Carlene Thompson
Wenn du jetzt sprichst
Kriminalroman
Aus dem Amerikanischen von Astrid Gravert
FISCHER E-Books
Carlene Thompson wurde 1952 in Parkersburg, West Virginia, geboren. Sie unterrichtete englische Literatur an der Universität von Rio Grande in Ohio. Im Fischer Taschenbuch Verlag sind sämtliche Romane von ihr lieferbar. Carlene Thompson lebt heute als freie Schriftstellerin in West Virginia.
Weitere Informationen, auch zu E-Book-Ausgaben, finden Sie bei www.fischerverlage.de
Covergestaltung: bürosüd°, München
Erschienen bei FISCHER E-Books
Die amerikanische Originalausgabe erschien 2008 unter dem Titel ›If you ever tell‹ bei St. Martin's Press, New York, N.Y.
© 2008 by Carlene Thompson
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2015
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-569008-6
Für April Blankenship und ihren treuen Freund, Promise
Dank an Jennifer Meadows Besonderer Dank an Bridget, Rebekah und Laurah Bush
Acht Jahre zuvor
Teresa Farr wusste nicht, was sie in jener warmen Nacht Ende April aufgeweckt hatte. Sie schlug die Augen auf, und ein sanfter Luftzug vom halbgeöffneten Fenster strich über ihr Gesicht, die leuchtenden Ziffern der Digitaluhr auf ihrem Nachttisch sprangen von zwei Uhr 57 auf zwei Uhr 58. Sie wusste, dass etwas nicht stimmte.
Einige Augenblicke lag sie mit geöffneten Augen ganz still da, um sicher zu sein, dass sie nicht gerade aus einem Albtraum erwacht war. Aber sie war nicht erleichtert. Sie merkte, dass sie vollkommen wach war und gefangen in einer Atmosphäre, die mit greifbarer Spannung aufgeladen war – Spannung und Gefahr.
Sie wollte laut schreien, so wie sie es getan hatte, als sie ein Kind gewesen war, sich in der Nacht gefürchtet hatte und ihre Mutter herbeigestürzt war, um ihr zu versichern, dass alles in Ordnung war. Aber sie war kein Kind mehr. Teresa war siebzehn, ihre Mutter war krank – sie funktionierte nicht einmal mehr, denn die Depressionen, die sie ihr Leben lang gehabt hatte, waren durch eine demütigende Scheidung noch schlimmer geworden. Und Teresas Vater, Hugh, hatte wieder geheiratet, seine frühere Sekretärin Wendy, ein habgieriges Püppchen um die dreißig.
Jeder außer Hugh schien zu wissen, dass Wendy sich nur deswegen von ihrem jungen Ehemann Jason hatte scheiden lassen und einen neunzehn Jahre älteren Mann geheiratet hatte, weil dieser Hauptaktionär und Präsident der Farr Coal Company war. Ein Unternehmen, das mindestens dreißig Millionen Dollar wert war. Teresa und ihr Bruder Kent hassten Wendy. Doch irgendwie hatte diese oberflächliche Frau es geschafft, ein intelligentes, niedliches achtjähriges Kind namens Celeste zu bekommen, das man einfach gernhaben musste.
Da sie das Gefühl hatte, dass etwas nicht stimmte, wollte Teresa aus dem Bett springen, auf den Flur stürzen und das helle Deckenlicht anschalten. Aber sie hatte schon fürchterlichen Ärger mit ihrem Vater gehabt, weil sie so spät gekommen war. Er war wütend auf sie gewesen, hatte wissen wollen, wo sie gewesen war, was sie gemacht hatte und mit wem sie um Gottes willen zusammen gewesen war. Als er bei ihr nur auf eisiges Schweigen gestoßen war, hatte er noch zehn Minuten weitergeschrien und ihr dann befohlen, nach oben auf ihr Zimmer zu gehen. Teresa konnte sich vorstellen, wie wütend er sein würde, wenn sie das ganze Haus wegen ihrer kindischen Angst aufweckte.
Trotzdem konnte sie nicht die Augen schließen und so tun, als ob alles in Ordnung wäre.
Sie schlug die leichte Decke zurück, schwang ihre nackten Füße auf den Boden und stand auf. Sie hatte die Vorhänge nicht zugezogen, und das Mondlicht schien unheimlich ins Zimmer. Sie zögerte, bevor sie die Tür ihres Zimmers öffnete.
Zuerst fiel ihr nichts Merkwürdiges auf. Im Haus war es still. Die kleine Tiffanylampe, die Teresa so gern mochte, leuchtete auf einem Tisch in der Nähe des Badezimmers, ein Wegweiser für die kleine Celeste, deren Zimmer an der Vorderseite des Hauses lag. Hugh und seine Frau Wendy benutzten das große Schlafzimmer genau gegenüber von Teresas Zimmer.
Und tatsächlich, etwas stimmte nicht. Nachts war die Tür von Hughs und Wendys Schlafzimmer immer geschlossen.
Aber jetzt nicht.
Zögernd ging sie zu der Tiffanylampe, die ihre Mutter gekauft und besonders geliebt hatte. Eines ihrer Lieblingsstücke zu betrachten hatte für Teresa etwas Tröstliches. Das Licht schien sanft durch den Glasschirm mit den feinen blauen und roten Blüten. Diese zu berühren war wie einen Glücksbringer zu berühren. Dumm, aber beruhigend.
Während Teresa neben der Lampe stand, sah sie zu Hughs und Wendys halbgeöffneter Schlafzimmertür. Sie konnte dahinter nichts sehen. Sie holte tief Luft und ging entschlossen durch die offene Tür ins Schlafzimmer, wie immer überrascht, einen dicken Teppich unter den Füßen zu spüren.
Teresas Mutter hatte den hochglänzenden Mahagonifußboden geschätzt, den hier und da hübsche Aubusson-Läufer in sanften Farbtönen schmückten. Wendy hatte sich beklagt, dass sich der Fußboden an ihren nackten Füßen kalt anfühlte, und Hugh hatte sofort veranlasst, dass der Raum mit Teppich ausgelegt wurde – in grellem Pink, das Wendy zu kirschroten Vorhängen mit Fransen und Troddeln ausgewählt hatte. Ein Anblick, bei dem jeder zurückschreckte.
Aber heute Nacht störte Teri die grässliche Ausstattung des Raumes am wenigsten. Sie hörte weder Wendys Gemurmel im Schlaf noch das gelegentliche Schnarchen ihres Vaters. Es ist ein großes Zimmer, und ich bin zu weit vom Bett entfernt, um etwas zu hören, sagte sie sich.
Teresa hatte die Deckenbeleuchtung nicht angemacht, um die beiden nicht zu wecken, aber sie trat einige Schritte näher an das Doppelbett heran, von dem sie wusste, dass es genau vor ihr war. Dann blieb sie stehen und horchte wieder.
Kein Laut kam vom Bett. Kein Geräusch von jemandem, der sich im Schlaf bewegte, nicht einmal das tiefe Atemgeräusch von Menschen, die friedlich schlafen. Teresa hörte absolut nichts.
