Carlene Thompson
Du wirst die Nächste sein
Kriminalroman
Aus dem Amerikanischen von Christine Strüh
FISCHER E-Books
Carlene Thompson wurde 1952 in Parkersburg, West Virginia, geboren. Sie unterrichtete englische Literatur an der Universität von Rio Grande in Ohio. Im Fischer Taschenbuch Verlag sind sämtliche Romane von ihr lieferbar. Carlene Thompson lebt heute als freie Schriftstellerin in West Virginia.
Weitere Informationen, auch zu E-Book-Ausgaben, finden Sie bei www.fischerverlage.de
Covergestaltung: bürosüd°, München
Coverabbildung: Strandperle
Erschienen bei FISCHER E-Books
Die amerikanische Orginalausgabe erschien 2007 unter dem Titel ›Last Seen Alive‹ im Verlag St. Martin's Press, New York, N.Y.
© 2007 by Carlene Thompson
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2015
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-569007-9
Für meine Hunde- und Katzenfamilie, die so nett ist, in meinen Büchern mitzuspielen.
Ich danke Pamela Ahearn, Jennifer Weis und The Mason County Emergency Services.
Ein ganz besonderer Dank geht an Beverly Watterson.
Langsam schob die sechzehnjährige Chyna Greer ihr Schlafzimmerfenster hoch. Warme Juliluft strömte herein, und Chynas beste Freundin Zoey Simms kreischte: »Ich kann gar nicht glauben, dass wir das wirklich tun!«
»Ich finde, wir sollten es lieber lassen«, meinte Chyna. »Wenn ich erwischt werde, wie ich mich mitten in der Nacht an den See schleiche ...«
Zoey grinste. »Dir wird schon nichts passieren.«
»Mom und Dad sind gar nicht so entspannt, wie du immer denkst, Zoey.«
»Im Vergleich zu meinen Eltern schon. Ich kann mich nie richtig amüsieren, bloß in den zwei Wochen Sommerferien, die ich bei dir sein darf.«
Chyna verdrehte die Augen. »Du wohnst in Washington D. C., aber die Ferien hier in Black Willow, West Virginia, hier diesem verschlafenen Kaff, sind der Höhepunkt des Jahres für dich?«
»Na, es macht deshalb solchen Spaß, weil wir zusammen sind. Übermorgen muss ich wieder nach Hause, also sei jetzt bitte kein Spielverderber, Chyna.«
Chyna blickte in Zoeys große samtbraune Augen und seufzte. Obwohl Chyna nur ein paar Monate älter war als Zoey, kam ihr der Unterschied oft wesentlich größer vor, mindestens ein paar Jahre. Manchmal bedauerte sie es, dass sie nicht Zoeys übersprudelndes Temperament besaß, und dann versuchte sie, weniger »vernünftig« zu sein. Aber der Wunsch, anders zu sein, veränderte ihre Persönlichkeit natürlich nicht.
Was den nächtlichen Ausflug zum Lake Manicora anging, hatte sie überhaupt kein gutes Gefühl, andererseits ging ihr das häufig so. Ihr großer Bruder Ned erzählte ihr dauernd, sie sollte ein bisschen lockerer sein und nicht so viel nachdenken. Doch so sehr sie Ned liebte, hatte sie keine Ahnung, wie man aufhören konnte zu denken – wie er es anscheinend tat, wenn er tagelang mit einem völlig ausdruckslosen, geistesabwesenden Gesicht herumlief.
Chyna strich sich ihre langen dunkelbraunen Haare hinter die Ohren und zögerte die Entscheidung gezielt hinaus. »Mein Zimmer ist im ersten Stock, Zoey. Wenn eine von uns abstürzt und sich ein Bein bricht – wie sollen wir das meinen Eltern erklären?«
»Ach, jetzt entspann dich doch mal«, schnaubte Zoey. »Manchmal hörst du dich echt an, als wärst du schon dreißig. Wenn wir am Rosenspalier runterklettern, ist das nicht gerade lebensgefährlich. Himmel nochmal!«
Allmählich wurde Zoey ärgerlich. Das kam äußerst selten vor, aber vor acht Tagen hatte sie sich unsterblich verliebt, und seither kochten ihre Gefühle gelegentlich unvermittelt hoch. Sie wollte Chyna auch nicht verraten, wie ihr Angebeteter hieß. Vermutlich entweder, weil sie ahnte, dass Chyna den Typen nicht akzeptieren würde, oder weil sie dachte, durch die ganze Geheimniskrämerei würde die Romanze noch aufregender. Was auch immer der wahre Grund sein mochte, jedenfalls bestand Zoey eisern darauf, ihren anonymen Romeo heute Nacht unten am See zu treffen. »Das ist ein romantisches Rendezvous, Chyna«, erklärte sie hitzig, »und wenn du nicht mitkommen willst, dann gehe ich eben allein!«
Chyna entging nicht, dass ein Teil von Zoeys Draufgängertum aufgesetzt war, und sie war sich ziemlich sicher, dass ihre Freundin sich fürchtete, allein im Dunkeln zum See hinunterzugehen, ihrem geheimnisvollen Fremden aber versprochen hatte, zu dem Stelldichein zu erscheinen, und dieses Versprechen um jeden Preis halten wollte.
Sie schloss die Augen und atmete tief durch. Unmöglich, sie konnte Zoey nicht im Stich lassen. Schließlich war sie seit einer Ewigkeit ihre beste Freundin. Schon ihre Mütter waren auf dem College beste Freundinnen gewesen, und Zoey war sozusagen Chynas Patenschwester – falls es so etwas gab. Jedenfalls fand Chyna, dass es ihre Pflicht war, sich um Zoey zu kümmern.
»Wir gehen doch nur den Hügel runter und über den Highway«, drängte Zoey, und ihre Stimme bekam den süßen Bettelton, dem man bei so einem hübschen Mädchen nur schwer widerstehen konnte.
