Ursula Özdemir
HONDA PLAUDERT AUS DEM NÄHKÄSTCHEN
- Erinnerungen an Hoheneck und Mitgefangene -
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Inhaltsverzeichnis
Titel
Honda plaudert aus dem Nähkästchen
Impressum neobooks
Es gab eine Zeit, da habe ich in einer alten Raubritterburg ohne Türklinke gehaust und in diesem klinkenlosen Kasten bei Tag und auch bei Nacht genäht und genäht und genäht. Die Raubritter waren ausgestorben, und man hatte in die Burg eines Tages viele, viele Betten und Nähmaschinen gestellt. Lauter elektrische Nähmaschinen vom Typ „ständig reißender Faden“. Ich hätte mir ja nie im Leben träumen lassen, Mal an einer Nähmaschine zu sitzen, wo ich doch in meinem Leben vor der Raubritterburg kaum in der Lage war, einen Knopf richtig anzunähen. Aber der Mensch denkt, und Gott lenkt. Ich war da ja nicht alleine im riesigen Nähsaal. Noch mehrere Dutzend Näherinnen waren gemeinsam mit mir in Aktion. Da hat’s gerappelt und gesurrt in der Burg, wenn die Nähmaschinen alle gleichzeitig ratterten. Wir saßen alle eintönig dunkelblau kostümiert an den Maschinen und verrichteten mehr oder weniger die gleiche Tätigkeit. Langeweile kam nie auf, die verhinderte nämlich der ständig reißende Faden von der Garnrolle, was die Normerfüllung ungemein gefährdete. Die Seitennähte von 188 Bettbezügen oder von 383 Kopfkissen waren für eine Firma PLANET in einer Schicht von acht Stunden zu schließen. Immerhin winkte bei Normerfüllung ein Monatsverdienst von 4 Mark. Also insgesamt 4 Mark für dreißig Tage. Davon konnte man sich als Raucher monatlich zwei Schachteln der Zigarettenmarke Salem mit je 20 Zigaretten kaufen. Schon waren 3,20 Mark vom Monatsverdienst aufgebraucht. Der Rest blieb zur Verfügung für die Zahnpasta CHLORODONT oder für das um 20 Pfennig preisgünstigere Zahnputzwasser PUTZI, das man schon für 60 Pfennig bekam. Letzteres wurde auch gern benutzt, um aus Tempotaschentüchern gefaltete und gezupfte Nelken zu beträufeln und somit rosa einzufärben. Die rochen dann ganz herrlich nach Zimt, und man konnte sie an Mitgefangene verschenken. Alle paar Monate konnte man eventuell ein paar Pfennige für eine Packung Butterkeks oder ein Schulheft aufbringen. Für Milch reichte der Monatsverdienst leider nicht.
Die Zigarettenmarke Salem ist filterlos, und die Zigaretten lassen sich dadurch problemlos in drei gleiche Teile schneiden. Dann braucht man ein solches Zigarettendrittel nur noch in ein aus Zeitungsrand gedrehtes Tütchen zu stecken, eine aus der Not heraus erfundene Zigarettenspitze, schon können drei Raucher das Drittel aufrauchen, indem das Tütchen unter ihnen herumgereicht wird. So vermeidet man unnötige Verglimm-Pausen. Aus 20 Salem-Zigaretten haben wir auf diese Weise im Handumdrehen 180 Raucher-Einheiten gemacht. Mein Gott, waren wir damals pfiffig! Wir haben also wie wild genäht, Mal ganz normale Bettwäsche, Mal Bettwäsche aus echt chinesischer Seide in Pop-Farben für den Export.
Mal haben wir aber auch in Teile zerlegte Uniformen von Zollbeamten, die ohne vorheriges Waschen dunkelblau eingefärbt worden waren, in Strafgefangenen-Kleidung umgenäht. Streckenweise ist die Maschinennadel durch gefärbte und wieder getrocknete Zollbeamtenkacke gesaust und hat sie uns um die Ohren fliegen lassen. Das haben die Atemwege aushalten müssen. Auch wenn zerstäubte Kacke in Nase und Rachenraum für Husten und Würgereiz sorgt. Aber Kacke hin, Kacke her - wir konnten uns immerhin auf den Feierabend in der Bettenkammer freuen.