Aber sie hatte etwas gerochen – frisch, stark und kupfern. Kupfern. Sie hatte schon einmal Blut gerochen, und jetzt roch sie es wieder. Es ist kein Blut, du machst dir nur selbst Angst.
Sie nahm ihre ganze Willenskraft zusammen, ging zum Fußende des Bettes an Wendys Seite. Teresa hatte beschlossen, lieber Wendy aufzuwecken als Hugh, der sie doch nur wieder anschreien würde. Also berührte sie mit ihrer linken Hand sanft Wendys Bein unter der Decke. Wendy bewegte sich nicht.
Unten schlug die große Uhr dreimal. Sie gehörte auch Teresas Mutter, und Teresa hatte den ungewöhnlich tiefen Klang der Schläge immer geliebt, aber in jener Nacht klangen sie merkwürdig bedrohlich. Sie hatte tief Luft geholt und sich gezwungen vorwärtszugehen. Dabei trat sie in eine nasse Stelle auf dem Teppich, während ihre Hand über Wendys schlüpfrigen Unterleib strich und dabei fast in einen tiefen Schlitz glitt.
Teresa hatte laut geschrien. Sie hatte die Hand von Wendys Bauch gezogen, sie vor den Mund geschlagen, bemerkt, dass Blut davon tropfte, und wieder geschrien. Dann war sie, ohne nachzudenken, zur Wand gelaufen und hatte nach dem Lichtschalter für die Deckenbeleuchtung getastet. Wendy hatte für ihr Zimmer einen der größten Kronleuchter ausgesucht, den sie finden konnte, Teresa hätte genauso gut ein Flutlicht einschalten können. Das Zimmer wurde hell erleuchtet, und für einen Moment war Teresa geblendet. Sie schloss kurz die Augen, öffnete sie dann und sah das Bett und die Menschen darin, mit dunklem, schimmerndem Rot bespritzt.
Teresa war sich nicht bewusst, dass ihre Stimme die Stille der Nacht durchschnitt. Die blutige Szene erschien ihr merkwürdig entfernt, als sie zur Bettseite ihres Vaters lief und ihn mit gespreizten Gliedmaßen liegend fand, wie ein Insekt, das präpariert werden soll. Der Hals war aufgeschlitzt, aus dem Bauch sickerte Blut. Sein linker Arm schien nach Wendy zu greifen, deren hübsches Gesicht jetzt bis zur Unkenntlichkeit zerstört war, ein Gewirr von Rissen und Furchen. Ihr blondes Haar schlängelte sich in nassen, roten Strähnen über den weißen Satinkissenbezug.
Teresa war zurückgewichen, schluchzend, und hatte Mühe, sich nicht zu übergeben. Dann merkte sie, dass sie noch immer schrie. Sie hörte, wie die Dänische Dogge der Nachbarn wie wild zu bellen und heulen begann. Teresa blickte auf, und durch eines der Badezimmerfenster sah sie Lichter im Nachbarhaus angehen. Ihr Schreien und das Bellen des Hundes hatten die Nachbarn aufgeweckt, dachte sie erleichtert. Sie zwang sich, tief Luft zu holen. Dann kam ihr schlagartig die achtjährige Celeste in den Sinn.
Ohne nachzudenken, schaltete Teresa das Deckenlicht aus, als wenn es jemanden stören würde, und stürzte aus dem Raum, lief den Flur entlang, stieß im Dunkeln gegen einen kleinen antiken Tisch. Sie schrie auf und stolperte seitwärts gegen den kräftigen, aufrechten Körper eines Erwachsenen.
»Nein. Bitte«, brachte Teresa hervor, bevor der Schmerz ihren linken Arm hinunterschoss, der scharfe Schmerz einer Messerklinge. Oh Gott, jetzt muss ich sterben sterben, dachte sie verzweifelt.
Als Teresa nach der klaffenden Wunde in ihrem Arm griff, trat die Person näher an sie heran, und sie nahm einen vertrauten Geruch wahr. Sandelholz. Ihre Mutter benutzte immer ein Parfüm, das Sandelholz enthielt. Sie warf einen kurzen Seitenblick auf die schattenhafte Gestalt neben sich – eine Gestalt, die größer war als sie, die einen glatten Mantel aus Plastik oder Vinyl trug, deren Kopf mit einer großen Kapuze bedeckt war, so dass das Gesicht nicht zu erkennen war. Teresa stand völlig regungslos, wie ein Tier, das auf den unvermeidlichen tödlichen Angriff wartet. Sie hatte aufgehört zu atmen und sah, wie sich eine Hand mit Latexhandschuh unter die Kapuze schob und zwei Finger zu versteckten Lippen hob, die ein sanftes, langgezogenes »Schhhh« ausstießen. Der besänftigende Laut klang unheimlich in Teri nach. Sie beobachtete, wie die Gestalt entschwand wie ein Traumbild – fort, die Treppe hinunter und aus dem Haus.
Die Gestalt war von der Vorderseite des Hauses gekommen – aus Celestes Zimmer.
»Celeste«, brachte Teresa mit dünner Stimme hervor, ihr Hals war wie zugeschnürt. Sie hetzte den Flur hinunter und schrie noch mal: »Celeste!«
Als Teresa das Zimmer des Kindes erreichte, blieb sie abrupt stehen. Sie hyperventilierte, und ihr Herz schlug so heftig, als könnte es ihr die Rippen brechen. Den Schmerz in ihrem aufgeschlitzten Arm nahm sie gar nicht mehr wahr. Ich kann das nicht, dachte sie für einen Moment wie erstarrt, ich kann nicht in dieses Zimmer gehen.
Aber ihr Körper hatte nicht auf ihren Kopf gehört, und sie war auf Zehenspitzen hineingegangen. Im Mondlicht sah sie das unordentliche Bett. Langsam, angsterfüllt war Teresa dem gedämpften Lichtstrahl von Celestes Nachtlicht gefolgt. Die Lampe hatte die Form eines weißen Pferdes, Teresa hatte sie ihr zu Weihnachten geschenkt, und Celeste liebte sie und hatte sie Schneeflocke genannt.
Teresa ging zum Bett. »Celeste«, sagte sie leise. Schweigen. Aber im Schein des Nachlichtes waren keine Blutflecken zu erkennen. Teresa strich über die zerwühlten Decken. Nichts. Das Bett war leer.
Sie sah auf, und neben dem Schein des Nachtlichtes entdeckte sie Celestes Spielzeugkiste. Teresa zitterte unkontrolliert, aber sie zwang sich, direkt zu der Kiste zu gehen, den Deckel zu heben, um Celeste dann wie zu einem Ball zusammengerollt, bewegungslos am Boden der Spielzeugkiste liegen zu sehen. Teresa entdeckte auch die Blutspritzer, die sie zuvor auf dem Bett erwartet hatte. Das Kind hatte versucht, sich zu verstecken – aber es war ihm offensichtlich nicht gelungen.