»Aber es ist mitten in der Nacht, und auf der anderen Seite des Highways ist Lake Manicora. Der ist riesig.«
»Bei dir klingt das, als wäre er einer von den Great Lakes.«
»Er hat immerhin dreizehn Hektar.«
»Typisch, dass du die genaue Größe weißt«, fauchte Zoey. »Lass mal überlegen ... das sind dann dreizehn Hektar voller Haie, Zitteraale, Oktopusse ...«
»Oktopoden.«
»Verzeihung. Ich hab vergessen, dass du wirklich ein Genie bist.«
»Ich bin kein Genie.«
»Du hast nur einen astronomischen IQ. Na, hab ich mich angemessen ausgedrückt?«
»Du versuchst, mich mit Komplimenten weichzukochen.«
»Aber anscheinend funktioniert es nicht«, entgegnete Zoey finster, während sie eine Strähne ihrer kurzen blonden Haare um den Finger wickelte – eine typische Geste, wenn sie nervös war. Sie sah so frustriert aus, dass die Tränen nicht mehr weit sein konnten. »Schau doch, du wirst bestimmt nicht erwischt. Deine Mom liegt mit Kopfschmerzen im Bett, dein Dad hat noch irgendwas in seinem Arbeitszimmer zu tun und kontrolliert dich sowieso nie, Ned hat Kopfhörer auf und hört in seinem Zimmer Musik. Niemand wird merken, dass wir weg sind. Also, kommst du jetzt mit, oder muss ich alleine gehen?«
Als Chyna zögerte, verkündete Zoey: »Okay, dann gehe ich eben ohne dich. Er hat mir sowieso gesagt, ich soll alleine kommen.«
»Wer ist denn nun dieser Er?«
»Das sag ich dir nicht, aber er ist weder pervers noch irre. Sondern romantisch und wundervoll. Außerdem will er mir nicht an die Wäsche oder so was. Wir reden nur und küssen uns vielleicht mal, weiter nichts. Und ich gehe jetzt!«
»Okay, ich komme mit«, gab Chyna widerwillig nach, weil sie merkte, dass Zoey sich nicht von ihrem Vorhaben abbringen lassen würde. »Das wusstest du doch von Anfang an.«
»Nein, ehrlich nicht.«
Das gehörte zu den vielen Dingen, die Chyna an Zoey schon immer geliebt hatte – ihre Ehrlichkeit. Gut, sie flunkerte ihren übermäßig besorgten Eltern gelegentlich etwas vor, aber daraus konnte Chyna ihr keinen Vorwurf machen, denn das tat sie selbst. Aber zwischen ihr und Zoey gab es keine Lügen. Als sie fünf waren, hatten sie sich einen Blutschwur geschworen, hatten sich mit einer Nadel in den Finger gepiekt, mit Entsetzen zugesehen, wie winzige Blutströpfchen zum Vorschein kamen, die Qualen jedoch tapfer ertragen und die Finger aneinander gerieben. Und ihren Schwur nie gebrochen.
»Na dann mal los«, seufzte Chyna. »Gemeinsam wie immer.«
»Super!« Vor Freude schrie Zoey beinahe, senkte dann aber ihre Stimme und setzte, während sie Chyna fest umarmte, hinzu: »Du bist die beste Freundin der Welt, Chyna.« Dann machte sie sich los. Ihre braunen Augen strahlten. »Also, du zuerst.«
»Warum soll ich denn als Erste runterklettern?«
»Na, weil du dich mit dem Rosenspalier besser auskennst als ich.«
»Ja klar, ich benutze immer das Spalier, wenn ich komme oder gehe«, entgegnete Chyna sarkastisch. »Das ist ja auch viel bequemer.«
»Jetzt geh endlich«, sagte Zoey ungeduldig. »Sonst komm ich noch zu spät.«
Chyna warf ihr einen scharfen Blick zu. »Ich möchte, dass du dich an das heutige Erlebnis erinnerst, wenn du alt und grau bist, Zoey. Und ich erwarte als Gegenleistung einen riesengroßen Gefallen.«
»Okay«, antwortete Zoey ernst. »Wenn wir zusammen im Pflegeheim sind, dann lasse ich dich beim Abendessen immer neben dem süßesten Typen sitzen. Neben dem, der noch alle seine Zähne hat.«
»Wenn wir nach der heutigen Nacht überhaupt noch eine Chance haben, ins Pflegeheim zu kommen.« Später würde Chyna sich mit Schaudern an ihre Worte erinnern.
Doch jetzt schwang sie ihr rechtes Bein über den Fensterrahmen und hielt sich fest, bis sie mit dem Fuß auf einer Sprosse des Spaliers einen guten Halt gefunden hatte. Wenn der neue Gärtner die Kletterrosen ihrer Mutter nicht gerade so kräftig dezimiert hätte, wäre der Abstieg unmöglich gewesen.
Immer noch an den Fensterrahmen geklammert, zog Chyna das linke Bein nach und platzierte den Fuß ein Stück weiter unten in ein Spalierdreieck. Schließlich ließ sie den Fensterrahmen ganz los und griff ins Spalier, das sich erstaunlich stabil anfühlte.
»Beeil dich«, zischte Zoey von oben.
»Darf ich vielleicht wenigstens dafür sorgen, dass ich nicht abstürze?«
Zoey verstummte, und Chyna stieg langsam und bedächtig weiter nach unten, obwohl sie wusste, dass sie Zoey damit wahnsinnig machte. Schließlich ließ sie das Spalier los und ließ sich die letzten dreißig Zentimeter fallen, hinunter auf den lehmigen Boden des leeren Blumenbeets. Gespannt spähte Zoey zu ihr herab. »Jetzt ich?«
»Ja, aber lass dir Zeit und sei vorsichtig.«
Zoey machte weder langsam noch war sie im Geringsten vorsichtig. Prompt fiel sie vom Spalier und segelte mindestens zwei Meter mit wedelnden Armen durch die Luft, ehe sie ebenfalls im Blumenbeet landete.
Chyna stürzte zu ihr. »Hast du dir weh getan?«
Zoey rappelte sich auf und klopfte sich den Schmutz ab. »Nein, nein. Lass uns gehen«, sagte sie und zupfte sich die Jeans und das hellblaue Top zurecht.
Auf Zehenspitzen schlichen sie am Haus entlang, vorbei am Wohnzimmer und am Arbeitszimmer von Chynas Vater, wo noch Licht brannte, rannten dann die Auffahrt hinunter und hinaus auf die Asphaltstraße, die den Hügel hinab zum Highway führte.
Als sie drei Minuten schweigend nebeneinander hergegangen waren, sagte Chyna: »Mir gefällt das nicht. Es ist keine gute Idee ...«
Sofort wirbelte Zoey zu ihr herum: »Dann geh doch zurück zum Haus! Ich kann auf mich selbst aufpassen!«
»Ich bin schon das bekloppte Spalier runtergeklettert, und außerdem lasse ich dich nicht allein im Dunkeln mit einem Typen, den du kaum kennst ...«
»Das ist kein Typ, den ich kaum kenne!«
»Hast du ihn etwa schon bei einem früheren Aufenthalt in Black Willow kennengelernt?«
»Ja, aber diesmal ist es anders. Manchmal funkt es einfach mit jemandem, verstehst du.«
»Nein«, antwortete Chyna. »Das verstehe ich überhaupt nicht.«
»Weil du dauernd bloß an diesen Jetpiloten denkst, an diesen Scott Kendrick. Ständig redest du von dem. Du bist total verliebt in ihn.«
»Überhaupt nicht!«, brauste Chyna auf. »Das ist das Albernste, was ich je gehört habe. Seine Mutter und Mom sind befreundet. Deshalb weiß ich so viel von ihm.«
»Als er heute beim Grillfest aufgetaucht ist und ›Hallo, Chyna‹ gesagt hat, hat dein Gesicht ungefähr fünf verschiedene Farbtöne nacheinander angenommen, und dann bist du fast an deiner Limonade erstickt.«
»Zoey, das ist totaler Blödsinn. Ich hab nie einen Gedanken an Scott verschwendet, und das würde mir auch rein gar nichts bringen, weil ich bloß ein Kleinstadtmädchen bin und er ungefähr ein Dutzend superschicke Freundinnen überall auf der Welt hat und ...«
»Und du schreist hier so laut in der Gegend rum, dass man dich wahrscheinlich noch bei dir zu Hause hört«, brummte Zoey. »Wenn du aufhörst, so darauf rumzureiten, dass das hier so eine blöde Idee ist, dann höre ich auf, dich wegen Scott zu veräppeln.«
So stapften sie weiter die Straße hinunter, eine in gespannter Erwartung, die andere voller Wut. Aber Wut bringt auch nichts, dachte Chyna. Zoey lässt sich sowieso nicht aufhalten, und ich möchte nicht, dass sie sauer auf mich ist, wenn sie übermorgen wegfährt.