Dort stapelten sich die Aluminiumbetten dreistöckig bis zur Decke. Im schmalen Freiraum vor den Betten schlug ich auf dem öligen Bretterfußboden manchmal ein Rad oder machte eine Schulterrolle. Das brachte mir den Spitznamen HONDA ein. Damit konnte man mich von den beiden anderen Ursula’s in unserer Bettenkammer besser unterscheiden. Der Name „Honda“ sagte mir gar nichts - da wurde ich aufgeklärt, das sei eine leichte, leistungsstarke japanische Maschine. Ich war’s zufrieden.
Wer in solch klinkenloser Bettenkammer Mal gehaust und im Nähkasten der alten Burg Stoff über die Maschine geschoben hat, weiß an dieser Stelle längst, daß es sich wahrscheinlich um das Frauen-Zuchthaus Hoheneck handelt. Es ist jetzt schon 40 Jahre her, daß ich dieses Trauma hinter mir gelassen habe. Knapp drei Jahre hinter Mauern haben mich damals 40 Jahre älter gemacht. Nicht nur an Lebenserfahrung, sondern auch an Herzleistung. Nach Haftentlassung hat mir meine Internistin später, als ich gerade 30 Jahre alt war, ganz perplex gesagt, daß mein EKG dem EKG einer 70-Jährigen entspricht. Als wir uns dort in der Bettenkammer manchmal im Gespräch ausmalten, wie unsere Erlebnisse nach der Haft draußen aufgenommen würden, sind wir zu der Überzeugung gekommen, daß wir das in Hoheneck Erlebte draußen gar nicht erzählen können, daß wir nicht einmal im Nachhinein die Chance haben werden, das durchgemachte Leid mit Mitmenschen teilen zu können. Das glaube einem sowieso keiner. Entweder man werde für einen Wichtigtuer gehalten, der mächtig auf den Pudding haut, oder man wird gleich für verrückt erklärt. Wenn ich jetzt rückschauend dennoch diese kuriose Zeit in den Blick nehme und meine Plaudereien aus dem Nähkästchen zu Papier bringe, dann fallen diese Zeilen sicher so einigen in die Hände, die ganz genau wissen, wovon ich rede.
Menschenwürdige Kultur war in Hoheneck genauso wie auch Frischobst ein Fremdwort. Darüber hatten wir uns nicht zu beschweren, denn wie verhöhnte man uns aus staatstragendem Mund so schön: „Wir haben sie ja nicht hierher eingeladen.“ Wir hatten als erwachsene Menschen mit weniger als einem Quadratmeter pro Person auszukommen. Unsere ursprünglich für zwölf Gefangene vorgesehene Zelle wurde einfach mit 34 Republikflüchtigen vollgestopft. Im eher negativen Sinne wäre vielleicht eine eigenständige Sprachkultur zu erwähnen, die hinter den Mauern von Hoheneck an der Tagesordnung war. Dort hat man zum Beispiel nicht gesagt „sei Mal still“ oder „sei Mal einen Moment ruhig!“ nein, da hieß es schlicht: „Mach den Kopf zu!“ Eine suspekte Person nannte man „einen schrägen Vogel“. Man drohte auch Mal: „Ich hau‘ Dir gleich auf die Rübe, da guckste wie’n Affe aus’m Käfig“ – und man konnte sich richtig plastisch den Kopf im Brustkorb des Angeblafften vorstellen. Diesen Spruch der hartgesottenen Inhaftierten haben teilweise auch wir Republikflüchtigen verinnerlicht, aber eher als herzerfrischendes Wortgeplänkel, um drastisch zum Ausdruck zu bringen, daß man anderer Meinung ist. Essen hat man nicht zu sich genommen, Essen hat man „eingepfiffen“. Letzteres war nicht einfach nur die vor Ort spezifische Sprachkultur, das war die in Hoheneck unter Zeitdruck gängige Eßkultur bei warmen Mahlzeiten. Und man ging nicht arbeiten, sondern man wurde zur Arbeit „durchgeschlossen“. Unsere Bettenkammer hieß im offiziellen Sprachgebrauch nicht „Zelle“ sondern VERWAHRRAUM.
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