»Nein«, Teresa stöhnte. Verzweiflung ergriff sie wie eine kalte Welle, als sie den starren Körper des Kindes aus der sargähnlichen Kiste hob. »Celeste«, brachte sie mühsam hervor. »Oh Gott, Süße, bitte sei nicht tot!«
»Bin ich nicht«, antwortete sie mit rauer, ausdrucksloser Stimme. »Ich bin ... nicht ... tot.«
Teresa brach in Tränen der Erleichterung aus, nicht ahnend, dass Celeste in den folgenden acht Jahren nicht mehr sprechen würde.
Acht Jahre später
»Hast du noch Platz für Nachtisch gelassen?«
Die hübsche Kellnerin bei Bennigans lächelte Celeste Warner an. Celeste sah sie ruhig aus großen himmelblauen Augen an, die perfekt geschwungenen Lippen lächelten fast, ihre langen blonden Haare wurden durch ein schmales rosa Samtband aus der glatten Stirn gehalten.
»Ich glaube, wir hatten genug, oder?«, antwortete Jason Warner fröhlich und sah seine sechzehnjährige Tochter an, als wenn er eine Antwort erwartete. Aber so war es nicht. Celeste hatte nicht mehr gesprochen, seitdem ihre Mutter vor acht Jahren ermordet und ihr selber in den Bauch gestochen worden war, als sie im Haus der Farrs gewohnt hatte. Jason sah wieder die Bedienung an, die so tat, als würde sie Celestes Schweigen oder Unbewegtheit nicht bemerken. Sie hatte Jason und seine Tochter schon öfters bedient. »Ich denke, Sie können uns die Rechnung bringen«, sagte er. »Das Essen war übrigens großartig.«
»Danke!« Die Kellnerin klang so erfreut, als hätte sie das Essen selbst gekocht. »Ich bringe die Rechnung gleich, aber lassen Sie sich ruhig Zeit.«
Jason entging der strenge Blick nicht, den der Geschäftsführer der jungen Frau zuwarf. Es war Samstag 12 Uhr 55 und überfüllt bei Bennigans. Jason wusste, dass der Geschäftsführer nicht wollte, dass Angestellte die Kunden aufforderten, sich Zeit zu lassen. Er öffnete schnell den unauffälligen schwarzen Vinylumschlag, warf einen Blick auf die Rechnung, zog einen Zwanziger und einen Zehner heraus und sah dann wieder seine Tochter an. »Ich habe genug dagelassen, nicht nur für das Essen, sondern auch Trinkgeld. Dann muss unsere Bedienung keine Zeit verschwenden und uns Wechselgeld bringen«, erklärte er.
Celeste blinzelte nur. Was würde ich dafür geben, sie lächeln zu sehen, dachte Jason. Himmel, es wäre mir sogar recht, wenn sie einen Wutanfall kriegen würde. Er hatte einmal gehört, wie jemand Celestes Gesichtsausdruck als einfältig bezeichnet hatte, und war wütend gewesen. Nicht nur weil es eine Beleidigung war, sondern weil die Person recht hatte. Celeste war zwar hübsch, zeigte aber weniger Gefühle als eine zufriedene Kuh.
Jason blickte sich um und versuchte, gutgelaunt auszusehen, um seine düsteren Gedanken zu verbergen. »Junge, heute ist es hier sogar noch voller als sonst, findest du nicht auch, Schätzchen?« Nichts. Eine Gruppe von Leuten ging an ihnen vorbei, alle lachten und schwatzten. Ihre Lebhaftigkeit kam ihm angesichts der unheimlichen Verschlossenheit seiner Tochter fast grausam vor. Aber entschlossen, sich nicht entmutigen zu lassen, klopfte Jason auf seinen schlanken Bauch und lächelte: »Ich habe zu viel gegessen, Celeste. Du auch?« Nichts. »Gut, wollen wir in den Park gehen?«
Jason wartete, bis die Leute an ihrem Tisch vorbeigegangen waren, und stand dann auf. Anstatt auch aufzustehen und mit gesenktem Kopf knapp hinter ihm zu gehen, wie sie es sonst tat, blieb Celeste regungslos sitzen. Jason war so daran gewöhnt, dass sie sofort vom Tisch aufstand, dass er schon fast an der Tür war, bevor er bemerkte, dass sie noch am Tisch saß. Er eilte zu ihr zurück. Sie saß geradezu unheimlich bewegungslos da, die Stirn gerunzelt. Dann neigte sie den Kopf nach hinten und schnupperte, als wenn sie etwas roch. Überrascht vom geringfügigsten Anzeichen einer Reaktion bei ihr, stürzte Jason in die Nische und sah sie scharf an.
»Ist etwas nicht in Ordnung, Schätzchen?«
Celeste runzelte die Stirn noch stärker, während sie tief Luft holte und sie anhielt. Er hatte sie seit acht Jahren nicht die Stirn runzeln sehen. Jason setzte sich wie gebannt. Dann überkam ihn Ärger. Bei Bennigans war samstags immer viel los, aber heute schien es, als ob halb Point Pleasant zum Lunch gekommen wäre. Es war laut, und Leute drängelten sich neben ihrer Nische. Ich hätte mit Celeste irgendwohin gehen sollen, wo es ruhiger ist, weniger voll, dachte er. »Du drängst sie zu stark«, sagte seine Mutter manchmal, und er knirschte dann mit den Zähnen.
Aber in solchen Situationen erinnerte Jason sich daran, dass seine Mutter durch Liebe und stets aufmerksame Fürsorge aufwog, was sie an Feingefühl vermissen ließ. Ohne zu zögern, hatte sie Celeste nach dem Mord an Wendy aufgenommen. »Du kannst dich nicht um sie kümmern – du musst arbeiten«, hatte sie Jason gegenüber argumentiert, als Celeste aus dem Krankenhaus und der Reha-Klinik entlassen wurde, nachdem sie damals so grausam verletzt worden war.
Celeste hatte sich körperlich vollständig erholt, aber die emotionalen Wunden schienen nicht zu heilen. Zwei Psychiater und zwei Psychologen waren sich einig, dass ihr Schweigen und ihr emotionaler Rückzug eine Folge des Schocks war. Zwei Jahre später sagten sie, sie wären fast sicher, dass ihre Stummheit inzwischen freiwillig sei und dass sie einen Mangel an Gefühlen vortäusche. »Celeste hat keinen Hirnschaden erlitten. Sie hat sich entschlossen, zu schweigen und sich distanziert zu verhalten«, hatte einer von ihnen zu Jason gesagt. »Ich bin mir nicht sicher, warum – vielleicht will sie einfach nicht über die Morde und den Angriff auf sich sprechen. Aber sie wird sich nicht für immer so verhalten. Haben Sie Geduld, Mr Warner. Celeste wird sprechen, wenn sie so weit ist.« Also hatte Jason sie mit nach Hause zu Fay genommen, die aber seine Argumente sofort abgewehrt hatte, dass es für sie allein zu anstrengend sei, sich um Celeste zu kümmern, und dass sie professionelle Hilfe bräuchten.