Die Nacht war warm und schwül. Gestern Abend beim Grillfest, das die Greers immer am Unabhängigkeitstag veranstalteten, hatte Chyna nicht aufs Wetter geachtet. Es war einfach zu nett gewesen. Während sie sich jetzt langsam wieder zu beruhigen versuchte, atmete sie tief den süßen Duft der Nachtkerzen ein, die unter den Robinien und Sassafrasbäumen auf beiden Seiten der Straße wuchsen. Ein paar Vögel zwitscherten in der Dunkelheit, aber erst in der Morgendämmerung würden sie richtig loslegen. Neben ihr raschelte es im Unterholz, Zoey zuckte heftig zusammen und packte Chyna am Arm. Aber es war nur ein Kaninchen, das über die Straße sauste und blitzschnell wieder verschwand.
Schließlich brach Zoey das Schweigen und fragte: »Wer von uns heiratet zuerst, was meinst du? Ich oder du?«
Nach ihrem Streit gerade eben war Chyna auf so eine ungezwungene Frage nicht vorbereitet. Aber sie versuchte den gleichen lässigen Ton anzuschlagen. »Du. Mich scheinen die Jungs eher nicht zu mögen.«
»Aber klar mögen dich die Jungs!«, widersprach Zoey heftig. »Die haben bloß Angst, weil du so schlau bist.« Chyna warf ihr einen verstohlenen Seitenblick zu. »Du bist groß und schlank, bist nach einem exotischen Land benannt, was absolut cool ist, du hast diese dichten, langen braunen Haare und faszinierende graublaue Augen ...«
»Faszinierend?«
»Ja. Deine Augen sind nicht bloß schön, sondern mysteriös, so, als würdest du alle möglichen Geheimnisse verbergen. Und das stimmt vermutlich auch.« Chyna sah sie wieder an. »Ich meine das nicht negativ«, fügte Zoey schnell hinzu. »Es ist bloß, dass du, seit du klein bist, immer diesen sechsten Sinn hattest, was irgendwie unheimlich ist, vor allem, weil du meistens recht hast.«
Chyna spürte, wie sie rot wurde. Ihr Leben war schon so lange anders, dass sie manchmal vergaß, dass sie nicht der Norm entsprach. Neun Jahre war es her, dass sie mit ihren Eltern und Ned auf ihrer Yacht den Ohio River hinuntergeschippert waren, zusammen mit Nachbarn, die ein fast identisches Boot besaßen. Die Erwachsenen hatten beide Boote nahe ans Ufer gesteuert, den Motor aber laufen lassen, während sie sich mit Zurufen verständigten, wohin sie als Nächstes fahren wollten. Keiner bemerkte, dass die siebenjährige Chyna, die schwitzte und sich langweilte, aus ihrer Rettungsweste schlüpfte und an den Bootsrand ging, um sich besser den Wanderzirkus ansehen zu können, den sie am anderen Ufer entdeckt hatte. Plötzlich fuhren die Nachbarn, die leicht angeheitert waren, vom Ufer weg, prallten gegen die Chyna Sea – das Boot der Greers –, Chyna verlor das Gleichgewicht und stürzte ins Wasser. Nur ihr damals elfjähriger Bruder Ned hörte sie schreien und sprang ihr nach. Doch das Boot zog sie unter sich, und voller Entsetzen sah sie den rasiermesserscharfen Propeller nur wenige Zentimeter vor ihrem Gesicht durchs Wasser kreisen, ehe sie mit dem Kopf gegen den Schiffsrumpf schlug und alles dunkel wurde.
Ned, der für sein Alter ein bemerkenswert guter Schwimmer war, wurde der Held des Tages, als er aus dem Wasser auftauchte, seine bewusstlose Schwester fest im Arm. Chyna war erst mehrere Stunden später wieder aufgewacht. Eine Woche danach hatte sie plötzlich angefangen, Visionen von zukünftigen und vergangenen Ereignissen zu bekommen, über Dinge, die sie unmöglich auf normalem Wege herausgefunden haben konnte. Gelegentlich wusste sie sogar, was andere Menschen dachten, obwohl diese gerade das genaue Gegenteil sagten.
Anfangs waren die Visionen sehr vage gewesen, nur wenig klarer als das »Prickeln«, die Vorahnungen, die sie schon vor dem Unfall hie und da gespürt hatte. Mit zunehmendem Alter wurden die Visionen jedoch stärker und klarer. Als Chyna dreizehn wurde, merkte sie, dass sie anderen Leuten damit Angst machte. Damals hatte sie angefangen, ihre Gabe abzustreiten, und lautstark erklärt, dass sie keine »unheimlichen« Gedanken mehr hatte. Nur ganz selten passierte ihr bei Zoey ein Ausrutscher, denn vor ihr hatte sie nie etwas geheim halten können.
»Zoey, du hast nie mit jemandem über meine Visionen oder die Stimmen gesprochen, oder?«, fragte Chyna. Auf einmal machte sie sich Sorgen, was die Leute von ihr denken mochten.
»Nein! Na ja, vor langer Zeit hab ich es schon erzählt, aber seit du mich darum gebeten hast, nicht mal mehr mit meiner Mom darüber zu reden, hab ich geschwiegen wie ein Grab. Ich fände es total aufregend, wenn ich hellseherisch veranlagt wäre, aber ich weiß ja, dass es dich irgendwie stört.«
»Wenn du wirklich glaubst, dass ich hellsehen kann, warum glaubst du dann nicht an mein schlechtes Gefühl wegen heute Nacht und wolltest trotzdem unbedingt los?«
Zoey schlug die Augen nieder. »Weil du ja nicht immer recht haben musst. Manchmal verwechselst du einfach Vorsicht mit einem schlechten Gefühl.« Zoey eilte weiter. »Aber normalerweise hör ich ja auch auf dich, und ich bin superglücklich, dass du meine beste Freundin bist. Du bist mein Glücksbringer. Deshalb hab ich letztes Jahr auch die vierblättrigen Kleeblätter für uns gekauft.« Zoey legte die Hand auf die feine Goldkette mit dem Anhänger. »Trägst du deines auch?«
Chyna zog ihr Kettchen unter dem Halsausschnitt ihres T-Shirts hervor. »Ich nehm es nie ab.«
»Das bedeutet, ich bin immer in Sicherheit. Ich hab meinen Glücksklee und die coolste Freundin, die je einer gehabt hat.«
Chyna wurde rot, sagte aber nichts, denn sie wollte nicht, dass Zoey wusste, wie sehr sie sich über das Kompliment freute. Sicher hätten viele Leute gesagt, dass Zoey und Chyna äußerlich nicht unterschiedlicher hätten sein können, aber Chyna spürte, dass sie innerlich etwas verband, was stärker war als Blut. Sie hatte Zoey nie von diesen Gefühlen erzählt, aber sie war sicher, dass ihre Freundin das Gleiche empfand. Was würde ich tun, wenn Zoey jemals wegginge?, überlegte Chyna. Was würde ich tun, wenn ich sie nie wiedersehen würde?
