich des Behandlungserfolgs, höherer Therapieabbruchraten, des Ansprechens auf Antidepressiva (verzögertes Ansprechen, vermindertes Ansprechen) sowie der Rückfallrate für eine erneute depressive Episode (Lenze et al., 2005). Bei remittierten depressiven Patienten ist das Rückfallrisiko höher, wenn weiterhin persistierende Angstsymptome bestehen, so dass die Behandlung fortgeführt und die antidepressive Medikation fortgesetzt werden sollte. Zusammenfassend kann eine effektive Behandlung der Angstsymptomatik bei Älteren als Prävention von depressiven Störungen im Alter betrachtet werden.
Angstsymptome gehen der Manifestation einer Demenzerkrankung häufig voraus. Bereits im Vorfeld einer demenziellen Erkrankung treten leichte kognitive Beeinträchtigungen auf, die im Alltag zu Schwierigkeiten und Unsicherheiten führen können. Die Wahrnehmung dieser negativen Veränderungen, deren Ursache die Betroffenen in der Regel nicht einordnen können sowie auch die sich entwickelnde Befürchtung, an einer Demenz erkrankt zu sein, kann die Entstehung von Angstsymptomen erklären. Auch bei älteren Angstpatienten mit einer komorbiden Depression wurden im Verlauf zunehmende Gedächtnisbeeinträchtigungen festgestellt (DeLuca et al., 2005).
Die Entwicklung kognitiver Beeinträchtigungen bei ängstlichen Älteren könnte mit einem negativen Effekt der Angst auf die kognitiven Funktionen zusammenhängen (Hogan, 2003). Dadurch könnten die kognitiven Reserven langfristig reduziert werden. Weiterhin können Benzodiazepine, die ängstlich depressiven älteren Patienten verschrieben werden, zu Beeinträchtigungen der kognitiven Fähigkeiten (Konzentration, Aufmerksamkeit, Kurzzeitgedächtnis) führen.
In diesem Kapitel wurde ein Überblick zu Angststörungen im Alter gegeben und alterspezifische Aspekte wie die Komorbidität mit Depressionen und kognitiven Beeinträchtigungen berücksichtigt. Insgesamt ist die Befundlage zu den Prävalenzraten und zu den Besonderheiten hinsichtlich der Symptomatik noch nicht ausreichend. Daher wurde nur die generalisierte Angststörung näher beschrieben, da zu den übrigen Angststörungen bisher kaum altersspezifische Befunde vorliegen.
Fragen zur Selbstüberprüfung (Kapitel 2.3)
Flint, A. J. (1994). Epidemiology and comorbidity of anxiety disorders in the elderly. American Journal of Psychiatry, 151, 640–649.
Maercker, A. (2002). Alterspsychotherapie und klinische Gerontopsychologie. Berlin: Springer.