»Sei nicht albern«, hatte sie gesagt. »Die sogenannten Professionellen haben Celeste kein bisschen geholfen. Außerdem tust du mir einen Gefallen, wenn du mich für sie sorgen lässt. Und für dich. Ich bin den ganzen Tag alleine zu Hause, seitdem dein Vater tot ist, und werde noch verrückt. Ich will nützlich sein. Ihr beide braucht mich, und ich brauche euch. Denk an meine Worte – es wird gut funktionieren.«
Und das hat es. Aber gerade jetzt wäre Fay Warner unzufrieden mit ihm, dachte Jason missmutig. Sie würde darauf hinweisen, dass er hätte wissen müssen, dass das Restaurant überfüllt war, weil der Parkplatz voll war. Sie würde sagen, er hätte nicht dorthin gehen sollen, nur weil er die fröhliche Atmosphäre mochte. Sie würde – plötzlich beugte sich Celeste zu Jason, blickte ihn durchdringend an und sagte mit rauer Stimme: »Der Mond war hell in der Nacht, aber ich habe trotzdem mein Nachtlicht angemacht – mein Pferdenachtlicht Schneeflocke, das Teri mir geschenkt hat. Ich habe das Nachtlicht geliebt, weil es ein Pferd war und weil es ein Geschenk von Teri war.«
Jason starrte seine Tochter an, die grauen Augen aufgerissen, den Mund leicht geöffnet. Zuerst war er nur fassungslos, weil sie nach acht langen Jahren endlich gesprochen hatte. Dann überkam ihn kurz eine Welle der Freude, dass die Ärzte recht gehabt hatten – endlich war der Moment gekommen, in dem sie beschlossen hatte zu sprechen. Dann wurde ihm mit einem Schlag klar, dass sie die Nacht beschrieb, in der ihre Mutter ermordet worden war.
Celeste runzelte noch stärker die Stirn, ihre Augen wurden schmal, und sie fuhr mit unbeteiligter Stimme fort: »Ich kam gerade aus dem Badezimmer, als jemand Mamis Schlafzimmertür öffnete, ganz leise und vorsichtig.«
Jason berührte mit der Zunge seine trockenen Lippen und brachte einen Moment später heraus: »Wer kam aus Mamis Schlafzimmer?«
Celeste sah verwirrt aus. »Ich konnte nur jemanden mit Kapuze sehen.«
»Eine Kapuze?« Celeste nickte. »Du könntest nichts über die Person sagen?«
»Sie trug etwas Langes, Schwarzes – es sah aus wie ein großer Mantel. Und die Augen ... sie waren groß, mit dunklen Schatten drum herum.« Celeste schauderte. »Ich konnte mich nicht bewegen. Ich habe nur Yogi festgehalten.« Yogi, erinnerte sich Jason, war ihr großer Plüschbär. »Die Gestalt machte ein lautes, überraschtes Geräusch. Sie wusste nicht, dass ich da war. Dann stach sie mich mit einem Messer, so schnell, dass ich nicht wusste, was passierte. Das Messer durchstach Yogi. Ich weiß, dass ich auch damit gestochen wurde, aber ich habe es nicht gespürt. Viel von meinem Blut floss in Yogi. Eine Krankenschwester hat mir erzählt, dass er deshalb weggeworfen werden musste.« Celestes Augen füllten sich mit Tränen. »Ich habe Yogi geliebt, und er wurde einfach weggeworfen!«
Verdammte geschwätzige Krankenschwester, dachte Jason wütend. Wusste sie nicht, dass sie es mit einem traumatisierten Kind zu tun hatte?
Celeste wischte eine Träne weg, die ihr übers Gesicht lief. »Nachdem wir mit dem Messer gestochen worden waren, hielt ich Yogi ganz fest und bin zurück in mein Zimmer gelaufen.«
Jason zwang sich, den Mund zu halten. Seine Tochter sah ihn mit großen Augen an, die plötzlich voller Schrecken und Schmerz waren, der erste Gefühlsausdruck, den er seit einer Ewigkeit darin gesehen hatte. Er griff hinüber und berührte ihre Hand und ihre Finger umklammerten die seinen. Er sagte leise: »Es tut mir leid wegen Yogi, aber er hat dir wahrscheinlich das Leben gerettet. Das hätte ihn glücklich gemacht.« Eine weitere Träne lief Celestes Wange hinunter. »Schatz, hat dich die Person in deinem Zimmer niedergestochen?«
»Nein, ich hab dir doch gesagt, es war im Flur. Dann bin ich in mein Zimmer gelaufen.«
Die Polizei hatte vermutet, dass Celeste jemanden im Haus gehört und sich in ihrer Spielzeugkiste versteckt hatte, wo der Mörder sie in den Bauch gestochen hatte. Sie dachten, Celestes Blut im Flur wäre vom Messer des Mörders getropft, als er von Celeste auf dem Weg zum Schlafzimmer der Farrs war. Jetzt schien es, dass Celeste das Blut tatsächlich selbst verloren hatte, als sie zurück zu ihrem Zimmer gelaufen war.
»Aber er wollte noch auf mich einstechen. Er ist mir gefolgt«, fuhr Celeste heftig fort, die Stimme erhebend, als hätte sie Angst, die Fähigkeit zu sprechen wieder zu verlieren. »Einmal haben Teri und ich gespielt, und da hat sie gesagt, die Spielzeugkiste wäre ein gutes Versteck, weil ich nicht viel Spielzeug darin hätte. Also bin ich rein, um mich zu verstecken.
Aber als ich den Deckel schließen wollte, hörte ich, wie sich jemand meinem Zimmer näherte. Ich wusste, diesmal würde ich getötet werden. Dann hörte ich Schreien. Und der große Hund von nebenan bellte und knurrte und weckte andere Hunde auf.« Celeste hielt inne, als wenn sie atemlos wäre, und sagte mit erschöpfter Stimme: »Und ich bin nicht getötet worden.«
Jason wusste, dass er Celeste in einem überfüllten Restaurant nicht weiter fragen sollte, aber er fürchtete, wenn er sie zum Gehen veranlasste, würde die Unterbrechung ihrer Aufmerksamkeit bewirken, dass sie wieder aufhörte zu sprechen. Vielleicht für Monate oder sogar Jahre. Er nahm einen Schluck Wasser, räusperte sich und sagte kaum mehr als flüsternd: »Liebes, bist du sicher, dass du nicht weißt, wer dich mit dem Messer gestochen hat?«
»Ich glaube nicht ...« Ihre Lippen zitterten. »Nein.«
Jasons Augen wurden schmal. »Du meinst, was du zuerst gesagt hast. ›Ich glaube nicht.‹ Celeste, wen hast du gesehen?«
»Niemanden«, sagte Celeste stur. »Aber ich habe irgend etwas Süßes gerochen.« Sie sprach hastig weiter, als wollte sie weitere Fragen verhindern. »Vor ein paar Minuten habe ich es auch gerochen.«
»Hier?« Jason schnappte nach Luft.
Celeste nickte widerwillig. Jason fuhr mit dem Kopf herum, dann wandte er sich wieder seiner Tochter zu und betete, dass niemand Celeste gehört oder seine schnelle Überprüfung der Gäste bemerkt hatte.