Plötzlich stellte sich Zoey auf die Zehenspitzen und rief aufgeregt: »Da ist der See! Direkt vor uns ist der Pavillon.« Dabei deutete sie auf eine phantasievolle Holzkonstruktion, die auf einer winzigen Insel mitten im See stand und über eine schmale Holzbrücke zu erreichen war. »Ich kann ihn sehen, er wartet da drin auf mich! Dauert bestimmt nicht länger als eine halbe Stunde, versprochen.« Chyna machte den Mund auf, aber Zoey schnitt ihr das Wort ab. »Du hast mich die ganze Zeit im Auge, und mir passiert schon nichts. Danke, dass du mitgekommen bist, Chyna. Hasta la vista!«
»Vaya con Dios«, erwiderte Chyna leise, obwohl sie viel lieber geschrien hätte: Bitte geh nicht!
Sie blieb stehen, bis sie sah, wie Zoey über die Brücke ging und den Pavillon betrat. Die wartende Gestalt stand auf, und die beiden umarmten sich. Chyna sah zu, wie sie sich auf der Bank niederließen. Das Mondlicht auf dem Wasser war nicht hell genug, um Zoeys Herzensbrecher zu erkennen, aber Chyna sah, wie sich ihre Gesichter einander näherten. Ah, ein leidenschaftlicher Kuss, dachte sie. Das Gefühl des »Wie sollen wir es ohne einander aushalten, wenn du wegfährst?«, das wahrscheinlich höchstens eine Woche anhalten würde. Du bist eifersüchtig, dachte Chyna. In diesem Sommer hatte sie grade mal zwei Verabredungen mit einem Jungen gehabt. Ganz im Gegensatz zu ihrem Bruder Ned, der für gewöhnlich mindestens drei Freundinnen gleichzeitig hatte. Unweigerlich erfuhren die Mädchen irgendwann voneinander, eine wahre Explosion gebrochener Herzen folgte, ein Kreuzfeuer von Anrufen, was wiederum Chynas Eltern auf die Palme brachte. Ned musste sich eine lautstarke Moralpredigt anhören, woraufhin sich die Wogen wieder glätteten, ehe ein paar Wochen später der nächste Zyklus begann. Trotzdem beneidete Chyna ihren Bruder um seine Popularität.
Chyna gähnte so heftig, dass sie das Gefühl hatte, sich den Kiefer auszurenken. Wenn sie doch vorhin bloß nicht ihre Antihistamintablette genommen hätte. Ohne die Pillen bekam sie im Sommer abends immer eine verstopfte Nase, ihr Hals kratzte, und sie fing an, unkontrollierbar zu niesen. Aber die Antihistamine machten sie schläfrig. Nach dem langen Tag und dem Grillfest war sie ohnehin schon müde gewesen.
Chyna setzte sich auf die Wiese. Nach fünf Minuten schlossen sich ihre Augenlider, und sie verlor den Kampf gegen den Schlaf. Kurz darauf sackte ihr Kopf nach vorn, und sie sank langsam ins kühle Gras, friedlich und wie ohnmächtig.
»Wach auf, Chyna!« Chynas Nase juckte, ihr ganzer Körper tat weh, und Morgentau bedeckte ihren Körper. Als sie die Augen aufschlug, sah sie über sich ihre Mutter stehen und merkte, dass sie immer noch im Gras lag. »Wo ist Zoey?«, wollte Vivian Greer wissen.
Sofort war Chyna hellwach und sprang auf. Im Osten ging gerade durch den Nebel die Sonne auf. Es war Morgen, begriff sie, während sie die lauten, ärgerlichen Fragen ihrer Mutter tunlichst überhörte. Stattdessen begann sie nach Zoey zu rufen. Ihre Stimme klang kläglich, verloren zwischen den Bäumen und dem Unterholz zwischen dem Haus und dem See – hier hatte Zoey sich mit ihrem geheimnisvollen Freund verabredet.
Wie mit einer eiskalten Hand umklammerte die Angst ihr Herz. Zoey war verschwunden. In der Nacht, im Nebel.
Sechs Stunden später, als die Polizei, Ned, ihre Eltern und ein Dutzend freiwilliger Helfer durch den Wald stapften und Ausschau nach dem Mädchen hielten, während die Polizei eine Suche mit Tauchern im See plante, wusste Chyna mit grässlicher Gewissheit, dass sie Zoey nie wiedersehen würde.
Zwölf Jahre später
Chyna Greer stand am Ufer des Lake Manicora. Der Tag Ende Oktober war grau, die Sonne ein fast weißes Schemen, das Ufer von feuchtem Laub bedeckt, denn vor kurzem war ein Sturm über die Gegend hinweggebraust. Chyna zog den Gürtel ihres schwarzen Regenmantels fester. »Lake Manicora«, sagte sie laut. »Manicora – ein Wesen mit Frauenkopf und schuppenbedecktem Körper.« Sie seufzte. »Ich weiß nicht, wer auf diesen Namen für den See verfallen ist, aber anscheinend war der Betreffende an dem Tag nicht in bester Stimmung.«
Michelle, eine knapp dreißig Kilo schwere Husky-Hündin mit etwas gelbem Labrador im Stammbaum, sah aus, als würde sie nachdenklich die Stirn runzeln, als sie zu Chyna aufblickte. Interessiert nahm sie die Information zur Kenntnis und studierte dann wieder aufmerksam das kalte dunkle Wasser.
»Na, genießt du auch den schönen Tag?«
Chyna blickte auf und sah einen großen schwarzhaarigen Mann auf sich zukommen. Jeans, braune Wildlederjacke, zögerndes Lächeln. Außerdem hinkte er etwas und stützte sich auf einen Wanderstock. Chynas Herz schlug schneller, als sie ihn erkannte, genau wie damals, als sie sechzehn war. »Hey, Chyna, ich bin’s ...«
»Scott Kendrick«, ergänzte Chyna rasch – zu rasch, dachte sie sofort.
»Na ja, dann bin ich offenbar doch nicht so stark gealtert, dass du mich nicht mehr erkennst«, lächelte er und musterte dann den Hund. »Und wer ist das hier?«
»Michelle. Ich hab sie letztes Jahr aus dem Tierheim geholt.«
Langsam näherte Scott sich der Hündin, bückte sich etwas, um sie an seiner Hand schnuppern zu lassen, stöhnte aber leise, als er das rechte Bein anbeugte. Sofort fielen Chyna die noch nicht ganz abgeheilten Kratzer an seiner Hand und seinem Handgelenk auf. Michelle schnüffelte und leckte dann freundlich die dargebotene Hand. Scott lächelte, dass seine gleichmäßigen weißen Zähne in dem leicht gebräunten Gesicht blitzten. Ein nettes Lächeln, aber es hatte nicht mehr ganz die verwegene Qualität, an die Chyna sich noch aus früheren Zeiten erinnern konnte.
»Ein wunderschöner Hund«, sagte er.
»Wenn Michelle könnte, würde sie sich bestimmt für das Kompliment bedanken. Ich hatte echt Glück, dass ich sie gefunden habe.« Chyna scharrte mit dem Fuß in einem Haufen nasser, schimmeliger Blätter. Offenbar hatte der Herbst die Gegend früh in den Griff bekommen. Andererseits war sie schon seit Jahren nicht mehr im Oktober hier gewesen.
»Vielleicht möchtest du momentan lieber nicht über deine Mutter sprechen, aber ich wollte dir wenigstens kurz sagen, dass ich sie noch letzte Woche gesehen habe«, erklärte Scott leise, während er Michelle etwas geistesabwesend weiterstreichelte, vielleicht in einer Art Übersprungshandlung. »Sie sah gesund und glücklich aus. Sie ist sogar mit einem Kirsch-Käsekuchen vorbeigekommen – unglaublich, dass sie sich immer noch an meinen Lieblingsnachtisch erinnert hat.« Jetzt richtete er sich zu seinen vollen schlaksigen eins neunzig auf und stützte sich wieder auf seinen Wanderstock. Er war schon immer schlank gewesen, aber jetzt sah man ihm an, dass er unlängst im Krankenhaus gewesen war und stark abgenommen hatte. »Sie war eng mit meiner Mom befreundet, aber auch zu mir war sie immer ausgesprochen nett.«
Obwohl sie sich selbst darüber wunderte, hatte Chyna in den gut dreißig Stunden, seit sie erfahren hatte, dass ihre Mutter in ihrem Haus die Treppe hinuntergestürzt war und sich den Hals gebrochen hatte, keine einzige Träne vergossen. Nachdem ihr Bruder Ned sie am Telefon über den tragischen Vorfall informiert hatte, war sie wie betäubt gewesen, hatte einfach ein paar Klamotten zusammengerafft, die verängstigte Michelle in ihre Tragetasche gesteckt und den ersten Flug genommen, der sie von Albuquerque, New Mexico, nach Charleston, West Virginia, brachte. Dort hatte sie dann ein Auto gemietet und war in der Morgendämmerung hier eingetroffen.
»Die Autopsie hat gezeigt, dass Mom mehrere ›stille‹ und dann einen letzten, tödlichen Schlaganfall erlitten hat. Er war wohl auch die Ursache des Sturzes. Dabei wusste ich nicht mal, dass sie Schwierigkeiten mit dem Herzen hatte«, sagte Chyna und sah wieder auf den See hinaus, teils, um die Tatsache zu verbergen, dass sie nicht weinte. »Dabei bin ich Assistenzärztin.«
»Wahrscheinlich wollte deine Mutter nicht, dass du dir Sorgen machst.«
Chyna nickte. »Nicht mal Ned wusste, dass Mom krank war. Ich bin nicht sicher, ob sie überhaupt in Behandlung war, sie ist immer so ungern zum Arzt gegangen. Wahrscheinlich kannst du dir vorstellen, dass mich das manchmal fast verrückt gemacht hat, wo ich doch selbst Medizinerin bin.«
»Ja, das kann ich mir gut vorstellen.« Chyna bemerkte die Schatten und tief eingegrabenen Falten um Scotts dunkle Augen. Er sah aus, als würde er nicht genügend Schlaf bekommen. »Aber ich möchte, dass du weißt, wie leid es mir tut.«
»Danke.« Chyna befürchtete, dass sie förmlich und unaufrichtig klang, aber irgendetwas in ihrem Inneren weigerte sich, ihre Gefühle nach außen dringen zu lassen, nicht einmal in ihrer Stimme. »Was führt dich denn an so einem grauen Tag hierher?«, wechselte sie abrupt das Thema und zwang sich, direkt in Scotts markantes Gesicht zu sehen. Sie wollte sich nicht wie ein hölzernes, zurückgebliebenes Kind benehmen – obwohl sie sich genau so fühlte.
»Eigentlich hatte ich gar nicht vor rauszugehen, aber ich musste unbedingt nachdenken. Und ein bisschen für mich allein sein.«
»Oh.« Chyna zog an Michelles Leine. »Entschuldige, dass wir dich gestört haben. Dann gehen wir jetzt mal lieber ...«
»Ich meinte nicht wirklich allein«, fiel Scott ihr sofort ins Wort. »Ich meine nur ohne Irma Vogel, die bei uns aushilft, seit ich wieder hier bin.«
»Ich erinnere mich noch an sie«, sagte Chyna. »In meiner Teenagerzeit hat sie bei uns gearbeitet. Als Putzfrau. Ein bisschen gekocht hat sie auch. Ich hatte immer das Gefühl, sie mag mich nicht, und als ich ungefähr sechzehn war, ist sie gegangen.« Das war direkt nach Zoeys Verschwinden gewesen, aber Chyna wollte auf dieses deprimierende Detail jetzt nicht zu sprechen kommen.
»Wahrscheinlich war das Problem nicht, dass sie dich nicht mochte. Es war dein Aussehen. Irma ist keine Schönheit und deshalb nie sehr freundlich zu hübschen Mädchen.« Scott lächelte, aber Chyna hielt den Kopf gesenkt, denn das indirekte Kompliment überraschte sie. »Ich glaube, sie ist in ihrem ganzen Erwachsenenleben von einem Job zum nächsten gehüpft. Ich weiß, sie meint es gut, aber sie leert den Aschenbecher jedes Mal, wenn ich auch nur eine einzige Zigarette rauche, verstaut jede Zeitschrift, die ich mal drei Sekunden liegen lasse, umgehend im Zeitungsständer und will mir etwa alle zwanzig Minuten etwas zu essen aufdrängen. Außerdem singt sie bei der Arbeit, was wirklich nicht angenehm ist, denn sie trifft nur selten den richtigen Ton. Und sie weist mich oft und gern darauf hin, dass sie mit vierzig immer noch ledig ist. Und Jungfrau. Ich weiß nie, was ich dazu sagen soll, vor allem zu Letzterem.«
»Mach ihr auf der Stelle einen Heiratsantrag!«
»Ja, vermutlich wäre das die Lösung, aber aus irgendeinem Grund lockt mich die Aussicht nicht. Ich würde Irma gern loswerden, aber ich möchte ihre Gefühle nicht verletzen. Außerdem konnte ich in den letzten Wochen tatsächlich ein bisschen Hilfe gebrauchen – nur bei weitem nicht so viel, wie Irma mir aufdrängt.«
»Es überrascht mich, dass deine Eltern nicht gleich mit dir nach Hause gekommen sind«, sagte Chyna.
»Das wollten sie natürlich, aber sie hatten die Kreuzfahrt nach Hawaii schon seit zwanzig Jahren geplant. Als ich sie wegen ... wegen des Unfalls angerufen habe, waren sie schon drei Tage unterwegs, und da hab ich ihnen klipp und klar gesagt, ich möchte nicht, dass sie heimkommen. Anscheinend hat Dad auch gemerkt, dass es nicht edelmütig oder zuvorkommend gemeint war. Offen gestanden bin ich mit allen möglichen Ermittlern die Details so oft durchgegangen, dass ich ganz froh bin, mal eine Weile nicht darüber sprechen zu müssen, und du weißt ja, dass Mom zum Pitbull mutiert, wenn es um derartige Informationen geht. Ich glaube, ich habe es letztlich Dads Sturheit zu verdanken, dass die beiden die Reise nicht abgebrochen haben. Aber nächste Woche kommen sie heim. Dann muss ich die ganze Geschichte noch einmal durchkauen.«
»Oh.« Wenn es um tröstliche Worte ging, war Chyna schnell mit ihrem Latein am Ende. Womit sollte sie Scott denn auch trösten? Er hatte den Jet geflogen, der vor fünf Wochen in Indiana abgestürzt war, zweiundsiebzig Menschen waren dabei ums Leben gekommen. Sicher, ihre Mutter hatte ihr geschrieben, dass man ihn von jeder Schuld freigesprochen hatte, aber er war in eine tiefe Depression verfallen und dachte wohl daran, seine Karriere als Berufspilot ganz aufzugeben. Nachdem er gut eine Woche im Krankenhaus zugebracht hatte, erholte er sich nun hier, wo er aufgewachsen war, von den Verletzungen, die er bei dem Absturz erlitten hatte. »Es tut mir sehr leid, Scott«, sagte sie leise und wurde rot. Sollte sie das Unglück nun erwähnen oder lieber nicht?