»Celeste, warum hast du gerade jetzt angefangen zu sprechen?«
Das Mädchen sah aus, als würden die Worte einzeln aus ihr herausgezogen. »Der Geruch. Und ein Geräusch. Und eine Stimme. Auf einmal kam es mir vor, als wäre wieder die Nacht, und die Worte kamen, obwohl ich eigentlich gar nicht sprechen wollte ... Ich war einfach überrascht ... und ich hatte Angst«, schloss Celeste widerstandslos.
»Ich verstehe.« Jason sprach sanft zu ihr. »Schatz, du kannst schon eine ganze Weile sprechen, stimmt’s?«
Celeste gab sich geschlagen. »Ja. Ich konnte wirklich nicht sprechen, nachdem auf mich eingestochen und Mami getötet worden war. Ich weiß nicht, warum ich nicht sprechen konnte. Aber ich hatte die ganze Zeit Angst, richtige Angst. Und ich war so ...«
Sie suchte offenbar nach einem Wort. »Schockiert?«, half Jason. »Entsetzt darüber, was dir und Mami passiert war?«
»Ja. Schockiert. Entsetzt. Ich wollte an einem dunklen, geheimen Ort sein, wo niemand mich verletzen konnte. Also bin ich dort hingegangen. Im Kopf, nicht in echt. Später habe ich ihn verlassen, aber versucht, an nichts zu denken. Und ich habe nicht gesprochen, weil ich nicht sprechen wollte.« Celeste schenkte ihrem Vater ein schwaches Lächeln. »Ich kann auch schreiben, Papa. Ich konnte schon schreiben, als ich verletzt wurde, und ich habe geübt, seitdem ich meinen geheimen Ort verlassen habe. Als ich im Krankenhaus Unterricht hatte und als du Lehrer zu uns nach Hause hast kommen lassen, um mich zu unterrichten, habe ich ein bisschen geschrieben. Aber ich habe niemals gezeigt, wie gut ich schreiben konnte, weil ich wusste, dass die Leute mich dann nach der schrecklichen Nacht fragen und mich drängen würden, die Antworten aufzuschreiben. Das wäre genauso schlimm gewesen, wie darüber zu sprechen.
Ich will nicht über das sprechen, was passiert ist, Papa. Bitte zwing mich nicht, darüber zu sprechen«, flehte Celeste Jason an. »Wenn du zu viele Fragen stellst, gehe ich zurück an meinen geheimen Ort, wo ich sicher bin. Vielleicht werde ich nicht mehr herauskommen, weil ich immer noch solche Angst habe. Vielleicht werde ich immer Angst haben. Es war so schrecklich ... so schrecklich ...«
Celeste begann am ganzen Körper zu zittern. Jason drückte ihre zarte Hand, aber sie zog sie weg, griff nach ihrer anderen Hand und begann nervös, sie zu kneten. Sie wandte sich etwas um und blickte sich im Raum um. Jason beobachtete genau, wie ihr Blick ins Weite zu schweifen schien. Oder er hatte sich bei der Erinnerung nach innen gerichtet. Er dachte, er hätte sie wieder verloren und sie würde kein Wort mehr sagen. Schließlich schien sich ihr Gesichtsausdruck zu verhärten, er wurde boshaft. Sie sah ihn amüsiert, fast überheblich an, neigte den Kopf nach hinten und begann laut zu singen:
»Die Uhr schlug drei
Und der Tod kam vorbei.
Als ich die Augen öffnete,
war Teri da.«
Die Leute um sie herum hatten aufgehört zu reden, jeder drehte sich um und starrte den hübschen Teenager an. Irgendwo fiel ein Glas auf den Boden. Zu Jasons Entsetzen wiederholte Celeste durchdringend: »Die Uhr schlug drei, und der Tod kam vorbei. Als ich die Augen öffnete, war Teri da.« Um sie herum herrschte absolute Stille, und die Farbe schwand aus Jasons schmalem Gesicht. Er merkte, dass er seine Tochter genauso anstarrte wie die anderen Gäste des Restaurants. Schließlich holte Celeste tief Luft, lehnte sich zurück, schenkte ihrem Vater ein breites, reizendes Lächeln und sagte: »Ich bin ein Glückspilz.«
»Eisgekühlte Margarita, Piña Colada, Brandy Alexander«, wiederholte der Kellner die Wünsche der drei Frauen, die in der Nähe der Bühne im Club Rendezvous saßen.
»Und ich hätte gerne drei Kirschen zur Piña Colada«, sagte Teresa Farr und hob die Stimme, um die Musik der Liveband zu übertönen.
Der Kellner sah sie mit gespielter Bestürzung an. »Eine zusätzliche Kirsche? Wollen Sie den Etat des Clubs für diesen Monat sprengen, Miss Farr?«
»Ich werde für die dritte Kirsche bezahlen.«
»Okay, es ist Ihr Geld«, seufzte der Kellner scheinbar verzweifelt. Dann zwinkerte er Teri zu. »Bin gleich wieder da, die Damen.«
Die Frau mit den gestuften rotblonden Haaren neben Teresa stupste sie. »Er hat dir zugezwinkert, Teri. Und er ist süß.«
»Und er ist kaum alt genug, um hier zu arbeiten, Sharon.« Teresa lachte ihre Schwägerin an. Teri strich ihr seidiges schwarzes Haar hinter die Ohren, so dass große silberne Creolen zum Vorschein kamen, und zupfte ihr schimmerndes, silbernes Top zurecht, das sie zu einer schwarzen Hose trug. »Er hat drei Unterrichtsstunden genommen, gleich nachdem ich die Reitschule eröffnet hatte, aber er war zu ängstlich, um weiterzumachen. Ich gehe nie mit Jungen aus, die Angst vor Pferden haben.«
»Du gehst überhaupt nicht mehr aus«, sagte die dritte Frau am Tisch, Carmen, die Älteste. Sie hatte hohe Wangenknochen, eine schmale Nase, blaugraue Augen und schulterlanges braunes Haar mit bronzenen Strähnen. Teresa wusste, dass Carmen am Ende ihrer Teenagerzeit und in ihren frühen Zwanzigern gemodelt hatte. »Nur Katalogsachen«, sagte sie immer abwehrend. »Ich habe es nie in die Couturekollektionen geschafft – ich war einige Zentimeter zu klein für die Branchennorm.« »Wir feiern deinen sechsundzwanzigsten Geburtstag, Teri«, neckte sie jetzt. »Hast du den Männern schon abgeschworen?«
»Nein, Carmen, ich war einfach damit beschäftigt, die Reitschule zu eröffnen, aber ich könnte dich dasselbe fragen. Hast du den Männern abgeschworen?«
Carmen lachte. »Ich bin zwanzig Jahre älter als du.«
»Und du siehst ungefähr zehn Jahre älter aus.«
Carmen verdrehte die Augen. »Ich wünschte, es wäre so. Egal, ich war immerhin verheiratet. Ich bin Witwe, und man erwartet von mir, dass ich den Rest des Lebens allein verbringe, eine gesetzte Frau, wie ich es bin.«