Scott stopfte die linke Hand tief in die Jackentasche und starrte zum trüben Himmel empor. »Ich hatte schon länger eine Reise nach Hause geplant. Nur hatte ich nicht erwartet, dass es unter diesen Umständen sein würde. Und das Haus ist so bedrückend – eher ein Museum als ein Zuhause.«
Er lächelte, aber seine dunklen Augen blieben traurig. Früher war sein Blick so selbstbewusst gewesen, auf eine sehr charmante Weise fast ein wenig unverschämt. Ob sein Gesicht jemals wieder diesen Ausdruck annehmen würde? Der Wind frischte auf und blies ihm ein paar schwarze Haarsträhnen über die Stirn. Chyna hatte Scott fünf Jahre nicht gesehen, aber jetzt entdeckte sie über seinen Augenbrauen ein paar Falten und die lila-gelben Überreste einer üblen Prellung. Auf dem linken Wangenknochen war eine noch nicht ganz verheilte Schnittwunde, und eine weitere zog sich am linken Unterkiefer entlang. Über beiden klebten schmale chirurgische Wundverschlussstreifen, und Chyna vermutete, dass erst vor kurzem die Fäden gezogen worden waren.
»Stört es dich, wenn ich ein Stück mit dir gehe?«, fragte er. »Vielleicht wird uns dann wärmer.«
»Gute Idee. Ich fürchte, hier rumzustehen hat mich ein bisschen in Trance versetzt. Wahrscheinlich hat sich Michelle schon halb zu Tode gelangweilt und möchte endlich die vielen exotischen Gerüche hier erkunden.«
»Exotisch? Das vergammelte Laub am Ufer des Lake Manicora?«
»Für Michelle sind sie exotisch, schließlich ist sie die Wüste gewohnt. Na ja, hauptsächlich den Anblick Wüste«, erklärte Chyna, während sie sich langsam wie zwei Invaliden in Bewegung setzten. »Sie läuft nämlich nicht gern durch den Sand.«
»Gefällt es dir in New Mexico?«
»Meistens schon. Gelegentlich macht mir die Hitze zu schaffen, aber normalerweise bin ich ja sowieso in der Klinik.«
»Oh, stimmt ja. Wie weit bist du inzwischen? Assistenzärztin im ersten Jahr?«
»Im Zweiten.«
»Und du weißt wahrscheinlich mindestens so viel wie andere im dritten Jahre. Oder mehr.« Scott schenkte ihr wieder dieses ausgesprochen sympathische Lächeln, das es aber nicht ganz bis zu seinen dunklen Augen schaffte. »Worauf willst du dich mal spezialisieren?«
»Pädiatrische Onkologie.«
»Krebskranke Kinder? Mein Gott, Chyna, wenn du das jeden Tag aushältst, bist du wesentlich stärker als ich.«
»Ich bin ja noch nicht so weit, Scott. Womöglich merke ich, dass ich auch nicht stark genug bin.«
»Du wirst das schaffen, da bin ich ganz sicher – du schaffst alles, was du dir in deinen klugen Kopf setzt.« Er lächelte wieder. »Und da wir von Kindern sprechen – wie geht es deiner Nichte und deinem Neffen?«
»Kate und Ian? Denen geht es gut. Ned sagt, dass sie schon ganz aufgeregt sind, weil morgen ja Halloween ist. Ihre Mom kann sie anscheinend gut von Grübeleien über den Tod ihrer Großmutter ablenken. Beverly ist die geborene Mutter. Andererseits sind die Kinder mit ihren fünf beziehungsweise drei Jahren eigentlich sowieso noch zu klein, um sich von einem Todesfall in der Familie Halloween verderben zu lassen.«
Michelle begann, aufgeregt um Scotts Füße herumzuschnüffeln, und Chyna schaute sich das Objekt ihrer Neugier genauer an. »Das ist ein echt schöner Wanderstock, den du da bei dir hast, Scott.«
Scott machte ein bekümmertes Gesicht. »Ich hab es einfach nicht mehr ausgehalten, mit der Krücke rumzuhumpeln, und da hab ich mir zu Hause diesen hier geschnappt.« Er hielt den Stock in die Höhe. »Eine von Moms geliebten Antiquitäten.«
Chyna betrachtete den dunklen Hartholzstock mit dem Elfenbeingriff und runzelte die Stirn. »Die Schnitzerei im Elfenbein kann ich nicht erkennen.«
»Das ist Heinrich der Achte.« Scott drehte den Stock um. »Auf der anderen Seite des Griffs ist der Tower von London eingeschnitzt. Vermutlich wäre es Mom lieber, ich würde ihn nicht benutzen, aber momentan lässt sie mir fast alles durchgehen.« Er seufzte. »Es ist trotzdem schön, mal wieder in Black Willow zu sein. Ich hätte zwar nie gedacht, dass ich das jemals sagen würde, aber diesmal ist es für mich wirklich wie ein sicherer Hafen. Ich hab schon Angst, dass ich ewig bleiben möchte.«
Früher hatte auch Chyna sich tief mit Black Willow verbunden gefühlt, vielleicht weil ihre Vorfahren seit Mitte des neunzehnten Jahrhunderts in oder in der Nähe des Orts gewohnt hatten. Doch nachdem Zoey verschwunden war und die Polizei, die Tag und Nacht den Wald durchkämmt und erfolglos den See abgesucht hatte, schließlich abgezogen war, hatte Chyna sich nur noch danach gesehnt, das Städtchen zu verlassen und nie wieder zurückzukommen.
Ein Jahr später war sie aufs College gegangen und musste schockiert feststellen, dass sie Heimweh nach Black Willow hatte. Zwar versuchte sie mit allen Mitteln, es zu unterdrücken und auszumerzen, aber sie schaffte es nicht. Die Anziehungskraft von Black Willow und von Zoeys Verschwinden waren zu stark. Immerhin hatte Chyna ihre Aufenthalte auf die Weihnachtsferien beschränkt. Sie ertrug den Anblick des Sees im Sommer nicht, denn dann sah alles genauso aus wie in jener Nacht, als Zoey hier vom Erdboden verschluckt worden war.
»Du wirst schon wieder wegwollen«, sagte Chyna. »Denn wenn du nicht gehst, kannst du deinen Beruf nicht mehr ausüben.«
»Das ist ja gerade das Problem, Chyna. Ich bin nicht sicher, ob ich Pilot bleiben möchte.«
»Aber das war immer dein Traumberuf!«, platzte Chyna heraus. »Das hast du mir schon erzählt, als ich noch ein Teenager war.«
»Die Zeit und das, was man erlebt, können einen Menschen grundlegend verändern, Chyna«, erwiderte Scott achselzuckend.