»Gesetzt!« Teri lachte. »Um Himmels willen, du bist alles, nur nicht gesetzt, Carmen. Du bist lebendig, lustig – deshalb warst so eine wunderbare Freundin für meine Mutter. Und falls du nicht weißt, dass du immer noch eine tolle Frau bist, dann hast du nicht gemerkt, wie viele Männer dich begehrlich angesehen haben, als du hereingekommen bist.«
Carmen grinste. »Ich glaube, du brauchst eine Brille.«
»Ich habe 100-prozentige Sehschärfe. Aber im Ernst, du bist seit neun Jahren Witwe und bist kaum mit jemandem ausgegangen. Zumindest weiß ich nichts davon.«
»Niemand, von dem du weißt.« Carmens Augen blitzten. »Außerdem gefällt es mir, stark und unabhängig zu sein, genau wie dir, Teri.«
»Zähl Teri nicht zu früh aus, Carmen«, unterbrach Sharon, die immer bemüht war, einen Ehemann für Teresa zu finden. Ihr eigenes Leben drehte sich um ihren Mann – Teresas Bruder Kent – und ihren Sohn Daniel, der Sharons herzförmiges Gesicht, die kurze Nase und die samtenen braunen Augen hatte. »Und Teri, du kannst unmöglich glauben, dass Carmen die Männer aufgegeben hat. Ich bin mir sicher, dass es jemanden gibt. Tatsächlich weiß ich es.«
Carmen zog eine perfekt geschwungene Augenbraue hoch und sah Sharon an. »Oh wirklich? Und wer ist der geheimnisvolle Mann?«
»Klingelt’s bei dem Namen Herman Riggs?«
»Oh Gott«, stöhnte Carmen. »Der? Der ist schon längst passé.«
Teresa tat erschrocken. »Carmen, du bist nur ein paarmal mit ihm ausgegangen und hast ihn schon fallenlassen wie eine heiße Kartoffel? Du hast dem armen Kerl nicht mal eine Chance gegeben!«
»Das liegt daran, dass der ›arme Kerl‹ noch mit seiner Mutter zusammenwohnt, die ganze Zeit über sie redet und schrecklich aufgeregt war, weil sie versprochen hatte, ihm zu zeigen, wie man einen Pullover strickt.« Teri und Sharon brachen in Gelächter aus. »Falls ich jemals wieder das Ehegelübde ablege, kann ich einen besseren finden als Herman.«
Teresa blickte bedauernd. »Ich fürchte, Herman muss sich woanders nach seiner wahren Liebe umsehen.«
»Er hat sie schon gefunden«, sagte Carmen verdrießlich. »Seine Mutter.«
Die drei Frauen lachten, als der Kellner mit ihren Drinks zurückkam und Teresa darauf hinwies, dass er ihr vier Kirschen gegeben hätte, aber sie dürfe seine Großzügigkeit nicht seinem Chef gegenüber erwähnen, dann würde er sofort entlassen. »Ich glaube nicht, dass Sie Ärger kriegen, wenn die zusätzlichen Kirschen für Teresa sind«, versicherte ihm Carmen. »Der Eigentümer des Clubs war mal mit Teri verlobt, bis sie die Sache beendet und sein Herz gebrochen hat. Er verzehrt sich immer noch nach ihr.«
»Im Ernst?«, platzte der junge Kellner los. »Mr MacKenzie ist in Miss Farr verliebt?«
Teresa errötete trotz ihrer goldbraunen Haut, die sie ihren Shawnee-Vorfahren verdankte. »Nein, das ist er nicht. Wir waren vor langer Zeit zusammen.« Sie starrte Carmen zornig an. »Es wäre mir lieb, wenn du etwas leiser sprechen würdest. Die Hälfte der Leute hier weiß jetzt, dass Mac und ich verlobt waren.«
»Die Hälfte der Leute hier wusste es ohnehin schon.« Carmen grinste, als ihr Kellner schnell wegging, offenbar begierig, die Neuigkeit den anderen jungen Kellnern und Kellnerinnen zuzuflüstern.
Teresa beobachtete die kurzen Wortwechsel, dann die heimlichen Blicke, die ihr zugeworfen wurden. »Jetzt sieh, was du angerichtet hast!«
»Ich sag nur die Wahrheit«, sagte Carmen unschuldig und zwinkerte Teresa zu. »Ist es nicht so?«
»Ja.« Sharon lächelte, sah sich aber gleichzeitig unbehaglich um. Sie hatte sich versteift, und in ihrer Stimme lag keine Leichtigkeit mehr. »Aber Kent mag es nicht, wenn die Leute darüber reden.«
»Also, sie waren verlobt, aber obwohl Teri ihm den Laufpass gegeben hat, glaube ich nicht, dass er ihr so gleichgültig ist, wie sie tut.«
»Du solltest wirklich eine Kolumne für unglücklich Verliebte schreiben, Carmen.« Teresa griff nach ihrem kirschbeladenen Drink. »Ich werde dem Herausgeber der Zeitung sagen, dass er dich einstellen soll.«
»Gut«, entgegnete Carmen fröhlich. »Ich hab genug davon, für Schmuck und Schätze zu arbeiten. Wie du schon sagtest, ich bin überhaupt nicht gesetzt. Ich bin viel zu temperamentvoll, um Eigentümerin und Geschäftsführerin eines Geschenkladens zu sein. Es ist langweilig.«
»Es ist ewig her, dass Mac und ich verlobt waren«, fuhr Teri unnachgiebig fort und nahm einen Schluck von ihrem Drink. »Ich war zwanzig. Noch ein Kind, wirklich, und extrem romantisch und leicht zu beeindrucken. Es war nur so eine Laune. Eine Schwärmerei. Ich denke nicht mal mehr an ihn. Überhaupt nicht. Und ich bin absolut sicher, dass er auch nicht an mich denkt.«
»Stimmt das?« Carmen richtete den Blick auf Mac. »Also dafür, dass er nie an dich denkt, kann er heute Abend aber den Blick nicht von dir wenden.«
»Sei nicht albern, Carmen.«
»Ich sage dir, er ist um die Bar herumgestrichen, scheinbar mit Gästen redend, aber tatsächlich hat er dich den ganzen Abend angestarrt«, fuhr Carmen fort und lächelte mit Genugtuung. »Und jetzt kommt er hierher.«
»Oh nein!«, rief Teri aus.
»Oh doch!« Carmen berührte Teresas Hand. Stell dein Glas hin. Du hast schon alles ausgetrunken. Und guck nicht so nervös.«
»Ich bin nicht nervös.« Teresa knallte ihr Glas auf den Tisch. »Warum sollte ich nervös sein? Ich bin nur –«
»Guten Abend die Damen.« Mac stand lässig neben ihnen. Er war um die dreißig, mit sonnengebräunter Haut, einem Grübchen im Kinn und einigen wenigen Falten auf der Stirn unter dem leicht gewellten mahagonibraunen Haar. Mit einem umwerfenden Lächeln strahlte er sie alle an, seine haselnussbraunen Augen mit den faszinierenden goldenen Flecken waren auf Teresa geheftet.