Inzwischen hatten sie die Stelle am Ufer erreicht, wo früher eine Holzbrücke zu dem malerischen Pavillon auf der winzigen Insel mitten im See geführt hatte. Jedenfalls hatte Chyna den Pavillon einst malerisch gefunden. Jetzt erschien er ihr nur noch schäbig – das Holz war morsch, eine Schindel baumelte windschief vom Dach herab, und der Wind blies tote Blätter durch alle Öffnungen. Chyna hatte das Gefühl, dass sie jetzt das wahre Gesicht des Pavillons erkannt hatte – trist, verlassen, heruntergekommen. Und da war noch etwas, was über diese kleinen Mängel hinausging, etwas Gefährliches und Bösartiges. Etwas, was nachts, wenn schlimme Dinge geschahen, höhnisch lachte.
Sie starrte zu dem Pavillon hinüber und sagte fast wütend in die Stille hinein: »Das Ding hier sieht echt schauderhaft aus.«
Scott nickte. »Stimmt. Der Sturm am Freitag hat die Sache echt nicht besser gemacht, und jetzt ist auch noch die Holzbrücke kaputt. Irma, die bekanntlich alles mitkriegt, was im Städtchen passiert, hat mir gesagt, dass im Gemeinderat darüber diskutiert wird, ob man den Pavillon repariert oder gleich ganz abreißt und lieber einen neuen baut.«
»Die können doch unmöglich so geizig sein, das alte Ding hier notdürftig wieder zusammenzuflicken!«, meinte Chyna leidenschaftlich. »Die Brücke existiert praktisch nicht mehr, das Dach ist in total schlechtem Zustand – Himmel nochmal, ich kann die Löcher von hier sehen, und die meisten Schindeln sind weg. Garantiert ist der Boden auch nicht mehr sicher.«
»Wenn es nur oberflächlich repariert wird, möchte ich jedenfalls nicht reingehen, und ich denke, den meisten Leuten geht es genauso, vor allem denen, die Kinder haben. Dabei war der Pavillon immer der Knüller der Gegend, die Touristen lieben ihn, und es würde wahrhaftig kein Vermögen kosten, ihn zu erneuern. Ich wette, die Leute von Ridgeway Construction würden das toll machen, und da sie in Black Willow ansässig sind, könnte man sie vielleicht sogar überreden, dass sie nur das Material in Rechnung stellen.« Zum ersten Mal schien Scotts Stimmung sich aufzuhellen. »Ich glaube, ich rede mal mit Gage Ridgeway darüber. Er war ja früher mit deinem Bruder und mir befreundet. Er hat bestimmt ein offenes Ohr. Sein Vater dagegen ...«
Scott unterbrach sich und schaute auf die Uhr. »Oh, ich hab die Zeit ganz aus den Augen verloren. Wenn ich mich nicht sofort auf den Weg mache, komme ich zu spät zu meinem Reha-Termin beim Physiotherapeuten«, verkündete er abrupt, und ein Schatten fiel über sein Gesicht, als überwältigte ihn plötzlich wieder die Erinnerung an das Flugzeugunglück. »Es war toll, dich wiederzusehen, Chyna, sogar unter diesen traurigen Umständen.«
»Soll ich dich irgendwohin mitnehmen?«, platzte Chyna heraus, bevor ihr klar wurde, dass Scott natürlich nicht zu Fuß zum See gekommen sein konnte. Sie wurde knallrot, aber Scott ignorierte ihre dumme Frage einfach.
»Danke, aber ich parke direkt da drüben.« Er deutete auf einen weißen PKW. »Ich hab mir ein altes Auto von Dad geliehen. Wir sehen uns bestimmt bald wieder. Aber bleib nicht zu lange draußen, es ist kalt.« Dann senkte er den Blick. »War nett, dich kennengelernt zu haben, Michelle. Tschüs, ihr beiden.«
Michelle erkannte das Wort »Tschüs« und streckte Scott ihre breite Pfote aus. Lächelnd beugte Scott sich zu ihr herab und schüttelte sie. »Du bist klasse«, sagte er mit fast der gleichen Lebhaftigkeit wie früher. Ein paar Minuten später winkte er Chyna durchs Autofenster zu, während er vom Parkplatz auf die Straße einbog und in Richtung Stadt davonfuhr.
Chyna dachte daran, wie verliebt sie früher in Scott gewesen war, erinnerte sich an ihre Tagträume, dass er eines Tages vor ihrer Tür erscheinen und ihr gestehen würde, dass sie die Liebe seines Lebens sei. Das war nie geschehen, aber in ihren Augen war er immer noch der Gleiche wie mit Anfang zwanzig – nur eben ein bisschen älter und ziemlich desillusioniert. Bestimmt sehe ich auch nicht mehr so naiv in die Welt wie vor zwölf Jahren, dachte sie. Das ist der Zahn der Zeit.
Unglücklicherweise löschte die Zeit aber nicht immer alle schlechten Erinnerungen. Ich wollte, ich könnte diesen See anschauen und müsste nicht sofort an Zoey denken, dachte Chyna. Zoey mit den Sommersprossen auf der Nase, mit ihren blonden Haaren, ihrem lebhaften Wesen – das alles war in jener warmen Sommernacht verschwunden, während Chyna im Gras gelegen und tief und fest geschlafen hatte. Wie tot. Bei dem Gedanken bekam sie noch immer eine Gänsehaut. Ich hab geschlafen wie tot. Und wahrscheinlich ist Zoey währenddessen ermordet worden.
Wenn ich nicht so fest geschlafen hätte, dachte Chyna schuldbewusst, hätte ich Zoey vielleicht retten können. Chyna war überzeugt, dass Zoey die Gefahr erkannt hatte, aber dass es da schon zu spät gewesen war. Vielleicht hatte sie geschrien. Vielleicht hätte Chyna rechtzeitig an der Seite ihrer besten Freundin sein können, die ihr mehr bedeutet hatte als eine Schwester.
Sicher, ihre eigenen und natürlich auch Zoeys Eltern hatten Chyna schwere Vorwürfe gemacht, weil sie so töricht und verantwortungslos gehandelt hatte, aber am schlimmsten waren die Schuldgefühle gewesen, mit denen Chyna sich selbst gnadenlos gepeinigt hatte. Sie hatte Zoey nicht umgebracht, aber sie hätte sich nicht schlechter fühlen können, wenn sie Zoey mit dem Auto überfahren oder von der Klippe gestoßen hätte. Außerdem konnte Chyna es sich nicht verzeihen, dass sie nicht auf ihren Instinkt gehört und Zoey eindringlicher vor der Gefahr gewarnt hatte, die in dieser Nacht auf sie lauerte. Schon vor Zoeys Verschwinden war Chynas Leben von ihrem Instinkt geleitet worden – und dieser Instinkt hatte sich nur äußerst selten geirrt. Aber an jenem Sommerabend hatte sie Zoey nachgegeben, statt auf ihre Intuition zu vertrauen, und dafür hatte Zoey bezahlen müssen. Nicht sie, sondern die arme kleine Zoey.
Wie immer, wenn Chyna eingehendere Gedanken an Zoey zuließ, fühlte sie sich von Kälte und Übelkeit beinahe überwältigt. Ich muss aufhören, mich so in die Erinnerung zu vertiefen. Meine eigene Mutter ist gerade gestorben, schalt sie sich, und ich denke immer nur an Zoey. Ich muss Dinge erledigen, ich muss eine Liste machen, damit das Geschirr, in dem die Speisen angeliefert werden, an die richtige Adresse zurückgeht und entsprechende Dankesbriefe verfasst werden können. Ich hab mich ja noch nicht mal darum gekümmert, was Mom bei der Bestattung anziehen soll. Soll der Sarg offen bleiben oder geschlossen werden? Für solche Entscheidungen hatten Ned und ich bisher noch gar keine Zeit.
Ihr schwirrte der Kopf, und Michelles Leine rutschte ihr aus der Hand. Der Hund rannte zum Ufer des Sees, starrte eine Weile ins Wasser und machte dann zwei zögernde Schritte hinein. Trotz des Labrador-Erbes schwamm Michelle nicht besonders gern. Behutsam machte sie noch einen Schritt, bis ihre Pfoten ganz im Wasser waren. Dann blieb sie stocksteif stehen, und ihre Nackenhaare sträubten sich.
»Was ist, Michelle?«, fragte Chyna, während sie dem Hund nachging, um die Leine wiederzuholen.
Aber Michelle ignorierte sie und starrte weiter auf den See hinaus, regungslos. Nur ihre Schnauze zuckte. Ein toter Fisch? Sonst irgendein totes Tier?
»Michelle?«, wiederholte Chyna und zupfte sanft an der Leine. »Michie, komm her. Sei nicht so störrisch.«
Doch der Hund blieb hartnäckig stehen, mit gespitzten Ohren und gesträubtem Nackenfell. An sich war Michelle eine folgsame Hündin und hing leidenschaftlich an Chyna, aber jetzt hatte man den Eindruck, dass sie die Existenz ihres Frauchens einfach vergessen hatte.
»Michelle?« Chyna kam näher und machte ebenfalls einen Schritt ins Wasser. Ihren schwarzen Lederstiefeln würde die Nässe nicht schaden, sie waren sowieso nicht mehr die neuesten. »Michie, was hast du denn?«
Und dann hörte sie es. Leise, weit weg, verschwommen, ein Singsang. »Star light, star bright ...«
Blitzschnell drehte Chyna sich um, in der sicheren Erwartung, irgendwo in der Nähe ein Kind zu entdecken. Aber da war niemand.
Sie schüttelte den Kopf. Wahrscheinlich bin ich schon so übermüdet, dass ich halluziniere, dachte sie.
Aber da hörte sie die Stimme wieder. Eine vertraute Stimme.
»Chyna? Chyna, ich bin’s, Zoey.«
Hätte Chyna ein Fell gehabt wie Michelle, hätten sich auch ihre Nackenhaare gesträubt, so spürte sie nur ein Prickeln, und die Haut am ganzen Körper zog sich zusammen.
»Chyna, ich hab mich in der Dunkelheit verlaufen. Ich hab mich verirrt und bin ganz allein.«
Hektisch blickte Chyna über den See. Auf der anderen Seite sah sie eine Familie mit zwei Teenagern entlangspazieren, die Eltern in eine angeregte Unterhaltung versunken, die Kinder sichtlich gelangweilt. Ein Stück weiter weg saßen zwei Jungen von vielleicht siebzehn Jahren in einer der Schutzhütten und nippten an Getränkedosen. Auf dem Parkplatz schlenderte ein älterer Mann auf sein Auto zu. Sonst war niemand in der Nähe.
»Chyna?«
»Ich höre dich«, sagte Chyna, denn sie konnte nicht anders, sie musste auf die Stimme antworten, die so klang, als käme sie von Zoey. »Was ist?«
»Du bist die Einzige, die helfen kann.«
Chyna schloss die Augen. Sie war müde. Sie trauerte über den Tod ihrer Mutter. Bestimmt bildete sie sich das alles nur ein. Sie schüttelte den Kopf, als könnte sie dann klarer denken. »Komm, Michelle. Wir müssen zurück«, sagte sie energisch.
»Nein, nein, hör mir zu«, flehte die Stimme vom See, jetzt lauter und deutlicher. »Du musst mich finden, denn es gab noch andere Mädchen wie mich. Wenn du nichts unternimmst, werden es noch mehr. Hilf mir, Chyna. Hilf ihnen.«
»Ich ...« Plötzlich fühlte Chyna sich wie zu Eis erstarrt. Ihre Hände zitterten, sie konnte kaum atmen. Voller Panik packte sie Michelles Leine, wandte sich um und rannte weg vom See. Doch Zoeys Stimme, die Stimme ihrer lange verlorenen Freundin, rief ihr nach.
Chyna knallte die Haustür hinter sich zu, schloss ab und lehnte sich schwer atmend an das lackierte Holz. Auch Michelle hechelte, blickte gespannt zu Chyna empor und kratzte mit der Pfote vorsichtig an ihrem Bein. Der Hund hat genauso viel Angst wie ich, dachte Chyna, kam dann aber zu dem Schluss, dass das nicht sein konnte. So viel Angst wie sie konnte niemand haben.
Mit weichen Knien wankte sie zu einem der Sessel im Wohnzimmer und ließ sich mit einem tiefen Seufzer hineinfallen. Die Sessel waren elegant, aber hart wie Stein – eher etwas fürs Auge als für die Bequemlichkeit. Aber in diesem Fall hatten sie sich zumindest als nützlich erwiesen, denn wenn sie nicht so in der Nähe gestanden hätten, wäre Chyna womöglich auf dem Boden gelandet.
Noch immer hämmerte ihr Herz wie wild. Okay, du musst dich beruhigen, redete sie sich zu. Vor allem für eine Frau, deren Unerschütterlichkeit schon fast sprichwörtlich war, benahm sie sich ziemlich albern. Natürlich war auch Chyna nicht ganz so gleichmütig, wie sie gern vorgab, aber sie war tatsächlich von Natur aus nicht besonders nervös, empfindlich oder schreckhaft. Im Krankenhaus nannten manche Schwestern sie hinter ihrem Rücken »eiserne Lady«. Irgendwie gefiel es ihr, dass man sie für eine starke Frau hielt, deshalb verriet sie lieber nicht, dass sie von ihrem Spitznamen wusste.
Allmählich beruhigte sich ihr Atem, und auch das Gedankenkarussell drehte sich langsamer. Sie schloss die Augen und ließ die Ereignisse der letzten Tage noch einmal vor ihrem inneren Auge vorüberziehen. Am Dienstagabend hatte sie vor der Nachtschicht noch ein Nickerchen gemacht. Nach etwa einer Stunde war sie mit einem Ruck aufgewacht, weil sie geträumt hatte, jemand würde sie durch einen Wald jagen. Der Traum hinterließ dröhnende Kopfschmerzen, gegen die sie in der darauffolgenden Nacht, die sehr anstrengend war, immer wieder Aspirin eingeworfen hatte. Am nächsten Tag hatte sie kaum geschlafen, und die Nachtschicht am Mittwoch war noch schlimmer gewesen als die am Dienstag. Nach Dienstschluss war sie noch keine Stunde zu Hause gewesen, als Ned angerufen und ihr mitgeteilt hatte, dass ihre Mutter – ihre wunderschöne, über alles geliebte Mutter – tot war.