»Amüsiert ihr euch?«
»Es ist mein Geburtstag«, platzte Teresa heraus.
»Und du feierst nicht mit Verwandten und guten Freunden?«
»Das haben wir schon hinter uns«, sagte Carmen. »Dann sind wir alle losgeworden, haben es Kent überlassen, auf seinen Sohn aufzupassen, und sind ausgegangen, um uns richtig zu amüsieren.«
»Es freut mich, dass Sie denken, dass man sich im Club Rendezvous amüsiert, Ms Norris«, sagte Mac.
»Carmen, bitte. Und mir – uns – gefällt es hier. Stimmt’s Teri?«
»Oh ja. Es ist ... nett.« Teresa merkte, wie ihr Gesicht glühte, und sie warf beinahe ihr fast leeres Glas um. Verdammt, dachte sie, als sie es gerade noch festhielt. Warum benahm sie sich wie ein Teenager? Und warum hatte Mac immer noch dieses umwerfende Lächeln, bei dem man sein Grübchen sah und das ihr Herz zum Pochen brachte. »Es ist wirklich schön hier«, fügte sie hinzu.
»Das ist eine eindeutige Empfehlung, Teri«, sagte Mac trocken. Er sah Sharon an. »Ich hab dich Ewigkeiten nicht gesehen. Der Club wurde vor acht Monaten eröffnet, und du und Kent wart noch nie hier.«
»Kent ist abends immer beschäftigt.« Sharon klang ungeduldig. »Papierkram, Telefonate. Immer in seinem Arbeitszimmer, als würden sein Kind und ich nicht existieren. Außerdem sagt er, er sei nicht der Clubtyp. Ich glaube, er denkt, er sollte eine Stütze der Gemeinde sein. Er ist sogar in all den Wohltätigkeitsvereinen, in denen sein Vater auch war.«
»Die, über die er sich früher lustig gemacht hat?« Mac lachte. »Also ich glaube, der Miteigentümer und Präsident von Farr Coal Company darf immer noch in Clubs gehen, besonders mit seiner Frau.«
»Das werde ich ihm sagen, aber er hört nicht auf mich.« Sharon zwang sich zu einem gutmütigen Lächeln, obwohl Teri wusste, dass es ihr auf die Nerven ging, dass Kent ständig von seiner Arbeit und öffentlichen Verpflichtungen in Anspruch genommen war. »Ich glaube, er will unserem Sohn ein gutes Beispiel geben.«
»Das kann ich ihm nicht vorwerfen. Ich wünschte, mein Vater hätte dasselbe getan.« Mac sah Teri an und schenkte ihr jenes sexy Lächeln, das sie wahnsinnig machte. »Du brauchst noch einen Drink, junge Dame.«
»Nein, ich –«
»Doch.« Er winkte seinem Kellner, warf dann einen Blick auf die Band auf der Bühne, die gerade ein Stück beendet hatte. Er nickte dem blonden Leadsänger zu. »Ich hoffe, du hast nichts dagegen, Teri, aber ich habe mir erlaubt, zu deinem Geburtstag um ein Lied zu bitten. Würdest du mit mir tanzen?«
Teresa war plötzlich wütend auf ihn und wurde gleichzeitig panisch. »Das hättest du nicht tun sollen«, antwortete sie steif. Er streckte die Hand nach ihr aus. »Mac, nein. Es war nett gemeint, aber ich habe seit Jahren nicht mehr getanzt und –«
Mac hörte ihr überhaupt nicht zu, sondern nahm Teresas Hand. Obwohl sie entschlossen war, nicht mit ihm zu tanzen, stand sie von ihrem Stuhl auf und folgte ihm wie hypnotisiert auf die Tanzfläche. Der blonde Sänger lächelte und sagte ins Mikrofon: »Dieses Lied ist für Teresa Farr von Mac MacKenzie. Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, Teresa.«
Viele Leute klatschten; einige Männer pfiffen und schrien: »Herzlichen Glückwunsch, Teresa!« Andere Tänzer bildeten einen Kreis um sie, als Mac den Arm um Teresas Schulter legte und sie eng an sich zog. Er war stark und warm, dachte sie, wie damals, als sie ineinander verliebt waren. Gegen ihren Willen spürte sie, wie sie in seiner Umarmung dahinschmolz. Die ersten Töne von »Take My Breath Away« erklangen. Es war ihr Lied, ihrs und Macs.
»Du erinnerst dich«, sagte sie.
»Dachtest du, ich würde es jemals vergessen? Wir haben zum ersten Mal in eurem Garten an einem Sommerabend dazu getanzt.« Macs Stimme war verführerisch warm an ihrem Hals. »Ich hatte gerade den Rasen gemäht, und du und deine Mutter saßt auf der Veranda, und die Musik spielte. Du warst erst sechzehn, aber du sahst von dem Lied so mitgerissen aus, ich konnte nicht anders, als dich fragen, ob du mit mir tanzen würdest.«
»Ich glaube, ich erinnere mich an den Abend«, sagte Teresa ungerührt. Tatsächlich hatte sie schrecklich für den »viel« älteren Mac geschwärmt, und ihr war fast schwindelig gewesen, als sie ihm so nahe war.
»Deine Mutter hat uns beobachtet. Am Schluss hat sie geklatscht und gesagt, wir würden wunderschön tanzen. Sie sah wirklich glücklich aus.«
»Und sie sah so selten glücklich aus. Arme Mama.« Teresa fühlte Tränen in den Augen brennen, von schmerzlichen Erinnerungen – Erinnerungen an ihre erste Liebe, Erinnerungen an einen Abend in einem anderen Leben, der ihr wunderbar vorgekommen war, Erinnerungen an eine Mutter, die einfach eines Tages verschwunden war. Teri wusste nicht mal, ob die Frau lebte. »Mum mochte dich, Mac«, sagte sie mit stockender Stimme.
»Im Gegensatz zu deinem Vater. Ich war der Sohn der Haushälterin der Farrs, der Junge ohne Zukunft, der den Rasen mähte. Hugh W. Farr. Was war er doch für ein Idiot.« Mac hörte fast auf zu tanzen. »Es tut mir leid.«
»Weil er ermordet wurde, muss er nicht zum Heiligen werden. Er war ein Idiot.« Macs Körper war angespannt, und Teri hatte das Verlangen, ihn enger an sich zu ziehen, damit er vergaß, wie schrecklich ihr Vater ihn und seine Mutter behandelt hatte, aber sie ertappte sich noch rechtzeitig dabei. Sie wusste, sie musste bei Mac immer vorsichtig sein. Er übte immer noch so viel Anziehungskraft auf sie aus, dass sie nicht wagte, warm, zärtlich, verletzlich zu klingen. »Lass uns von was anderem reden,« sagte sie gezwungen leichthin.
»Ich finde, das ist eine gute Idee.«
»Meine Reitschule macht sich langsam, aber sicher.« Teri wusste, dass sie künstlich fröhlich klang. »Es läuft tatsächlich überraschend gut, wenn man bedenkt, wie neu sie ist.«
»Großartig. Farr Fields? Hast du sie nicht so genannt?«
»Das weißt du doch.«
»Ich freue mich, dass du etwas machst, was dir gefällt. Du warst immer verrückt nach Pferden und eine hervorragende Reiterin, zumindest haben mir das alle erzählt. Ich war kein besonders guter Reiter, wie du dich sicher erinnerst.«
»Du bist ein paarmal runtergefallen, als ich dich gezwungen habe, auf mein Pferd zu steigen.« Teresa musste kichern. »Erinnerst du dich, als eine Biene das Pferd in die Nase gestochen hat und es losraste wie eine Rakete? Du hast geschrien wie verrückt und das Pferd noch mehr verängstigt, als du auf der Seite heruntergerutscht bist und dich einen halben Meter über dem Boden verzweifelt festgehalten hast.«
Mac verzog das Gesicht. »Lach nicht. Mein Leben schoss mir noch einmal durch den Kopf.«
»Aber du hast überlebt, um die Geschichte zu erzählen.« Teresa schüttelte lachend den Kopf. »Ich wünschte, ich hätte ein Video von dem Vorfall.«
»Gott sei Dank hast du keins. Du würdest es jedem zeigen und mich zum allgemeinen Gespött machen.«
»Nein, ich würde es als ein lehrreiches Video benutzen, um zu zeigen, was man nicht tun sollte, wenn ein Pferd panisch wird.«
Mac zog sie noch näher an sich heran, und Teresas Herz schlug ein bisschen schneller, als der Sänger den romantischen Text des Liedes mit brennender, scheinbar tiefempfundener Leidenschaft sang. Teresa schloss kurz die Augen, sog Macs Geruch von Wasser und Seife ein, maskulin und frisch. Seine warme Hand auf ihrem Rücken schien durch den dünnen Stoff ihres Tops hindurchzubrennen. Sie fühlte, wie sie langsam tiefer in seine Umarmung sank, es war so natürlich, so angenehm, so verführerisch, dann ertappte sie sich dabei und sprang fast von ihm weg. Er spannte die Arme an, als wäre er entschlossen, sie festzuhalten. Genau das wollte sie, und genau das würde sie nicht zulassen.
»Daniel will morgen mit dem Unterricht beginnen«, platzte Teresa laut heraus, um ihre physische Reaktion, die ihre Gefühle verriet, zu verbergen. »Er ist jetzt fast acht.«
Mac zog sich zurück, sah sie mit einer Mischung aus Reue und Heiterkeit an. Er hatte ihr Begehren gespürt und nicht vor, so zu tun, als hätte er es nicht bemerkt. Er hatte sich auch immer geweigert, so zu tun, als hätten sie keine Vergangenheit, egal, was Teresa wollte. »Wer ist Daniel?«, fragte er ungerührt.
»Mein Neffe! Um Himmels willen, Mac, weißt du nicht mal den Namen von Kents Sohn?«
»Kent und ich sind nicht mehr die besten Freunde. Er spricht kaum mit mir, wenn wir uns begegnen. Ich bin sicher, er würde nicht wollen, dass seine Frau oder du hierherkommen. Er wird deinem Vater jeden Tag ähnlicher.«
»Ich glaube, Kent ist bemüht, dass alle den Skandal vergessen, den die Morde verursacht haben. Vielleicht übertreibt er etwas.« Teresas Verteidigung klang schwach, denn sie dachte auch schuldbewusst, dass ihr Bruder immer mehr ein frommer Stockfisch wurde. »Er ist ein guter Ehemann und Vater.«
»Ich weiß nicht, wie er als Vater ist, aber Sharon scheint nicht gerade begeistert von ihrer Ehe zu sein.«
»Oh, davon weiß ich nichts ...« Teresa wich aus, denn schon wieder musste sie Mac zustimmen, obwohl sie es ihn niemals wissen lassen würde. »Warum denkst du, dass sie unglücklich ist?«
»Ihr Gesichtsausdruck. Sie hat immer viel gelacht und schien sich immer zu amüsieren. Jetzt –«
»Jetzt ist sie Ehefrau und Mutter mit großen Verantwortungen.« Teresa merkte, dass sie prüde und unnatürlich klang. Sie sagte sich, dass sie entspannt reagieren sollte, auch wenn es ihr schwerfiel. »Hör zu, Mac ich war vorhin am Tisch etwas steif«, sagte sie schnell. »Es tut mir leid. Dein Nachtclub ist nicht nur nett – er ist wunderschön.«
Mac lehnte sich zurück und hob die Augenbrauen. »Danke, Teri! Ich gestehe, ich war etwas enttäuscht von deinen begeisterten Äußerungen vorhin.« Macs Gesicht entspannte sich, und er lächelte ihr in die Augen. »Erinnerst du dich noch, wie ich über den Plan geredet habe? Viele Leute haben mich ausgelacht. Sie sagten, ich würde mich niemals niederlassen und wahrscheinlich arbeitslos und obdachlos enden. Aber du hast nie daran gezweifelt, dass ich es schaffe. Du hast mir sogar geholfen, das hier zu entwerfen.«
»Ich habe ein paar Ideen beigesteuert«, sagte Teresa ungerührt, obwohl sie sich lebhaft daran erinnerte, wie sie über Macs Entwürfen des geplanten Clubs gebeugt gesessen hatte und viele Vorschläge zu Beleuchtung und Farben gemacht hatte.
»Ich stand auf den Discostil, aber du bestandest darauf, dass es klassischer, zeitloser sein sollte«, fuhr Mac fort. »Du warst es, die den Art-déco-Stil vorschlug. Ich wusste nicht mal, was Art déco ist.«
Teresa sah sich in Macs Club um – die klaren Linien, viel Glas und Chrom, Elfenbein die vorherrschende Farbe, mit Spuren von Schwarz und leuchtendem Blau. Oben an den Wänden waren Mosaikkacheln, jede mit einem komplizierten Muster des Nahen Ostens aus meerblauen, lavendelfarbenen und weidengrünen Keramikquadraten. Es war beeindruckend, elegant. »Du fandest meine Ideen merkwürdig.«
»Ich war nicht gerade ein Fachmann für Inneneinrichtungen.« Mac lachte. »Ich brauchte eine Weile, bis ich meinen Traum von knallrotem Flor und Stroboskoplicht aufgegeben habe.«
Teresa lächelte. »Ich glaube, du hast zu oft Saturday Night Fever gesehen.«
»Genau. Es war Mamas Lieblingsfilm. Vor Ewigkeiten haben sie und mein Vater einen Tanzwettbewerb in einer Disco gewonnen. Ich glaube, mein Vater trug einen weißen Polyesteranzug wie Travolta. Darum hat sie sich den Film immer wieder angesehen, an glücklichere Zeiten gedacht, bevor mein Vater gegangen ist und sie uns drei Kinder allein großziehen musste.«
»Ich kann mir nicht vorstellen, wie Emma MacKenzie in einer Disco tanzt.« Teresa lachte. »Ich bin sicher, damals hätte sie sich nicht träumen lassen, dass sie als Haushälterin der Farrs endet. Was für ein schreckliches Schicksal.«